Als George W. Bush im September 2002 sein ambitiöses Programm für eine Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens verkündete, wurde dies vor allem in der Region selbst als ein Vorwand für eine real beabsichtigte imperialistische Kontrolle der Region durch die nach Ende der Bipolarität verbliebene einzige Supermacht verstanden.231 Bereits mit dem nach dem 11. September 2011 verkündeten »war on terror« und dem Angriff auf Afghanistan hatte die US-Administration ihren Anspruch als Ordnungsmacht in der Region und weltweit angemeldet, wie dies beispielsweise im neo-konservativen »Project for a New American Century« (PNAC) klar formuliert ist.232 In der Tat wurde dieser strategische Entwurf als flankierende Maßnahme zum Kampf gegen den von al-Qaida ausgehenden transnationalen Terrorismus präsentiert. Wer jedoch Demokratie im Nahen Osten fordert, müsste unmittelbar an Saudi-Arabien denken, wo es weder Rechtsstaatlichkeit noch Gewaltenteilung, geschweige denn eine durch Wahlen legitimierte Exekutive gibt. Nicht zuletzt stammten fünfzehn der neunzehn Attentäter von 9/11 aus Saudi-Arabien. Aber: als herausragender Feind der Demokratie wurde das Regime von Saddam Hussein im Irak ausgemacht, das bis Beginn der 1990er Jahre verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen den Iran gewesen war.
Der Slogan »Democratizing the Middle East« implizierte immer auch jene andere, unmittelbar mit dem Begriff Demokratie verbundene amerikanische Zielvorstellung, die »market economy«, also die Herstellung marktwirtschaftlicher Verhältnisse. Hier dürfte der Schlüssel für den Krieg des Jahres 2003 gegen den Irak liegen, denn der staatliche Ölsektor des Landes entsprach in keiner Weise marktliberalen Ordnungsvorstellungen, verhinderte er doch den Zugriff privater (US-amerikanischer) Konzerne auf die irakische Ölproduktion und Vermarktung. Nicht zufällig besetzten daher die US-Truppen sofort das Erdölministerium, während beispielsweise das Nationale Museum tagelang Plünderern überlassen blieb.233
Das von der Bush-Administration vorangetriebene Projekt des »Greater Middle East234, das zunächst im Krieg gegen den Irak und dem »Regierungswechsel« in diesem Land gipfelte, ermöglichte mit dem von den USA durchgesetzten neuen Ölgesetz den internationalen Konzernen den Zugriff auf die riesigen Erdölreserven dieses Landes, die bis dahin staatlicher irakischer Kontrolle unterstanden. Das einzige Land des Greater Middle East (der sich je nach Lesart von der Atlantikküste Afrikas bis Pakistan oder auch bis Indonesien erstreckt), das noch nicht unter zumindest indirekter Kontrolle der USA steht, ist der Iran. Das Land verfügt über rund zehn Prozent der weltweit bekannten Ölreserven, die Erdgasvorräte werden noch weit höher geschätzt. Iran kooperiert sowohl mit den westlichen Industrieländern wie mit deren harten Konkurrenten: Allein die Verträge mit China sehen für die nächsten 25 Jahre Investitionen in Höhe von mehr als 100 Milliarden Dollar vor. Bereits abgeschlossen ist ein Vertrag zwischen der »National Iranian Oil Company« (NIOC) mit der »China National Petroleum Corporation« (CNPC) zur Erschließung des Erdgasfelds »South Pars«, das als größtes Erdgasfeld der Welt gilt – die Exploration des Erdgasfeldes »North Pars« steht bevor. Mit Russland hat Iran einen Vertrag geschlossen, der den Bau einer asiatischen Pipeline zur Belieferung Indiens und Chinas vorsieht. Mit beiden Ländern hat Iran langfristige Lieferverträge abgeschlossen. Iran ist so zu einem Schlüsselstaat für die aufsteigenden Großmächte China und Indien und zu einem wichtigen Partner und Konkurrenten Russlands geworden. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht daher Iran als einen »heißen Kandidaten für eine geopolitische Umorientierung, also eine Abkehr vom Westen«235. Noch immer in der Schwebe ist die Diskussion um die Gründung eines sich am Vorbild der OPEC orientierenden Kartells der Erdgas produzierenden Staaten.236
