Nachdem ich das Moped bei Mirko abgestellt hatte, warf ich ihm den Schlüssel in den Briefkasten und stieg in den Bus. Ich starrte aus dem Fenster ohne zu blinzeln. Nummer 6. Mein Puls raste, und ich hatte das Gefühl, daß mir der Blutdruck die Schädeldecke jeden Moment abheben würde. Zu Hause rannte ich rastlos durch die Wohnung, drehte die Musik auf und machte Kamillentee. Dabei rutschte mir der Becher aus den Händen. Ich starrte auf die Scherben und konnte mich vor Lachen kaum halten. Es brach aus mir heraus, auch wenn an dem Anblick nichts Witziges war.
DieTürklingel ließ mich zusammenschrecken. Ich machte auf, es war Jenni. Sie räumte die Scherben weg und wischte den Boden, während ich rauchend am Fenster stand und ihr erzählte, was passiert war. Da erst kam ich zur Ruhe.
- Und was willst du jetzt tun? fragte Jenni, Willst du der Schlampe eine Szene machen?
— Niemals, log ich und winkte ab, als wäre ich die Meisterin der Situation.
-Weißt du, was mich am Härtesten trifft? sprach ich weiter, Mich trifft es, daß sie genauso reagiert hat wie ich. Da klingle ich, und ihr erster Gedanke ist: Oh, Max ist zurückgekehrt! Denselben Scheiß habe ich auch gemacht, das ist so deprimierend.
Jenni schleppte mich in ein Café. Wir tranken Cocktails und gingen danach tanzen. Ich stand keine Minute still, flirtete mit hundert Typen und malte mir aus, wie Max vor mir kriechen würde.
Um drei Uhr morgens lag ich im Bett und fand wieder keinen Schlaf. Meine Gedanken wollten nicht ruhen. Ich kam von einem Detail zum nächsten. Es wurde eine irrwitzig lange Kette von Gedanken. Ich war unangenehm fit, ich war überladen und bereit für einen 5000-Meter-Lauf. Ich war auch bereit, mit Max in Clinch zu gehen. Wie sollte ich da an Schlaf denken?
Als Max am Morgen Lisa in den Kindergarten brachte, schloß ich mich in der Toilette ein und rauchte am offenen Fenster. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Nicht heute. Ich hätte mich verraten.
Der Tagesablauf war derselbe wie immer - Frühstück für die Kinder vorbereiten, kurze Beratung mit den Erzieherinnen, was wir heute tun würden, dann vorlesen, Jacken und Schuhe anziehen und raus zum Spielplatz; auf der Parkbank sitzen und labern, dabei rauchen und so tun, als ob man sich um die Kinder kümmern würde; Kinder wieder zurückbringen, Jacken und Schuhe ausziehen und die Kinder eine Weile allein spielen lassen; Essen vorbereiten und füttern, dann Jalousien runter, kleiner Mittagsschlaf; auf dem Klo eine rauchen, Kaffee trinken und dann Kinder wecken und Jalousien hoch, ein wenig Basteln, ein wenig Vörlesen, und die Kinder mit einem müden Lächeln den Eltern übergeben. Feierabend.
Heute brauchte ich keine Dusche, ich brauchte keine Ruhe und sparte mir den Weg nach Hause. Ich hätte mit geschlossenen Augen durch die Gegend gehen können und wäre dennoch ans Ziel gelangt. An einem Imbiß trank ich einen doppelten Espresso und starrte auf den Verkehr. Kurz nach sechs nahm ich ein Taxi und gab dem Fahrer die
Adresse des Mietshauses in Osternburg. Hundert Meter von dem Haus entfernt ließ ich mich absetzen und ging in den Park. Ich setzte mich auf eine der Schaukeln und wartete, daß Max kam. Ich wußte nicht, was ich tun würde, wenn er heute etwas anderes vorhatte. Gleichzeitig wußte ich, daß er auf dem Weg hierher war. Ich hatte gelernt, daß man sich für einen bestimmten Zeitraum auf Max verlassen konnte.
—Werbung, sagte ich.
Es summte, und ich stemmte dieTür auf. Ich war so clever, bei jemand anderem zu klingeln. Ich wollte Max und Nummer 6 nicht vorwarnen.
Ihr Name stand im zweiten Stockwerk in geschwungenen Buchstaben auf einem Messingschild. Ich drückte mein Ohr an dieTür, dann klingelte ich lang und ausgiebig und hatte sofort die Hektik vor Augen. Das nervöse Anziehen, die fragenden Blicke, das ratlose Schulterzucken.
—Wer ist da?
Ihre Stimme kam zögerlich, ich hätte genauso geklungen.
- Hallo?
Ich klingelte erneut. DieTür wurde geöffnet, und da stand sie. Da war der überraschte Blick, diese abwehrende Körperhaltung. Wir hätten Schwestern sein können. Dasselbe Alter, dasselbe Haar, derselbe Blick.
-Ja? fragte sie.
- Er macht das öfter, fing ich an, Er fickt immer gleich, er läßt dabei immer die gleichen Sprüche ab, es ist reine Gewohnheit. Das macht er ein paar Monate und verschwindet dann spurlos. Er meint das aber nicht persönlich. Es liegt einfach daran, daß er nur Ficken im Kopf hat. Sobald es ihm langweilig wird, ist er weg.
Ihr Mund klappte auf.
-Was ?
- Es tut mir leid, sagte ich und wandte mich ab.
-Wer ist da? hörte ich Max aus dem Hintergrund rufen.
Sie antwortete ihm nicht, sondern folgte mir in den Flur.
Ich hörte das Tapsen ihrer nackten Füße auf dem Linoleum, dann hielt sie mich am Arm fest. Wir sahen uns an. Der verschmierte Lippenstift ließ ihren Mund größer aussehen, ihre Bluse war falsch zugeknöpft, ihre Brustwarzen schimmerten dunkel durch den hellen Stoff. Sie war mir wie eine Schwester.
-Wer bist du? fragte sie.
- Ich bin seine Frau. Hat er dir von unserer Tochter erzählt?
Ihre Augen wurden groß.
- Lisa ist vier Jahre alt. Vier, und sie hat Krebs. Max denkt, er kann Lisa heilen, indem er andere Frauen fickt.
Damit wandte ich mich ab und schritt in aller Ruhe die Treppen hinunter. Ich war die Königin, und ich war mit Helium gefüllt. Auf der Straße sah ich mich um, als würde ich von einem Filmteam erwartet. Ich wußte, ich hatte meine Rolle gut gespielt.
Das wurde mein Abend. Jenni glaubte mir natürlich kein Wort. Sie sagte, ich würde spinnen, das hätte ich doch nicht wirklich getan. Ich lachte und nahm sie in den Arm. Es war alles so einfach.
- Laß uns feiern, sagte ich.
Erst gingen wir ins Kino, dann zum Italiener und zum Schluß aßen wir ein Eis und ließen die Hälfte stehen. Wir waren so vollgefressen, daß wir für unseren Cappuccino eine halbe Stunde brauchten. In der Disco konnte ich vor
Zufriedenheit nur stillsitzen und starren. Die Menschen waren alle so schön. Sie gaben sich Mühe, schön zu sein. Sie wollten einander gefallen und achteten auf ihre Bewegungen, flirteten mit Gesten. Das fand ich so rührend und liebenswert, daß ich auf dieTanzfläche ging, um ihnen nahe zu sein. Wir waren eine Familie, es war alles so einfach, es gab keinen Grund sich zu streiten, sich zu hassen oder Grausamkeiten zu begehen.
