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Eleanor Queen hatte einen Film ausgesucht, den sie sich ansehen wollten, aber Orla fiel es schwer, still zu sitzen. Sie stand oft auf, um sich zu bewegen, um etwas Sinnvolles zu tun. Früher hatte sie nie verstanden, woher einige ihrer leicht magersüchtigen Kolleginnen die Energie zum Tanzen hatten; Orla hatte riesige Mahlzeiten gebraucht, um die Kalorien auszugleichen, die sie durch die ständige körperliche Aktivität verlor. Aber jetzt, wo sie abmagerte, hatte sich ein innerer Mechanismus in Gang gesetzt, und sie fühlte sich wie ein Perpetuum mobile. Sie räumte das Wohnzimmer und die Küche auf und wusch das gesamte Bettzeug.

Zu ihrer Überraschung hielt sich Eleanor Queen nicht mehr an ihren Film, sondern machte alles mit, was sie tat, und half bei jeder Aufgabe. Sie war wie ein anderes Kind, und es beunruhigte Orla, dass ihre Tochter sich immer mehr wie ihr Sohn verhielt. Sie blieb in der Nähe, sogar um Haushaltsaufgaben zu erledigen, wo sie früher nach einer Weile darum gebettelt hätte, ihr eigenes Ding machen zu dürfen.

»Geht es dir gut?«, fragte Orla, als sie die Matratze mit sauberen Laken bezogen. Sie hätte es verstanden, wenn ihre Tochter ihre Gesellschaft oder Beruhigung gebraucht hätte.

Aber Eleanor Queen lächelte nur, und ihre Augen waren voller Geheimnisse.

Orla hatte die wenig nette Vorstellung, dass Eleanor Queen sie nicht brauchte oder versuchte, versöhnlich oder hilfsbereit zu sein – sie behielt sie im Auge. Sie wollte ihre Mutter in Sichtweite halten, so wie Orla es mit ihr tat. Aber warum?

Nach zahlreichen Pausen erreichten sie schließlich das Ende des Films.

»Mama? Nur damit du es weißt.« Eleanor Queen verstaute die DVD im Regal.

»Hmm?« Der Hunger machte Orla schläfrig.

»Sie hat das Haus nicht zerdrückt. Mit einer Lawine oder so was.«

Die Worte »zerdrückt« und »Lawine« ließen sie aufschrecken. Sie wurde hellhörig. »Was?«

Eleanor Queen schlüpfte auf die Matratze und kuschelte sich unter eine Decke. »Das hätte sie tun können. Aber sie will dir nicht wehtun. Sie hat dir diesen sicheren Unterschlupf gegeben, in den du immer wieder zurückkehren kannst. Und sie gibt dir so viel Zeit, wie sie kann, damit du zur Vernunft kommst.«

Innerhalb weniger Minuten war ihre Tochter fest eingeschlafen und atmete gleichmäßig. Orla war sich nicht sicher, was sie von den Worten Eleanor Queens halten sollte, die weniger eine Beruhigung als eine Warnung zu sein schienen. Hatte sie gehofft, dass der Tag einen Keil zwischen das Wesen und ihre Tochter treiben würde, so schien es nun wahrscheinlicher, dass Sie oder sogar sie beide dafür gesorgt hatten, dass Orla sich durch ihre Produktivität in falscher Sicherheit wiegte, während sie weiter intrigierten. Trotz allem hatte sich Eleanor Queen auf Ihre Seite gestellt. Wie würde Orla sie wieder zur Vernunft bringen? Wäre das Wesen am Ende eine weitere Seele, um die ihre Tochter trauern würde?

Jetzt war Orlas Chance gekommen. Sie schlich sich in Shaws Atelier und ließ die Tür einen Spalt offen, damit sie hören konnte, ob Eleanor Queen aufstand. Wie schon in der Nacht zuvor konzentrierte sie sich auf ein Gemälde: das, auf dem das Kurhäuschen zu sehen war, mit dem surrealen Bild der großen Kiefer dahinter. Jetzt machte es mehr Sinn, dass ein kränkliches Mädchen von einem trostlosen, vorübergehenden Zuhause in ein königlicheres und dauerhafteres ziehen wollte. Orla ließ die Bilder, den Mythos, wie sie es verstand, auf sich wirken, während sie laut sprach, in der Hoffnung, die Handlungen zu wiederholen, die Sie in menschlicher Gestalt herbeigerufen hatten.

»Shaw? Ich glaube … du wusstest mehr, als dir klar war. Je mehr ich weiß, desto mehr erkenne ich, dass du Ihr Vermächtnis, Ihren Wunsch gemalt hast. Wie bringe ich dich – Sie – dazu, dass du verstehst und zustimmst, dass ich das Zuhause bin, das Sie braucht? Bitte lass uns weiter darüber reden.«

Der Wind rüttelte an der Fensterscheibe. Aber Shaw tauchte nicht auf.

Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu einem anderen Bild, auf dem die Knochen aus den Stämmen ragten, als hätte etwas den Wald niedergemäht. Könnte dies eine direkte Botschaft von Shaw sein, nicht von seiner Muse? War es das, was er wirklich mit den Bäumen machen wollte, bevor sie die Ursache des Problems gefunden hatten?

Was hatte er ihr sonst noch vorenthalten? Waren es Dinge, vor deren Analyse er selbst zögerte, oder hatte er einfach zu viel Angst, sie mitzuteilen, sie auszusprechen, damit sie ihn nicht als geistesgestört abtat? Wie im Rausch begann sie, seine Sachen durchzusehen. Seine Skizzen, seine Notizen, seine Bücher. Welche Nachforschungen hatte er angestellt, während er allein in seinem Zimmer hockte, um zu verstehen, was passiert war? Sie überflog seine Nachschlagewerke. Er hatte im Laufe der Jahre verschiedene Arten von Büchern gesammelt: Kunstgeschichte, Schreib-, Zeichen-, Strick- und Bildhauerkunde, Enzyklopädien seiner verschiedenen Interessen … Natürlich!

Daran hätte sie früher denken sollen. Shaw hatte die Nahaufnahme des Pentagramms nicht gesehen, aber hier hätte Orla zuerst nachsehen müssen. Sie schnappte sich sein Buch über Zeichen und Symbolik, setzte sich auf den Boden und blätterte im hinteren Teil zum Inhaltsverzeichnis: Pentagramm, Seite 127. Schnell fand sie den Abschnitt mit der fetten Zeichnung eines Sterns in einem Kreis.

»Die fünf Elemente«, sagte eine Stimme.

Orla schrie auf. Kurz zuvor noch hatte sie vielleicht jemanden erwartet, aber nicht jetzt, und auch nicht diese Person. Es war ihre Tochter. Sie stand in der Tür. Eine Schlafwandlerin. Ein Geist.

»Was weißt du darüber?« Und woher hatte Eleanor Queen gewusst, was sie sich gerade ansah?

»Erde. Luft. Feuer. Wasser. Äther. Ich habe es in Papas Buch nachgeschlagen, nachdem wir die Halskette unter dem Mikroskop gesehen hatten.« Sie nickte, als Antwort auf eine weit entfernte Mitteilung. »Sie erinnert sich an Dinge.«

»Hör auf, ihr zuzuhören!«

»Mit einer Spitze nach oben bedeutet es, dass der Geist sich über die Materie erhebt. Das ist wunderschön. Und es hat funktioniert! Sie hat sich über die Materie erhoben!«

Sie überflog die Passage im Buch; Eleanor Queen hatte es genau richtig zitiert. Orla rappelte sich auf, sprang über die Blutstropfen der vergangenen Nacht und umklammerte Eleanor Queens Schultern. Sie schüttelte sie ein wenig, um sie zu wecken, sie von dem Wesen zu trennen oder sie wieder in die Gestalt ihrer geliebten Tochter zu bringen. »Eleanor Queen! Bitte hör auf, bitte.«

Das Mädchen blinzelte, als wäre es gerade erst aufgewacht. »Kommst du ins Bett, Mama?«

»Jaja, jetzt sofort.«

Eleanor Queen, die ein wenig perplex über Orlas Verzweiflung schien, nahm ihre Hand und führte sie zurück ins Wohnzimmer.

Es war verdammt spät, als Orla endlich einschlief. Die Antworten fügten sich allmählich zusammen, aber sie hatte immer noch keine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte. Der Geist erhebt sich über die Materie . Ein namenloses Mädchen nutzte seinen arkanen Glauben, um dem Tod zu entgehen und sich in einen stabileren Körper zu projizieren. Hatte es die fünf Elemente beherrscht? War das die Quelle seiner Macht und dessen, was es inzwischen geworden war? Orla hielt ihren Arm um ihre Tochter geschlungen. Halte sie nahe bei dir. Beschütze sie. Sie hätte sie beide wieder an das Seil gebunden, wenn sie auf diese Weise bequem hätten schlafen können. Das Mädchen wälzte sich im Schlaf und drehte sich um, sodass ihre Wirbelsäulen aneinandergedrückt wurden. Das war eine gute Verbindung.

Orla träumte vom Ballett. Eine jüngere Version ihrer selbst, die mit einer älteren Version ihres Sohnes zusammen tanzte. Er war stark und großartig. Zehn mühelose Pirouetten. Die dünnen Arme eines Jungen, der noch nicht ganz ein Mann war. Es freute sie, ihn in einer Zukunft zu sehen, die sie sich nie ausgemalt hatte. Ihr knurrender Magen weckte sie früh. Das fahle Licht eines bedeckten Tages füllte die Fenster, aber sie wünschte, sie könnten schlafen, schlafen … schlafen, bis das verfluchte Wesen starb oder weiterzog.

