MAREK

1

Das Zimmer ist winzig und geht auf einen Hinterhof hinaus. Eine dunkle Stelle auf dem Teppich sieht aus wie ein Weinfleck und erinnert mich an das Blut von Vals Freundin.

Ich lösche das Deckenlicht und schalte die Nachttischlampe ein. Es ist halb sechs, der Himmel über Berlin ist bleiern grau. Ich möchte die nächsten zwei Tage nichts anderes tun als schlafen. Meine Arme und Beine sind schwer von der Autofahrt, hinter meinen Schläfen ist ein Stechen, die Rückfahrt nach Kassel wird ein Alptraum.

Val hat sich im Bad eingeschlossen. Ich lege mein Ohr an die Tür. Nur die Lüftung ist zu hören. Jemand geht an unserem Zimmer vorbei und hustet. Ich streife mir die Schuhe ab, öffne das Fenster einen Spalt und lasse mich auf das Bett fallen, ohne die Tagesdecke wegzuschlagen. Mein Kopf ist überfüllt mit Vals Geschichte. Ohne zu blinzeln starre ich auf das gelöschte Deckenlicht, bis die Umrisse verschwimmen. Glossodynie, was für ein Witz! Das Surren der Lüftung wird für Sekunden lauter, ein Lichtbalken zerschneidet das Grau der Zimmerdecke, dann löscht Val das Licht im Bad, und das Surren verstummt. Ihre Schritte sind lautlos auf dem verdreckten Teppich. Das Bett sinkt ein, dann liegt Val neben mir, den Arm über meiner Brust, die Hand auf meinem Herzen. Sie drückt mir ihr Gesicht gegen den Hals, reglos liegen wir nebeneinander. Vals Wimpern streifen mich bei jedem Blinzeln, mein Herz schlägt unter ihrer Hand. Ich schließe die Augen. Schritte knirschen über den Hinterhof, das Schlagen eines Mülltonnendeckels, die Schritte verschwinden wieder. Ruhe. Kein Blinzeln mehr. Ich spüre nur noch meinen Herzschlag und Vals regelmäßige Atemzüge.

Ich erwache, als ein Zimmermädchen an die Tür klopft. Sie kommt herein, sieht mich auf dem Bett liegen und entschuldigt sich, bevor sie dieTür hinter sich schließt.

Val sitzt in die Tagesdecke eingemummt auf dem Sessel und schaut aus dem Fenster. Sie ist zusammengesunken wie eine Marionette, der man die Schnüre gekappt hat. Auf dem Boden liegen ein Aschenbecher, ein Plastikfeuerzeug und eine zerknüllte Zigarettenschachtel. Die Uhr am Fernseher zeigt 16:38, ich habe den Tag verschlafen. Das Innere meines Mundes fühlt sich verbrannt an. Als ich ins Bad gehe und das Licht anschalte, sehe ich für eine Sekunde Jennis Körper eingequetscht zwischen Dusche und Toilette. Ich halte mir die Hand vor den Mund und unterdrücke einen Schrei.

Da ist nichts, sage ich mir und atme tief durch.

Ich spüle eines der Gläser aus, trinke gierig das lauwarme Wasser und gehe zurück ins Zimmer.

-    Hier.

Val sieht auf. Dann kommt ihre Hand unter der Decke hervor.

-    Danke.

Ich beobachte ihren Hals, während sie trinkt.

-Wie spät ist es?

-    Kurz vor fünf.

Val reibt sich erst das eine, dann das andere Auge.

-    Glaubst du mir? fragt sie und läßt es normal klingen. Das Zittern ihrer Hand verrät sie. Ich nehme ihr das Glas ab und stelle es auf den Boden.

-    Du glaubst mir nicht, habe ich recht?

Ich widerspreche ihr. Es ist nicht so, daß ich ihr nicht glaube, es ist mehr so---

Ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne. Ich weiß nicht, was ich sagen will. Ich rede Blödsinn und habe das Gefühl, nicht richtig in diese Geschichte zu gehören. Das ist natürlich eine Lüge. Ich gehöre seit heute früh dazu. Vorher war ich vielleicht ein Zuschauer, der eben mal vorbeilief und dachte, Val gut zu kennen. Jetzt weiß ich, was Val in den letzten Jahren erlebt haben muß. Jetzt glaube ich, sie zu verstehen. Es gibt keinen Notausgang mehr, durch den ich verschwinden kann, sollte mir der Film nicht gefallen. Vorher. Nachher. Man kann es Pflichtbewußtsein nennen oder melodramatisch Liebe.

-    Glaubst du mir? fragt Val erneut.

-    Natürlich glaube ich dir.

Sie drückt sich an mich, zittert und ist so zerbrechlich, daß ich sie nur sanft halte. Ihre Fingernägel drücken sich in meine Schultern, ich höre sie flüstern:

-    Ich ... ich weiß nicht, was ich tun soll, Marek, ich weiß es nicht...

Nach Minuten trennt sie sich von mir. Ich wische ihr die Tränen aus dem Gesicht, sie zieht die Nase hoch und schüttelt den Kopf.

-    Ich muß was machen, ich kann nicht einfach nichts machen, das geht nicht, Marek, das geht einfach nicht. Sie haben meine Jenni...

Sie wird still, atmet schwer und drückt sich die Hand auf den Bauch. Im nächsten Moment ist sie auf den Beinen. Ich höre sie über dem Klo würgen und gehe zu ihr, halte ihren Kopf, streichle ihren Nacken und versuche, mein eigenes Würgen zu unterdrücken.

Nachdem ich Val auf die Beine geholfen habe, spüle ich und bringe sie zum Bett.

-    Hast du überhaupt geschlafen?

Val schüttelt den Kopf.

-    Möchtest du jetzt schlafen?

Sie nickt. Ich breite die Decke über ihr aus, ziehe die Vorhänge zu und halte ihre Hand, bis sie eingeschlafen ist.

Gegen zehn essen wir in einem arabischen Imbiß auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Falafel, Tabuleh und gegrilltes Halumi. Wir trinken dazu Tee und reden wenig. Beide kennen wir uns in Berlin nicht aus, die Stadt erscheint uns fremd und aggressiv. Ein Freund von mir kann stundenlang von Berlin schwärmen. Er hat mich immer davor gewarnt, Berlin im Winter zu besuchen.

-    Im Winter wird Berlin zu einer Leiche, sagte er, Glaub mir das.

Ich glaube es ihm. Die Menschen bewegen sich geduckt und ängstlich durch die Straßen, als könnte die Stadt nach ihnen greifen und sie in die Kanalisation verschleppen. Aber vielleicht liegt es auch daran, daß Val sich duckt und Angst hat. Wahrscheinlich projiziere ich ihr Verhalten auf die ganze Stadt. Ich weiß es nicht. Ich weiß im Moment so wenig, daß ich alles in Frage stelle.

Val nimmt nach dem Essen ihr Medikament und ist innerhalb von einer halben Stunde eingeschlafen. Ich mache es mir neben ihr auf dem Bett bequem und schalte durch die Kanäle. Für eine Weile sehe ich einen Film, wechsle in der Werbung zu den Nachrichten, kehre irgendwann wieder zum Film zurück und habe einen ganzen Handlungsstrang verpaßt, schalte um zu einer Serie und höre in der Werbepause dem Stöhnen von Frauen zu, die unbedingt mit mir telefonieren wollen.

Ich sehe und sehe das nicht wirklich. Eine eigeneTonspur läuft in meinem Kopf. Ich stelle mir immer wieder dieselben Fragen, weil ich nicht weiß, was ich als nächstes tun soll. Vals Freundin liegt noch immer zwischen Toilette und Badewanne eingeklemmt. Sie ist gestorben.Tot. Ich kann sie da nicht liegen lassen, ich muß es der Polizei melden. Aber wie wird Val darauf reagieren? Und dann die Polizei. Und was tue ich, wenn Val andere Pläne hat? Aber was sollte sie schon für Pläne haben? Und was sagen wir bitteschön der Polizei?

Wie ich die Fragen auch drehe und wende, sie kommen auf den einen Punkt zurück — eine Tote liegt bei Val im Badezimmer.

Ich schalte den Fernseher aus und beobachte das knisternde Nachleuchten des Bildschirms. Vals Hand berührt mich am Arm.

—Alles in Ordnung?

Ihre Augen glänzen im Dunkeln.

—Alles in Ordnung, lüge ich.

Val hebt die Decke an und legt sie um mich. Ich rutsche näher heran.

— Ich habe nachgedacht.

Sie flüstert, als würde man uns belauschen.

-Wir müssen zurück, Marek, wir können nicht davonrennen. Jenni ist...

Val verstummt. Ich flüstere zurück:

-Tot.

-. . . Jenni ist tot, spricht Val weiter, Und ich will nicht, daß sie da so rumliegt, nicht meine Jenni, das geht nicht. Wir müssen die Polizei rufen, wir müssen ...

Wieder verstummt sie.

-    Was ist, wenn die Schnellen uns gefolgt sind? sagt sie nach einem langen Schweigen.

Ich denke an die Fahrt von Kassel hierher. Die Autobahn war verlassen, keine Lichter im Rückspiegel. Nein, ich bin mir sicher, niemand ist uns gefolgt.

-    Was glaubst du, was geschehen ist? frage ich, Hast du eine Idee, warum sie es getan haben?