Später saß ich mit Jenni und ein paar Leuten zusammen. Gläser mit Tequila standen auf dem Tisch, jemand rief nach einer Bong, aber wir waren ja in einer Disco, und da gab es nun mal keine Bongs. Im nächsten Moment aber wurde eine rumgereicht, und ich wunderte mich, wo die herkam. Da sah ich, daß wir nicht mehr in der Disco waren. Wir saßen in einer Altbauwohnung auf zwei Sofas. Die Bong füllte sich mit Rauch. Von irgendwoher erklang schmerzhaft leidend Dakota Suite, die Musik floß durch den Raum. Vor den Fenstern hingen grüne Vorhänge, und in den Ecken flackerten Kerzen. Ich suchte Jenni und fand sie mit dem Kopf zwischen den Beinen eines Typen, der aussah, als ob er schlafen würde. Ich mußte kichern und hatte plötzlich Heißhunger auf Schokolade. In der Küche durchkramte ich alle Schränke und entdeckte in einer Schublade einen steinharten Brocken Kuvertüre. Das Zeug war so hart, daß abbeißen nicht in Frage kam, also lutschte ich an einer Ecke herum und wippte mit dem Fuß. Danach machte ich mich wieder auf die Suche nach Jenni. Der Typ sah immer noch so aus, als ob er schlafen würde, seine Hose war halb heruntergezogen, traurig hing sein schlaffer Penis heraus. Jenni war verschwunden.
Ich folgte dem Lärm.
Vielleicht zwanzig Leute tanzten, während die Musik sich änderte, und der Beat runterging. Ich erwartete, daß die Leute
aufhörten zu tanzen, aber sie bewegten sich weiter. Erst verschwanden die Höhen in zähen Tönen, dann folgten die Bässe, als wären sie massive Wesen aus Licht. Ich sah Jenni und winkte ihr, und Jenni winkte zurück, aber so langsam, so unglaublich langsam, daß ich---
Ich fing an zu weinen.
Es war wieder soweit, ich hatte den Wechsel überhaupt nicht mitbekommen. Es war richtig, und es war schön. In einem kurzen, panischen Moment wollte ich nach Hause, um mein Medikament zu nehmen. Ich wollte die Langsamkeit bremsen. Wie lange war es überhaupt her, daß ich meine Pillen genommen hatte? Wann hatte ich das letzte Mal geschlafen? Vor zwei Tagen? Oder waren es drei?
Die Zweifel verschwanden, denn ich fühlte mich gut, gut und lebendig. Solch ein Gefühl konnte nicht falsch sein. Ich ging zwischen den Tanzenden herum und genoß den schleppenden Beat der Musik und meine Bewegungen, die sich an der warmen Luft rieben. Ich wollte nicht zu schnell sein, ich wollte nicht auffallen. Ich war ein vorsichtiger Orkan und achtete darauf, niemanden anzustoßen. Ich befürchtete, die anderen würden zerspringen, sobald ich sie berührte.
Dieser Tanz wurde das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben erlebt hatte. Ich war ein Teil der Musik. Ich war eine der Schnellen zwischen all den Langsamen.
Am nächsten Morgen hingen von der Party nur Fetzen in meinem Kopf - das Lachen einer Frau, eine Schale mit Pudding, jemand lag angezogen in der gefüllten Badewanne und schlief, während das Wasser um ihn herum dampfte;
ein Telefon klingelte, aber das Klingeln war nicht zu hören, dafür leuchtete der Hörer jedesmal rot auf.
Ich lag im Bett und sah mich um. Keine Klapse, keine Arzte, nur ich. Aber was hieß das genau? Hatte ich die Psychose in den Griff bekommen, ohne es zu merken? Ich kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Es stimmte, ich war hier. Es war alles normal, und das hieß, ich hatte es geschafft.
Ich duschte und schaute nach der Post. Mein Körper prickelte vor Energie. Im Flur hing meine Jacke nicht an der Garderobe, dafür lag über dem Küchenstuhl ein Pullover, der mir nicht gehörte.
— Hi, ich bin’s, was haben wir gestern getan?
Jenni lachte, ich konnte an ihrer Stimme hören, daß auch sie erst seit einigen Minuten wach war.
— Du hast mich geküßt, sagte sie.
— Blödsinn.
— Hast du doch.
Auch ich mußte jetzt lachen.
— Und wie bist du nach Hause gekommen?
-Taxi. Du hast meinen Pullover...
— ... und du meine Jacke.
Ich hab deine Jacke nicht, sagte Jenni, Du hast dir meinen Pullover genommen, weil du deine Jacke nicht gefunden hast.
— Scheiße.
Wir alberten noch etwas herum, dann gab Jenni mir die Nummer von einem Typen, der mit der Frau zusammen war, bei der die Party stattgefunden hatte. Ich rief gleich an und machte aus, meine Jacke später abzuholen.
Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es an der Tür. Als ich öffnete, kam Mirko die Treppe hochgerannt. Er war schweißgebadet und hielt sich am Geländer fest, als würde er jeden
Moment umkippen. Erst dachte ich, er wäre auf Speed oder so, als er dann aber sprach, hörte es sich nicht nach Drogen an. Er war den ganzen Weg gerannt. Er hatte es von Gerd gehört, und der hatte es von Daniela.
— Asta, sagte er, jemand hat Asta gekillt.
Wir fuhren zur Polizeiwache und warteten auf einen Kripobeamten, der schon mit einigen aus unserer Clique gesprochen hatte. Von ihm erfuhren wir die Details.
Die Polizei ging davon aus, daß es ein mißglückter Einbruch gewesen war. Asta muß wachgeworden sein und hat den Einbrecher abgepaßt, als der gerade dabei war, die Tür zu knacken. Die Tatzeit wurde auf drei Uhr morgens geschätzt, es gab keine Zeugen, niemand hatte etwas gehört. Asta wurde erst gegen sieben Uhr von der Nachbarin im Flur gefunden. Sein Hinterkopf war eingeschlagen und das Gesicht unkenntlich. Als die Untersuchung begann, mußte die Polizei erst die zersplitterten Zähne zusammenfegen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, wer das gewesen sein könnte. Ob Asta Feinde hatte, und wie es mit ihm und Drogen stand, wollten sie wissen.
Zwei Stunden später waren wir erneut auf der Straße und fühlten uns zu fertig, um zu heulen. Wir saßen im Park und starrten vor uns hin. Danach verzogen wir uns in Mirkos Wohnung, rauchten und hörten Musik, so leise, als wäre sie nicht an. Ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, das wir gesprochen haben. Ich blieb die Nacht über bei Mirko, und wir vögelten müde miteinander. Aber das hatte eigentlich nichts mit Sex zu tun. Es war ein Tribut an die Zeit mit Asta. Wir waren eine Familie, wir liebten uns, wir würden für immer Freunde bleiben.
Am Tag danach ließ ich mir nichts anmerken. Auch während der folgenden Wochen und Monate tat ich, als ob die Gedanken in meinem Kopf einer Fremden gehörten.
Die Polizei fand keine Spur vom Mörder, und bei der Beerdigung schüttelten wir Astas Eltern die Hand und machten, daß wir wegkamen. Ich blieb noch bis Ende des Jahres im Kindergarten, dann packte ich meine Sachen und verließ Oldenburg, ohne es jemandem zu sagen. Ein Studienplatz, um den ich mich im Vorjahr beworben hatte, war in Kassel freigeworden. Ich fand übers Internet eine Wohnung, immatrikulierte mich und wurde im Frühjahr Studentin.
Niemand von der Clique wußte davon. Nicht Jenni und nicht Mirko. Die Angst in mir war zu groß. Die Schnellen waren auf meiner Spur. Ich hatte die Tür wieder aufgestoßen, und Asta war deswegen gestorben.
Ich wurde ein anderer Mensch und nahm mein Medikament regelmäßig, hörte auf zu rauchen und trank keinen Alkohol mehr. Zweimal in der Woche schwitzte ich in einem Fitneßstudio und wälzte Unmengen von Büchern. Ich wollte alles über Psychosen erfahren. Ich suchte Erlebnisse, die sich mit meinen deckten und in dieselbe Richtung wiesen. Wie kamen andere Menschen mit solchen Erfahrungen zurecht? Taten sie etwas dagegen oder versuchten sie, mit dem Zustand zu leben? Welche Heilmethoden gab es?
Neben meinem Studium war ich in Psychologie als Gasthörerin eingetragen und begann parallel zu den Sachbüchern die Literatur nach ähnlichen Fällen zu durchforsten.
Um Geld zu verdienen, kellnerte ich in einem Café, manchmal auch in dem Fitneßstudio, was es mir leichter machte, die Stunden dort zu bezahlen.
