44

»Was musst du tun?«

»Mich öffnen. Ihr sagen, dass ich bereit bin.«

»Sie hereinbitten? Ist das alles?« Wie ein Vampir. Aber Orla behielt den düsteren Zweifel für sich.

»Wie sie sagte, als sie zu dir kam. Die ganze Zeit über, Mama, wollte sie mich nie einfach überwältigen. Ich musste es komplett verstehen, musste ganz zustimmen. Auch wenn ich erst neun bin. Sie hat gewartet.«

»Dann … Kann ich dann gehen? Essen für dich und Tycho holen?«

»Ja, natürlich!«

»Es ist kein Trick? Dass Sie mir meinen Sohn anbietet, um meine Tochter zu bekommen? Was ist, wenn du Ja sagst, aber Tycho könnte immer noch weg sein, und Sie wird mich los, und du wirst …«

»Mama, ich werde immer noch ich sein. Sie will leben, sie will niemandem wehtun. Bitte lass mich das tun. Wir können das, was mit Papa passiert ist, nicht wiedergutmachen, aber der Rest von uns kann gemeinsam weiterleben.«

Habe ich eine Wahl? Eleanor Queen würde bald verhungern. Sie wären weiter im Haus gefangen. Ihre Tochter war schon halb hingerafft, und ihr Sohn … Wenn diese Kreatur die Wahrheit sagte, würde ihr Sohn nicht bloß »weg«, sondern ganz schnell tot sein, wenn der Baum starb, bevor Sie mit Eleanor Queen verschmolz. So lange hatte sie Angst gehabt, beide zu verlieren; ihr Leben als Mutter von zwei Kindern wieder aufzunehmen war ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Orlas Entschlossenheit, ihre Gegenwehr wurde schwächer. Sie hatte immer noch so viele Gründe, Nein zu sagen, aber ebenso viele, Ja zu sagen. Sie zweifelte immer noch an Ihrer Behauptung, dass Sie bedauerte, was Shaw zugestoßen war, und dass Sie nicht beabsichtigt hatte, sie zu terrorisieren. Aber sie vertraute darauf, dass ihre Tochter ihre Integrität bewahren würde, egal wie sehr der Geist sie dazu verleiten würde, sich zu ändern. Wenn sie stark genug ist . Es war unausgesprochen zwischen ihnen, dass ihre Beziehung, ihre Seelen für immer zerrissen sein würden, wenn sie ohne Tycho von hier fortgingen. Orla vermutete jedoch, dass ihre Tochter versucht hätte, sie von dieser Verschmelzung zu überzeugen, selbst wenn Tychos Leben nicht zur Debatte gestanden hätte. Eleanor Queen war bereits so tief verstrickt, und ihr Verständnis war erst kürzlich verfeinert worden. War sie bereits ein anderes Mädchen? Oder hatte sie einfach die Herausforderung ihrer Mutter angenommen, furchtlos zu werden, die Heldin ihres eigenen Kreuzzuges?

Immerhin wartete Eleanor Queen immer noch auf die Erlaubnis ihrer Mutter. Und Orla wollte an die Größe des Charakters ihrer Tochter glauben: die Wahrheit zu sagen, sie selbst zu bleiben und die Kräfte, die sie erlangt hatte, zum Wohle der Welt einzusetzen. Eleanor Queen verdiente eine Mutter, die so viel Vertrauen in sie hatte.

»Du bist also bereit?«, fragte Orla sie.

»Ja.« Sie strahlte eine Aura der Zuversicht und des Friedens aus. »Okay?«

Orla nickte nur kurz. Eleanor Queen antwortete mit einem Grinsen und schloss dann die Augen.

Wenige Sekunden später tauchte die junge Frau von dem Foto aus dem Baum auf: ihr Haar, ihr Kleid, das Pentagramm in ihrer Hand, alles identisch mit dem Foto. Sie war kein Gespenst, das durch eine Wand schwebte, sondern ein Mädchen, das kletterte, schob und drängte, sich durch eine scheinbar feste Oberfläche zwängte.

Orla schnappte nach Luft; sie hatte ein großes Drama erwartet. Schneewirbelstürme. Blitzeinschläge. Aber nicht das hier.

Eleanor Queen öffnete die Augen und lächelte. »Du brauchst keine Angst zu haben, Mama. Ich habe ihr gezeigt, wie sie einmal aussah. Wir dachten, es wäre einfacher für dich. Nur ein Mädchen, nicht das unbekannte Ding, das du fürchtest.«

Orla sah zu, wie Eleanor Queen geduldig wartete, die Wangen gerötet vor Aufregung, während das Mädchen sich aus dem Baum wand, dessen Öffnung kaum groß genug war, um Sie aufzunehmen. Der Baum schloss sich hinter ihr, als Sie frei war.

