Nachdem wir Theo abgesetzt hatten, beschlossen wir, die Nacht in Oldenburg zu verbringen. Ich war viel zu erschöpft, um noch die Strecke nach Kassel zu fahren, und auch Val fühlte sich nicht danach.
-Außerdem bin ich hungrig, sagte sie.
Wir nahmen uns ein Zimmer und aßen im Restaurant. Wir sprachen über Theo und kaum über uns. Mir ging der Arzt nicht aus dem Kopf, den ich am Fenster des Besuchercafes gesehen hatte. War es derselbe Arzt, nach dem Val gefragt hatte? Sah ich einen der Schnellen? Und wieso fiel es mir so schwer, mit Val darüber zu sprechen?
Weil ich Angst habe und die Schnellen nicht sehen will, gab ich mir zur Antwort.
Das Hotel hatte einen Pool und eine Sauna. Val versuchte mich zu überreden, ich winkte ab. Auf Pay-TV lief ein Film, den ich sehen wollte, das Bett war weich, nichts und niemand würde mich dazu bekommen, in einen Pool zu steigen oder mir mit Geschäftsleuten die Sauna zu teilen.
Val griff sich zwei der Handtücher, küßte mich und verließ das Zimmer.
Ich schaffte es nicht einmal, den Fernseher einzuschalten. Die Müdigkeit überkam mich, und ich fiel in ein Wachkoma. Es war merkwürdig, wie ich da lag und genau wußte, daß ich da lag. Jedes Geräusch nahm ich wahr. Schritte über mir, Stimmen, das Anfahren von Autos. Irgendwann hörte ich das Öffnen der Zimmertür. Jemand flüsterte, ein leises Lachen erklang. Ich wollte aufstehen, hatte aber keine Kraft, bekam nicht einmal die Augen auf. Etwas raschelte, etwas berührte meinen Rücken, dann wurde mir das Gesicht ins Kissen gedrückt. Ich lag einfach nur hilflos da und spürte, wie mir Speichel aus dem Mundwinkel lief. Das Atmen fiel mir schwer und erst nach einer Ewigkeit verschwand der Druck, und ich konnte mein Gesicht aus dem Kissen heben und zur Seite drehen. Für lange Zeit blieb es still, nur mein lautes Keuchen war zu hören, dann ratterte etwas, ein Auto hupte, ein Vogel schrie und wurde von anderenVögeln begrüßt. Ich kämpfte mit der Müdigkeit und zwang mich, die Augen zu öffnen. Langsam, zäh blinzelte ich.
Es war Morgen. Der Himmel leuchtete blau, die Geräusche der Stadt drangen für einige Sekunden überdeudich und klar durch das Fenster, bevor sie in den Hintergrund traten.
Ich befand mich in derselben Haltung, in der ich aufs Bett gefallen war. Flach auf dem Bauch, Arme links und rechts vom Kopf, die Füße hingen über den Bettrand.
Es war zehn Uhr, zwei schmale Sonnenstreifen lagen auf dem Kissen. Vals Bettseite war unberührt. Ich schrak auf, schmerzhaft zuckte es durch meine Schultern, verkrampfte Muskeln, ein widerliches Prickeln in den blutleeren Armen. Ich fühlte mich, als hätte ich die Nacht durchgemacht.
Im Bad klatsche ich mir Wasser ins Gesicht. Vals Tasche lag noch im Flur. Ich schnappte mir den Zimmerschlüssel und rannte zur Rezeption hinunter.
Niemand hatte Val gesehen, sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen.
—Wo geht es zum Swimmingpool? fragte ich.
- Der Pool hat noch geschlossen, sagte die Frau am Empfang.
— Ich muß da rein.
— Der Pool macht erst mittags um zwei auf, auch die
Sauna---
— Hören Sie, ich will nicht in den Pool, ich will nur kurz reinschauen. Meine Freundin, sie ... sie ist zuckerkrank und heute nacht nicht ins Hotelzimmer zurückgekommen. Wenn sie einen Schwächeanfall gehabt hat und im Pool liegt, dann werde...