Das Studieren wurde zu einer Lebensaufgabe, die Dinge liefen.
Niemand wollte mehr von mir, als das, was ich zu geben hatte. Es war ein mir ganz neues Gefühl. Lockere Bekanntschaften entstanden, nichts Ernsthaftes entwickelte sich daraus. Ich war einfach ich und träumte davon, anderen Menschen zu helfen. Aber natürlich stimmte das so nicht. Wie ich es auch drehte und wendete, eigentlich ging es nur darum, mir selbst zu helfen. Seit Astas Tod war eine unglaubliche Angst in mir, und ich versuchte für diese Angst eine Heilung zu finden. Besonders in Träumen wurde die Angst lebendig. Mehrmals in der Woche erwachte ich schweißgebadet und mußte die Lichter in der Wohnung anmachen, um mich zu beruhigen.
In meinem Traum schwebte das Gesicht der Frau über mir, und ich hörte sie sagen: »Das ist das dritte Mal.« Darauf ich: »Es ... es tut mir leid.« Und dann die Frau: »Lüg nicht, nichts tut dir leid. Das hier darf nie wieder passieren. Jedes Mal, wenn du dieTür öffnest, kostet es dich.Verstehst du?«
Ich verstand, ich verstand sehr gut und erwachte jeden Morgen naßgeschwitzt in meinem Bett.
Nichts half. Keine Bücher und kein Nachdenken, rein gar nichts half gegen meine Angst, die Psychose zufällig auszulösen und die Welt der Schnellen zu betreten.
Wer wird dann sterben? fragte ich mich, Und warum bestraften sie nicht mich?
Weil du eine von ihnen bist, war eine Antwort, die mir in den Sinn kam.
Aber warum dann die Bestrafung?
Ich verstand es nicht und brach bei jedem kleinen Anzeichen von Unruhe in Panik aus. Unzählige Male nahm ich mein Medikament außerhalb der vorgeschriebenen Zeit, nur um sicherzugehen. Einfach nur, um sicherzugehen.
Der Tag, an dem ich begriff, daß die Wirkung meines Medikaments nicht mehr ausreichte, war ein streßfreier Tag. Das Wetter erinnerte an Sommer, meine Laune war blendend und zwei Kommilitoninnen hatten mich zum Frühstück eingeladen. Ich kam am Nachmittag zurück nach Hause und nahm ein Bad, arbeitete am Computer und las ein wenig, als ich ein Geräusch hörte. Ich schaute ins Schlafzimmer und dann in die Küche. Da war nichts. Das Geräusch wiederholte sich, es war ein lautes Schaben. Ich stellte mich ans Fenster. Draußen dämmerte es, die Schatten wirkten grau und verwaschen. Ich kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Und dann sah ich sie — auf dem Hof saß die Katze des Hauswarts und kratzte sich.
Ach, mehr ist es nicht, dachte ich und wollte mich eben abwenden, als mich der Geruch überschwemmte. Schwer und süßlich. Wilder Jasmin und der Duft von gegossener Blumenerde. Ich roch Zigarettenrauch und ein herbes Parfüm. Im selben Moment bemerkte ich im gegenüberliegenden Haus eine Gestalt. Sie lehnte mit den Armen auf dem Fensterbrett und rauchte. Für wahrscheinlich zwanzig Sekunden stand ich da und rührte mich nicht. Meine Wohnung lag im vierten Stock, das Fenster war geschlossen. Es war wieder so weit.
Ohne zu überlegen wandte ich mich vom Fenster ab und rammte meine Stirn gegen die Küchentür.
Als ich wieder zu Bewußtsein kam, lag ich auf dem Boden und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er gespalten. Ich zog mich am Türrahmen hoch und torkelte ins Bad, um mich in die Toilette zu übergeben. Ich war so erledigt, daß ich neben dem Klo einschlief. Das Telefon weckte mich. Ich wusch mir das Gesicht und sah mir an, was ich getan hatte. Die Platzwunde an meiner Stirn war blutig verkrustet, aber es hatte geklappt, ich hatte früh genug die Notbremse gezogen.
Eine Stunde später war ich bei meinem neuen Arzt.
- Natürlich kann ich Ihre Dosis erhöhen. Wenn Sie Angstzustände haben. Das soll ja nicht sein, sagte er und öffnete seinen Kalender, Wir gehen einfach auf die alte Menge zurück. Kommen Sie doch nächsten Mittwoch wieder. Da machen wir dann eine kleine Untersuchung und besprechen noch einmal alles.
- Nächste Woche? sagte ich.
Er sah auf seine Uhr, sah mich an.
— Gibt es da ein Problem?
Ich weiß nicht, warum ich den Kopf geschüttelt habe. Ich glaube, mir wurde in diesem Moment bewußt, daß mir die normale Dosis keine Hilfe sein würde.
— Kein Problem, sagte ich.
Der Arzt schrieb mir eine kleine Notiz, damit ich den Termin nicht vergaß, und riet mir, mich richtig gut auszuruhen. Nachdem ich seine Praxis verlassen hatte, knüllte ich die Notiz zusammen und ließ sie auf die Straße fallen. Das war eindeutig der falsche Weg gewesen. Mir reichte das Medikament nicht, ich kannte die normale Dosis, mit ihr hatte ich angefangen, sie würde nichts bringen. Was ich brauchte waren Dämpfer, richtige Dämpfer.
Sie hieß Henna und war seit vier Jahren an der Uni. Sie wollte das noch vier Jahre lang machen, weil sie fand, daß es außerhalb der Studentenwelt nichts gab, was sie reizte. Wir hatten öfter schon zusammen Kaffee getrunken, Bücher ausgetauscht, und einmal kam sie zu Besuch, und wir quatschten die Nacht durch. Ich wußte, daß sie mich mochte, und erzählte ihr dennoch nur die halbe Wahrheit. Ich schilderte mein Problem, daß ich Ängste hätte, kaum Schlaf fand und daß mich mein Arzt nicht ernst nahm.
Mittendrin unterbrach mich Henna.
- Du willst was Kräftiges, einen richtigen Ausknocker, richtig?
Ich nickte.
— Gib mir drei Tage.
Nach zwei Tagen meldete sie sich. Ich besuchte sie in ihrer WG, ihr Laptop lief, wir waren allein in der Küche.
— Das hier, sagte Henna und tippte mit der Bleistiftspitze auf den Bildschirm, Ist eine von mehreren Optionen. Ich habe alle anderen abgecheckt und denke, mit dieser fährst du am besten. Etwas Vorarbeit ist dafür nötig. Ein paar kleine Untersuchungen, ein paar schlaflose Nächte, und du hast die gesamte Ärztekammer in der Tasche.
Ich beugte mich vor und las den Namen auf dem Bildschirm: Glossodynie.
- Diese Fälle sind so etwas wie der blind spot der Ärzte. Damit kriegst du sie in den Sattel und kannst sie auf ihrer Hoffnung davonreiten lassen. Du mußt sie aber hinlenken, sonst haben sie keinen Schimmer, wovon du sprichst. Lern die Symptome bis ins Detail. Beschränke dich dabei auf persönliche Probleme und noch mal persönliche Probleme. Niemand soll auf die Idee kommen, daß du an Vitaminmangel leidest.
Ich nickte und sah wieder auf den Bildschirm.
Glossodynie ist ein Zungenbrennen, das sich auch auf den
Gaumen und die Lippen ausweitet. Es tritt hauptsächlich bei Frauen in den Wechseljahren auf und geht einher mit Mundtrockenheit, Geschmacksstörungen und Durst. Glosso-dynie verstärkt sich bei Anspannung und Müdigkeit. Auch psychologische Aspekte wie beispielsweise Angstzustände, Depressionen oder Phobien spielen als krankheitsauslösende Faktoren eine Rolle. Da es oftmals keine Veränderung an der Schleimhaut oder der Zunge selber zu finden gibt, stehen die Mediziner vor einem Rätsel. Viele der Frauen verfallen in Depressionen und sind suizidgefährdet. Man verschreibt ihnen trizyklische Antidepressiva und Therapien und hofft so auf Besserung.