Seit »peak oil«, sprich der Höhepunkt der Öl- und Gasförderung erreicht, wenn nicht gar überschritten zu sein scheint, wachsen einerseits zwar die Bemühungen um alternative Energien, andererseits sind Öl und Gas für viele Wirtschaftsbereiche noch immer unersetzbar, sodass die Energiesicherung massiv in den Vordergrund staatlicher Interessen gerät. Und hierbei geht es nicht nur um die Sicherung der Rohstoffquellen, sondern vor allem der Transportwege auf globaler Ebene: Nicht zufällig schreibt Frederick Starr, Leiter des Kaukasus-Instituts der John Hopkins University: »Wer bestimmen kann, wie die Pipeline-Karte aussieht, […] wird die Zukunft eines riesigen Teils der Welt bestimmen.«237
Da Europa und Asien eine gewaltige Landmasse bilden, kann der Energiefluss von Ost nach West relativ leicht über Pipelines organisiert werden. Aufgrund dieser territorialen Gebundenheit des Energietransports spielen geostrategische Erwägungen eine zentrale Rolle. So führt eine Pipeline aus dem Südiran über Täbris durch Armenien ins türkische Erzerum und von dort zum Erdölhafen Ceyhan. In Erzerum sollte sie angeschlossen werden an die geplante Pipeline Nabucco, die von der EU gebaut werden und Erdöl und Erdgas aus dem Kaspischen Becken via Baku und Tiflis unter Vermeidung russischen und serbischen Territoriums nach Österreich und nach Tschechien pumpen sollte. Nachdem der deutsche Konzern RWE aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Trägerkonsortium ausgeschieden ist, wurde das Projekt 2013 aufgegeben.
Damit hätte Russland mit seiner unter dem Namen »Southstream« geplanten Pipeline, dem Gegenstück zur Ostsee-Pipeline »Northstream«, den Wettlauf der beiden Mega-Projekte gewonnen. »Northstream«, dessen Aktionärsausschuss der ehemalige deutsche Bundeskanzler Schröder vorsitzt, sichert Deutschland eine privilegierte Versorgung mit russischem, meist aus Sibirien stammenden Gas, da die Pipeline unter Umgehung der EU-Staaten und den NATO-Mitgliedern Polen, Litauen, Lettland und Estland direkt aus der Nähe von Sankt Petersburg nach Travemünde führt. Blockaden durch Drittstaaten sind damit ausgeschlossen – ebenso aber die Energieversorgung der vorgenannten Staaten mit russischem Gas.
Die russische Pipeline »Southstream« hätte ebenfalls von Baku über Tiflis, dann aber über russisches Territorium und durch das Schwarze Meer via Belgrad nach Wien und Prag geführt werden sollen. Die Trassenführung verlief so weit wie möglich über russisches und dann »befreundetes« serbisches Territorium. Im Zuge der Auseinandersetzungen in der und um die Ukraine 2014 haben jedoch EU und NATO den Bündnispartner Bulgarien unter Druck gesetzt, den bereits genehmigten Bau der Pipeline durch sein Territorium zu verbieten. Nach dem Aus für Nabucco hat schließlich auch der russischer Konkurrent aufgegeben. Das Projekt »Southstream« ist Dezember 2014 aufgegeben worden.
An diesen gigantischen Projekten zur Energieversorgung werden die geostrategischen Zusammenhänge beispielhaft sichtbar, die die Bedeutung Georgiens in der Konfrontation zwischen NATO und Russland aufzeigen. Wäre Georgien im August 2008 Mitglied der NATO gewesen, wie die USA es wollten und noch immer wollen, das Eskalationspotenzial dieses Konflikts hätte die schlimmsten Vorstellungen der Zeit des Kalten Krieges wahr werden lassen können – so wie die Krise um die Ukraine Ähnliches erahnen lässt.238
Das Scheitern von Nabucco brachte gravierende Folgen für die Projekte Katars und des Iran mit sich:239 Die iranische Pipeline sollte vom Feld South Pars, das Iran gemeinsam mit Katar ausbeutet, über Irak und Syrien in der Türkei an Nabucco herangeführt werden. So bleibt nur der mögliche Anschluss an die Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline (BTC), die 2006 in Betrieb ging und über 1760 Kilometer vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer führt. Die BTC ist jedoch eine Öl-Leitung, eine Gas-Leitung müsste zusätzlich gebaut werden. Zwar ist die Verflüssigung von Gas kein technisches Problem mehr, so dass Ceyhan auch zum Gas-Hafen umgebaut werden könnten, jedoch frisst die Verflüssigung von Gas und das Kühlen auf eine Temperatur von -160° auf den Transportschiffen Teile der transportierten Energie.