Mehr brauchte es nicht. Die Frau telefonierte kurz. Der Geschäftsführer kam und bat mich, ihm zu folgen. Wir gingen in den Keller. Es roch nach Chlor und Reinigungsmitteln. Ein unangenehmes, hohes Summen hing in der Luft.
— Pool und Sauna schließen abends um zehn. Vielleicht ist Ihre Freundin noch was trinken gegangen. Die Bar hat länger geöffnet, man weiß ja nie, was einem nachts in den Kopf kommt.
— Danke für den Tip, sagte ich und schob mich an ihm vorbei.
Der Pool war unbeleuchtet und leer. Ich beugte mich über den Rand, sah in dieTiefe und erwartete jeden Moment, Vals Körper auf dem Grund liegen zu sehen.
Nichts.
Auch die Umkleidekabine für Frauen war verlassen. Ich ging durch den Gang, riß die Spinde auf.
Vals Sachen lagen sorgfältig gefaltet in der Nr. 19.
—Wo ist die Sauna?
Wir gingen vorbei an den Duschen, vorbei an einem Getränkeautomaten und an einemTisch, um den vier Korbsessel standen.
— Überprüft denn keiner, ob sich noch jemand in der Sauna befindet? fragte ich.
— Natürlich, was denken Sie?
Er blieb vor einer klobigen Holztür stehen und sagte:
— Für Frauen.
Ich schaute durch das Fenster. Der Raum war dunkel und verlassen. Der Geschäftsführer legte einen Schalter um, ein dunkelblaues Licht ging an. Ich sah Holzbänke, auf dem Boden lag ein Handtuch. Ich stemmte die Tür auf. Der Geruch von Eukalyptusöl und Feuchtigkeit. Ich machte einen Schritt in den Saunaraum hinein. Hinter mir sagte der Geschäftsführer, so ginge das nun aber nicht, ich könne da nicht mit Straßenschuhen reingehen.
Val lag ganz links zwischen zwei Bänke eingeklemmt. Sie war zu einem Ball zusammengekrümmt und erinnerte so sehr an Jenni, daß ich beinahe aufgeschrien hätte.
— VERSCHWINDEN SIE! brüllte ich den Geschäftsführer an, der mich am Ellenbogen aus der Sauna ziehen wollte. Er ließ los, dieTür flappte hinter mir zu.
-Val?
Ich berührte ihre Schulter, sah die Schnittwunden auf ihren Armen, die Haut war übersät davon. Langsam zog ich sie aus der hockenden Haltung, der Ball öffnete sich, Val fiel mir entgegen. Ich hörte sie stöhnen, spürte die Wärme ihres Körpers und biß mir vor Erleichterung auf die Unterlippe.
Vorsichtig legte ich sie auf eine der Bänke und verließ die Sauna. Der Empfangschef erwartete mich mit verschränkten Armen.
— Holen Sie mir bitte einen Bademantel.
— Was ist passiert? fragte er und versuchte an mir vorbeizusehen.
— Sie ist zuckerkrank und hatte einen Schwächeanfall. Holen Sie mir einen Bademantel und einen Schokoriegel, machen Sie schon.
-Aber wie konnte das---
— Gehen Sie schon!
Er verschwand. Ich ging wieder in die Sauna und hockte mich neben Val. Die Schnitte waren blutverkrustet, die Oberlippe aufgeplatzt. Ihr linker Ohrring fehlte, da war ein Riß in ihrem Ohrläppchen. Sie hatte Schrammen an den Knien und die Knöchel an beiden Händen waren aufgescheuert.
Aber sie lebte.
Ihre Augen flackerten für einen Moment, als würde sie schlecht träumen. Ich strich ihr übers Haar und wartete, daß dieser Idiot mit dem Bademantel kam. Mehr konnte ich im Moment nicht tun. Nicht denken, nicht handeln, einfach nur dahocken und Val streicheln.