— Ein Schmerz in der Zunge? sagte ich
— Ein andauerndes Brennen, korrigierte mich Henna, Tag und Nacht, mal an-, mal abschwellend, aber immer unwiderruflich anwesend. Das kann dich schon schaffen. Und da den Ärzten nichts einfällt, pumpen sie die armen Frauen mit Antidepressiva voll. Prima, was?
Ich nickte.
— Und du meinst...
Henna winkte ab und druckte mir die zwei Seiten aus.
— Das kriegen wir mit links hin. Ich weiß auch schon den richtigen Arzt. Er ist neu und froh über jeden Patienten. Außerdem sieht er süß aus. Den knackst du mit links.
Mit links war etwas übertrieben.
Ich bereitete mich die Woche über auf meinen Besuch vor. Schlief am letzten Tag wenig, war abgehetzt und hatte vom Rauchen und dem vielen Kaffee Zitteranfalle. Als mich der Arzt fragte, was mein Problem wäre, brach ich in Tränen aus und wollte wieder gehen. Es war perfekt. Ich war schwach und hilfsbedürftig, und er war stark und hilfsbereit. Ich erzählte ihm ein wenig aus meiner Kindheit und malte die Geschichten düster und schwarz aus. Dann erzählte ich von einer langjährigen Therapie in Oldenburg, von den zu schwachen Medikamenten und dem Schmerz in meiner Zunge, der nur oberflächlich gelindert wurde.
Von da an ging es so leicht, daß es hätte verboten sein müssen.
Was mir der Arzt beim ersten Mal verschrieb, war ein Mittel, das mich richtiggehend ausschaltete. Die Träume und die Angst verschwanden. Ich lebte hinter Filtern und brauchte für alles etwas länger - etwas mehr Schlaf, etwas mehr Worte, etwas mehr Zeit. Es war genau die Wirkung, die ich mir erhofft hatte. Ich wollte lieber mehr Filter, als zu wenig.
Dann setzte die Gewöhnung ein.
Nach drei Monaten hatte ich das Gefühl, daß sich mein Körper dem Medikament angepaßt hatte. Ich wurde unsicher, etwas Stärkeres mußte her. Also ging ich wieder zum Arzt, wo ich die tragische Nummer wiederholte und endlich — wie es mir Henna prophezeit hatte — zum Versuchskaninchen auserkoren wurde. Der Arzt zeigte sich zunächst von der ratlosen Seite, dann überreichte er mir ein Medikament, das sich im Testverfahren befand.
- Ich mache das inoffiziell, erklärte er mir, Aber bei Ihrem Problem, denke ich, sollten wir diesen Versuch wagen.
Er zeigte auf die Verpackung.
— Hierbei handelt es sich um ein neues Anti-Epileptikum, das sich im Testzustand befindet. Es wirkt stärker beruhigend als die Antidepressiva, die Sie bisher ausprobiert haben. Bei Patientinnen mit Glossodynie muß man beinahe das Risiko eingehen, klinisch noch nicht erprobte Medikamente zu verschreiben. Deswegen werde ich bei Ihnen eine Ausnahme machen.
Mir war klar, daß er seine Praxis mit solchen Experimenten finanzierte, und ich hatte nichts dagegen. Ich half ihm, er half mir.
— Und achten Sie bitte auf die Nebenwirkungen, gab er mir mit auf den Weg.
Die Anti-Epileptika waren genau das, was mir gefehlt hatte. In einem monatlichen Rhythmus berichtete ich dem Arzt, was ich für Erfahrungen mit dem vorherigen Medikament gemacht hatte. Er schrieb eifrig mit und schickte mich mit einer neuen Probepackung nach Hause. Bei einigen reagierte ich allergisch, bei anderen war es Übelkeit und ein taubes Gefühl in Händen und Füßen. Was aber auch geschah, pünktlich am 10. stand ich in der Praxis, um mir das neueste Produkt abzuholen.
Die Nebenwirkungen machten mich träge und erschöpft, manchmal heulte ich grundlos vor mich hin, und manchmal konnte ich mich über den letzten Blödsinn totlachen. Ich bekam ein wenig Haarausfall, unangenehme Schweißausbrüche und hatte das witzige Gefühl, Strom würde durch meine Zähne fließen. Ab und zu verlor ich mein Empfinden für die Zeit, setzte mich aufs Bett und stand im nächsten Moment im Badezimmer, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Zum Glück gab es diese Aussetzer nur bei mir zu Hause. Damit konnte ich leben. Ich konnte mit so vielem leben. Nebenwirkungen hin oder her, ich behielt die Panik im Griff und fühlte mich sicher, mehr zählte nicht.
Über vier Jahre waren seit der Szene in der U-Bahn vergangen, und ich hatte die Psychose gebannt. Mit dem Gefühl der Sicherheit kehrte mein Interesse an Männern wieder. Ich wurde durch die Medikamente empfindlicher, was Geräusche und Stimmungen anging. Kaum hatte jemand schlechte Laune, verzog ich mich, und bei Fernsehserien fing ich während der peinlichsten Szenen an zu heulen. Nach einem halben Glas Alkohol wurde ich gesprächig und flirtete mit jedem, der auch nur ansatzweise männlich aussah. Mir fehlte dringend Nähe, und ich hatte keine Lust mehr, weiterhin allein aufzuwachen. Also fing ich an, mich nach einem Partner umzusehen.
Einer meiner Professoren lud mich zu einer Party ein. Viele aus meinem Semester waren da, eine Band spielte, es gab ein kaltes Büffet und genug Getränke, um eine Belagerung auszuhalten. Ich tanzte viel und sah mich um, doch niemand fiel mir auf, mit dem es sich gelohnt hätte, mehr als fünf Minuten zu sprechen. Gegen zwei verabschiedete ich mich und beschloß, den kurzen Weg zu mir nach Hause zu laufen. Ich mochte das, einsam und verlassen durch die Straßen zu spazieren und fragte mich, wie es sein mußte, wenn man genau dasselbe in einer Großstadt tat, wo die Grenzen viel weiter gesteckt waren.
Es war Oktober und eine von diesen ersten Herbstnächten, die eine Vorahnung von Winter mit sich bringen. Der Himmel war sternenklar und der Geruch von verbranntem Laub hing in der kalten Luft. Auf dem Gras lag Frost, und die glatte Straße spiegelte die Laternen in einem unwirklichen Licht.
Irgendwann fuhr ein Taxi neben mir her. Ich ignorierte es. Dann glitt das Beifahrerfenster herunter und ein Mann fragte, ob ich nicht mitfahren wollte. Ich schüttelte den Kopf und lief weiter. Kurz darauf fuhr das Taxi an mir vorbei und verschwand um die Ecke. Ich atmete erleichtert aus und blieb stehen, um mir eine Zigarette anzuzünden.
- Entschuldige, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich erschrak so sehr, daß ich auf dem glatten Bürgersteig beinahe ausgerutscht wäre.
- Ich bin’s nur, sagte der Mann, Der Typ aus dem Taxi. Ich bin ausgestiegen. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.
- Schon gut, sagte ich, und er ließ meinen Arm los. Ich stand wieder sicher und schaffte es, mir selbst Feuer zu geben. Wir sahen uns an.
- Und? fragte ich.
-Was und? fragte er zurück.
Ich ließ den Rauch durch die Nase entweichen.
—Was jetzt?
Er schaute sich um, als würde er sich wundern, was er hier eigentlich tat.
- Ich weiß nicht.
- War ganz schön dumm, das Taxi fahren zu lassen. So schnell kriegst du um diese Uhrzeit kein neues.
- Ich kann ja laufen, sagte er und lief neben mir her.
Er brachte mich nach Hause und nahm dabei kein einziges Mal die Hände aus den Hosentaschen. Es war nett, mit ihm zu quatschen. Er war vielleicht zwei Jahre jünger als ich und sah gut aus. Ich sagte ihm nicht, daß er mir auf der Party nicht aufgefallen war. Wir verglichen Freunde und Studium, wir verwarfen die neuen Filme und lobten die Klassiker. Es war der übliche Quatsch, aber mit jeder neuen Geschichte bildete sich ein gemeinsamer Nenner, und ich fühlte mich wohl, weil er an mir interessiert war.
