KAPITEL 14

KEINE LOYALITÄT

Loyalität ist eine gute Eigenschaft – bei Verwandten, Freunden und Haustieren, nicht aber beim Trader. Bei einem Trader ist Loyalität eine verheerende Eigenschaft. Die Loyalität gegenüber einer Meinung oder einer Position kann katastrophal sein. Die Abwesenheit von Loyalität ist Flexibilität – die Fähigkeit, seine Meinung vollständig zu ändern, wenn es angezeigt ist. Auf diese Eigenschaft verweist Michael Marcus, wenn er gefragt wird, was ihn von den meisten Tradern unterscheidet. Er erläutert: „Ich bin geistig sehr offen. Ich bin bereit, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die emotional schwer zu akzeptieren sind. […] Wenn sich ein Markt entgegen meinen Erwartungen bewegt, gelingt es mir immer, zu sagen: ‚Ich hatte gehofft, an dieser Position viel zu verdienen, aber es klappt nicht, also steige ich aus.‘“

„Der Markt sagte mir, dass ich falschlag.“

Im April 2009, nach dem Finanzkollaps von Ende 2008 bis Anfang 2009, war Colm O’Shea bezüglich der Märkte immer noch sehr pessimistisch und auch entsprechend positioniert. „Aber“, so O’Shea, „der Markt sagte mir, dass ich falschlag.“ O’Shea beschrieb seinen damaligen Gedankengang: „China vollzieht eine Wende, die Metallpreise wenden nach oben und der Australische Dollar steigt. Was sagt mir das? […] Irgendwo auf der Welt findet eine Erholung statt. […] Also kann ich nicht an der These festhalten, dass es auf der ganzen Welt schlimm aussieht. Welche Hypothese würde zu den aktuellen Entwicklungen passen? Asien sieht im Moment gut aus. Ein passendes Szenario wäre eine Erholung unter der Führung Asiens.“

Als er erkannte, dass seine umfassende grundsätzliche Ansicht falsch war, gab O’Shea sie auf. Wenn er an seinen ursprünglichen Markterwartungen festgehalten hätte, wäre das katastrophal gewesen, denn die Aktien- und die Rohstoffmärkte machten sich zu einer mehrjährigen Rallye auf. Indem er stattdessen so flexibel war, anzuerkennen, dass seine Weltsicht falsch war, und seine Auffassung bezüglich der Entwicklungsrichtung des Marktes zu ändern, hatte O’Shea ein profitables Jahr, obwohl sein ursprünglicher Marktausblick völlig unzutreffend war.

O’Shea führt George Soros als Ausbund an Flexibilität an: „Niemand, der mir je begegnet ist, bereut so wenig wie George Soros. […] Er ist an eine Idee überhaupt nicht emotional gebunden. Wenn ein Trade falsch ist, beendet er ihn einfach und geht zum nächsten über. Ich erinnere mich, dass er einmal eine riesige FX-Position [Devisen-Position] hatte. Daran verdiente er circa 250 Millionen Dollar am Tag. In der Finanzpresse wurde er mit Aussagen über diese Position zitiert. Es klang nach einer umfassenden strategischen Sichtweise. Dann lief der Markt in die andere Richtung und die Position verschwand einfach. Sie war weg.“

Jones wechselt den Kurs

Ich interviewte Paul Tudor Jones bei mehreren Besuchen im Abstand von etwa zwei Wochen. Beim ersten Interview sah Jones den Aktienmarkt sehr bearish und hatte den S&P 500 massiv geshortet. Bei meinem zweiten Besuch hatte sich seine Sicht auf den Aktienmarkt dramatisch verändert. Die Tatsache, dass der Aktienmarkt nicht wie von ihm erwartet weiter nach unten gelaufen war, hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass er falschlag. „Dieser Markt ist ausverkauft“, erklärte er bei meinem zweiten Besuch nachdrücklich. Er hatte nicht nur seine ursprüngliche Short-Position aufgegeben, sondern war aufgrund der Indizien dafür, dass seine Ausgangsprognose falsch war, auch long gegangen. Diese 180-Grad-Wende zeigt beispielhaft die extreme Flexibilität, die hinter Jones’ Trading-Erfolg steht. Und seine Meinungsänderung erwies sich tatsächlich als gut getimt, denn in den Wochen danach lief der Markt steil nach oben.

Auf dem falschen Fuß erwischt

Zu einem Zeitpunkt, als Michael Platt eine massive Long-Position auf europäische Zinsfutures hielt, erhöhte die Europäische Zentralbank (EZB) ganz unerwartet die Zinsen. Das war für seine Position ein verheerender Schlag, aber Platt bekam von der Situation gar nichts mit, weil er gerade von London nach Südafrika flog. Sein Flugzeug war gerade gelandet, da bekam er auch schon einen Anruf von seinem Assistenten, der ihm berichtete, was geschehen war, und um Instruktionen bat.

„Wie viel stehen wir im Minus?“, fragte Platt.

„Etwa 70 bis 80 Millionen Dollar“, antwortete sein Assistent.

