KAPITEL 18

DYNAMISCHES ODER STATISCHES TRADING

Man muss sich anpassen

Zwar sind die meisten (vielleicht sogar alle) Trading-Prinzipien, die in diesem Buch behandelt werden, zeitlos, aber Trading-Strategien müssen angepasst werden. Als ich Colm O’Shea fragte, ob es konkrete Regeln gebe, an die er sich hält, antwortete er: „Ich benutze Risiko-Richtlinien, aber von Regeln in dem Sinne halte ich nichts. Trader, die auf lange Sicht erfolgreich sind, passen sich an. Wenn sie Regeln anwenden und man sie zehn Jahre später trifft, haben sie diese Regeln gebrochen. Warum? Weil sich die Welt verändert hat. Regeln gelten nur für einen Markt zu einer bestimmten Zeit. Trader, die scheitern, haben vielleicht tolle Regeln, die funktionieren – aber irgendwann funktionieren sie eben nicht mehr. Sie halten sich an die Regeln, weil sie bisher funktioniert haben, und sie ärgern sich sehr, dass sie Verlust machen, obwohl sie alles so machen wie immer. Sie begreifen nicht, dass sich die Welt ohne sie weitergedreht hat.“

Trader, die auf lange Sicht erfolgreich sind, passen sich an.

– Colm O’Shea

Edward Thorp lieferte ein perfektes Beispiel dafür, wie sich erfolgreiche Trader anpassen. Zu den vielen Dingen, die Thorp in seiner langen Karriere als Erster gemacht hat, gehört, dass er als Erster die statistische Arbitrage als Strategie eingesetzt hat. Die statistische Arbitrage ist eine marktneutrale Strategie, bei der man Portfolios aus großen Mengen Long- und Short-Positionen auf Aktien konstruiert, wobei die Positionen so ausbalanciert werden, dass Marktbewegungen in eine bestimmte Richtung und sonstige Risiken minimiert werden. Die Strategie kauft unterbewertete Aktien und shortet überbewertete und wenn die Preise sich ändern, passt sie die Positionen dynamisch an. Normalerweise – aber nicht unbedingt immer – wird anhand einer Strategie der Rückkehr zum Mittelwert festgestellt, welche Aktien unterbewertet und welche überbewertet sind.

Im Jahr 1979 startete Thorp ein Forschungsprojekt, das er das „Indikatorprojekt“ nannte. Er suchte Indikatoren, die Vorhersagewert für die Kurse einzelner Aktien haben könnten. Er und sein Team untersuchten ein breites Spektrum von möglichen Indikatoren, unter anderem Gewinnüberraschungen, Dividendenausschüttungen, das Kurs-Buchwert-Verhältnis und so weiter. Im Rahmen des Projekts untersuchten die Forscher auch die Aktien, die in der Vergangenheit am stärksten gefallen und gestiegen waren. Und dieser Faktor erwies sich als der effizienteste Indikator für die kurzfristige Vorhersage von Aktienkursen. Im Prinzip brachten die am stärksten gestiegenen Aktien im Folgezeitraum tendenziell die schlechteste Performance und die am stärksten gefallenen tendenziell eine überdurchschnittliche Performance. Thorp und sein Team bezeichneten ihre Strategie als MUD – „most up, most down“.

In der ursprünglichen Ausprägung dieser Strategie versuchte Thorp, das Risiko durch den Ausgleich zwischen den Long- und den Short-Positionen zu kontrollieren. Die Strategie funktionierte recht gut und brachte eine annehmbare Risikokontrolle mit sich, aber irgendwann begann sich ihre Rendite-Risiko-Performance zu verschlechtern. An diesem Punkt überarbeitete Thorp die Theorie dahingehend, dass er Portfolios konstruierte, die nicht nur marktneutral, sondern auch sektorneutral waren. Und als sogar das sektorneutrale Modell Anzeichen dafür aufwies, dass sein Vorteil verloren ging, stellte Thorp auf eine Strategie um, die das Portfolio sogar im Hinblick auf diverse mathematisch bestimmte Faktoren neutral gestaltete. Zu dem Zeitpunkt, als diese dritte Iteration eingeführt wurde, hatte sich die ursprüngliche Version des Systems erheblich verschlechtert. Dadurch, dass Thorp die Strategie stetig dem Bedarf entsprechend anpasste, konnte er seine überlegene Rendite-Risiko-Performance aufrechterhalten – wenn er das ursprüngliche System beibehalten hätte, das zu einer gewissen Zeit so gut funktioniert hatte, hätte sich die Profitabilität hingegen irgendwann in Luft aufgelöst.