Mit Theos Hilfe trage ich Val in die Wohnung. Wir nehmen sie in die Mitte und reden kein Wort. Kein Wort über Val, kein Wort über den Schnee und auch nicht darüber, daß wir noch immer in Oldenburg sind. Wir keuchen auf den Stufen und versuchen, durch den engen Treppenflur zu kommen. Oben legen wir Val auf Theos ungemachtes Bett und sehen uns an.
— Lassen wir sie allein, sagt Theo und hebt eine leere Wöd-kaflasche vom Boden auf. Er stellt sie zum Altglas und fragt mich, ob ich Kaffee möchte. Er fragt nicht, was passiert ist. Er sagt, ich soll mich ins Wohnzimmer setzen, und ich sage, ich würde lieber bei ihm in der Küche bleiben.
- Okay.
Da sitze ich also wieder am Fenster und schaue hinaus. Der idyllische Wintertag paßt nicht. Er wirkt wie ein schlechter Scherz. Als würde ich erfahren, daß ich zehn Millionen geerbt habe, kurz nachdem mir die Diagnose gestellt wurde, daß sich ein Tumor von der Größe eines Tennisballs in meinem Kopf breitgemacht hat.
Es paßt einfach nicht.
Theo stellt einen Becher Kaffee vor mir ab. Ich nippe, verbrenne mir die Zunge und verziehe das Gesicht. Ich erzähle ihm von meiner Ruhelosigkeit und daß ich keine Ahnung habe, was in den letzten Tagen mit mir los ist. Es ist ein guter Anfang, denn er hat nichts mit Val zu tun.
- Deswegen habe ich auch sehr spät gemerkt, daß Val nicht ins Hotelzimmer zurückgekehrt ist, sage ich und schildere, wie ich sie in der Sauna fand, und daß Val für einen Moment aussah wie Jenni.
Zwischendrin klingelt das Telefon, Theo läßt es klingeln. Der Anrufbeantworter springt an, eine Frauenstimme sagt:
- Hi, bist du da? Ich dachte, du wärst schon zurück...
Mhm ... Vergiß unser Essen nicht. Jan meint, wenn Theo mitkommt, dann wird er seine Plattensammlung verstecken. Soll er mal, ich wäre froh, wenn er sie verstecken und für einige Jahre nicht wiederfmden würde. Ich meine, Hallo, schon mal was von CDs gehört? Hat er bestimmt, aber das ist ja Teufelszeug, diese silbernen Schei---
Es piept, die Verbindung wurde unterbrochen. Theo sagt:
-Anita. Maskenbildnerin. Erzähl weiter.
Ich erzähle, wie ich Val von der Sauna in unser Hotelzimmer gebracht habe und von meiner Lüge mit der Zuckerkrankheit.
- Ich habe behauptet, Val wäre gestürzt. Der Geschäftsführer hat mir einen Erste-Hilfe-Kasten besorgt, und ich habe dann Vals Wunden verbunden. Ich hoffe, ich habe keinen Mist gebaut; ich habe doch keine Ahnung, wie man das macht. Danach wollte ich ihr was anziehen, durchkramte ihre Sachen und fand die hier.
Ich nehme die Packung aus meiner Hosentasche und lege sie auf den Tisch.
- Sind das ihre Pillen? fragt Theo.
- Das sind sie. Und ich weiß nicht, was genau Val in den letzten Tagen getan hat, aber eins ist sicher, ihre Pillen hat sie nicht genommen. Die Packung ist fast voll. Val muß ihr Medikament seit Jennis Ankunft abgesetzt haben. Sie hat absichtlich...
Ich breche mitten im Satz ab und drehe die Verpackung in den Händen. Hat mich Val schon auf der Fahrt nach Berlin hereingelegt? Tat sie nur so, als würde sie ihr Medikament nehmen? Hat sie es geplant?