— Hier wohne ich.
Er schaute am Haus hoch.
-Vierter Stock?
-Woher...
— Du siehst aus wie jemand, der gerne den Überblick behält, sagte er und zog seine Hand aus der Hosentasche. Sie war angenehm warm.
— Gut, daß du nicht ins Taxi gestiegen bist, sagte er.
— Gut, daß du ausgestiegen bist, sagte ich.
Wir schüttelten Hände wie zwei Idioten, die zu nichts anderem fähig sind.
— Also, sagte ich nach fast einer Minute und ließ seine Hand los.
Er trat einen Schritt zurück.
— Ich würde gerne, aber ich kann dich nicht mit hochnehmen, sagte ich.
-Verstehe. Zu unordentlich.
Wir lachten.
-Ja...
Ich tippte mir an die Stirn.
—. . .in meinem Kopf.
Er schob sich die Hände wieder in die Hosentaschen. Ich wußte nicht, wie er hieß, er wußte nicht, wie ich hieß, und ich sah mich in den nächsten Tagen die Kleinanzeigen wälzen.
—Wenn ich morgen früh hier noch herumstehe ...
— . . . dann mache ich Kaffee und bringe ihn dir runter, versprach ich und beugte mich vor. Wir küßten uns so kurz, daß ich sofort vergaß, wie es sich anfühlte. Eine nervöse Erinnerung blieb.
— Bis dann.
In meiner Wohnung ließ ich die Lichter aus und trat an das Fenster vom Wohnzimmer. Er stand auf der gegenüber-liegenden Straßenseite, bemerkte mich und winkte. Dann rief er etwas. Ich öffnete das Fenster. Seine Stimme klang schneidend klar:
-MAREK!
- Ich wollte nicht antworten, ich wollte diesen spannenden Moment festhalten. Als ich dann aber lächelte, machte sich mein Mund selbständig:
-VAL!
Es fühlte sich an, als würde mit dem Klang meines Namens etwas Neues eingeläutet werden. Marek schaute noch für einige Sekunden herauf, dann drehte er sich um und ging. Ich sah ihm hinterher, zog mich aus und kroch in mein Bett, ohne Licht zu machen.
Gegen vier Uhr morgens erwachte ich schweißgebadet, stieß die Decke von mir und rannte ins Bad. Mit nervösen Fingern drückte ich eine Pille aus der Verpackung, schluckte sie ohne Wasser und stand da und wartete, daß das Zittern verschwand. Wie konntest du es nur vergessen?
Ich wußte es nicht.
Reiß dich jetzt bloß zusammen, werde nicht übermütig, reiß dich verdammt noch mal zusammen.
Minuten später lag ich wieder im Bett, beruhigt und zufrieden durchlebte ich ein zweites Mal den Spaziergang mit Marek durch die Nacht. Ein guter Anfang.
daß nach langer Zeit mein Leben wieder anfing lebenswert zu werden und ich es einfach nicht verdiente, daß sie sich einmischten.
In dem ersten Jahr mit Marek pendelten wir zwischen unseren Wohnungen hin und her. Es gab kaum eine Nacht, die wir ohne den anderen verbrachten. Wir waren verkitscht und romantisch und schrecklich ineinander verliebt. Trotz aller Nähe erfuhr er nichts von meiner Psychose. Ich hatte mich im Griff und war die Val, die er liebte, mehr war nicht nötig.
Als Marek damit anfing, daß er meine Eltern unbedingt kennenlernen wollte, erzählte ich von einer dramatischen Scheidung, daß meine Mutter ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte und in Berlin lebt. Kontakt gleich null. Für meinen Vater galt dasselbe. Böses Blut. Er war vor Jahren verschwunden und schickte Geld, das war es.
Ich brauchte diese Lügen, weil ich Marek nicht mit meiner Vergangenheit verbinden wollte. In Kassel war die Gegenwart, hier tickte das Jetzt. Was davor in Oldenburg gewesen war, hatte ich in einen Kleidersack gestopft wie einen Mantel, der mir zu eng geworden war. So war es besser.
Nur die Aussetzer machten mir in diesen Monaten zu schaffen. Da ich es gewohnt war, die Nächte allein zu verbringen, war ich es auch gewohnt, die Aussetzer zu ignorieren. Jetzt war Marek an meiner Seite, und er fand das gar nicht witzig.
Daß ich ihn in der einen Nacht angeschrien hatte und wissen wollte, wer er war, schrieb er schlechten Träumen zu. Auch, daß ich einmal am Morgen heulend unter dem Bett lag, nahm er hin. Böses Blut eben. Wir sprachen darüber, er akzeptierte meine Erklärungen. Wir liebten uns. Dann hatte ich einen sehr schlimmen Aussetzer. Ich erinnere mich nicht an die Details, nur daß es Marek zu viel wurde und er in meinen Sachen zu kramen begann. So entdeckte er mein
Medikament und sprach mich darauf an. Ich winkte ab, ließ mir Ausreden einfallen. Marek reichte das nicht, er wollte es genauer wissen und schluckte meine Tagesdosis. Von da an gingen mir die Erklärungen aus. Ich brach eines Abends zusammen und erzählte von einer schlimmen Jugend und daß meine kaputten Nerven dazu geführt hätten, daß dieser Schmerz in meiner Zunge auftrat. Marek hatte natürlich noch nie von Glossodynie gehört. Ich gab ihm einen Kurzabriß und meine Kopien aus Fachzeitschriften und dem Internet. Das saß. Marek wurde ganz rührig. Er verstand nicht, warum ich ihm das nicht vorher erzählt hatte. Wir lagen uns in den Armen. Es ging so einfach, wir waren so verliebt, ich hätte nie gedacht, daß es so einfach gehen könnte.
In dieser Zeit kamen sie wieder.
Nicht sichtbar für mich, ich war ja eine der Langsamen, dennoch wußte ich, daß sie da waren. Die Atmosphäre änderte sich, die Luft schmeckte anders. Ich sah sie in Spiegelungen von Schaufensterscheiben und Autos vorbeihuschen, sah aus den Augenwinkeln schattenhafte Bewegungen und hörte Stimmen. Hoch und schrill wie ein Sender, der durch den Äther jagt und sich in Nichts auflöst. Und nie war da jemand, der gesprochen hatte. Panik, ich brach in Panik aus. War ich dabei, in eine Paranoia zu verfallen? Was geschah? Und warum hatten sie sich so lange nicht blicken lassen und tauchten jetzt plötzlich wieder auf? Hatten sie etwas vor? Was hatten sie vor?
Das alles geschah in der vergangenen Woche. Da es niemanden gab, mit dem ich darüber reden konnte, fühlte ich mich einsam und hilflos. Ich erhöhte die Dosis meines Medika-ments, aber das brachte nichts. Für zwei Tage war ich matschig im Kopf und kam nicht aus dem Bett. Ich zwang mich nach draußen, und die Schnellen folgten mir, ihre Stimmen, ihre Schatten, mehr geschah nicht. Mein Schutzwall war also stabil, es hatte nichts mit der Psychose zu tun, aber was jetzt?
Genau an diesem Tag kam Jennis Mail. Fast drei Jahre waren vergangen, und Jenni schrieb, daß sie meine Adresse über das Internet herausgefunden hätte und fragte, was ich davon halten würde, wenn wir uns wiedersähen.
Wenn du wüßtest, wie sehr ich deine Hilfe brauche, schrieb ich ihr zurück.
Jenni kam am Dienstag mit dem Zug. Ich holte sie vom Bahnhof ab und war so erleichtert, sie zu sehen, daß ich in Tränen ausbrach.
Ihr Haar war länger, sie wirkte insgesamt reifer, beinahe älter als ich, obwohl sie ein Jahr jünger war. So vieles an ihr hatte sich verändert, daß ich nicht wußte, ob sie mich annehmen würde, wie ich war. Die unveränderte Val.