„Scaling“ statt Einstieg und Ausstieg zu bestimmten Preisen

Man muss nicht auf einmal in eine Position einsteigen oder aus einer Position aussteigen. Die meisten Trader neigen dazu, einen konkreten Einstiegspreis und einen konkreten Ausstiegspreis zu bestimmen. Oft ist es jedoch besser, stufenweise ein- oder auszusteigen. Betrachten wir als Beispiel ein Dilemma, vor dem Trader häufig stehen. Nehmen wir an, Sie sind fest davon überzeugt, dass der Markt steigen wird, aber gerade haben die Preise einen beträchtlichen Aufschwung erlebt. Sie haben Bedenken, dass – wenn Sie jetzt kaufen und es kommt zu einer Korrektur – der anfängliche Verlust Sie zum Ausstieg zwingt, obwohl Sie mit der langfristigen Richtung richtigliegen. Andererseits: Wenn der Trade wirklich gut ist, besteht ein erhebliches Risiko, dass das Warten auf einen Rücksetzer dazu führt, dass Sie den gesamten Anstieg verpassen. Es gibt allerdings eine dritte Alternative: Sie können eine Teilposition zum aktuellen Marktpreis kaufen und versuchen, in den Rest der Position durch stufenweise Käufe zu sinkenden Preisen einzusteigen. Dieses „Scaling down“ sorgt dafür, dass Sie für den Fall, dass der Markt weiterläuft, wenigstens eine Teilposition halten, dabei aber nicht Gefahr laufen, die gesamte Position nach einem beträchtlichen Anstieg gekauft zu haben. Da dadurch der durchschnittliche Einstiegspreis sinkt, wird auch die Wahrscheinlichkeit gesenkt, dass Sie einen guten langfristigen Trade wegen eines anfänglichen einstiegsbedingten Verlusts aufgeben.

Analog gilt diese Sichtweise auch, wenn man aus einer Position aussteigt. Nehmen wir an, Sie haben eine Long-Position, die bereits einen großen Gewinn gebracht hat, und Sie befürchten, diesen Gewinn wieder abgeben zu müssen. Wenn Sie nun die gesamte Position abstoßen und sich der Anstieg fortsetzt, entgeht Ihnen vielleicht ein erheblicher Teil des Gesamtanstiegs. Wenn Sie andererseits die gesamte Position behalten und der Markt wendet, geben Sie am Ende vielleicht einen großen Teil des Gewinns wieder ab. Die Alternative, stufenweise aus der Position auszusteigen, führt dazu, dass Sie im Falle einer Fortsetzung des Anstiegs immer noch eine Teilposition halten, aber gleichzeitig weniger Gewinn zurückgeben, falls der Markt wendet. Bill Lipschutz, ehemaliger Leiter des globalen Devisenhandels (FX) bei Salomon Brothers und heute Portfoliomanager bei der FX-Vermögensverwaltung Hathersage Capital Management, schrieb seine Fähigkeit, an guten langfristigen Trades festzuhalten, der Tatsache zu, dass er aus Positionen stufenweise aussteigt: „Das versetzte mich in die Lage, viel länger an meinen Gewinnern festzuhalten, als ich es bei den Positionen der meisten anderen Trader beobachtete.“

Geraten Sie möglichst nicht in Versuchung, absolut recht haben zu wollen. Wenn Sie Alles-oder-nichts-Entscheidungen vermeiden und schrittweise aus Positionen aussteigen, fahren Sie zwar nie das bestmögliche Ergebnis, aber auch nie das schlechteste Ergenis ein.

Positionen hin und her traden

Die meisten Trader betrachten einen Trade als Prozess, der aus zwei Schritten besteht: aus der Entscheidung, wann (oder wo) man einsteigt, und aus der Entscheidung, wann (oder wo) man aussteigt. Doch vielleicht ist es besser, das Trading als dynamischen Prozess zwischen Einstiegs- und Ausstiegspunkten zu betrachten und nicht als statischen Prozess.

Wohl niemand von allen meinen Interviewpartnern verdeutlichte diesen dynamischen Trading-Prozess besser als Jimmy Balodimas, ein sehr erfolgreicher Eigenhändler von First New York Securities. Er ist der Inbegriff des unorthodoxen Traders. Mein Kapitel über Balodimas in „Magier der Märkte: Next Generation“ begann ich mit dem Satz: „Jimmy Balodimas bricht sämtliche Regeln.“ Das tut er wirklich. Er verkauft in steile Anstiege hinein und er kauft in abstürzende Märkte hinein. Er stockt Verlierer auf und kürzt Gewinner. Ich empfehle niemandem, die Trading-Methode von Balodimas nachzuahmen, denn ich glaube, bei den meisten Menschen wäre das finanzieller Selbstmord. Es gibt jedoch ein – und nur ein – Element seines Trading-Stils, das meines Erachtens vielen Tradern zugute kommen könnte. Dieser spezielle Aspekt seines Trading-Stils – auf den wir gleich noch kommen – erklärt, wieso es Balodimas häufig gelingt, selbst dann Gewinne zu erzielen, wenn er auf der falschen Seite des Marktes steht.