Dieses Problem trifft auch die geplante Pipeline vom iranischen Teil von South Pars, die ebenfalls an Nabucco angeschlossen werden wollte. Im Juli 2011 wurde der Abschluss eines Vertrags zwischen Iran, Irak und Syrien vereinbart, der dieses Projekt realisieren sollte. Dabei wurde auch daran gedacht, dafür eine bis nach Mitteleuropa führende Pipeline zu bauen. Dagegen standen die Sanktionen gegen den Iran, und schließlich machte der Krieg in Syrien diese Pläne zumindest vorläufig zunichte. Mit dem Auftauchen des »Islamischen Staates« auf internationaler Ebene scheint sich eine Revision der westlichen Politik gegenüber Iran anzubahnen: Die geostrategischen Zwänge und die daraus resultierenden Interessen (einschließlich der Verschlechterung der Beziehungen des Westens zu Russland) könnten ihrerseits zu einer Neuaufteilung der geopolitischen Landkarte in Greater Middle East beitragen.
Im Krieg in Syrien zeigt sich wie in einem Brennglas das wirre Knäuel politischer und geostrategischer Interessen der großen wie der regionalen Mächte.240 Der Arabische Frühling brachte eine gewaltige Verschiebung der regionalen Machtkonstellation mit sich: Er führte zum Sturz mehrerer säkularer Regime und deren Ablösung durch islamistische Kräfte mit sehr unterschiedlichen Artikulationen. Allein das kleine und energiepolitisch wie geostrategisch unwichtige Tunesien scheint in der Lage, eine funktionierende und einigermaßen selbstbestimmte Demokratie aufzubauen, wie dies die Wahlen vom 26. Oktober 2014 erhoffen lassen: Stärkste Kraft wurde die säkulare, bürgerliche Partei Nidaa Tunis (Ruf Tunesiens) mit 86 Sitzen. Die islamistische Partei en-Nahda (die Wiedergeburt), die 2011 bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung mit Abstand stärkste Kraft geworden war, fiel auf 69 Mandate zurück.
Mit der »Arabellion« verschwanden bis auf die relative Ausnahme Tunesien wichtige säkulare Systeme der Region wie Ägypten und Libyen, die Islamisten gingen insgesamt gestärkt aus den Umstürzen hervor und verstärkten ihren Einfluss vor allem in Marokko und Jordanien. Erstmals in ihrer mehr als fünfzigjährigen Geschichte wurde die Arabische Liga politisch handlungsfähig, als sie mit ihrer Resolution zu Libyen die Vorlage für die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats lieferte, die die sogenannte Flugverbotszone über Libyen verfügte. Unter Berufung auf diese Resolution begannen Frankreich und Großbritannien ihre Boden-Bombardements, um Gaddafis Armee und schließlich ihn selbst zu vernichten. Dass dieser Krieg in keiner Weise von der Resolution des Sicherheitsrats gedeckt war, kümmerte weder die beiden verblichenen Großmächte noch die NATO, die schließlich die Kriegsführung übernahm.241 Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien mit dem Ziel der Vernichtung des Assad-Regimes wäre vorläufig das letzte Glied in der Kette der säkularen und multikonfessionellen Staaten, deren Sturz die endgültige Konfessionalisierung der Region mit sich bringen würde. Der arabische Raum (und die angrenzende Sahel-Region) werden nach der »Arabellion« von den Despotien am Golf genutzt, um durch eine Stärkung des politischen Islam die eigene reaktionäre Herrschaft im geopolitischen Vorfeld zu sichern.