-Theo, verstehst du, das war Absicht. Ich bin mir sicher, daß Val ihre Psychose herausgefordert hat. Sie wollte ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie fertig ich war, als ich das entdeckt habe. Sie hat mich hereingelegt.
Ich werfe die Verpackung wieder auf den Tisch und verschränke die Hände, damit Theo nicht sieht, wie sehr sie zittern.
— Ich habe Val vom Hotel zum Auto getragen und wußte danach nicht, wohin. Ich hätte dich auch nicht genervt, wenn du...
Theo winkt ab.
Ich merke, wie zugeschnürt mein Hals ist. Ruhe. Wir trinken Kaffee, sitzen in der Küche und warten, daß irgend etwas geschieht. Nichts geschieht, also warten wir weiter, daß Val erwacht.
Es ist später Mittag, als Val im Türrahmen auftaucht. Sie hat sich in eine Wolldecke gewickelt, ihr langes Haar ist vom Schlaf durcheinander. Meine ungeschickt angebrachten Verbände um ihre Hände sind noch fest, der Verband um ihre Schulter hat sich gelöst, und eine der Wunden ist zu sehen. Auf Vals Stirn kleben zwei Pflaster, ihre Oberlippe ist von einem häßlichen Schnitt geschwollen.
- Hi, sagt sie.
Ich stehe auf, berühre ihren Arm, Val zuckt zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen.
— Nicht, sagt sie.
Ich weiche zurück, ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.
- Setz dich, sagt Theo zu mir.
Ich setze mich wieder. Val geht zum Kühlschrank und nimmt sich Orangensaft heraus. Sie stellt ihn auf den Tisch und zeigt darauf.
— Könnte einer von euch ...
Ich kann sie nur ansehen. Auf der einen Seite bin ich erleichtert, daß es ihr gutgeht. Auf der anderen Seite bin ich wütend, weil sie ihre Pillen nicht genommen hat.
Theo öffnet den Orangensaft, nimmt ein Glas aus dem Schrank und füllt es.
- Danke.
Val hebt das Glas ungeschickt mit beiden Händen an. Die Decke klafft auf. Theo sieht schnell weg und konzentriert sich auf die Saftpackung. Ich bin erschrocken, daß es so viele Pflaster und Verbände sind, obwohl ich sie selbst angebracht habe. Nachdem Val getrunken hat, seufzt sie und stellt das Glas ab. Sie rafft die Decke vor ihrer Brust zusammen und bittet um mehr. Ich gieße nach. Val setzt sich und trinkt. Ich muß jetzt einfach etwas sagen:
-Was...
Ich räuspere mich.
-Was ist passiert?
Val verzieht den Mund, aus dem Schnitt in ihrer Oberlippe perlt Blut. Ein Tropfen löst sich, bevor ihn Val weglek-ken kann, und landet auf der Tischplatte.
— Oh, sorry...
Ich springe auf, befeuchte ein Küchentuch und reiche es ihr. Val drückt es sich an die Oberlippe und tupft das Blut weg. Für Sekunden starrt sie den Fleck auf der Tischplatte an und sagt dann:
— Ich war dumm, ich ... ich dachte, ich könnte sie ...
Sie schüttelt den Kopf, das Haar fällt ihr ins Gesicht, die
Tränen laufen an ihren Wangen herab. Sie wischt sich mit der bandagierten Hand über die Nase.
- ... ich dachte, ich hätte eine Chance ... nur eine kleine, aber ich hatte keine, gar keine, es ... es tut mir so leid ...
Val verstummt. Ihr Mund zittert, nur langsam beruhigt sie sich, dann bleibt ihr Blick an der Pillenschachtel hängen, die neben meiner Kaffeetasse liegt.
- Gibst du mir eine?