Mein erstes Interview mit Balodimas fand am 22. Februar 2011 statt, einem Tag, an dem der Aktienmarkt steil fiel. Vor diesem Tag war der Monat für Shorts ziemlich grausam gewesen, denn der Markt erreichte fast täglich neue Hochs; spätestens nach nicht einmal drei Tagen war es wieder so weit. Balodimas hatte den ganzen Februar hindurch short gestanden. Der steile Kursrutsch am 22. Februar machte zwar nur etwas weniger als die Hälfte des Kursgewinns im bisherigen Laufe des Monats zunichte, aber für Balodimas reichte das aus, um seinen gesamten bisherigen Monatsverlust wieder hereinzuholen.

Eine der ersten Fragen, die ich Balodimas stellte: „Wie können Sie vorn liegen, obwohl Sie auf der falschen Seite des Marktes standen?“

Wenn der Markt in meine Richtung läuft, nehme ich immer etwas Geld vom Tisch. […] Dadurch spare ich viel Geld, denn wenn der Markt dann steigt, ist meine Position kleiner.

– Jimmy Balodimas

Darauf antwortete er aus der Perspektive eines Traders, der zur Zeit des Interviews short war: „Wenn der Markt in meine Richtung läuft, nehme ich immer etwas Geld vom Tisch. […] Dadurch spare ich viel Geld, denn wenn der Markt dann steigt, ist meine Position kleiner. Das habe ich mir vom ersten Tag an so angewöhnt. Ich nehme immer Geld vom Tisch, wenn es in meine Richtung geht. Immer, immer, immer.“

Die Anpassung der Positionsgröße gegenläufig zu den Marktschwankungen (also der Abbau einer Short-Position bei einem Einbruch und das Aufstocken auf die volle Positionsgröße bei einer Rallye) ist ein Schlüsselelement von Balodimas’ Erfolg. Er tradet mit seinen Positionen derart geschickt hin und her, dass er manchmal – wie im erwähnten Fall – selbst dann im Endeffekt Gewinn macht, wenn er auf der falschen Seite des Börsentrends steht. Zwar dürfte es nur wenigen Tradern gelingen, an das angeborene Geschick von Balodimas im Hin- und Her-Traden von Positionen heranzureichen, aber viele Trader dürften es vorteilhaft finden, an Trades dynamisch und nicht statisch heranzugehen.

Wie kann man einen dynamischen Trading-Ansatz in der Praxis einsetzen? Der Grundgedanke besagt, dass man die Positionsgröße eines Trades anlässlich einer profitablen Bewegung vermindert und sie in einer darauf folgenden Korrektur wieder aufstockt. Jedes Mal, wenn man die Position abbaut und der Markt zum Wiedereinstiegspunkt zurückläuft, entsteht somit ein Gewinn, der andernfalls nicht realisiert worden wäre. Sogar ein gescheiterter Trade, der vom ursprünglichen Einstiegspunkt bis zum endgültigen Ausstiegspunkt keine günstige Netto-Preisänderung aufweist, kann dadurch profitabel werden, dass man gegen die Position tradet (also das Engagement bei günstigen Preisschwankungen vermindert und bei darauf folgenden ungünstigen Preisbewegungen wieder erhöht).

Wenn man das Engagement anlässlich günstiger Preisbewegungen vermindert, hat das noch den zusätzlichen Vorteil, dass man mit geringerer Wahrscheinlichkeit durch eine Kurskorrektur aus einem guten Trade hinausgeworfen wird. Wenn man die Position bereits verkleinert hat, wirkt sich eine Korrektur nämlich weniger stark aus. Man kann die Korrektur sogar als wünschenswert betrachten, denn sie bietet eine Gelegenheit, den liquidierten Teil der Position wieder aufzubauen. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie kaufen eine Aktie bei 40 mit Kursziel 50 und erwarten bei 45 einen zwischenzeitlichen Widerstand. Unter diesen Annahmen könnten Sie Ihr Engagement bei 45 strategisch abbauen und anlässlich eines Rücksetzers wieder aufbauen. Dank dieser Methode stehen Sie nach einem Rücksetzer mit einer gestärkten Position da. Würden Sie stattdessen statisch traden, könnte ein Rücksetzer Bedenken wecken, dass Sie den gesamten Gewinn aus dem Trade verlieren könnten – und dadurch würde die Wahrscheinlichkeit steigen, dass Sie den Trade vollständig auflösen.

Der einzige Fall, in dem die Strategie teilweiser Gewinnmitnahmen anlässlich günstiger Kursbewegungen nachteilig ist, tritt auf, wenn der Markt weiter in die gewünschte Richtung läuft, ohne Rücksetzer auf das Wiedereinstiegsniveau. Jedoch ist in diesem Fall der verbleibende Anteil der Position hochprofitabel. Somit kann der hier erklärte dynamische Prozess einerseits den Gewinn aus Preisbewegungen mit Korrekturen steigern und andererseits die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man an guten Trades festhält – der Preis dafür ist, das man bei Trades, die reibungslos in die gewünschte Richtung laufen, auf einen Teil des Gewinns verzichtet. Das Hin- und Her-Traden mit Positionen eignet sich nicht unbedingt für alle Trader, aber manche dürften diese Vorgehensweise sehr vorteilhaft finden.