Platt kam zu dem Schluss: Wenn die EZB angefangen hatte, die Zinsen zu erhöhen, würden sich die Erhöhungen wahrscheinlich fortsetzen. Er konnte sich vorstellen, dass der Trade innerhalb einer Woche zu einem Verlust von 250 Millionen Dollar führen würde, wenn er nicht schnell handelte. So wies er seinen Assistenten an: „Stoßen Sie alles ab!“

Wenn ich falschliege, habe ich nur den Instinkt, auszusteigen. Wenn ich in eine bestimmte Richtung denke und dann sehe, dass es ein echter Fehler war, bin ich vielleicht nicht der Einzige, der einen Schock erleidet, und deshalb sollte ich besser der Erste sein, der verkauft. Wo der Preis steht, ist mir dabei egal.

– Michael Platt

Platt kommentierte sein Erlebnis so: „Wenn ich falschliege, habe ich nur den Instinkt, auszusteigen. Wenn ich in eine bestimmte Richtung denke und dann sehe, dass es ein echter Fehler war, bin ich vielleicht nicht der Einzige, der einen Schock erleidet, und deshalb sollte ich besser der Erste sein, der verkauft. Wo der Preis steht, ist mir dabei egal.“

Den schlimmsten Trading-Patzer aller Zeiten überlebt

Das wohl beste Beispiel für einen Mangel an Loyalität gegenüber einer Position, das mir je begegnet ist, hat mit Stanley Druckenmiller zu tun, dessen Hedgefonds Duquesne Capital Management über einen Zeitraum von 25 Jahren eine durchschnittliche Jahresrendite von fast 30 Prozent erzielte – sicherlich eine der besten langfristigen Erfolgsbilanzen aller Zeiten. Die Geschichte beginnt am 16. Oktober 1987. Wenn es Ihnen schwerfällt, die Bedeutung dieses Datums einzuordnen, gebe ich Ihnen einen Tipp: Es war ein Freitag.

Damals managte Druckenmiller neben seinem eigenen Duquesne-Fonds noch mehrere Fonds für Dreyfus. Am Beginn jenes Freitags stand er netto short. Viele Menschen vergessen, dass der Crash am 19. Oktober 1987 kein unvermitteltes Ereignis war, das aus dem Nichts auftauchte. In Wirklichkeit steckte der Markt vor diesem Tag in einem Kursrutsch von fast 20 Prozent, der bereits zwei Monate vorher angefangen hatte und wovon allein neun Prozent in der Woche vor dem Crash verloren gingen. Am Nachmittag jenes Freitags, des 16. Oktober, kam Druckenmiller zu dem Schluss, dass der Markt tief genug gefallen war und sich in der Nähe eines von ihm vermuteten starken Unterstützungsbereichs befand. Deshalb deckte er seine Short-Position ein. Ein schlechter Schachzug, oder? Nun, tatsächlich war es sogar noch schlimmer, denn er deckte nicht nur seine Short-Position ein, sondern ging auch noch netto long – massiv long. Tatsächlich stellte Druckenmiller an jenem Tag von netto short auf 130 Prozent long (also eine gehebelte Long-Position) um.

Wenn ich diese Episode früher bei meinen Vorträgen erzählte, fragte ich immer, ob irgendjemand im Publikum einmal einen schlimmeren Fehler beim Trading begangen habe. Ich habe aber aufgehört, diese Frage zu stellen, weil mir klar wurde, dass man einen schlimmeren Patzer nicht einmal erfinden kann, als am Freitag, dem 16. Oktober 1987, von einer Netto-Short-Position auf eine gehebelte Long-Position umzustellen.

Doch trotz dieses gewaltigen Fehlers: Wenn man Druckenmillers Track Record durchgeht, weist der Oktober 1987 unglaublicherweise nur einen mäßigen Verlust auf. Wie ist das möglich? Vor allen Dingen hatte Druckenmiller in der ersten Monatshälfte short gestanden und daher Gewinn gemacht. Die Pointe ist: Zwischen Handelsschluss am Freitag und Handelseröffnung am Montag kam Druckenmiller zu dem Schluss, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Der Grund dafür tut hier zwar nichts zur Sache, aber wenn Sie neugierig sind: In „Magier der Märkte 2“ sind die Gründe ausführlich beschrieben. Wichtig ist nur, dass Druckenmiller begriff, dass er mit der massiven Long-Position einen schweren Fehler begangen hatte, und dass er entschlossen war, am Montagmorgen aus der Position auszusteigen. Was tat er also? Am Montagmorgen baute er in der ersten Handelsstunde seine gesamte neue Long-Position wieder ab. Und er baute sie nicht nur ab, sondern er ging sogar wieder short! Stellen Sie sich den unglaublichen Mangel an Loyalität gegenüber einer Position vor, der nötig ist, um eine große Position umzukehren und um sie am nächsten Handelstag schon wieder umzukehren, nachdem der Markt gewaltig gegen die erste umgekehrte Position gelaufen ist.

Gute Trader liquidieren ihre Position, wenn sie glauben, dass sie sich geirrt haben. Großartige Trader kehren ihre Position um, wenn sie glauben, dass sie sich geirrt haben.