Ich drücke ihr eine Pille aus der Schachtel. Es zieht mir das Herz zusammen, als Val den Mund öffnet. Wie ein krankes Kind, das seine Medizin entgegennimmt. Ich lege ihr die Pille auf die Zunge, Val spült mit einem Schluck Orangensaft nach und bedankt sich. Ich kann meine Augen nicht von ihrem Mund nehmen. Theo und ich warten, daß sie zu erzählen beginnt. Nichts geschieht. Dann sieht Val von einem zum anderen, ihr Gesicht leuchtet auf, und sie sagt:
— Aber es hat geklappt. Ich habe sie gesehen, ich habe sie wieder gesehen. Es hat wirklich geklappt.
Und bricht wieder in Tränen aus.
Außer mir waren noch zwei Pärchen und eine alte Frau im Schwimmbad. Wir nickten uns zu und ignorierten einander. Ich bereute es, am Automaten keine Badekappe gezogen zu haben. Das Wasser war reinstes Chlor.
Nach fünf Runden legte ich eine Pause ein, breitete die Arme aus und ließ mich auf dem Rücken treiben. Mir gefiel, daß nur mein Gesicht aus dem Wasser schaute, dann begann dieses sanfte Rauschen im Kopf. Würde ich jemals Tauchen gehen, könnte es passieren, daß ich freiwillig nicht mehr hochkomme. Die Pärchen verließen das Becken. Sie alberten herum, dann schubste eine der Frauen einen der Männer, und er landete mit einem schiefen Sprung wieder im Wasser.
- Du Schlampe! rief er lachend und stieg wieder aus dem Becken.
Die Frau boxte ihm spielerisch gegen die Schulter, dann verschwanden die vier in den Duschen. Die alte Frau hatte das beobachtet und schüttelte den Kopf. Sie trug eine geblümte Badekappe und schwamm alle paar Meter an den Beckenrand, um zu verschnaufen.
Ich überlegte mir, wie sie reagieren würde, wenn ich jetzt untertauchte, um auf ihrer Seite wieder aufzutauchen. Wahrscheinlich würde sie den Kopf schütteln und aus dem Bek-ken steigen. Ich erwartete, daß sie ging. Ich wollte schon immer mal ganz allein in einem Schwimmbad sein. In einem Schwimmbad, in einem Kino, in einer Bäckerei, in einem Supermarkt.
Als hätte die alte Frau meine Gedanken gehört, stieg sie aus dem Becken und nahm umständlich ihre Badekappe ab. Sie hatte plattgedrücktes, kurzes Haar, und ich war mir sicher, daß sie in der Öffentlichkeit eine Perücke trug.
Ihre Schritte patschten auf den Fliesen. Während sie davonging, sah ich kleine Perlen unter ihren Füßen aufsteigen. Ich wußte, daß es Spritzer waren, doch für diesen einen Moment wurden sie in meinen Augen zu Perlen.
Ich schwamm auf die andere Seite. Die Perlen waren im Wasser verschwunden. Ich tauchte unter, tauchte auf. Die Schritte der alten Frau waren nicht mehr zu hören. Ich war enttäuscht, keine Perlen gefunden zu haben und lachte laut los. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Gott, war ich kindisch.
Allein.
Ich schaute mich um.
Stille.
Ich konnte jetzt machen, was ich wollte.
Ich stieß mich vom Rand ab und trieb in die Mitte. Ich spürte, wie das Wasser mir auswich, spürte eine Veränderung in den Wellen. Als wäre ich nicht allein im Becken. Als würde gleichzeitig mit mir etwas durch das Wasser gleiten und Kurs auf mich nehmen.
Ich hatte keine Angst. Ich wartete schon so lange auf diesen Moment, daß Angst einfach nicht aufkam. Erwartung, ja. Freudige Erwartung ist das richtige Wort dafür.
Komm.
In der Mitte des Beckens bremste ich meine Bewegungen. Alles an mir erstarrte. Mit ausgebreiteten Armen legte ich den Kopf in den Nacken und sah die niedrige Decke des Schwimmbades als einen grellen Sternenhimmel. Die Lichter zogen Schlieren, ein leises Plätschern war zu hören. Ich trieb reglos im Wasser und spürte den Widerstand, die Spannung der Oberfläche. Dann geronn das Wasser um mich herum. Es wurde zu einer gerippten Fläche, über die ich laufen konnte, wenn ich wollte.