Bereits der »Regierungswechsel« in Irak hatte mit Hilfe der USA zur Etablierung einer (korrupten) schiitischen Regierung geführt: Im Gegensatz zum säkularen Regime Saddam Husseins hatten die USA Religion zum Herrschaftskriterium gemacht. Die Säuberung des Staatsapparats und der Armee von Mitgliedern und Anhängern der Staatspartei schien den USA wichtiger als die Nähe eines schiitischen Regimes zum Erzfeind Iran. Diese Entscheidung Washingtons erscheint im Rückblick umso grotesker, als die erlogenen Massenvernichtungsmittel des Irak als Kriegsgrund für die Zerstörung des weitgehend säkularen Irak herhalten mussten. Dieser hatte bis zum zweiten Golfkrieg (1991) jenes Gegengewicht gegen den Iran dargestellt, das die USA (Erster Golfkrieg 1980 bis 1988) bis dahin für ihre Politik gegen Teheran instrumentalisiert hatten. Durch die Konfessionalisierung der Politik wurde in Nah- und Mittelost ein neues politisches Paradigma etabliert, das auch der Fluch des Samuel Huntington genannt werden könnte: Er hatte die »Kulturen« weitestgehend mit Religionen gleichgesetzt und die Kämpfe zwischen ihnen als entscheidendes Paradigma der Konflikte im 21. Jahrhundert bezeichnet.242 Werden Religion bzw. Konfession anstelle der Nation zum neuen politische Identifikationsmuster gemacht (und durch die reale Politik wie in Irak seit 2003 praktiziert), dann wird nicht nur die politische Landkarte des gesamten arabischen Raums in Frage gestellt – das Huntingtonsche Paradigma wirkt wie ein Brandbeschleuniger in der multikonfessionellen und multiethnischen Region. Dies gilt erst recht, nachdem der sich abzeichnende Machtverlust des US-Hegemons den regionalen Akteuren größere Spielräume beschert hat.
Die Instrumentalisierung der Religion zum Zweck der Erweiterung der eigenen Herrschaft und der Ausdehnung des Einflusses ist dabei keineswegs monolithisch oder kohärent. Jenseits der von den Golfstaaten beförderten Islamisierung zeigen sich Gegensätze im Lager der vom wahabitischen Islam geprägten Despotien am Golf: Saudi-Arabien, die VAR und Kuwait verschärften ihren Kurs gegen die Muslimbrüder, was schließlich – offensichtlich zum Leidwesen der USA – zum Putsch des Militärs in Ägypten und zum Rücktritt der en-nahda-Regierung in Tunesien führte. Katar dagegen setzte bis Ende 2014 auf die Karte der Muslimbrüder, was schließlich zur Abberufung der Botschafter der drei oben genannten Staaten aus Doha führte: Grund dafür war, dass der Emir von Katar sich weigerte, die Freitagspredigten des geistigen Führers der Muslimbrüder, Youssef al Qaradaoui, aus dem Programm des arabischen Senders Al Jazeera zu nehmen.
Dieses Ringen um Hegemonie auf der Arabischen Halbinsel zeigt sich insbesondere in der finanziellen und militärischen Unterstützung der unterschiedlichen in Syrien kämpfenden Milizen, die dort nach dem Prinzip privater militärischer Unternehmen agieren, wie jene nicht-staatlichen Gewaltakteure, die im Auftrag der USA schon auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan, aber auch – weniger auffällig – in Afrika tätig sind.243 Jenseits der Golfstaaten verfolgte die Türkei ihre eigenen Ziele im syrischen Konflikt, indem sie sich auf die Seite der Muslimbrüder stellte, aber offensichtlich auch dschihadistisch-wahabitische Gruppen unterstützte.244 Dabei scheinen die Fronten der Unterstützer nicht konsequent entlang der die dschihadistischen Gruppen trennenden ideologischen Grenzen zu verlaufen: So unterstütz(t)en Katar und die Türkei auch wahabitisch-salafistische Gruppen, wahrscheinlich um ihren Einfluss auf diese geltend zu machen und um sie nicht allein Saudi-Arabien zu überlassen. Die Washington Post spricht von etwa eintausend Milizen (nicht: Kämpfern!), die auf den syrischen Schlachtfeldern unterwegs sind – viele von ihnen mit ausländischer Unterstützung.245
Diese Gewaltakteure, in unseren Medien meist fälschlicherweise als »Gotteskrieger« bezeichnet, verfügen über schier unendliche personelle Ressourcen und haben längst eigene Gewaltökonomien aufgebaut: Entführungen, Erpressungen, Wegelagerei, Drogen- und Waffenhandel sind einträgliche Einkommensquellen, die es diesen Banden erlauben, sich von ihren »Auftraggebern« mehr oder weniger unabhängig zu machen und auf eigene Rechnung sehr irdische Ziele zu verfolgen.246 Dies gilt offensichtlich auch für die Rekrutierung der Dschihadisten, die beispielsweise in Tunesien bei der Anwerbung ein Handgeld zwischen 6.000 und 10.000 US-Dollar247 und einen täglichen Sold von rund 300 US-Dollar248 erhalten sollen.