Gute Trader liquidieren ihre Position, wenn sie glauben, dass sie sich geirrt haben. Großartige Trader kehren ihre Position um, wenn sie glauben, dass sie sich geirrt haben. Wenn Sie als Trader erfolgreich sein wollen, dürfen Sie Ihrer Position gegenüber nicht loyal sein.

Die Transformation einer schlechten Idee

Flexibilität oder mangelnde Loyalität ist auch nötig, wenn man einen Trade eingeht. Dies veranschaulicht ein Short-Trade von Jamie Mai im Jahr 2011. Jamie Mai ist der Portfoliomanager von Cornwall Capital, eines Hedgefonds mit starken Rendite-Risiko-Zahlen, und gehörte zu den großen Gewinnern dank Shorts auf Subprime-Hypothekenanleihen, die erstmals in dem hervorragenden Buch „The Big Short“ von Michael Lewis porträtiert wurden. Genau dieses Buch machte mich auf Mai aufmerksam und veranlasste mich, ihn für „Magier der Märkte: Next Generation“ zu interviewen.

Im Mai 2011 fiel Mai auf, dass China – gleichzeitig der größte Erzeuger und der größte Verbraucher von Steinkohle – vom Netto-Exporteur zum Netto-Importeur geworden war und dass sich dieser Trend beschleunigte. Es hatte zehn Jahre gedauert, bis Chinas Kohleausfuhren von 100 Millionen Tonnen auf null gefallen waren, aber nur zwei Jahre, bis die Einfuhren um das Anderthalbfache dieser Menge angewachsen waren. Mais erster Endruck war, dass diese enorme, ungebremste Zunahme der chinesischen Kohleimporte die Nachfrage nach Schüttgutfrachtern steigen lassen würde. Zudem hatten die Schüttgut-Frachtunternehmen sehr niedrige Kurs-Cashflow-Verhältnisse. Long-Positionen auf solche Unternehmen schienen der perfekte Trade zu sein. Mai, der aus dem Private-Equity-Bereich kommt, geht bei der Platzierung seiner Trades aber sehr bedachtsam vor und jede Idee für einen Trade muss gründlich recherchiert werden, bevor er sie umsetzt. Als er genauer nachforschte, fand er heraus, dass ein paar Jahre zuvor die hohen Frachtkosten, die aus der wachsenden Rohstoffnachfrage aus den Schwellenländern resultiert hatten, zu einem Boom im Schiffbau geführt hatten und dass die betreffenden Frachter gerade jetzt in Dienst gestellt wurden – was eine Erhöhung der Flottenkapazität um rund 20 Prozent pro Jahr nach sich ziehen würde. Mai wurde klar, dass selbst unter den optimistischsten Annahmen bezüglich der Frachter-Nachfrage aus China noch große Überkapazitäten entstehen würden. Das heißt, obwohl er von der Idee ausgegangen war, long auf Schüttgut-Frachtunternehmen zu gehen, landete er ironischerweise beim entgegengesetzten Trade – er ging short, indem er Puts kaufte, die aus dem Geld waren, und das war der eindeutigste Short-Trade seines Unternehmens in jenem Jahr.

Gehen Sie mit Ihren Marktprognosen nicht hausieren

Eine Randbemerkung: Sie sollten sich sehr davor hüten, hinauszuposaunen, was der Markt Ihrer Meinung nach tun wird. Warum? Wenn Sie verkünden, was ein Markt Ihrer Meinung nach tun wird – vermutlich, um andere mit Ihrem Scharfsinn zu beeindrucken –, dann investieren Sie vermutlich etwas in diese Vorhersage. Wenn dann die tatsächliche Preisentwicklung und die Fakten Ihrer Prognose offensichtlich widersprechen, ändern Sie Ihre Meinung mit größerem Widerwillen, als es andernfalls der Fall wäre. Sie finden dann allerlei Gründe, weshalb Ihre ursprüngliche Vorhersage immer noch richtig sein könnte. Paul Tudor Jones ist sich der Gefahr sehr bewusst, dass frühere Äußerungen über den Markt das Trading beeinträchtigen können, und er geht dieses Problem gezielt an: „Ich lasse es nicht zu, dass meine offiziellen Äußerungen über einen Markt meine Trading-Meinungen beeinflussen.“

Ed Seykota war in seinen Anfangsjahren als Trader in die Falle getappt, seine Meinungen zu verbreiten. Er eröffnete vielen Freunden, er erwarte, dass der Silberpreis steigen würde. Als der Silberpreis stattdessen fiel, ignorierte er sämtliche Anzeichen am Markt, die dafür sprachen, dass er sich irrte, und sagte sich, es handele sich nur um eine vorübergehende Korrektur. „Ich konnte es mir nicht leisten, falschzuliegen“, erklärte Seykota im Rückblick auf diese Episode. Zum Glück rettete ihn sein Unterbewusstsein. Er träumte immer wieder von einem großen silbernen Flugzeug, das in den Sinkflug geriet und auf die unvermeidliche Bruchlandung zusteuerte. Seykota verstand die Botschaft: „Irgendwann stieß ich meine Silberposition ab. Ich ging sogar short und die Träume hörten auf.“