Ich sah auf die Uhr über derTür zu den Duschkabinen. Da wurde es offensichtlich. Ganz sanft machte es Klick in meinem Kopf. Der Sekundenzeiger stand still, dann bewegte er sich nach vorne. Ich hatte mitgezählt. Es vergingen 20 Sekunden.
Ich wartete auf das nächste Mal. Dieses Mal zählte ich bis 52, erst dann ruckte der Zeiger eine Stelle weiter.
Es ist soweit.
Ich glitt auf den Beckenrand zu. Kein Tropfen Wasser löste sich von mir, als ich mich heraushievte. Erst viel zu spät begriff das Wasser, daß ich es verlassen hatte. Das Loch schloß sich hinter mir. Ich war wie Licht, nichts blieb an mir haften.
Tack.
Der Zeiger war eine Sekunde vorgerückt. Ich wußte, die Tür stand offen. Ich wollte weinen, so glücklich war ich und stand da und wartete, was als nächstes geschehen würde. Ich war geduldig, ich konnte bis zum Morgen hier stehen und einfach nur warten. Ich wußte, sie würden kommen. Sie waren Wächter. Sie bekamen jedes Öffnen der Türen mit. Ich brauchte nicht lange zu warten. So ist das immer - wenn man die Zeit ignoriert, besiegt man sie.
Eine Frau und ein Mann erschienen im Türrahmen der Umkleidekabine. Beide trugen Winterkleidung, auch wenn ich nicht glaubte, daß sie wirklich froren. Es war das Bild, das sie präsentieren wollten. Die Schnellen kannten keine Kälte.
Sie sahen zu mir, dann trennten sie sich. Die Frau ging links, der Mann rechts am Becken entlang. Als ob ich versuchen würde zu fliehen. Ich stand da und erwartete sie. Mein
Slip klebte an mir, der BH war beinahe durchsichtig. Im Wasser konnte das keiner sehen, jetzt war es mir egal.
Sie erreichten mich gleichzeitig. Der Sekundenzeiger hatte sich noch nicht weiterbewegt.
-Wieso? fragte der Mann.
Ich sah ihn an und konnte ihn nicht richtig sehen. Er flimmerte vor meinen Augen. Er war so schnell, daß er an den Rändern verschwamm.
-Wieso nur? fragte die Frau, sie konnte ich besser erkennen.
— Wegen Jenni, sagte ich, Weil ihr mir Jenni genommen habt.
Der Sekundenzeiger zuckte mit einem hohlen Tacken eine Stelle weiter. Die Frau legte den Kopf schräg, und ich wußte, ich hätte mich auf den Mann konzentrieren sollen. Seine Hand packte mich an den Haaren, dann bekam ich einen Tritt in die Kniekehlen und fiel. Der Sturz tat weh. Bevor ich mich wieder aufrappeln konnte, zerrte mich der Mann an den Haaren hinter sich her. Die Frau blieb stehen und sah uns nach.
— He, was ...
Es ging so schnell, daß ich mich erst wehren konnte, als wir schon längst angekommen waren. Ich fiel über eine Holzbank. Der Geruch von Eukalyptus umgab mich. Ich sah mich in der Dunkelheit um. Es mußte die Sauna sein, der Mann hatte mich in die Sauna gestoßen.
Ein blaues Licht ging an.
Der Mann stand im Türrahmen, die Frau tauchte neben ihm auf.
— Zieh dich aus, sagte sie.
Der Mann zog sich aus. Ich hatte keine Ahnung, warum er das tat. Die Vorstellung, daß er mich berühren könnte, ließ mich zurückweichen. Der Mann reichte der Frau seine
Sachen, dann betrat er die Sauna. Die Frau blieb im Türrahmen stehen.
- Du wurdest gewarnt, sagte der Mann, und ich sah etwas Metallisches in seiner Hand glitzern.