Val schüttelt den Kopf.

-Warst du wieder---

-    Ich war so weit von einer Psychose entfernt, wie du es jetzt bist, unterbricht sie mich, Ich habe mein Medikament genommen, ich war diszipliniert und habe nicht einmal daran gedacht. Ich weiß nicht, warum sie es getan haben, Marek. Ich weiß es wirklich nicht.

Mit einem Mal habe ich den blutigen Schriftzug vor Augen.

-Wieso wollten sie wissen, wo du warst?

-Was?

-    Die Schrift auf dem Spiegel. Wieso wollten sie wissen, wo du warst?

-    Ich war auf der Tankstelle.

-    Ja, ich weiß, aber warum wollten sie das wissen? Es klingt so, als hätten sie nicht Jenni, sondern dich in der Wohnung erwartet.

Sie sieht mich verwirrt an.

-    Und wenn?

-    Wenn das so wäre, sage ich, Dann bist du in Gefahr

und---

-    Marek, wenn sie wollten, könnten sie mich jederzeit killen, das wann und wo ist nicht ihr Problem. Verstehst du das nicht? Sie sind überall, sie bewegen sich auf einer anderen Wellenlänge. Mich zu fragen, wo ich war, ist reinste

Ironie. Sie wußten, wo ich war. Wahrscheinlich sahen sie mich zurückkommen und standen neben mir, als ich Jenni fand.

Ich stelle mir das vor, mein Magen krampft sich zusammen.

—    Können sie das wirklich? frage ich.

—    Ich weiß nicht, was sie können. Aber ich bin mir sicher, daß sie nicht nach normalen Regeln spielen. Was auch immer ihr Problem ist, ich habe nichts getan, glaub mir das.

—    Ich glaube dir.

Val schlägt die Decke zur Seite.

-Was machst du?

—    Laß uns bitte fahren.

—Was? Jetzt?

—    Jetzt, sagt Val und schaltet das Licht an.

Wir brauchen keine fünf Minuten, dann haben wir ausgecheckt und das Hotel verlassen. Val liegt wieder auf dem Rücksitz. Wir biegen auf die Autobahn ein. Vor exakt vierundzwanzig Stunden fuhren wir dieselbe Strecke in entgegengesetzter Richtung. Auch jetzt sind keine Rücklichter hinter uns, auch jetzt fühlt es sich an, als wären wir die einzigen Menschen, die noch wach sind. Vincent Gallo singt, während ich mich auf die Straße konzentriere und immer wieder aus den Augenwinkeln die gegenüberliegende Autobahnseite beobachte. Denn vielleicht kommt mir ein grauer Audi entgegen, und vielleicht sitzt ein nervöser Typ hinter dem Steuer und eine Frau schläft auf dem Rücksitz. Es wäre eine von vielen Reisen, die am Start enden.

Es gibt die Theorie, daß sich bestimmte Probleme auflösen, wenn man sie lange genug ruhen läßt. Ein kaputter Computer, ein Mißverständnis unter Freunden, das unangenehme Knacken in den Boxen. In Vals Wohnung hat sich nichts verändert - außer, daß die Bagels trocken sind und eine rote »6« auf dem Anrufbeantworter blinkt. Jenni hockt noch immer im Bad. Der Geruch ist nicht so schlimm, wie ich erwartet habe. Das Blut um sie herum ist schwarz und eingetrocknet, die Schrift auf dem Spiegel wirkt wie ins Glas gekratzt.

Val wartet im Hausflur, während ich alle Zimmer durchsuche. Erst als ich ihr versichere, daß wir alleine sind, betritt sie die Wohnung.

—    Ich kann da noch nicht reingehen, sagt sie, ohne die Tür zum Badezimmer aus den Augen zu lassen.

-    Du mußt da nicht reingehen, sage ich, Setz dich, und ich mache uns einen Tee, hörst du?

Ich schalte den Wasserkocher ein und schmeiße die Bagels in den Müll. Auf dem Tisch stehen zwei ungeöffnete Pizzakartons und zwei Flaschen Rotwein. Ich werfe die Piz-zas zu den Bagels und falte die Kartons zusammen. Aus dem Wohnzimmer ist kein Laut zu hören. Ich will Val Zeit lassen mit ihren Gedanken. Ich weiß, wenn ich dränge, gerät sie in Panik. Und wenn sie in Panik gerät, schluckt sie mehr Pillen als gewohnt, und dann kann ich sie für den Rest des Tages vergessen.

Ich nehme die Glaskanne aus dem Schrank und hänge drei Teebeutel hinein. Das Wasser beginnt zu sieden. Ich werfe einen Blick in den Kühlschrank und höre ein Klicken aus dem Wohnzimmer. Dem Klicken folgt ein schrilles, fiependes Geräusch. Ich renne aus der Küche.

Val steht vor dem Anrufbeantworter und hält sich die Ohren zu. Das Fiepen schwankt, erst klingt es wie ein hoher Schrei, dann wird es tiefer, gurgelnd. Ich spüre das Geräusch bis in den Brustkorb.

-    Stell das ab! rufe ich.

Bevor ich reagieren kann, hat Val den Anrufbeantworter aus der Buchse gerissen und gegen die Wand geworfen. Die Stille danach ist nur kurze Zeit besser, dann erklingt ein anderes Geräusch.

—Val, nicht, sage ich und gehe auf sie zu.

Val starrt auf den kaputten Anrufbeantworter, ihre Hände gehen auf und zu, auf und zu, aber das Geräusch kommt nicht von ihren Händen. Vals Kiefer arbeitet, knirschend reiben ihre Zähne übereinander.

Ich nehme sie in den Arm, umfasse ihr Kinn und bringe den Kiefer zur Ruhe.

-    Okay? frage ich.

Val nickt zögernd, ihr Blick weicht meinem aus, die Lippen sind zusammengepreßt und zittern, als würde irgend etwas dahinter herauswollen.

—Was war das? frage ich.

-    Ich weiß es nicht, sagt sie und löst sich aus meinem Griff.

-    Hast du irgendein Wort verstanden?

-    Das waren keine Worte, Marek.

Wir beginnen, die Reste vom Anrufbeantworter aufzusammeln. Ich rieche Vals Angstschweiß. Mir wäre lieb, wenn sie sich hinsetzen und mich machen lassen würde.

-    Ich mach das schon, sage ich.

-    Jetzt werde ich wohl einen neuen kaufen müssen.

Val versucht zu lachen, es klingt so, als würde sie erstik-ken. Plötzlich verstummt sie und richtet sich auf.

-Was ist...

Ohne eine Erklärung verschwindet sie im Arbeitszimmer und läßt mich allein. Ihre Panik steckt mich an. Ich renne ihr hinterher und weiß nicht, was ich erwarten soll. Vielleicht einen von den Schnellen, wie er sich versteckt. Irgend etwas. Nur nicht Val, die vor ihrem Schreibtisch steht.

-    Sie haben alles geholt, sagt sie, Die Ausdrucke, den kaputten Computer, einfach alles.

Val zieht Schubladen auf, öffnet Ordner.

-    Sogar meine Disketten, alles ist weg.

Ich stehe für eine Minute hilflos herum, dann verlasse ich das Arbeitszimmer und gehe in die Küche, um den Tee aufzugießen. Ich versuche, wieder ruhig zu werden und denke: Es bringt nichts, wenn wir beide durchdrehen. Im selben Moment frage ich mich, was Val dazu sagen würde. Was heißt das? würde sie fragen, Heißt das, ich bin schon durchgedreht? Scheiße.

Ich lasse mir Zeit, trage die Tassen und den Zucker ins Wohnzimmer, nehme danach die Teebeutel aus der Kanne und werfe sie in den Müll. Als ich das Wohnzimmer mit der Kanne betrete, steht Val vor dem Bad. Sie hat ihre Stirn an die Tür gelehnt und die Augen geschlossen.

-    Du mußt da nicht rein, sage ich und setze mich. Ich gieße uns Tee ein und versuche, mit gespielter Ruhe die Situation in den Griff zu bekommen.

-Wie soll das weitergehen? fragt Val, Was denkst du, was als nächstes passiert?

-    Ich weiß es nicht. Komm, setz dich zu mir, laß uns hier für ein paar Minuten in Ruhe sitzen und Tee trinken.

-    Vielleicht wäre es gut, wenn ich einfach verschwinde, sagt sie.

-    Red keinen Mist.

-    Nein, mal ehrlich, Marek, vielleicht wäre es das beste. Es würde so vieles einfacher machen. Du hättest Ruhe, ich wäre hier weg...

Ich stehe auf und will zu ihr gehen, Val sagt:

-    Bleib bitte sitzen. Es tut mir leid, ich weiß, ich rede Mist, richtigen Mist, ich ...

Sie schaut mich über die Schulter hinweg an, ich kann sehen, daß sie geweint hat.

-    ... ich würde gerne für eine Weile mit Jenni allein sein, ist das in Ordnung?

Sie weiß, daß das mehr als nur in Ordnung ist, deswegen spare ich mir eine Antwort.

-    Bis gleich, sagt Val und betritt das Badezimmer. Die Tür schließt sich hinter ihr, und ich bleibe allein mit einer Kanne Tee und zwei vollen Tassen.

VAL

1

Es schmerzt, es schmerzt so sehr.