Es war unheimlich, zu sehen, wie ein Foto zum Leben erweckt wurde; Orla wollte ihre Augen schließen, konnte es aber nicht. Sie musste Zeuge sein, sie musste wissen, was geschah. Die junge Frau und Eleanor Queen sahen sich in die Augen, ihr Lächeln war ein süßer Spiegel der Unschuld.

Das sterbende Mädchen drehte sich zu Orla um. »Danke, dass du dich so sehr bemüht hast, mich zu verstehen. Es tut mir leid, dass ich so viel Kummer verursacht habe. Deine Liebe ist greifbar, und ich fühle mich geehrt, zu deiner Familie zu gehören.« Orla schluckte nur, unsicher, was sie sagen sollte. Das Mädchen wandte sich wieder an Eleanor Queen. »Nimmst du mich an?«

»Ich nehme dich an.«

»Wir werden das Beste aus uns machen, zusammen. So wie du es versprochen hast.«

»Ich weiß.«

Und sie umarmten sich.

Orla presste ihre Finger gegen den Mund, um der Versuchung zu widerstehen, zu schreien, denn sie fürchtete, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie ihre Tochter sah.

Während Eleanor Queen ihre Arme um das sterbende Mädchen in seinem viktorianischen Kleid gelegt hielt, entmaterialisierte sich die Gestalt der jungen Frau. Sie wurde zu zerfallenden Partikeln, die durch Eleanor Queen hindurch- und in sie hineingingen. Als sie das letzte Stückchen ihres anderen Ichs absorbiert hatte, wandte sich Eleanor Queen mit einem breiten Lächeln zu Orla.

Orla war hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl der Enttäuschung über diesen banalen Abschluss und der Erleichterung darüber, dass es schmerzlos und mühelos gewesen war.

»Tritt ein Stück zurück. Es beginnt.« Eleanor Queen bedeutete ihrer Mutter, aus dem Weg zu gehen.

Ein Schauer lief den Baum hinauf. Orla wusste nicht, wie weit sie gehen sollte; wenn der Baum umstürzte, in welche Richtung würde er fallen? Wie viel des Waldes würde er unter sich zerquetschen? Eleanor Queen blieb neben ihm stehen und beobachtete konzentriert und unbeeindruckt, wie Teile toter Äste herabregneten.

»Bean?«

»Ist schon gut, Mama.«

Wenigstens nannte sie sie noch Mama; ihre Tochter war nicht weg.

»Danke für die Jahre, in denen du mich beherbergt hast«, sagte Eleanor Queen zu dem Baum. »Für deinen Schutz, deinen Weitblick. Für das Geschenk des langsamen Verlaufs deines Lebens und deines inneren Wissens. Du bist frei, den Lauf deiner Evolution fortzusetzen.« Sie streckte ihre Hand aus, um etwas zu überwachen, etwas in der Luft zu kontrollieren.

Würde dieser Geist eines Tages solche Worte zu Eleanor Queen sprechen, wenn sie auf ihrem Sterbebett lag, alt und leer? Eine leere Hülle, nachdem ihr anderes Ich weitergezogen war?

Das Geräusch von splitterndem Holz vervielfachte und verstärkte sich, als es von unten nach oben drängte. Kleine Äste brachen ab und fielen um sie herum zu Boden, aber das war noch nicht das Schlimmste.

Orla neigte den Kopf zurück, um die Spitze des Baumes zu sehen. Zuerst dachte sie, er stehe in Flammen und sei in schwarzen Rauch gehüllt. Aber nein; er bröckelte von oben herab. Schon bald begannen dunkle Flocken nach unten zu fallen. Sie erfüllten die Luft. Es war schwierig zu sehen, schwierig zu atmen.

»Eleanor Queen?« Sie sagte den Namen ihrer Tochter, aber sie dachte an ihren Sohn. Wo war er? Sie hatten kaum noch Zeit. Sie mussten sich zurückziehen, bevor der Aschefall sie begrub. Sie zog ihren Schal über die Nase, um die feinen Staubschlieren nicht einzuatmen.

Eleanor Queen konzentrierte sich auf einen unteren Teil des massiven Stammes. Sie führte ihre Hände zusammen, ein leises Klatschen, dann drehte sie sie um, sodass sie Rücken an Rücken lagen. Als sie sie voneinander löste, erschien ein Riss im Stamm. Je weiter sie ihre Hände auseinanderbewegte, desto breiter wurde der Riss. Ihre Arme zitterten unter der unnatürlichen Anstrengung, als immer mehr vom oberen Teil des Baumes als Sägemehl und Schneematsch um sie herum herabfiel.