— Schau uns an, sagte sie nach der Umarmung, Wir sind groß geworden.
- Und wir sehen auch noch klasse aus, sagte ich. Jenni stellte sich in Pose und drehte sich einmal im Kreis, als sie mich wieder ansah, runzelte sie die Stirn.
—Wieso heulst du?
— Ich freu mich einfach, dich zu sehen.
- Das ist alles? Deswegen heult man doch nicht.
Ich schluchzte los. Ich fühlte mich müde und überfordert von der Rückkehr der Schnellen. Und ich war froh, daß endlich jemand da war, mit dem ich darüber sprechen konnte.
— Nachher, sagte ich, Ich erzähl es dir nachher.
Auf dem Weg durch die Stadt plapperte Jenni ohne Pause, und ich nahm die Schnellen aus den Augenwinkeln wahr. Sie wußten, was ich tat; sie beobachteten jeden meiner Schritte.
Wir verbrachten einige Stunden in einem Café, aßen Kuchen, rauchten Kette und schwiegen keine zehn Sekunden. Jenni wollte wissen, ob noch etwas mit Max gewesen wäre, und warum ich nur so verschwinden konnte. Von ihr selbst kamen so viele Geschichten, daß ich das Gefühl hatte, zehn Jahre müßten vergangen sein. Sie arbeitete jetzt beim Film, kämpfte sich dort nach oben und träumte davon, eines Tages hinter der Kamera zu stehen.
— Und dann ist da Theo, sagte sie.
Theo war Drehbuchautor und Besitzer von drei kleinen Kinos. Zusammen feilten sie an dem großen deutschen Film. Jenni brauchte mir nicht zu erklären, wie verhebt sie war. Jede Geste, jedes Augenverdrehen, jedes Lachen verriet sie.
- Und das Beste ist, wir haben ein Grundstück mit einem verfallenen Bauernhof gekauft. Es liegt eine halbe Stunde außerhalb von Oldenburg. Du kannst das ganze Land überblicken. Das Erdgeschoß ist schon renoviert. Es ist ein Traum. Du mußt uns einfach besuchen kommen.
Ich versprach ihr, ich würde mir die Semesterferien dafür freinehmen. Natürlich spönnen wir gleich weiter, wie es wohl wäre, wenn auch ich da hinziehen würde. Und Marek?
- Den bringst du einfach mit. Wenn er das Grundstück sieht, werden seine Triebe geweckt, und er beginnt Feuerholz zu sammeln. Ich habe es bei Theo beobachtet. Männer sind so schön simpel.
- Aber jetzt, sagte sie in einer Atempause, Will ich deine Wohnung sehen.
Wir fuhren zu mir nach Hause. Jenni kam sofort ins Schwärmen, ganz besonders als sie mein Bad sah — die große Wanne und das Grünzeug drumherum.
- Ich nehme nachher ein Bad, sagte sie, Davon wird mich nichts abhalten.
Beim Kochen gab ich ihr einen Abriß, was seit meinem Verschwinden passiert war. Ich versuchte, irgendeinen guten Dreh hinzubekommen, um ihr von den Schnellen zu erzählen und daß ich sie überall sah. Was dann aber tatsächlich aus meinem Mund kam, war das reine Schuldeingeständnis.
- Halt, warte mal, Pause, unterbrach mich Jenni.
Wir saßen am Tisch, die Salatschüssel war leer. Ich verstummte, als hätte mir Jenni auf die Finger geschlagen.
- Du willst sagen, daß du an AstasTod schuld bist?
- Du weißt, sie haben mich gewarnt, sie---
- Das ist Blödsinn, unterbrach mich Jenni.
- Ist es nicht, ich weiß, daß---
-Val, sei doch mal für einen Moment still, ja?
Ich preßte die Lippen zusammen. Es war einer von diesen Momenten, in denen ich völlig ausgeliefert war. Jenni konnte sagen, was sie wollte, ich würde es mir zu Herzen nehmen. So fühlte ich mich und dachte: Bitte, Jenni, sag was Kluges.
- Ich... es ist nicht so, daß ich dir das nicht glaube, sprach sie weiter, Das mit den Schnellen und so. Ich glaube schon, daß du während deiner Psychose besondere Sachen gesehen hast. Ich weiß nur nicht, ob sich diese Sachen wirklich auf unsere Realität anwenden lassen. Ob sie so weit rüberreichen.
- Und Asta?
- Du weißt nicht, wer Asta umgebracht hat.
-Aber...
Ich verstummte, natürlich wußte ich es nicht.
— Ich versuche ja nur, die Teile zusammenzufügen, sagte ich, Es geschah auf der Party, nachdem ich Max bei seiner Schlampe überrascht hatte. Erinnerst du dich? Ich weiß noch, daß ich entsetzlich harte Kuvertüre gegessen hatte und dann nach dir suchte. Die Schnelligkeit erwischte mich, als ich alle tanzen sah. In den Tagen zuvor hatte ich wegen dem Streß mit Max kaum geschlafen und mein Medikament vergessen. Das muß zuviel gewesen sein. Ich rutschte in die Psychose und wurde eine von den Schnellen. Das kann doch kein Zufall gewesen sein, daß Asta in derselben Nacht starb, das glaube ich nicht.
Jenni legte die Hände flach auf die Tischplatte, als müßte sie den Tisch davon abhalten, daß er abhob.
— Ich glaube nicht an Zufalle, Val. Genausowenig aber glaube ich daran, daß du durch deinen psychotischen Zustand irgendwelche Killer herbeirufen kannst, die deinen Freund ermorden, weil sie dich damit bestrafen wollen. Das ist unlogisch.
Es klang unlogisch, es klang wie ein Thriller, in dem der Held eine große Machenschaft aufdeckt und dann ...
Ja, was dann?
— Bist du denn seitdem wieder abgerutscht?
Ich mochte es, wie Jenni meine Begriffe benutzte. Sie gab mir das Gefühl, wirklich hier zu sein.
— Einmal stand ich kurz davor, sagte ich und hielt ihr meine Stirn hin, Siehst du die kleine Narbe?
Jenni beugte sich über den Tisch, ich spürte ihre Finger auf meinem Kopf.
—Was ist passiert?
— Ich bin gegen die Küchentür gelaufen.
-Autsch.
- Um es aufzuhalten, verstehst du? Ich habe mich ausgeknockt, und es hat wirklich geklappt. Seitdem ...
Ich erzählte ihr von Hennas Plan, von Glossodynie und dem neuen Arzt. Ich erzählte ihr, daß ich den Großteil der Zeit auf halber Energie lief.
- Und das klappt? fragte Jenni zweifelnd, Ich meine, macht dich das nicht völlig krank?
- Ich bin nicht superfit, aber es geht. Über zwei Jahre sind vergangen, und nichts ist passiert. Ich würde schon sagen, daß es klappt. Eigentlich geht es mir prächtig. Ich bin zwar hundemüde, aber an die Müdigkeit habe ich mich gewöhnt. Der Rest ist prima. Wenn du erst mal Marek siehst. Er ist wirklich klasse. Ich liebe ihn, verstehst du? Ich liebe ihn so richtig.
Jenni lächelte, ein Blinder hätte gesehen, daß ich verhebt war.
—Weiß er von deiner Psychose?
- Er denkt, ich habe Glossodynie, und ich hätte es ganz gern, wenn er es auch weiterhin denken würde. Deswegen kommst du genau richtig.
Ich griff über den Tisch nach ihren Händen.
- Es gibt sonst niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Ich konnte es Marek einfach nicht sagen, er hätte mich für durchgeknallt gehalten. Niemand weiß sonst davon. Und jetzt sind sie wieder da.
Ich erzählte Jenni von meinem Gefühl, beobachtet zu werden. Wenn ich Cafés betrat, wenn ich in einen Bus stieg, beim Einkäufen. Immer war da jemand, der mir auswich.
- Siehst du sie? fragte Jenni.
Ich schüttelte den Kopf.
- Ich kann sie nicht sehen. Ohne Psychose bin ich eine von den Langsamen. Auch wenn ich wollte, sie sind einfach zu schnell für mich.