Ich stehe im Bad und sehe Jenni an und möchte mich zusammenkrümmen, wie sie es getan hat. Als würde sie sich verstecken. Als wüßte sie nicht wohin.

Es schmerzt so sehr.

Ich setze mich auf den Wannenrand und kann die Augen nicht von ihr nehmen.

Meine Jenni.

Ich versuche zu rekonstruieren, wann genau ich den falschen Schritt gemacht habe. Wäre noch eine Flasche Rotwein dagewesen, hätte das Jenni gerettet? Oder wäre dasselbe geschehen, wenn ich die Wohnung nicht verlassen hätte? Und was genau ist geschehen? Waren es die Schnellen? Was, wenn sie es nicht waren?

Ich verspüre den Drang, eine Zigarette zu rauchen. Meine Hände sind unruhig, das Atmen fallt mir schwer, aber ich kann jetzt nicht zu Marek gehen und mir eine Zigarette holen. Ich bin jetzt hier bei Jenni. Ich gehe nirgendwohin.

Ich bleibe bei dir.

Wenn es eine Chance gegeben hat, Jennis Tod zu verhindern, dann hatte ich diese Chance nicht. Ich hätte sie genutzt, ich weiß es. Ich weiß auch, es kann nicht meine Schuld gewesen sein, ich war sauber — keine Drogen, keine Psychose, nicht einmal annähernd, ich war---

Wir waren zu nahe dran.

Ist es das?

Ich beuge mich vor und ziehe den Stöpsel. Das graue Wasser verschwindet zögernd aus der Wanne. Winzige Haare von der Beinrasur kleben am Rand. Mit einer Bürste schrubbe ich die Wanne sauber und lasse heißes Wasser einlaufen. Danach ziehe ich mich aus, lege meine Sachen auf die Kommode neben derTür und zünde die Kerzen an. Ich lösche das Deckenlicht und stelle mich nackt vor den Spiegel. Die Härchen auf meinen Armen sind aufgerichtet, die Schrift verläuft über meine Brust.

Wo bist Du gewesen?

Als ob sie es nicht wüßten. Als hätten sie auf mich gewartet, und ich kam zu spät. Ich reibe über meine Arme, bis mir wärmer ist, dann spucke ich auf den Spiegel und beginne, die Schrift mit einem Schwamm wegzuwischen. Zweimal muß ich den Schwamm im Waschbecken ausspülen, bevor der Spiegel sauber ist. Ich trockne ihn mit einem Handtuch ab und prüfe die Wassertemperatur. Als die Wanne halb voll ist, gehe ich zu Jenni.

Ich bin’s.

Ihr Körper ist fest und steif. Was ich auch probiere, sie bleibt zu einem Ball zusammengekrümmt. Auch nachdem ich sie durchs Bad geschleift und in die Wanne gehievt habe. Wasser schwappt über den Rand, ich fluche, Marek klopft an die Tür und fragt, ob alles okay ist.

— Alles ist okay, sage ich und steige zu Jenni in die Wanne.

Ich weiß nicht, ob das geht oder nicht, es ist aber den Versuch wert. Vorsichtig versuche ich, Jenni in dem heißen Wasser aus ihrer gekrümmten Haltung zu befreien. Ich habe keine Ahnung von Totenstarre, ich weiß nur, daß ich Jenni nicht so in Erinnerung behalten möchte. Ein menschlicher Knoten, bedeckt mit Blut.

Es dauert.

Ich arbeite daran, die Arme um ihren Kopf zu lösen, dann strecke ich ihre Knie und langsam, ganz langsam öffnet sie sich, wie die Rose von Jericho, die jahrelang braun, vertrocknet und zusammengeballt in der Wüste hegen kann, und wenn dann Regen fallt, entfaltet sie sich in Zeitlupe und wird grün.

Bei Jenni ist es keine Zeitlupe, es ist mühevolle Arbeit. Ich spüre jeden Muskel in den Armen, der Rücken ist eine einzige Verspannung und mein Atmen hallt unangenehm laut von den Badezimmerwänden.

Erst als Jennis Kopf auf dem Wannenrand ruht — Augen geschlossen, als würde sie schlafen — lehne ich mich erschöpft zurück und mache eine Pause. Das Wasser um uns herum hat sich rosa verfärbt. Jennis helle Haut scheint zu leuchten.

Ich ziehe den Stöpsel und lasse neues Wasser einlaufen, dusche Jenni ab und wasche sie mit einem Schwamm. Ich seife sie ein, wie ich ein Kind einseifen würde. Danach spüle ich ihr den Schaum aus den Haaren und bin erst zufrieden, als der letzte Rest Blut von ihrem Körper verschwunden ist. Die Wunden sind deutlich sichtbar. Stiche im Hals, Stiche in der Brust. Schnitte an den Händen, die sie zur Abwehr erhoben haben muß. Rechts fehlen Zeigefinger und Daumen. Sie müssen noch irgendwo im Bad liegen.

Ich beuge mich vor und streiche Jenni eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ich bin froh, daß sie keine Wunden im Gesicht hat. Ich widerstehe dem Drang, sie zu umarmen und lehne mich wieder zurück. Unsere Beine liegen im Wasser übereinander. Ich schließe die Augen. Würde jetzt jemand hereinkommen, wüßte er nicht, wer von uns beiden tot ist.

Ich ziehe die Schlafzimmertür hinter mir zu und gehe ins Wohnzimmer, wo Marek auf mich wartet. Nachdem ich Jenni abgetrocknet und in meinen Bademantel gewickelt hatte, trug ich sie mit Marek in mein Bett. Er sagte dabei kein Wort. Jetzt sind seine Arme vor der Brust verschränkt, und er hat einen komischen Ausdruck in den Augen.

-    Findest du nicht, daß du übertreibst? fragt er.

—Wie meinst du das?

-    Das mit... ich weiß nicht, ich ...

Er wischt sich übers Gesicht.

-    Das ist ganz schön heftig. Ich meine, das alles fing vor vierundzwanzig Stunden an, und jetzt sitze ich hier, und es ist noch immer nicht vorbei. Deine ...

Er wedelt mit der Hand in Richtung Schlafzimmer.

-    ... deine Freundin liegt tot im Bett, und du hast mir

Sachen von dir erzählt, die ... Ich habe das Gefühl, ich kenn dich nicht---

-    Du kennst mich, unterbreche ich ihn.

-    Ja, gut, ich kenne dich, dennoch ist da so viel Neues. Dann diese ... diese Schreie auf dem Anrufbeantworter. Ich meine, he, was soll ich dazu noch sagen, das macht mir nicht nur Sorgen, das macht mir eine Scheißangst, verstehst du? Als du mich ins Bad gerufen hast, damit ich dir helfe, deine Freundin ins Schlafzimmer zu tragen, da ist etwas gerissen. Ich meine, du hast sie angezogen, als wäre sie noch am Leben. Das ... das ist mir zuviel.

Ich setze mich neben ihn und habe das Gefühl, nach langer Zeit etwas wie Kontrolle zu spüren. Es hat gut getan, bei Jenni zu sein. Es war meine Art, mich von ihr zu verabschieden. Was auch passiert, ich werde auch mit Marek klarkommen.

-    Es ist in Ordnung, sage ich, Mir muß es leid tun, nicht dir.

Ich ziehe seinen Kopf an meine Schulter. Für einige Minuten sitzen wir einfach nur still auf dem Sofa, dann erzähle ich Marek, wozu ich mich entschieden habe:

-    Ich möchte nach Oldenburg fahren und Theo erklären, was hier geschehen ist.

Marek setzt sich auf.

-Wer ist Theo?

-    Theo ist Jennis Freund. War es. Ich meine, einer muß

ihm doch sagen, daß---

-Val, he, Val?

Marek winkt vor meinem Gesicht herum, als ob ich ihn nicht hören oder sehen könnte. Wie ich das hasse.

-    Ich bin nicht doof, sage ich.

-    Entschuldige, aber du kannst nicht einfach nach Oldenburg fahren. Sollten wir nicht erst mal der Polizei melden, was hier passiert ist?

-    Und dann?

-    Dann kümmern die sich um den Mord, nehmen Fingerabdrücke und stellen die richtigen Fragen ...

Er verstummt, schielt zur Schlafzimmertür und beendet seinen Satz:

-    ... und kümmern sich um die Leiche.

Ich rutsche von Marek weg.

-    Das da ist keine Leiche, sage ich gereizt und betone jedes Wort, Das ist Jenni. Meine Freundin Jenni. Und was denkst du, was die Polizei machen wird, wenn sie hört, was hier passiert ist ?

-    Was sollen sie schon machen? Du kannst ihnen doch

sagen---

-    Daß ich keine Ahnung habe, was geschehen ist? Daß ich eben mal Wein holen gegangen bin, und als ich wiederkam, lag Jenni erstochen zwischen Badewanne und Toilette und auf dem Spiegel stand Wo bist Du gewesen?!, und es gab keine Anzeichen für einen Einbruch, es gab gar keine Anzeichen für irgendwas, außer natürlich einen Anrufbeantworter mit komischen Geräuschen darauf, aber oh, entschuldigen Sie Herr Inspektor, den habe ich aus Wut zertrümmert, wäre das denn wichtig gewesen? Und mein Computer und meine Ausdrucke sind verschwunden, hilft Ihnen das weiter? Und fast hätte ich es vergessen, mein Freund hier und ich, wir waren mal schnell in Berlin, während meine Freundin tot im Badezimmer lag, aber warum wir das gemacht haben, das kann ich Ihnen nun wirklich nicht erklären.