Diese Gruppierung kämpfte – neben vielen anderen – unter wechselnden Namen (zuletzt: ISIS, Islamischer Staat im Irak und Syrien) zuvor in Syrien. In die Schlagzeilen unserer Medien geriet sie erst, als sie im Norden des Irak die Armee überrannte und mittlerweile bis vor die Tore von Bagdad vorstieß. Sie zeichnet sich durch ungeheure Grausamkeit und Brutalität gegen nicht-sunnitische Minderheiten, aber auch gegen Sunniten aus. Die medienwirksam verbreiteten Scheußlichkeiten beging sie auch drei Jahre lang zuvor in Syrien. Da der Terror formal aber gegen das Regime Assads gerichtet war, fanden ihre Brutalitäten in unseren Medien wenig Beachtung. Der ausgeübte Terror verfolgt das Ziel, durch die Verbreitung von Angst und Schrecken die Herrschaft ihres »islamischen« Systems zu sichern. Neu aber ist, dass der »Islamische Staat« nicht nur destruktiv handelt, sondern staatliche Funktionen wahrnimmt: Erstmals seit Jahren funktioniert in den von ihm okkupierten Gebieten im Norden des Irak die Grundversorgung der (sunnitischen) Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Strom und Wasser wieder einigermaßen.
Der »Islamische Staat« (IS) kann dies leisten, weil er über gewaltige Finanzmittel verfügt. Auch zahlt der IS anscheinend wesentlich mehr Sold als die anderen Terrorgruppen, was viele Kämpfer motiviert, zu ihm überzulaufen. Auch hier also: Es geht nicht um Religion, sondern um Geld. Die Schätzungen über die Truppenstärke des »Islamischen Staats« überschlagen sich während der Fertigstellung dieses Manuskripts fast täglich, letzte von der CIA gelieferte Zahlen belaufen sich auf »bis zu 31.500 Kämpfer«.249 Andere Schätzungen sprechen inzwischen von 50.000 Söldnern. Die Vereinten Nationen schätzen die derzeit am Krieg beteiligten ausländischen Kämpfer auf etwa 15.000.250
Die Einnahmen des IS werden auf zwei Millionen US-Dollar/Tag geschätzt.251 Wie jede andere dieser terroristisch operierenden Organisationen stammen die Einnahmen aus Erpressung, »Steuern« (insbesondere Kopfsteuern von nicht-sunnitischen Personen, Wegezöllen an Straßensperren etc.), Schutzgelderpressungen, Entführungen und abgepressten Lösegeldern. Hinzu kommen Banküberfälle in großem Stil und die Plünderung der archäologischen Schätze des Landes (Museen, Ausgrabungsstätten, Kirchen).252 Im Falle des IS kommt als Finanzquelle der Verkauf von Öl aus Syrien und dem Nordirak hinzu: kontrolliert werden zu Redaktionsschluss dieses Buches Anfang 2015 sieben Ölfelder und zwei Raffinerien im Nordirak und sechs der zehn Ölfelder in Ostsyrien. Über türkische Mittelsmänner wird das Öl vermarktet, etwa zum halben Preis der Börsennotierungen. Bereits hier zeigt sich, dass diese Praktiken offensichtlich toleriert werden.