Sie hat nicht mehr viel Zeit; genau das hatte Eleanor Queen gesagt.

Aber Orla musste jagen, musste weiter nach Nahrung suchen. Sich zurückzulehnen und abzuwarten war keine brauchbare Option: Wie lange war »nicht mehr lange« für ein Wesen, das seine eigene unsterbliche Evolution entwickelt hatte? In ein paar Tagen könnte Orla zu erschöpft sein, um durch den Schnee zu stapfen. Oder wenn die Bäume die Geduld verloren, konnte sie sich nicht mehr jenseits der Veranda durch die Lücken zwischen ihnen quetschen. Sie dachte, dass es vielleicht üblich sei, eine Waffe nach jedem Gebrauch zu reinigen, aber Orla hatte nicht vor, das zu versuchen. Die Wahrscheinlichkeit, sich selbst den Kopf wegzupusten, erschien ihr zu groß. Vielleicht würde sie stattdessen das saubere Gewehr nehmen; die Bäume würden es wahrscheinlich zu schätzen wissen, wenn ihre Äste nicht jedes Mal zersplitterten und mit Schrot durchlöchert wurden, wenn ein Vogel, auf den sie zielte, die Flucht ergriff.

Zum millionsten Mal versuchte sie, nicht daran zu denken, wie anders die Dinge wären, wenn sie Internet hätte. Abgesehen davon, dass sie Hilfe herbeirufen könnte, hätte sie mit dem Rüstzeug der Technik so viel mehr Informationen, so viel mehr Auswahlmöglichkeiten. Vielleicht hätte sie einen Zauberspruch lernen können, der so wirksam war wie der des Tuberkulose-Mädchens, einen, der Sie in eine Falle lockte oder Sie zum Schweigen brachte oder Sie einschläferte, wie es Orlas Vater mit so vielen älteren Tieren getan hatte.

Als sie sich umdrehte, war das Bett neben ihr leer. Eleanor Queen war wahrscheinlich nach oben gehuscht, um das Bad zu benutzen, aber Orla hatte schon zu viele beängstigende Morgen erlebt, um sich mit diesem Gedanken zufriedenzugeben.

Oben waren die Schlafzimmertüren geschlossen; sie waren sich einig gewesen, dass es zu verstörend war, so viele Erinnerungen an ihr einst normales Leben und die Menschen, mit denen sie es geteilt hatten, zu sehen. Die Badezimmertür stand offen, aber der Raum war leer. Orla ging zurück zum Zimmer ihrer Tochter.

»Liebes?«

Vielleicht war das Mädchen irgendwann in der Nacht in ihr Zimmer gekrochen, müde vom postapokalyptischen Indoor-Camping. (Aber in ihrem Innern wusste sie es.) Orla hoffte, sie unter ihrer Bettdecke vergraben zu sehen, engelsgleich im Schlaf und nichts von ihren Problemen ahnend, aber als sie die Tür öffnete, war das Bett unberührt. Sie sah in Tychos Zimmer nach: Vielleicht vermisste ihre Tochter ihr altes Bett. (Aber in ihrem Innern wusste sie es.) Der verlassene Zustand des Zimmers war doppelt beunruhigend. Sie überprüfte ihr eigenes Zimmer, obwohl es kein bequemer Ort zum Schlafen mehr war.

Es bahnte sich an. Schon wieder. Der Wahnsinn. Die grausame Furcht. Sie hüllte sich eilig in mehrere Schichten von Kleidung.

»Eleanor Queen?« Als sie die Treppe hinunterging, lief sie in Shaws Atelier und dann in die Küche. Aber in ihrem Herzen wusste sie es.

Vielleicht hatte das Wesen Eleanor Queen gar nicht schlafen lassen. Vielleicht hatten sie eine Vereinbarung getroffen, die Orla ausschloss, ein geheimes Rendezvous. Ihr Kopf pochte gegen ihren engen Schädel bei der Möglichkeit, dass ihr liebes, süßes Mädchen einem Plan zugestimmt hatte, lange bevor sie anfingen, Filme zu gucken und zu putzen. Hatte ihre Tochter nur zum Schein mitgespielt? Darauf gewartet, dass sie der Erschöpfung erlag? Hatte sie so getan, als wäre sie hilfsbereit und verträglich – als ob sie schlief –, weil sie die stumme Sprache des Wesens längst beherrschte und sich zur Tür hinausschleichen wollte?

War es zu spät?

Die Axt lag in Shaws Schrank. Sie hatten sie aus dem Keller hochgeholt, als sie befürchteten, das Küchendach könnte einstürzen.

Die Axt war die Waffe, die sie brauchte, nicht das Gewehr.

Sie griff danach.

Zog sich all ihre warmen Sachen an.

Und eilte hinaus in die letzte Schlacht.