Marek sieht mich regungslos an.

—Was denkst du, frage ich ruhiger, Was die Polizei mit mir machen wird, wenn sie diese Geschichte hört?

—Val, ich---

—    Ich kann es dir sagen. Sie werden mich mit Beruhigungsmitteln vollpumpen und in die nächstbeste Klapse stecken. Willst du das?

Marek schüttelt den Kopf.

—    Aber was wollen wir sonst machen? Du kannst Jenni nicht in deinem Bett hegen lassen und nach Oldenburg fahren. Und wir können sie auch ganz sicher nicht einfach verschwinden lassen.

—    Das will ich auch nicht.

—    Danke, sagt Marek und sinkt auf das Sofa zurück.

—Was heißt Danke?

—    Danke heißt Danke, daß du sie nicht irgendwo verscharren oder in kleine Stücke schneiden willst.

Mir klappt der Mund auf.

-Was...

Ich lache los.

—    Du hast gedacht... daß ich meine ...

Mir kommen die Tränen. Aus dem Lachen wird ein Husten, dann heule ich.

-He...

Marek kommt zu mir. Ich kann nicht aufhören. Mein ganzer Körper geht mit, ich spüre es bis in die Füße.

-    So war das nicht gemeint, beruhigt er mich, Val, entschuldige, so war das nicht gemeint. Sag mir, was du machen willst, dann reden wir darüber, einverstanden?

Sein Gesicht erinnert mich an das Gesicht, das er hatte, als wir uns das erste Mal stritten. Er wußte nicht, was zwischen uns plötzlich falsch gelaufen war. Er wollte Frieden um jeden Preis. Auch wenn es bedeutete, sich selbst zu verleugnen. Ich konnte das an seiner Mimik ablesen. Die Ursache wurde unwichtig. Mareks Hunger nach Harmonie machte ihn zum Schwächeren.

-    Laß uns nach Oldenburg fahren, sage ich und ziehe die Nase hoch, Wir fahren nach Oldenburg und erzählen es Jen-nis Freund. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Theo wird sich wundern, warum Jenni nicht anruft. Stell dir vor, mir wäre das passiert. Du würdest doch durchdrehen, wenn du nichts mehr von mir hören würdest, oder?

Marek hebt die Hände, als würde er sich ergeben.

-    Einverstanden. Aber was machen wir mit der...

Er sieht wieder zur Schlafzimmertür. Ich weiß, daß er Leiche sagen wollte. Es ist in Ordnung. Ich bin nicht mehr wütend auf ihn, denn jetzt erst wird mir klar, daß er Jenni keine Minute lang lebend gesehen hat. Ich könnte ihm alles erzählen. Er weiß nicht einmal, ob das wirklich Jenni ist.

-Jenni, sage ich, Nehmen wir mit.

2

Es ist merkwürdig, in die Stadt zurückzukehren, die ich fluchtartig verlassen habe. Ich weiß zwar, warum ich gegangen bin, dachte aber immer, das Leben und die Menschen

hier hätten mich vertrieben. Ich habe mir etwas vorgemacht. Ich selbst war es, vor der ich geflohen bin.

—Wieso grinst du? fragt Marek.

-    Ich freue mich, wieder hier zu sein, antworte ich, Es ist so lange her, und ich habe das Gefühl, es hat sich kaum etwas verändert.

Aus Jennis Personalausweis habe ich ihre Adresse. Jenni hat erzählt, daß Theo am Wochenende immer auf dem Land ist und den Bauernhof renoviert. Heute ist Freitag, und ich hoffe, daß er noch nicht rausgefahren ist.

—Wir hätten ihn anrufen können, sagt Marek.

-    Und was hättest du gesagt?

-    Ich meine, um zu sehen, ob er da ist.

—Wenn er nicht da ist, dann suchen wir ihn. Jennis Eltern wissen bestimmt, wo der Bauernhof liegt.

Wir fahren zweimal die Straße rauf und runter und finden keinen Parkplatz. Schließlich halten wir direkt vor dem Haus in einer Einfahrt.

-Wenn du nicht mit hochkommen willst, sage ich, Dann kannst du gerne hier warten.

-    Ich laß dich nicht allein gehen, regt sich Marek auf, Du hast keine Ahnung, wie der Typ reagieren wird.

Jemand klopft auf die Motorhaube. Wir sehen nach vorn. Ein Mann in einem schwarzen Ledermantel und mit einer Wöllmütze auf dem Kopf geht um den Wagen und kommt zu Marek an die Fahrerseite. Er macht eine kurbelnde Bewegung, Marek läßt das Fenster herunter.

-    Sorry, daß ich euren Plausch störe, aber ihr steht in der Einfahrt, und ich muß mal dringend mit dem Auto raus.

Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber ich sage:

—Theo?

Der Mann sieht erst mich, dann Marek überrascht an. Als sein Blick zu mir zurückkehrt, versuche ich ein Lächeln.

-    Und wer seid ihr?

-    Ich bin Val, Jennis Freundin, und das ist Marek.

Ich beuge mich über Mareks Schoß und reiche Theo die Hand. Er nimmt sie zögernd, jetzt ist sein Blick verwirrt.

-    Die Val aus Kassel?

-    Genau die.

-    Jenni ist doch ...

Er verstummt und sieht Marek an. Marek macht ein Gesicht, als hätte er nichts mit mir zu tun. Dafür könnte ich ihm eine verpassen.

-    Okay, sagt Theo, Ich kapier es.

Er wird blaß, ich kann regelrecht beobachten, wie die Farbe aus seinem Gesicht weicht.

—Am besten kommt ihr mit hoch.

Er geht vor, ohne sich nach uns umzuwenden, und läßt die Haustür offenstehen. Marek und ich rühren uns nicht von den Sitzen.

-    Beschissener Anfang, sage ich.

-    Der Rest wird noch viel schlimmer, glaub mir das, sagt Marek und löst den Sicherheitsgurt.

Die Wohnung liegt im zweiten Stock und ist winzig. Ein Wohnzimmer, das auch als Arbeitsplatz dient, eine Küche und ein kleines Schlafzimmer. Das Bad hat eine Dusche, die Toilette befindet sich daneben in einer schmalen Kammer. Auf den Dielen sind hier und da Flickenteppiche verteilt. Die Wände sind unverputzt und weiß.

-    Setzt euch, sagt Theo und verschwindet in der Küche. Er schließt dieTür hinter sich, und dann hören wir Wasser laufen. Marek sieht mich fragend an, ich weiß auch nicht, was das soll.

Wir setzen uns an den Wohnzimmertisch und behalten die Mäntel an.

-    Nervös? frage ich.

-    Nervöser geht es nicht, sagt Marek und wischt sich über den Mund, Was macht er in der Küche?

Das Wasserrauschen hat aufgehört.

-    Keine Ahnung, sage ich und sehe mich um.

Ich erkenne Sachen von Jenni wieder, und es zieht mir das Herz zusammen. Das Bild dort hing in ihrer alten Wohnung über dem zugemauerten Kamin — zehn Hunde, die eine Pyramide bilden - und den Kerzenständer am Fenster haben wir an einem Sommertag zusammen auf dem Flohmarkt gekauft. Ich könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen.

-Wieso weinst du? fragt Marek.

-Weil...

Ich verstumme, als Theo mit einem Tablett hereinkommt. Schnell wische ich mir die Tränen ab. Auf dem Tablett befinden sich eine Kaffeekanne, drei Becher, Zucker und Milch. Ich möchte ihm sagen, das wäre nicht nötig, wir wollten nur kurz reinschauen, dann wird mir bewußt, wie absurd das ist, und ich ziehe den Mantel aus, hänge ihn über die Stuhllehne und nehme einen Becher Kaffee entgegen.

Ich habe mir Theo anders vorgestellt, mehr zu Jenni passend. Ihr gefielen immer diese kleinen, dunklen Jungs, die aussahen, als hätte man sie eben aus Sizilien eingeschifft. Theo ist alles andere als klein und dunkel. Ich schätze ihn auf einen Meter neunzig. Er hat hellbraunes Haar, das zu einem Zopf gebunden ist, und sieht aus wie jemand, der den ganzen Tag gesunde Nahrung zu sich nimmt und am Abend um den Block joggt. Jenni muß mit ihrer Zerbrechlichkeit den Beschützerinstinkt in ihm geweckt haben.

—    Okay, sagt Theo und legt die Hände um seinen Becher, Sie kommt nicht wieder, richtig?

Ich sehe Marek an, er reagiert, indem er in seinen Kaffee starrt. Er hat recht, das hier ist meine Sache.

—    Theo, wir haben schlechte Nachrichten, sehr schlechte Nachrichten.

Theos linkes Auge beginnt zu zucken, er legt eine Hand darüber, entschuldigt sich und verschwindet im Bad. Als er wiederkommt, sind seine Augen glasig. Er stellt ein kleines Fläschchen mit Augentropfen auf den Tisch.

—    Neue Kontaktlinsen, erklärt er und sieht mich an, Was ist passiert?

—    Jenni ist tot, antworte ich, und versuche es so normal wie möglich klingen zu lassen, Sie wurde in meiner Wohnung ermordet.

In Theos Gesicht passiert erst mal nichts, dann lächelt er.