- Das hier ist nicht dein Leben, du hast hier nichts verloren, sprach er weiter, Wenn dir gesagt wird, du sollst fern-bleiben, dann solltest du darauf hören. Wie viele müssen denn noch sterben, weil du nicht hörst?
— Ich ...
Ich wich zurück. Der Mann hielt eine Art Skalpell in der rechten Hand. Ich konnte nur die schmale, bläuliche Klinge sehen. Sie hatte die Form eines Halbmondes.
—... ich will doch nur wissen, wer ihr seid und warum ...
Der Mann schüttelte den Kopf.
-Wir gehen dich nichts an. Rein gar nichts.
- ... aber ihr, ihr habt Angst vor mir, ihr...
Die Frau im Türrahmen lachte.
—Tu ihr weh, sagte sie.
Er war zu schnell. Lange bevor ich reagieren konnte, tropfte mein Blut von der Klinge, und der Mann stand wieder neben der Frau. In seiner linken Hand hielt er meinen BH und den Slip. Ein Spritzer Blut klebte auf seiner haarlosen Brust. Jetzt begriff ich, warum er sich ausgezogen hatte.
— Wenn sie Antworten will, sagte die Frau, Solltest du sie ihr geben.
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und schloß die Tür. Das Licht erlosch, nur ein heller Fleck hing vor meinen Augen, wo sich das Fenster in derTür befand.
— Bitte ...
Der Mann hörte nicht. Für eine Sekunde glaubte ich, seinen Atem in meinem Gesicht zu spüren, dann spürte ich nur noch das schneidende Metall und versuchte um mich zu schlagen. Aber was war ich schon gegen seine Schnelligkeit?
Ich sprang auf, stolperte über die Holzbänke und prallte von der Wand ab. Und wurde geschnitten, wurde immer wieder geschnitten, versuchte den Mann zu greifen, griff ins Leere und wurde geschnitten. Versuchte zu schreien und spürte sofort das Metall an den Lippen, wie es sich in der Haut verhakte und hochgezogen wurde. Blut füllte meinen Mund, ich fiel und schlug auf dem Boden auf. Ich hob schützend meine Hände, versuchte mich zu verkriechen, wurde zu einem Ball aus Fleisch und wurde geschnitten und geschnitten.
Val hat die Arme vor ihrer Brust verschränkt, und ich kann hören, wie ihr nackter Fuß auf den Boden tippt.
— Und dann? fragt Marek.
— Ich muß ohnmächtig geworden sein und erwachte erst wieder in deinem Bett. An mehr erinnere ich mich nicht, das ist alles.
Sie sieht uns an und wartet auf eine Reaktion. Während sie erzählte, saßen Marek und ich vorgebeugt. Zum Ende hin hatten wir die Hände zu Fäusten geballt. Als mir das auffiel, habe ich mich anders hingesetzt und die Finger verschränkt.
— Ich habe dich in der Sauna gefunden, sagt Marek, Theo hatte nichts dagegen, daß wir hierher kommen.
Val sieht mich an, sagt Danke und senkt den Blick.
— Es ... es tut mir wirklich leid, spricht sie weiter, Aber ich dachte, ich bekomme das hin. Ich dachte, ich kann mit ihnen reden und herausfinden, warum sie Jenni umgebracht haben.
Sie beginnt wieder zu weinen. Marek rührt sich nicht, auch ich sitze einfach nur da. Ich will ihr nicht glauben. Was mit ihr geschehen ist, macht mir angst. Auf der anderen Seite bewundere ich es, daß sie für Jenni so weit gegangen ist.
Marek gibt sich einen Ruck. Er wagt es nicht, Val am Körper zu berühren, also streichelt er ihren Hinterkopf.
-Wie konntest du nur, sagt er und macht eine Pause.