Im dunklen Schoß lag Tycho zusammengekauert auf der Seite und schlief.

»Tycho!« Orla stürmte hinzu und nahm ihn in die Arme.

»Lauf!«, rief Eleanor Queen.

Über ihnen knackten die größten Äste, brachen ab und begannen zu fallen. Einer von ihnen krachte auf einen Baum, der nur wenige Meter entfernt stand, und zerbarst beim Aufprall in Splitter. Orla drückte ihren bewusstlosen Jungen gegen ihre Brust und duckte sich, während sie die Hand von Eleanor Queen ergriff. Sie flohen in Richtung Haus. Hinter ihnen brach der Baum in einer Wolke aus Staub und berstenden Ästen zusammen.

Als sie auf der Lichtung hinter dem Haus auftauchten, hatte sich der Waldrand auf seinen ursprünglichen Platz zurückgezogen und stellte keine Bedrohung mehr dar. Orla fiel auf die Knie und hustete erstickt. Partikel des geschwärzten Baumes kitzelten ihre Kehle, ihre Nasenlöcher, aber die Weite des verschneiten Hofes war Balsam, eine Erleichterung von der wochenlangen, drückenden Klaustrophobie.

Und es erfüllte sie mit Hoffnung, dass ihre Tochter ihr – ihrer beider – Wort halten konnte: Orla würde endlich in der Lage sein, das Grundstück zu verlassen und Essen für ihre Kinder zu holen.

Eleanor Queen blieb neben ihr stehen, die Hände auf den Knien, während auch sie hustete, um ihre Lunge zu befreien und ihre Atmung wiederherzustellen – was dem Mädchen aus dem 19. Jahrhundert in ihr nie gelungen war. Der Wald hinter ihnen lag in einer Decke aus rußigem Nebel. Die Asche legte sich wie dunkler Schnee.

»Tycho?« Orla legte ihn sanft in den Schnee, schüttelte ihn ein wenig und strich ihm die Haare aus dem schmutzigen, reglosen Gesicht.

Eleanor Queen kauerte neben ihr. »Geht es ihm gut?«

»Tigger?« Sie küsste ihn auf die Wangen und rieb ihm über die Arme. »Warum wacht er nicht auf?«

»Ich weiß es nicht … Tycho?« Eleanor Queen griff nach den Fingern ihres Bruders, und seine Augen sprangen auf.

Er blinzelte verschlafen.

»Wir sind genau hier, mein Liebling.« Und Tycho lächelte sie an. »O Schätzchen.«

Während sie ihn hielt und wiegte, schlang Eleanor Queen ihre Arme um sie beide.

Ihr Sohn war wieder zum Leben erwacht. Ihre Tochter enthielt ein mächtiges, altersloses Wesen. Weihnachtswunder. Orla lachte, obwohl ihr zerkratzter Hals dagegen protestierte.

»Ich bin durstig, Mama.« Tycho rappelte sich in eine sitzende Position hoch, ganz zerknittert von seinem langen Schlummer.

Eleanor Queen nahm einen Berg Schnee in ihre Hände. »Neig den Kopf zurück.«

Er hörte auf seine große Schwester. Der Schnee floss als kleiner Wasserstrahl aus ihren Händen, den er mit seinem offenen Mund auffing.

»Ich auch?« Orla warf den Kopf zurück und öffnete den Mund. Eleanor Queen schöpfte noch mehr Schnee, der ihr wie aus einem Wasserhahn aus den Händen rieselte.

Keine ganz menschliche Fähigkeit, aber eine praktische. Eine großzügige Fähigkeit. Die Kreatur erinnerte sich vielleicht nicht immer an ihre menschlichen Beziehungen oder kommunizierte so, wie sie es taten, aber Sie hatte jetzt Eleanor Queen – ein freundliches, liebenswürdiges Mädchen, das nur freundlicher und weiser werden würde.

Die Gefahr war endlich gebannt.

Als Orla Tycho den Rest des Weges zum Haus trug, begannen große Schneeflocken zu fallen. Sie blieben stehen, um sie zu bestaunen, jedes einzelne sechszackige Wunderwerk von der Größe einer Hand, mit verworrenen Dendriten. Die zarten Skulpturen fielen vom Himmel und blieben an den ausgestreckten Wollfäustlingen hängen.

»O Mann!«, sagte Tycho, der endlich von der Magie begeistert war, die er nie verstanden hatte.

Eleanor Queen versuchte, ihr zufriedenes Grinsen zu verbergen. »Gern geschehen.«