-Wirklich, sage ich.

—    Sehr witzig, sagt er.

—    Es ist wahr, sagt Marek.

Sie sehen sich an, und was Theo mir nicht glauben konnte, glaubt er Marek. Für eine Sekunde vielleicht.

—    Ihr verarscht mich doch, oder?!

Er ist auf den Beinen, stößt dabei mit den Knien gegen den Tisch, so daß der Kaffee aus den Bechern schwappt. Auch Marek steht und breitet beruhigend die Hände aus. Ich bin plötzlich froh, ihn dabeizuhaben, alleine wäre ich längst weggerannt.

—    Jenni ist nicht tot, sagt Theo leise.

—    Es tut mir leid, sagt Marek.

—    Jenni ist nicht tot! wiederholt Theo lauter.

—Wir haben sie mitgebracht, erkläre ich.

—    Sie liegt im Wagen auf dem Rücksitz, springt Marek ein, und das hätte er lieber nicht sagen sollen. Theo macht zwei

Schritte auf Marek zu und schlägt ihm ins Gesicht. Mit der offenen Hand, eine klatschende Ohrfeige, dann eine zweite mit der anderen Hand.

-HEY!

Mein Schrei bremst Theo. Marek taumelt zurück. Theo sieht erschrocken auf seine Hände.

—    Es tut uns leid, sage ich, Aber wir dachten, daß du es als erster erfahren solltest.

Ich erwarte, daß er jetzt auch auf mich losstürmt, er aber schüttelt nur den Kopf.

—    Ihr seid krank, ihr... Los, macht daß ihr rauskommt, los, haut ab. Was, was seid ihr?! Scheiß Zeugen Jehovas oder was? Ich habe keine Ahnung, was ihr... SCHEISSE, LOS, RAUS HIER!

Er bewegt sich nicht, seine Arme sinken herunter, die Hände ballen sich zu Fäusten.

—    Laß uns gehen, sagt Marek.

Seine Wangen sind rot, ein dünner Faden Blut fließt ihm aus der Nase.

—    Ich geh nicht, bis dieser Typ...

Theo will nicht hören, was ich zu sagen habe. Er wendet sich ab und geht zum Schreibtisch. Ich höre das Piepen eines Telefons.

—Wen ruft er an? fragt Marek.

Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich mir das alles anders vorgestellt habe.

—    Ich dachte, es geht leichter, sage ich.

—    Du müßtest dir ein paar Schellen von ihm einfangen, dann würdest du dir solch einen dämlichen Satz sparen.

—    Du hast recht, sage ich, Das war keine gute Idee.

Ich ziehe mir den Mantel über und verlasse mit Marek das Wohnzimmer. Im Flur taumle ich gegen die Wand, als ich versuche, hastig in meine Stiefel zu steigen. Marek stützt meine Schulter.

-Wir sollten zur Polizei, sagt er, Wir... Ich erkläre ihnen, daß wir nicht wußten, wie wir reagieren sollten. Was wäre, wenn ich dich ganz aus dem Spiel lasse? Ich erzähle ihnen, du wärst nach Berlin gefahren, und ich wollte kurz in deine Wohnung, um etwas zu holen und fand dann Jenni. Ist doch egal, wer sie gefunden hat, oder? Dann habe ich dich angerufen, und du kamst aus Berlin zurück und wußtest in deiner Panik auch nicht weiter, und deswegen sind wir zu Theo gefahren, weil er---

—    Es stimmt also, sagt eine Stimme hinter uns.

Erschrocken drehen wir uns um. Theo hat das Telefon in

der Hand, Strähnen haben sich aus dem Zopf gelöst, der Mund ist weich und verletzlich. Ich kann jetzt sehen, was Jenni an ihm geliebt haben muß.

Wir warten. Es ist nicht mehr an uns, etwas zu sagen.Theo ist am Zug.

—    Seit gestern, sagt er und hält uns das Telefon entgegen, Versuche ich, sie übers Handy zu erreichen. Sie macht so etwas nicht. Nie würde sie das machen. Es ist also wahr?

Marek nickt, ich beiße mir auf die Unterlippe. Wir stehen da und rühren uns nicht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht. Es kommt mir vor, als würde der Moment sich strecken und dehnen. Theo sieht an uns vorbei, dann gibt er sich einen Ruck und kommt näher. Wir weichen zurück. Theo nimmt sich seinen Ledermantel von der Garderobe. Ich möchte ihn berühren und über seinen Kopf streichen. Marek zieht mich am Arm zurück.

—    Ich will sie sehen, sagt Theo und öffnet die Wöhnungs-tür.

THEO

1

Ich sah Jenni das erste Mal im Kino, als ich zwischen Saal 3 und 4 wechselte. Sie stand mit einer Freundin vor den Plakaten und steckte sich ihr Haar hoch. Als ich vorbeilief, hörte ich sie lachen und dachte, das kann nicht echt sein. Nachdem ich den Film eingelegt und Saal 4 verlassen hatte, waren die beiden verschwunden. Ich tauschte mit Rita den Platz hinter der Theke und bat sie, den nächsten Film für mich zu übernehmen. Knappe zwanzig Minuten später verließen Jenni und ihre Freundin Saal 6. Sie hatten >Elling< gesehen, und ich fragte, wie der Film gewesen war.

—    Ein wenig so, als wäre >Rain Man< nach Schweden ausgewandert und nie angekommen, sagte Jennis Freundin.

Ich lachte, ohne die Augen von Jenni zu nehmen. Es war sehr auffällig. Ich wurde rot und versuchte woanders hinzusehen, aber mein Blick kehrte immer wieder zu ihr zurück. Die zwei Frauen grinsten sich an. Ich trat wie ein Idiot von einem Fuß auf den anderen und fragte schließlich, ob sie mit einer Cola einverstanden wären.

—    Das ist bei uns Brauch, log ich, Wenn jemand mittendrin aus einem Film rausgeht, bekommt er ein Gratisgetränk.

-    Immer? fragte Jenni, und es war das erste Wort, das ich sie sagen hörte.

-    Immer, sagte ich.

Sie teilten sich eine große Packung Popcorn, tranken dazu eine Cola und quatschten mit mir über Filme. Als die ersten

Zuschauer die Kinosäle verließen, schrieb mir Jenni ihre Telefonnummer auf die Rückseite meiner Hand.

Sie schließen die Wagentür hinter mir und lassen mich allein. Sie haben Jenni in eine Decke gewickelt. Ich erahne die Umrisse ihres Kopfes, die Schultern. Ich lege eine Hand auf die Stelle, an der ich ihr Becken vermute. So sitze ich und warte.

—    Jenni?

Ich streichle über ihren Rücken, ziehe die Decke herunter. Die Haut in ihrem Gesicht ist fahl und wächsern. Der Mund steht einen Spalt offen, die Augen sind geschlossen. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn, berühre ihre Wange und warte, daß sie sich bewegt. Warte auf einen Atemzug, ein Blinzeln. Dann ziehe ich die Decke wieder über ihren Kopf und kneife die Augen zusammen, bis ich Lichter explodieren sehe. Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon hier sitze. Als ich aufblicke, sind die Scheiben beschlagen, und es ist dunkel. Ich wische eine Stelle am Fenster frei. Da stehen sie. Frierend und nervös. Sie raucht, er scharrt mit den Füßen über den Asphalt und schaut immer wieder zum Wagen.

Ich hauche gegen das Glas, die beiden verschwinden. Ich sehe Jenni wieder an und lege mich über sie. So bleibe ich und spüre die Härte unter mir, und spüre eigentlich nichts. Ich warte. Jenni ist weg. Ich muß es laut sagen:

—    Jenni ist weg.

Ich habe für sie gebrannt. Ich kann es nicht anders beschreiben. Ich habe vom ersten Augenblick an für sie gebrannt. Dabei weiß ich nicht einmal, was mich zum Brennen brachte.

Vielleicht lag es am richtigen Moment, oder die Chemie stimmte. Es war auch nicht so, daß ich diese Momente nicht öfter hatte. Ich verliebte mich regelmäßig. Es war eher so, daß diese Momente einseitig blieben und ich immer wieder vor meinem eigenen Enthusiasmus kapitulieren mußte. Zu viel Phantasie. Aber nicht bei Jenni. Da gab es keine Kapitulation und auch keine Einseitigkeit. Die Chemie stimmte. Ich brannte vom ersten Moment.

Als ich die hintere Tür öffne, geht das Licht im Auto an. Ich steige aus und drücke die Tür zu. Meine Hände zittern so sehr, daß ich sie in den Manteltaschen vergrabe. Ich kann keinen von den beiden ansehen. Ich will etwas sagen, aber mein Mund funktioniert nicht.

Die Frau kommt auf mich zu. Val. Ich weiß wenig von ihr, ich weiß, wie sich Jenni um sie gekümmert hat, nachdem Val aus der Psychiatrie entlassen wurde. »Die Frau ist nicht verrückt«, hat Jenni immer wieder betont. Sie kannten sich seit der Grundschule, und Jenni verstand nie, weshalb Val so plötzlich aus Oldenburg verschwunden war. Jetzt ist sie wieder hier, und Jenni ist weg. Val. Als mich diese fremde Frau in den Arm nimmt, will ich mich dagegen wehren. Ich will nicht nachgeben. Ich will meine Distanz bewahren, damit nichts an mich herankommt. Aber ich habe da nichts zu sagen. Mein Körper gibt nach, und mein Denken setzt aus. Ich lasse es zu und erwidere die Umarmung und kneife erneut die Augen zusammen, bis Lichter in meinem Kopf explodieren.