— Scheiße.
-Richtige Scheiße. Ich kapier nicht, warum sie ausgerechnet jetzt hinter mir her sind. Ich habe nichts getan. Es macht keinen Sinn.
Als ich das sagte, fragte ich mich, was überhaupt Sinn machen würde. Was war der Sinn hinter einer Psychose oder AstasTod oder meinem Leben in Kassel?
-Wenn sie dich verfolgen---
— Sie tun es, unterbrach ich Jenni gereizt.
— He, ist ja okay. Was ich sagen will ist, wenn sie dich verfolgen, warum drehst du dann nicht den Spieß um?
-Was?
— Folg ihnen und finde heraus, wer sie sind, wo sie sind und ganz besonders, warum sie sind.
Ich sah sie nur an.
—Wie soll ich---
-Val, tu nicht so, als ob du dämlich wärst. Was denkst du, wie ich dich gefunden habe?
Ich lachte und drückte meine Zigarette aus.
—Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich im Internet DIE SCHNELLEN in die Suchmaschine eingeben oder was?
— Oder was, wiederholte Jenni ernst.
Wir machten ein Spiel daraus und sammelten Begriffe, die mir zu meiner Psychose einfielen. Bis fünf Uhr morgens hatten wir sechsunddreißig und legten uns schlafen. Ich wurde um den Mittag herum als Erste wach und bereitete uns Frühstück, danach machten wir sofort weiter. Wir strichen die, die sich ähnelten, und brachten sie auf einen Begriff. Zum Schluß blieben neun übrig. Darunter waren mit Die Schnellen und Türen auch Zeitverzögerung und Das Spiegelprinzip.
Der nächste Schritt war das Internet. Wir jagten die Begriffe über MetaGer durch alle verfügbaren Suchmaschinen und druckten bis Sonntagnachmittag an die dreihundert Seiten mit Links aus, um sie auf Gemeinsamkeiten zu prüfen. Da war totaler Blödsinn dabei - Werbeseiten, Fanclubs, Versandservice, Reparaturdienste, Veranstalter. Sie hatten alle eines gemeinsam — sie hatten rein gar nichts mit Psychosen zu tun. Ich war mir aber sicher, daß wir etwas finden würden. Die Schnellen mußten nach irgendeinem System miteinander kommunizieren.
-Wie kommst du darauf? fragte Jenni.
- Weil sie clever sind, und weil sie sich mehr in unserer Welt aufhalten, als wir in ihrer. Die Frage ist, wie finden sie sich, und wie verstecken sie ihre Welt?
Öfter tauchten am Ende der Suchergebnisse Zahlen auf, die keinen Beitext hatten. Der Großteil dieser Links hatte seine Domäne bei t-online und öffnete beim Anklicken eine tote Seite. Wir hatten ungefähr neunzig Links vom gleichen Typ gesammelt, die sich bei verschiedenen Begriffen miteinander deckten und Seiten öffnen sollten, es aber nicht taten. Wir versuchten, ein System hinter den Zahlen zu finden. Nichts. Wir löschten hier und da mal eine Ziffer. Nichts geschah. Wir verzweifelten. Das ganze Wohnzimmer war mit ausgedruckten Seiten bedeckt, ein Teppich von scheinbar toten Links.
- Da ist etwas, sagte Jenni.
Sie hatte recht, da war etwas, aber es zu finden, war die Hölle.
Am späten Nachmittag, während ich duschte, machte Jenni weiter. Als ich aus dem Bad kam, saß sie vor dem Monitor und starrte darauf. Der Bildschirm war weiß, nichts geschah.
- Hat er sich aufgehängt? fragte ich.
- Ich weiß nicht, sagte Jenni, Ich habe einen der Links verändert, und dann ist das hier passiert.
Wir warteten, das Weiß blieb, die Festplatte arbeitete auf Hochtouren.
— Laß uns den Computer ausschalten und noch einmal
hochfahren, sagte ich, Wahrscheinlich hat er sich aufgehängt und---
Weiter kam ich nicht, das Modem fing an zu wählen, es wurde eine neue Verbindung zum Internet aufgebaut. Wir warteten. Der Bildschirm wechselte von weiß zu rot und dann zu blau. Zum Schluß erschien ein Portal, und wir wußten, ohne es auszusprechen, daß wir uns im Bereich der Schnellen befanden. Die Schrift war rot auf schwarz und erstreckte sich über die ganze Seite. Sie war für uns völlig unlesbar. Wir hatten keine Ahnung, was wir da sahen. Ich tippte mit dem Cursor auf Drucken, doch der Befehl funktionierte nicht. Ein weißes Eingabefeld tauchte links unten am Bildschirmrand auf.
— Ich glaube, sie warten auf einen Zugangscode, sagte Jenni. Ich bewegte den Cursor und versuchte die Schriftzeichen anzuklicken, doch da war nichts zum Anklicken.
—Was hast du eingegeben? fragte ich.
- Ich habe bei einer der Zahlenkolonnen hinten das t-online weggelassen, mehr war es nicht.
Das Rot auf dem Bildschirm begann dunkler zu werden, so daß es bald mit dem Schwarz verschmolz. Dann setzte ein Download ein. Ich reagierte viel zu langsam. Der Download war innerhalb von ein paar Sekunden beendet und der Computer fuhr sich von selbst herunter, bevor ich den Stecker ziehen konnte. Jeder Startversuch schlug danach fehl, kein Laut kam mehr aus der Kiste, die Maschine war tot.
-Wir haben noch die Links, sagte Jenni, und wir drehten uns gleichzeitig um.
Da lagen sie. An die dreihundert Seiten waren in meinem Wohnzimmer verstreut.
- Und was machen wir mit denen? fragte ich.
- Ein paar Computer flachlegen, war Jennis Antwort.
Es tat so gut, Jenni an meiner Seite zu haben. Mit ihr wurde alles real, bekam einen festen Boden, wurde greifbar. Wir waren den Schnellen auf der Spur, daran gab es nichts mehr zu rütteln. Die Frage war nur, wie nahe wir ihnen bisher mit unserer Spielerei wirklich gekommen waren.
Für heute hatten wir genug. Am Tag darauf wollten wir ein paar Internetcafes aufsuchen, um die anderen Links auszuprobieren. Ich telefonierte mit Henna. Um meinen Computer würde sich ein Freund von ihr kümmern. Jetzt war erst mal Pause. Unsere Augen brannten, und die Nacken waren steif vom reglosen Sitzen. Ich fühlte mich, als hätte ich ohne Unterbrechung zwei Tage lang nur Kaffee getrunken. Meinem Körper gefiel das High, Jenni dagegen war völlig ausgepowert.
- Ich will heute abend nichts mehr von dem Zeug sehen, sagte sie und half mir, die ausgedruckten Seiten aufzusammeln, Was aber nicht heißt, daß wir jetzt schweigen.
-Als könntest du schweigen.
Wir lachten, und Jenni fragte, ob ich irgendeine Idee hätte, was das für Schriftzeichen gewesen waren.
- Nicht Arabisch, sagte ich, Und von den Chinesen haben die garantiert auch nicht abgekupfert.
—Vielleicht irgend etwas Biblisches, sagte Jenni.
- Ja, vielleicht.
Wir bekamen Hunger und beschlossen, Pizza zu bestellen. Jenni telefonierte mit Theo und grüßte mich von ihm.
Ich war an der Reihe. Marek freute sich, von mir zu hören. Ich sagte ihm, wir könnten uns vielleicht später am Abend treffen, wenn er Lust hätte, Jenni kennenzulernen.
— Du mußt sie kennenlernen, schob ich hinterher, und er lachte und sagte, wenn das so wäre. Wir verabredeten uns gegen elf in einer Kneipe, vorher wollte ich mit Jenni ins Theater. Ein altes Stück von Anton Wilson wurde aufgeführt, ich hatte nur noch keine Ahnung, wo.
— Schau in die Zeitung, sagte Marek.
Ich bedankte mich für den Tip und legte auf. Jenni kam mit hochgesteckten Haaren und in meinem Morgenmantel aus dem Schlafzimmer.