Ihre Finanzierungsquellen erlauben es den Banden, sich von ihren ausländischen Geldgebern (meist auf der Arabischen Halbinsel) unabhängig zu machen: Ähnlich wie die Taliban, die noch während des Krieges gegen die Sowjetunion in Afghanistan von den Saudis finanziert und von der CIA ausgebildet wurden, emanzipieren sich die in Syrien agierenden Gruppen von ihren Förderern und Auftraggebern und arbeiten auf eigene Rechnung. Dieser Prozess scheint selbst in Saudi-Arabien zu einem Umdenken zu führen: Die saudische Despotie beginnt wohl die Gefahr zu begreifen, die für sie selbst von diesen Gruppen ausgehen kann, wie jüngste Beschlüsse Saudi-Arabiens, der VAR und Kuwaits zur Terrorbekämpfung zeigen.253 Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass es sich bei diesen »Maßnahmen« um Lippenbekenntnisse gegenüber den westlichen Staaten handelt. Die »privaten« Geber in den Staaten der Arabischen Halbinsel sind von der veränderten Politik (so dies wirklich der Fall sein sollte) des Hauses Saud ohnehin nicht betroffen.
Mit dem Erscheinen des »Islamischen Staates« auf der internationalen Bühne scheint allerdings eine neue Art von nicht- oder prä-staatlichen Gewaltakteuren auf den Plan zu treten. Diese Gruppe hat es erstmals geschafft, die Eigenfinanzierung auf ein Niveau zu bringen, das sie von staatlichen und parastaatlichen Akteuren unabhängig macht. Es ist nicht der Schrecken, den der »Islamische Staat« in Irak verbreitet (und drei Jahre lang mit westlicher Billigung in Syrien verbreiten durfte), der in professionellen Sicherheitskreisen Nervosität verursacht, sondern das Erscheinen einer brutalen und zugleich disziplinierten, hierarchisch aufgebauten Truppe, die eigenständig und unabhängig von fernen Auftraggebern agiert. Bedrohlich ist im Grunde auch nicht die brutale Durchsetzung einer scheinbar gottgewollten reaktionären Ordnung. Diese besteht längst anderswo und wird vom Westen akzeptiert, beispielsweise in Saudi-Arabien, wo die Enthauptungen von Menschen wöchentlich auf öffentlichen Plätzen durchgeführt werden. Jedoch: Saudi-Arabien ist ein umworbener Kunde beim Waffenexport und »einer der wichtigsten Anker der Stabilität in der Region«254, wie es der damalige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ausdrückte.
Mit dem Auftreten des IS und der Ausrufung eines Kalifats durch den Kalifen mit dem Kriegsnamen Abu Bakr al Baghdadi ist das Chaos im Mittleren Osten in eine neue Phase getreten: Im Gegensatz zu al-Qaida, die sich dem Kampf gegen »den Westen« verschworen hat, erhebt »Kalif Ibrahim« erstmals den Anspruch auf Territorialität und eine Staatlichkeit, die Syrien und wesentliche Gebiete des Irak umfassen soll. Tatsächlich werden im Herrschaftsgebiet des IS (para-) staatliche Strukturen geschaffen. Mit seinem Kriegsnamen knüpft »der Kalif« an den ersten rechtgeleiteten Kalifen und Nachfolger des Propheten an. Mit »al Baghdadi« verweist der in Samarra geborene Dschihadist auf das Abassiden-Reich, das die Stadt Bagdad 762 gegründet hatte. In den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und Irak hat sich der »Islamische Staat« eine territoriale Basis geschaffen, die die bestehende territoriale Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens konkret in Frage stellt.
Dieses »Kalifat« könnte hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs der Ordnung von Sèvres, die auf dem britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 basierte, den endgültigen Todesstoß versetzen: Im Pariser Vorort Sèvres war 1920 das Osmanische Reich von den Siegermächten aufgeteilt worden. Die imperialistischen Großmächte hatten damals jene bis heute gültigen Grenzen gezogen und Regime installiert (oder destabilisiert) wie dies ihren Interessen, keinesfalls aber den ethnischen oder religiös-kulturellen Gegebenheiten der Region entsprach. All dies, und nicht nur die damals ungelöste Kurdenfrage und das Palästinaproblem, kommt nun wieder auf die politische Tagesordnung. Der Regimewechsel im Irak und der jetzt mittels gewalttätiger Subunternehmer versuchte Umsturz in Syrien erweisen sich als ein Sprengsatz, der seine Erfinder unmittelbar zu bedrohen scheint.