- Mach die Augen zu.

Sie hat mich überrascht. Es war im Sommer. Ich erinnere mich an die Geräusche der Stadt, an die angenehmen Stimmen von den Gärten und Baikonen. In den Häusern war spät am Abend fast jedes Fenster geöffnet, um etwas von der Kühle der Nacht einzufangen. Tagsüber wurden die Vorhänge zugezogen, damit die Hitze ausgesperrt blieb.

Sie kam in meine Wohnung, zündete Kerzen an und kochte, während ich noch im Kino war. Die Überraschung war ihr gelungen. Ich mußte mich auf einen Stuhl setzen und die Augen schließen. Ich hatte keine Ahnung, was der Anlaß war. Wir kannten uns ein knappes Jahr, planten zusammenzuziehen und träumten von einem Haus auf dem Land. Natürlich würde unser Geld nie reichen. Ich mit meinen kleinen Kinos und dem ersten Drehbuch, das ich jede Woche von Neuem in die Mangel nahm; Jenni mit ihrem Job beim Filmstudio, wo sie alles tat, was zu tun war, um eines Tages hinter der Kamera zu sitzen. Das waren wir — Träumer durch und durch. Es machte uns Spaß, und an bestimmten Abenden zerbrachen wir uns den Kopf, was wir mit all dem Reichtum anstellen sollten, wenn er einmal auf uns herabregnete. Denn natürlich wollte sie die Filme drehen, die ich schrieb. Wie auch sonst.

—    Sind sie zu?

—    Sind zu, sagte ich und hörte meinen Magen knurren. Es roch gut nach Koriander, Curry und gekochtem Reis.

—    Und du darfst nicht schmulen, und du darfst dich auch nicht erschrecken.

—    Okay.

—Versprich es.

Ich versprach es. Es war still. Ich hörte Jenni atmen.

—    Jetzt.

Ich öffnete die Augen und schrak zurück, weil sie mir so nahe war. Jenni hatte ihr T-Shirt hochgezogen und reckte mir ihren Bauch entgegen. Er war vielleicht zwanzig Zentimeter von mir entfernt. Jenni hatte mit einem Filzer zwei riesige, schielende Augen, riesige Ohren und einen Grinsemund draufgezeichnet. Neben dem rechten Ohr war ein Kästchen und darunter stand JA, neben dem linken Ohr war ein Kästchen mit einem NEIN.

- Hier.

Jenni hielt mir den Filzer entgegen. Ich starrte auf die zwei Augen und den Punkt, der eine Nase sein sollte. Ich konnte Jenni nicht ansehen und bemerkte, daß ihr Herz heftig schlug — eine kleine, blaue Ader neben ihrem Beckenknochen pulsierte wie verrückt.

Ich zog die Kappe mit den Zähnen vom Filzer und setzte mein Kreuz neben das rechte Ohr.

Wir trinken Wodka und Cognac durcheinander. Ich habe nichts Stärkeres, und nach Wein ist mir nicht mehr zumute, seitdem Val ihre Geschichte beendet hat. Ich beobachte, wie ich die beiden beobachte. Es ist ein guter Trick, um von mir selbst abzulenken. Jede Geste wird registriert.

Vals hektische Art, sich eine Zigarette anzuzünden; Mareks Versuche, auf dem unbequemen Stuhl einigermaßen bequem zu sitzen. Er kommt mir vor wie jemand, den man auf der Straße trifft und nach einer Minute vergißt. Bei Val dagegen habe ich das Gefühl, sie schon länger zu kennen. Von Jenni habe ich viel über ihre gemeinsame Zeit und Vals Krankheit gehört. Sie waren die besten Freundinnen, bis Val plötzlich verschwand. Jenni hat sie sehr vermißt und fast jede Freundschaft mit der zu Val verglichen. Trotz all der Geschichten hielt sie zu ihr. Ich fand das bewundernswert.

Mir konnte man mit so etwas nicht kommen. Mir konnte man auch schwer mit irgendwelchen Schnellen kommen.

-    Ihr glaubt wirklich, Jenni wurde von den Schnellen umgebracht? frage ich.

Sie tauschen einen kurzen Blick aus.

-Wir nehmen an, es waren die Schnellen, antwortet Val, Oder irgend jemand, der mit ihnen zu tun hat, ja.

Marek nickt zustimmend, und ich frage mich, ob er noch nicken würde, wenn er wüßte, was ich von dem Ganzen halte. Es ist so naheliegend, daß ich mich wundere, daß die beiden nicht selbst darauf gekommen sind.

-    Glaubst du an die Schnellen? frage ich Marek, denn daß Val an sie glaubt, bezweifle ich nicht.

Marek hat bisher wenig gesagt und nur mit seinem Glas gespielt. Wie er da zusammengesunken im Sessel sitzt, wirkt er zu jung, um Alkohol zu trinken. Ich schätze ihn auf Anfang zwanzig.

-    Glauben ist das falsche Wort, sagt er, Ich glaube Val, daß es etwas wie die Schnellen gibt, gesehen habe ich sie ja nicht. Aber ich denke nicht, daß sich Val da etwas zusammenspinnt. Sie nimmt Medikamente, die ein Pferd umhauen würden, weil sie den Schnellen aus dem Weg gehen will. Ich habe ein paar von den Pillen selbst probiert. Niemand nimmt die freiwillig.

-    Ist das der Sinn dahinter? frage ich Val, Möchtest du den Schnellen aus dem Weg gehen?

-    Bisher war ich auf diese Weise sicher vor ihnen, antwortet sie, Was aber mit Jenni passiert ist...

Sie verstummt, denkt nach.

-    Ich verstehe es selber nicht, Theo, es ergibt für mich keinen Sinn. Das einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, daß wir ihnen auf der Spur waren. Mit dem Internet und diesem Portal, das wir entdeckt haben. Ich weiß nicht, was das alles soll, aber ich werde es herausfinden, weil ich keine große Lust habe, Marek oder wen auch sonst noch zu verlieren.

Sie macht eine Pause und reibt sich die Augen. Beide wirken übermüdet und aufgedreht. Bei Val äußert es sich in ihren Bewegungen. Manchmal erstarrt ihre Hand in der Luft, als wüßte sie nicht, welche Geste sie machen wollte. Mareks Augen sind gerötet, was aber auch an den Zigaretten liegen kann, die Val unablässig raucht.

—    Und ich will mich entschuldigen, spricht Val weiter, Ich wußte nicht, was wir sonst tun sollten, als Jenni herzubringen.

—    Wir hätten es melden müssen, sagt Marek, Wir können

Jenni nicht im Auto liegen lassen, wir sollten---

—    Vergiß es, unterbreche ich ihn, Niemand wird Val die Geschichte mit den Schnellen abnehmen.

—    Das ist keine Geschichte, sagt sie.

Wir sehen uns an. Ich will ihr nicht glauben, weil ich mir selbst nicht glaube. Ich könnte sie beruhigen und sagen: Ihr täuscht euch völlig, niemand hat Jenni etwas angetan. Es aber zu sagen, hieße, es vor mir selbst zuzugeben. Seit dem Gespräch über die Schnellen ist in mir eine absurde Hoffnung wachgeworden. Was, wenn es wahr ist? Was, wenn es wirklich diese ominösen Schnellen waren? Jemand hat Jenni etwas angetan, klang weniger schmerzvoll als: Jenni hat sich etwas angetan.

—    Ich verstehe nicht, wie ihr nach Berlin fahren und Jenni in der Wohnung liegenlassen konntet, sage ich.

—    Das war nicht meine Idee, wehrt Val ab.

—    Dann warst du der Idiot? sage ich zu Marek und weiß sofort, ich sollte nicht so reden. Ich sollte lieber aufstehen und in das Schlafzimmer gehen, Tür zu und Ruhe, damit ich zu mir komme. Aber ich will nicht. Ich will von diesen beiden wissen, was wirklich in Kassel geschehen ist. Ich will jeden Schritt verstehen. Ohne Rücksicht.

Marek erzählt von Vals Lüge über ihre Mutter:

-    Ich habe einfach nur panisch reagiert. Val wurde ohnmächtig, eine Frau lag tot im Badezimmer, ich meine, he, ich habe einfach nur reagiert und wollte mit irgend jemandem sprechen, der Val kannte.

Val atmet geräuschvoll aus und sagt:

-    Meine Mutter hat mich noch nie gekannt. Wir haben nichts miteinander zu tun, und das soll auch so bleiben.

-    Das wußte ich doch nicht, verteidigt sich Marek.

—Warum hast du ihn angelogen? frage ich.

Vals Blick ist wütend. Sie beugt sich vor, Ellenbogen auf den Knien.

-    Was meine Familie und mich angeht, ist meine Sache, okay? Und was Jenni und dich angeht, das ist deine Sache.

-Was soll das heißen?

-Wieso dachtest du, daß Jenni nicht mehr zurückkommt?

-    Quatsch, sage ich und gieße mir ein neues Glas ein.

-    Nein, kein Quatsch, wieso dachtest du das?

Sie kommt mir zu nahe, obwohl sie sich keinen Zentimeter bewegt hat. Ich will ihrem Gedankengang nicht folgen.