— Ich werde ein Bad nehmen, sagte sie, Denn wenn ich jetzt kein Bad nehme, dann muß nach der Pizza ein Masseur kommen.
Ich ließ ihr die Wanne einlaufen, stellte Kerzen auf und spendierte meinen teuren Badeschaum. Jenni ließ sich verwöhnen und verschwand wie eine Diva im Wasser. Ich rasierte ihr die Beine, brachte Eistee und Cracker und legte Musik auf. Keine zehn Minuten später klingelte es an derTür.
-Wenn sie langsam sein sollen, sind sie zu schnell, sagte Jenni, An wen erinnert dich das?
Wir lachten, und ich ging zur Tür. Der Pizzamann reichte mir zwei Kartons und die Rechnung, er strich sein Trinkgeld ein, ohne eine Miene zu verziehen, und verschwand. Als ich eben die Wohnungstür schließen wollte, fiel mir ein, was fehlte. Ich hätte dem Pizzamann hinterherlaufen können, aber wie hoch wäre die Chance gewesen, daß er zufällig eine Flasche Wein im Gepäck hatte?
Ich setzte die Pizzakartons auf dem Küchentisch ab und ging ins Badezimmer. Jenni hatte die Augen geschlossen, ihre Füße sahen heraus, ihre Hände lagen auf dem Wannenrand.
— Ich eß keine Pizza ohne Wein, sagte sie.
-Wie wäre es mit Bier?
- Prol.
- Ich habe bestimmt noch was anderes da.
Ich verschwand in der Küche und kramte ganz hinten im Vorratsschrank.
-Wir müssen feiern, richtig feiern, hörte ich Jenni rufen.
—Was willst du feiern? rief ich zurück und fand eine verstaubte Flasche Sekt.
—Wußt ich es doch! sagte ich laut
- Sag nicht Sekt, kam es von Jenni.
- Sekt, sagte ich halblaut.
Jenni machte Würgegeräusche, also beschloß ich, zum Bahnhof zu laufen, um eine Flasche Rotwein und eine Zeitung zu holen. Vorher füllte ich Jennis Glas mit Eistee auf und legte ihr ein Handtuch hin.
-Was willst du feiern? wiederholte ich,
- Bring erst den Wein, sagte Jenni und winkte mich weg, Sonst kriegst du kein Wort aus mir heraus,
Am Bahnhof gab es keinen Wein, also lief ich zur Tankstelle, kaufte gleich zwei Flaschen und die Zeitung. Auf dem Rückweg blätterte ich darin herum und fand Anton Wilsons Stück. Das Theater lag in der Nähe. Wir hatten noch über eine Stunde Zeit, bevor wir uns auf den Weg machen mußten.
- Ich hab den Wein! rief ich in die Wohnung und hängte meinen Mantel auf, Und ich weiß auch, wo das Stück spielt. Wir können fressen und saufen und schaffen es, bevor der Vorhang hochgeht, selbst wenn wir auf einem Bein hinhüpfen.
Ich betrat das Wohnzimmer.
- Jenni?
Das Licht im Bad war aus. Ich sah in die Küche, sah in das Schlafzimmer.
— Jenni?
Für eine Minute stand ich still und wartete. Die Wohnung gab feine Geräusche von sich. Hier und da ein Knacken, ansonsten war es still. Ich fand das nicht witzig und sah wieder in die Küche. Jennis Glas mit einem Rest Eistee stand auf dem Tisch. Ich ging in den Flur. Mein Blick kehrte zu dem dunklen Badezimmer zurück.
-Jenni ?
Sie würde nie so einen Witz mit mir machen, niemals.
Ich wiederholte ihren Namen, als wäre er ein Weg, der mich zu ihr führen würde.
- Okay, sagte ich leise und schaltete das Licht an.
Das Wasser in der Wanne war grau, etwas Schaum schwamm auf der Oberfläche.
Ich wollte mich eben abwenden, als ich Jenni sah. Sie hockte zwischen Toilette und Badewanne. Ihr Gesicht war zwischen den Knien vergraben, nur ihre Hände waren deutlich zu sehen. Sie hatte sie schützend um ihren Kopf gelegt, zwei Finger an der rechten Hand fehlten. Es sah aus, als ob Jenni in Blut eingetaucht wäre. Ihr blondes Haar wirkte zwischen all dem Rot wie gemalt. Und während ich dastand und Jenni ansah, wuchs die Blutlache um sie herum und sammelte sich unter der Toilette.
Ich weiß nicht, wieso ich wußte, daß sie tot war. Ich weiß nur noch, wie ich dachte: Wieso blutet sie, wenn sie tot ist?
Ich wich zurück und wollte das Bad verlassen, als mir die Schrift auf dem Spiegel auffiel. Jemand hatte mit Jennis Blut eine Nachricht geschrieben.
Wo bist Du gewesen?
Ich schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, saß ich auf dem Sofa und drückte die Hände auf meine zitternden Knie.
Dann rannte ich zur Wohnungstür und legte die Kette vor. In der Küche suchte ich panisch nach einer Waffe und hörte ein Geräusch. Jemand versuchte reinzukommen. Ich schlich mich an. Die Wohnungstür war einen Spalt geöffnet, die Kette gespannt. Mareks Gesicht tauchte im Türspalt auf.
—Was tust du denn hier? fragte ich.
— Ich ... war in der Gegend. Ich dachte, ich schau mal vorbei, bevor ihr ins Kino geht.
-Theater, sagte ich.
-Was?
—Wir gehen ins Theater.
— Oh.
Ich schloß die Tür. Das war zu viel für mich. Ich konnte ihn nicht reinlassen. Ich mußte ihn reinlassen. Ich mußte irgend etwas tun, sonst...
Ich wußte nicht, was sonst. Für eine Minute drückte ich mir ein Sofakissen aufs Gesicht und schrie. Danach löste ich die Kette und ließ Marek in die Wohnung. Er war ein Anker, ich klammerte mich an seinen Hals, ich wünschte, ich hätte ihn nie loslassen müssen. Dann tat ich es doch, und er sagte:
— Ich habe Bagels mitgebracht, ich dachte, ihr habt vielleicht noch nicht...
Er verstummte, sah sich in der Wohnung um.
— Stör ich?
Ich hob die Schultern, mir fiel nicht ein, was ich sagen sollte, ich verschränkte die Arme vor der Brust.
—Was ist hier los, Val?
Marek versuchte, meinen Blick aufzufangen, dann sah er, daß ich die Badezimmertür anstarrte. Hatte ich das Licht ausgemacht? War ich das gewesen? Die Tür war angelehnt. Marek ging auf sie zu, schaltete das Licht an und verschwand im Bad. Lange Zeit sah und hörte ich ihn nicht.
— Ist... ist sie tot? flüsterte ich, als Marek aus dem Bad kam.
Er löschte das Licht und zog die Tür hinter sich zu. In diesem kurzen Moment wußte ich, daß da nichts war. Jenni war nie nach Kassel gekommen, wir hatten nie im Internet nach den Schnellen gesucht, und es gab keine Leiche, kein Blut, keine zwei Finger, die fehlten. Ich und meine verdammte Psychose hatten einen wilden Tanz aufgeführt. Ich hätte beinahe losgelacht, als Marek sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte und an ihr herunterrutschte, bis er hockte.
In dem Moment verschwand ich in mir und hatte nur noch einen einzigen Fokus. Die verschlossene Tür des Badezimmers. Alles andere wich von mir, als würde es in rasender Geschwindigkeit weggefahren werden. Ich verlor jegliches Körpergefühl. Ich war nur noch zwei Augen, die eine Tür ansahen.
- Okay, sagte Marek von weit, weit weg, Was ist passiert?
Jemand drückte die richtigen Knöpfe in mir, mein Mund setzte sich in Bewegung, und ich wollte Marek alles erzählen. Es kam nicht dazu. Da war plötzlich Dunkelheit, ich fiel warm in sie hinein und spürte nichts mehr.
Erst auf dem Weg nach Berlin wurde ich im Auto wieder wach und erzählte Marek meine Geschichte auf dem Parkplatz eines McDonald’s.