Sicher ist, dass der Export von Öl und Gas weiterhin die finanzielle Basis nahezu aller staatlichen Gebilde in diesem Raum sein wird – mit all den gravierenden Folgen, die eine Rentenökonomie für diese Gesellschaften hat. Zwar ermöglichen die Einkünfte daraus Mindest-Versorgungsleistungen des Staates, die dazu verwendet werden können, die Bevölkerung sozial ruhig zu stellen. Zugleich aber sichert die Rentenökonomie die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit der entsprechenden Staaten vom industrialisierten Norden. Durch die Verhinderung einer Industrialisierung wird auch die Entstehung eines nationalen Bürgertums und politisch selbstbewusster Organisationen der Lohnarbeitenden vermieden. Im Falle der Petro-Despotien am Golf kann durchaus angenommen werden, dass diese Politik gezielt verfolgt wird: Soweit vor allem im Dienstleistungsbereich menschliche Arbeit notwendig ist, wird diese von ausländischen Lohnsklaven erbracht. Zugleich wird jede produktive Tätigkeit durch Einheimische behindert. Bedarfsgüter jeder Art werden importiert. So erklärt sich das Paradox, dass die reichsten Staaten der Welt zugleich die unterentwickeltsten sind.
Die Herrscher der Golf-Despotien aber finden sich zugleich unter den wichtigsten Akteuren an den Finanzbörsen. Es gibt kaum ein wichtiges Unternehmen weltweit, an dem sie nicht Beteiligungen hielten. Das die Weltwirtschaft dominierende neoliberale Konzept entspricht passgenau den auch islamistischen Ideologien zugrunde liegenden Vorstellungen von Freihandel. Der Westen dürfte keine Schwierigkeiten haben, sich mit solchen Partnern zu arrangieren, was er zumindest in der Vergangenheit hinreichend bewiesen hat. Die vom IS eroberten und kontrollierten Gebiete liegen an den Nahtstellen der Ölproduktion und vor allem wichtiger geplanter und bestehender Pipelines. Ein Arrangement mit den fälschlicher Weise »Gotteskrieger« genannten Milizen und Banden ist also durchaus denkbar, die »Hilflosigkeit« gegenüber den türkischen Mittelsmännern des Ölexports deutet bereits in diese Richtung.
Die Gefahr auch für die Rohstoffsicherheit des Westens liegt auf politischer Ebene: Wenn sich ethnische und vor allem religiöse Ordnungs- und Identitätsvorstellungen durchsetzen, wird der Nahe und Mittlere Osten nicht mehr jenes Mosaik von neben- und miteinander lebenden ethnischen und vor allem konfessionellen Gemeinschaften in bestehenden Staaten sein, als welcher er eineinhalb Jahrtausende existierte. Die Herstellung ethnisch und religiös homogener Herrschaftsräume mit einer an (extremistischen) religiösen Vorstellungen orientierten Staatlichkeit wird auf Jahrzehnte zu blutigen Konflikten, Vertreibungen und Völkermord führen. Inwieweit diese das Hauptinteresse des Westens, die Energiesicherung gefährden, bleibt dahingestellt. Die Sicherung der Pipelines und ihrer Alimentierung aus den Fördergebieten dürfte dann die eigentliche Herausforderung darstellen, die erwiesenermaßen schon immer vor dem feierlich vorgetragenen Bekenntnis zu Menschenrechten rangierte. Wer dann die »neue Ordnung« dominiert, dürfte von sekundärer Bedeutung sein: Der bellizistische Menschenrechtsdiskurs wird nur aktiviert, wenn es um Interessen geht. Mit den Herrscherhäusern der al Saud, der as-Sabah, der al Khalifa, der al Thani und wie sie alle heißen, kann der Westen sehr gut leben – warum sollte das mit den »Gotteskriegern« nicht möglich sein, wenn sie sich erst einmal staatlich konstituiert haben, ihre Ordnung sich als »stabil« erweist und die Zufuhr »unserer« Rohstoffe gesichert ist?
Nach den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen, Mali und vor allem dem noch andauernden Krieg in Syrien, den Staatszerfallsprozessen in Somalia und Jemen scheint es unwahrscheinlich, dass die Rückkehr zu den alten säkularen und territorialen Ordnungen der vor hundert Jahren in Sèvres aufgeteilten Region noch möglich ist. Die Geister, die die westlichen Kanzleien gerufen haben, dürfte die Welt so schnell nicht wieder loswerden.