-    Das geht dich nichts an, sage ich.

-    Genausowenig, wie dich meine Probleme mit meiner Familie angehen, erwidert sie und streckt ihr Kinn vor.

Ich bin überrascht. Diese Frau streitet gern. Da ist eine Wut in ihren Augen, die ich nicht verstehe. Ich habe große Lust, ihr mein Glas ins Gesicht zu schütten. Was denkt sie sich, wer sie ist, ich könnte---

-    He, beruhigt euch.

Marek legt Val den Arm um die Schultern. Mir ist sofort zum Heulen. Dasselbe hätte ich in dieser Situation auch bei Jenni getan. Ich merke, wie zerbrechlich ich bin. Wenn mich jetzt jemand antippt, bekomme ich Risse. Ich trinke mein

Glas leer und stelle es ab. Als ich spreche, sehe ich nur Marek an:

—    Jenni hatte Angst, daß uns alles über den Kopf wächst. Da war der Bauernhof und die Renovierungen, wir hatten einen Kredit aufgenommen, und plötzlich wurde es ernst.

—Wovor hatte sie Angst? fragt Marek.

Ich kann mir denken, was durch seinen Kopf geht. Vielleicht gab es ja jemanden, der hinter Jenni her war.

—    Sie hatte Angst, daß irgendwas schiefläuft, sage ich, Sie

las esoterische Bücher über Schwangerschaften und hatte sich in den Kopf gesetzt, daß etwas mit ihrem Körper falschlief. Sie hatte panische Angst vor einer Fehlgeburt und vor der Möglichkeit, daß das Kind behindert---

—    Sie war schwanger?! unterbricht mich Val und drückt sich den Handrücken gegen den Mund.

Marek sieht sie erstaunt an.

—    Hat sie dir nichts davon erzählt?

—    Sie wollte mit mir feiern, antwortet Val, Sie hat aber nicht gesagt, was es zu feiern gab, denn sie wollte ... ich sollte erst den Wein holen, erst danach wollte sie ...

Ich stehe auf. Ich will mir das nicht anhören oder irgend etwas näher erklären. Ich will einfach nur, daß etwas passiert. Etwas Lautes, etwas Zerstörendes. Ich mit lauter Rissen.

Mit unsicheren Schritten verschwinde ich im Schlafzimmer.

Tür zu, kein Licht, Ruhe. Ich stelle mich ans Fenster und sehe hinaus. Ich bin hilflos und kann keinen klaren Gedanken fassen.

Wieso schmeiße ich die beiden nicht raus und kümmere mich um Jenni? Weil ich nicht glauben will, daß sich Jenni umgebracht hat. Denn was ist, wenn es nicht stimmt und sie wirklich getötet wurde, was dann?

Als ich merke, daß mir schwindelig wird, setze ich mich zwischen Bett und Fenster auf den Boden und starre die gegenüberliegende Wand an. Die Dämmerung verwandelt mein Leben mit Jenni in einen Schwarzweißfilm. Schatten bewegen sich darin und machen auf sich aufmerksam. Ich will nicht hinsehen. Jeden Moment wird die Tür aufgehen, und Jenni wird fragen, was ich da mache, warum ich auf dem Boden sitze, wir hätten doch Gäste. Komm schon rüber, und sei kein Spielverderber. Das hat sie gerne gesagt. »Sei kein Spielverderber«, als wäre das alles nur ein großes Spiel, und wir brauchten bloß auf die Regeln zu achten, dann ginge alles gut.

Bei meiner Rückkehr ins Wohnzimmer sind die Risse nicht mehr sichtbar. Es geht mir nicht besser, und es geht mir nicht schlechter, aber ich habe mich entschieden.

—    Was auch immer passiert ist, sage ich und setze mich wieder an den Tisch, Ich will herausfinden, wie Jenni gestorben ist. Der Rest ist mir egal. Also, was habt ihr? Gebt mir einen Beweis, daß es die Schnellen gibt.

—    Wir haben nichts, sagt Val und erzählt mir, wie nach ihrer Rückkehr aus Berlin alles verschwunden war - Ausdrucke, Notizen und sogar der abgestürzte Computer. Sie glaubt, sie war mit Jenni den Schnellen auf der Spur. Sie beschreibt mir das Portal und die fremde Schrift. Sie sagt, sie hatte keine Chance, den Download zu stoppen, der ihren Computer lahmgelegt hat.

Marek schlägt vor, wir sollten ein zweites Mal versuchen, im Internet nach den Schnellen zu suchen.

—    Einen Versuch wäre es wert, sage ich und gehe zum Schreibtisch. Der Computer startet mit einem schnarrenden Geräusch, der Monitor knistert. Ich schalte die Lampe über dem Schreibtisch an. Eine Minute darauf folgen mir Val und Marek und ziehen sich Stühle heran.

In den ersten zwei Monaten der Schwangerschaft konnten wir die Hände nicht voneinander lassen. Alles kam uns wertvoller und mächtiger vor. Wir waren dabei, etwas zu erschaffen. Wir hatten einen Stein ins Rollen gebracht.

In dieser Zeit entdeckten wir westlich von Oldenburg ein Anwesen mit einem verfallenen Bauernhof. Es war reiner Zufall. Spätsommer, wir beide auf dem Motorrad und auf der Suche nach einem See. Wir hatten Sachen für ein Picknick dabei. Wir wollten romantisch sein und einander mit Trauben füttern.

Erst übersahen wir das Anwesen, weil es auf einer Anhöhe lag. Wir kamen auf eine Straße, die wegen Bauarbeiten gesperrt war, und mußten zurückfahren. Als wir das zweite Mal an dem Hof vorbeifuhren, klopfte mir Jenni auf den Oberschenkel. Ich fuhr langsamer, folgte ihrer ausgestreckten Hand mit den Augen und wendete.

Ein überwucherter Weg führte zum Anwesen hoch. Ich hielt auf der Hofeinfahrt und ließ Jenni absteigen. Nachdem ich die Maschine aufgebockt hatte, schaute ich mich um. Wir waren von der Straße aus nicht zu sehen. Der Tümpel hinter dem Hof war von Bäumen eingeschlossen. Ein kleiner Schuppen stand windschief in der Nähe des Hauses.

Wir blieben, picknickten und beschlossen, mehr über den Hof herauszufinden. Wir betraten die verfallene Scheune, sahen durch die eingeschlagenen Fenster des Hauses, wagten es aber nicht, eine derTüren aufzubrechen.

Als es dunkel wurde, konnten wir uns noch immer nicht von dem Ort trennen. Mücken begannen uns zu umschwirren, und Jenni schlug vor, ich sollte doch ein Feuer machen. Während sie Äste sammelte, kehrte ich eine Stelle am Ufer frei und baute aus Steinen eine Feuerstelle. Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Jennis Kopf lag in meinem Schoß, ich hörte ihr zu und sah immer wieder zum Hof hinüber. Auf

eine bestimmte Weise gehörte er uns schon, auf eine bestimmte Weise lebten wir dort schon.

Zehn Jahre waren vergangen, wir verbrachten die Sommerabende noch immer am Tümpel, kaum etwas hatte sich verändert. Die Welt drehte sich im gleichen Rhythmus, unsere Kinder schliefen im Haus, wir waren angekommen und würden nie wieder suchen müssen.

Wir löschten das Feuer, indem wir es mit Sand bedeckten, und standen für einige Minuten mit dem Rücken zum Hof. Jenni spuckte auf das Wasser.

—    Du auch, sagte sie.

Ich spuckte weiter, und das brachte Jenni zum Lachen. Sie sagte, ich wäre ein Angeber, ich sagte, sie könnte nicht weit spucken.

—    Jetzt mal ernst.

Sie lehnte ihren Hinterkopf an meine Brust, ihre Stimme war leise.

—    Wenn wir mal sterben, dann will ich, daß sie uns hier beerdigen, versprochen?

—    Blödsinn.

—    Nein, versprich es mir.

—Wir sterben nicht.

-Wenn aber...

Mir zog sich der Hals zusammen.

—    Jenni?

-Wenn aber...

—    ... dann werden sie uns hier beerdigen, zufrieden?

Sie drehte sich um, ihre Pupillen waren zwei glitzernde Punkte.

—    Gut, sagte sie, Laß uns jetzt nach Hause fahren.

Wir suchen über zwei Stunden im Internet und geben die Begriffe ein, mit denen Jenni und Val Erfolg hatten. Die Schnellen. Das Spiegelprinzip. Zeitverzögerung. Nichts. Wir wechseln die Suchmaschinen und denken uns Variationen auf die Begriffe aus. Rein gar nichts kommt dabei heraus. Unmengen von Serviceseiten tauchen auf, dann obskure Pressemitteilungen, wie schnell der und der liefert, auch physikalisches Gelaber über ein Spiegelprinzip, das niemand versteht, aber in dem alle die Zukunft sehen.

Wir finden all das, die Links mit den Zahlen aber existieren nicht.

—    Nicht mehr, betont Val, Sie müssen die Seiten aus dem Netz genommen haben. Ist so etwas möglich?

—    Keine Ahnung, sage ich, Wie wer was im Netz verteilt, war mir schon immer ein Rätsel, aber sicher ist es möglich.

Ich unterbreche die Verbindung und fahre den Computer runter. Die Ruhe danach ist unangenehm, die Stimmung schlecht. Es stinkt nach Zigaretten und Schweiß. Mareks Gesicht wirkt eingefallen, Val ist gereizt. Mir schmerzt der Kopf, also löse ich den Zopf und fahre mir durchs Haar.

—    Das war’s? frage ich, Mehr habt ihr nicht?

Val sieht aus dem Fenster, Marek reibt sich die Augen und sagt:

—    Mehr haben wir nicht.

—    Denkt nach, da muß was sein. Ich brauche einen Beweis. Irgendwas.

Val spricht, ohne sich vom Fenster abzuwenden:

—    Wir haben keine Beweise, Theo. Unser einziger Beweis liegt unten im Wagen und ist tot.

Der Treffer sitzt. Ich sinke in den Stuhl zurück, als würde jemand mit beiden Händen auf meine Brust drücken Jenni ist wirklich weg. Nur ein paar Worte von Val haben gereicht, der Druck preßt mir die Luft aus den Lungen.

-Was mache ich nur? sage ich mehr zu mir selbst als zu den anderen. Ich denke dabei nicht an unser Kind, das nie sein wird, ich denke dabei nicht an Jenni, die einmal war. Ich habe nur mein Leben vor Augen. Wie mache ich weiter?

Val hat sich umgewandt und sieht mich an. Sie versteht meine Frage falsch und sagt:

—    Ich denke, du solltest es ihren Eltern als Erstes sagen.

Sie hat recht. Jennis Eltern werden nach ihr fragen. Jenni

kann sich nicht einfach in Nichts auflösen, niemand verschwindet spurlos, und es bleibt unbemerkt.

—    Sie werden sich wundern, wo Jenni ist. Nicht nur ihre Eltern, auch ihre Freunde. Ich muß ihnen sagen, daß sie nicht nach Hause gekommen ist. Das ist der erste Schritt. Ich muß ...

Ich verstumme, sehe in den Raum und frage mich, ob das eben wirklich meine Worte waren. Sie kommen mir so nüchtern und klar vor.

Marek räuspert sich und sagt:

—    Ich habe Hunger.

Überrascht sehe ich ihn an. Es ist so absurd, daß er jetzt Hunger haben kann. Es ist echt, es ist natürlich, es ist genau das, was ich im Moment nicht bin.

—    Gut, sage ich, Prima, laßt uns essen gehen, danach reden wir weiter.

Ich stehe auf und schiebe hinterher:

—    Und wir nehmen deinen Wagen, okay?

Marek sieht mich an, als würde ich das nicht ernst meinen.

—    Sehr witzig, sagt er.

—    Das war kein Witz, sage ich und schalte das Licht über dem Schreibtisch aus.

Bevor wir in das Auto steigen, frage ich Marek, ob ich fahren darf.

-    Sicher, kein Problem.

Val setzt sich zu Jenni nach hinten. Wir hören auf der Fahrt zum Restaurant Musik.

-Wer ist das? frage ich.

-    Matt Ward, sagt Marek.

Eine brüchige Gitarre zu einer brüchigen Stimme in einer brüchigen Geschichte. Ich stelle lauter und erwarte jeden Moment, daß Jennis Arme sich von hinten um meine Brust schließen und den Druck lösen. Mich wieder frei atmen lassen. Mich festhalten. Als ich in den Rückspiegel sehe, schaue ich Val direkt in die Augen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich schon beobachtet. Ich sehe wieder nach vorne. Beim nächsten Mal hat sie den Kopf abgewandt, und ich nehme den Rest des Weges den Blick nicht von der Straße.

Vor dem Restaurant halte ich in zweiter Reihe, obwohl weiter vorne ein Parkplatz frei wird. Val und Marek steigen aus. Val zündet sich eine Zigarette an, Marek stellt den Kragen seines Mantels hoch. Ich kurble das Fahrerfenster herunter.

—    Hier ist ein Zweitschlüssel, sage ich und reiche ihn Marek, Der Kleine ist für unten, der Rote für oben. Ihr könnt euch das Sofa ausziehen, Bettwäsche findet ihr im Flurschrank, Handtücher auch.

Marek will etwas sagen, Val zieht an seinem Arm.

—    Es ist in Ordnung, erklärt sie ihm.

Ich lasse die beiden am Straßenrand stehen.

Wir stritten uns über esoterische Bücher, Ernährung und Erdstrahlungen. Wir brachten es fertig, Rudolf Steiner zum Thema zu machen und diskutierten hitzig, in welchen Kin-dergarten unser ungeborenes Kind gehen sollte. Ich bin mir sicher, wir wußten beide, wie albern wir uns verhielten. Und ich bin mir auch sicher, daß es sehr viel mit Jennis Angst zu tun hatte.

—    Ich tue das nicht für mich, sagte sie mit der Hand auf ihrem Bauch.

Es waren die ersten Monate, in denen wir zusammenlebten, und wir hatten uns das alles anders vorgestellt. Jenni begann sich für Yoga zu interessieren und besuchte Seminare. Gesundheit stand bei ihr an erster Stelle. Während ich die Sorge hatte, ein Kind in dieser winzigen Wohnung großziehen zu müssen, weil der Bauernhof nicht fertig wurde. Jedes Wochenende fuhr ich raus und arbeitete mir die Finger blutig, während Jenni zu Hause saß und dachte, ich vernachlässige sie. Das Ergebnis war, daß der eine auf dem anderen herumhackte.

—    Du nimmst das alles zu ernst, sagte ich, Du machst dir Angst, und das kann doch nicht der Sinn des Ganzen sein.

-Aber ich habe Angst, sagte sie, Und ich will sichergehen, daß unserem Kind nichts passiert.

Abonnements von »Stiftung Warenteste, >Schrot & Korn< und >Öko-Test<, Einkäufe im Naturkostladen, stirnrunzelndes Nachfragen, ob dieser Käse oder jener Saft für das Baby schädlich sein könnten, Horoskope, Fußreflexzonenmassagen und die Wahl der richtigen Hebamme - es gab keine anderen Themen mehr, und ich wurde langsam müde davon, verschwand sogar unter der Woche und renovierte den Hof.

Anfang Dezember hatte ich das Erdgeschoß fertig, einen Kamin eingebaut und die Wasserleitung neu verlegt. Die Heizung und die Böden in den oberen Stockwerken wollte ich bis zum Jahresende erledigen. Als ich nach Hause kam, fand ich ein Bahnticket auf dem Küchentisch.

—    Du fährst weg?

Ich wußte, ich klang enttäuscht. Jenni hatte darüber gesprochen, für eine Woche Pause zu machen und auszuspannen. Wieso, fragte ich mich, kann sie nicht mit mir Pause machen und ausspannen?

Wir sahen uns mehr oder weniger zufällig. In den zwei Monaten vor Weihnachten hatte ich eine Menge in den Kinos zu tun, und Jenni tanzte nach der Pfeife der Produktionsfirma. Meistens begegneten wir uns spät am Abend und waren dann so müde, daß wir beim Sex einschliefen. Wir lachten darüber und nahmen es leicht. Wir wollten ja auf den Hof ziehen und unserem Baby ein wenig Idylle bieten.

-Val hat mich eingeladen, antwortete Jenni aus dem Wohnzimmer.

Ich ging hinüber. Sie lag mit einem Buch auf dem Sofa. Ich blieb im Türrahmen stehen.

—    So schnell?

Jenni hatte ihre alte Freundin vor zwei Tagen übers Internet ausfindig gemacht. Es wunderte mich, daß sie nicht schon vorher auf die Idee gekommen war. Es gab wohl für jeden Menschen eine bestimmte Zeit, jetzt war wieder Zeit für Val.

—    Sie braucht Hilfe, sagte Jenni und klopfte neben sich auf das Sofa, Deswegen dachte ich mir, ich fahre morgen und bleibe bis zum Wochenende bei ihr. So spontan, weißt du. Es sind ja nur ein paar Tage. Du hättest hören sollen, wie sehr sie sich am Telefon gefreut hat. Sie wohnt in Kassel.

—    In Kassel, wiederholte ich lahm, als hätte ich den Namen noch nie gehört. Ich setzte mich zu Jenni. Kassel klang wie das Ende der Welt.

-Was ist mit dem Dreh am Kanal, ich dachte, das dauert noch.

—    Sie brauchen mich nicht wirklich, ich habe die Woche freibekommen.

—Ach.

Ich wußte, ich sollte nicht so ein Gesicht ziehen. Ich fand es schon immer schwer, Enttäuschungen zu verbergen.

—Theo, sag Hallo, Mama und küß mich.

Ich sagte Hallo, Mama und küßte sie und wollte wissen, ob sie wiederkommen würde.

Jenni lachte los.

Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam, sie nicht mehr wiederzusehen. Vielleicht war es eine Vorahnung oder reine Unsicherheit. Seitdem ich Jenni kannte, ließ mich diese Angst vor Verlust nicht los. Wahrscheinlich hat das jeder, wenn er glaubt, den richtigen Menschen gefunden zu haben. Oft zog sich mir mitten am Tag der Magen zusammen, und ich mußte Jenni anrufen. »Alles okay bei dir?« hatte ich dann gefragt. »Natürlich«, war ihre Antwort gewesen.

—Was ist das für eine Frage? sagte Jenni und zog mich über sich wie eine Decke, Natürlich komme ich wieder. Wo soll ich denn sonst hingehen?