Ich sehe ihn an und weiß nicht, wie er aufVals Geschichte reagieren wird. Als Marek weiterspricht, ist seine Stimme so ruhig, als würde er laut denken:
— Da zerbreche ich mir den Kopf, wie ich dich schützen kann und habe schlaflose Nächte und Angst um dich, und du hörst auf, deine Pillen zu nehmen. Einfach so. Ich verstehe das nicht. Ohne ein Wort zu sagen, einfach so. Ich verstehe das einfach nicht.
— Aber ich wußte doch, daß sie mir nichts tun, verteidigt sich Val.
Marek nimmt die Hand von ihrem Hinterkopf.
— Sie tun dir nichts? Val, hast du schon mal in den Spiegel gesehen?
— Das ...
Val winkt ab, als würde Marek über ein paar Schrammen reden.
— ... soll mir bloß Angst machen. Ich weiß, sie können nicht weitergehen. Irgendwas hält sie ab. Ich bin für sie tabu. Und das ist mein Joker, ist das so schwer zu verstehen?
Marek schüttelt den Kopf. Ich bewundere seine Ruhe. Er steht auf, verläßt die Küche und geht ins Wohnzimmer. Val schaut ihm hinterher, dann werden ihre Augen plötzlich groß, denn Marek kommt zurückgerannt und brüllt sie an:
— DA GIBT ES NICHTS ZU VERSTEHEN! VERDAMMT NOCH MAL, DU SPIELST MIT DEINEM UND WAHRSCHEINLICH AUCH MIT UNSEREM LEBEN, KAPIERST DU DAS NICHT?!
Er wendet sich an mich und versucht normal zu klingen, seine Stimme überschlägt sich:
— Sie mag ihre Psychose.Theo, sie mag ihre verschissene Psychose, das
ist doch nicht nor---
— Ich kann sie verstehen, unterbreche ich ihn.
-WAS?!
— Ich sagte, ich kann sie verstehen. Sie wollte Antworten von den Schnellen und nahm diesen Weg. Ich finde das gut. Es ist zwar nicht harmlos, aber sie hat es hinbekommen.
- Du verarschst mich doch, oder?
- Jenni ist tot, wie kann ich dich da verarschen?
—Theo, das ist nicht dein Ernst! ?
Er zeigt aufVal.
- Was für Antworten hat sie bitteschön bekommen, mh, kannst du mir das mal sagen?
Da hat er recht, denke ich, halte aber den Mund.
Marek sieht von mir zu Val und wieder zu mir zurück.
- IHR SEID DOCH BEIDE VÖLLIG DURCHGEKNALLT! Damit wendet er sich ab und verläßt die Wohnung. Die Tür
fällt ins Schloß. Wir bleiben schweigend in der Küche sitzen. Val sieht elend aus. Es ist das eine, Fehler zu machen, es ist das andere, diese Fehler zu akzeptieren.
- Es tut mir leid, sagt sie, Ich wollte nicht, daß es so kommt. Ich ... ich weiß auch nicht, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich wollte einfach, daß es passiert.
- Marek wird dir das nicht vergessen.
- Ich weiß, aber es hat etwas gebracht,Theo. Ich weiß jetzt, was ich tun muß, was wir tun müssen.
-Wovon redest du?
—Wir stellen den Schnellen eine Falle, sagt Val und lächelt, Das ist mein Plan.
Der Riß in ihrer Oberlippe füllt sich mit Blut, doch bevor sich ein Tropfen lösen kann, leckt ihn Val mit der Zunge weg.
- Eine Falle?
- Genau, eine Falle.
-Val?
-Mh?
- Nimm lieber noch eine von deinen Pillen, ja?
Eine Stunde ist vergangen. Val schläft, Marek ist noch nicht zurück, und ich sitze in der Küche und denke über Vals Plan nach. Er ist simpel und dämlich in einem. Sie will einen der Schnellen für uns greifbar machen. Mehr nicht. Also wenn das alles ist. Sie hat es so erklärt:
— Ein jedes Mal, wenn ich in die Psychose gehe und die Tür öffne, tauchen früher oder später die Schnellen auf. Als wären sie Wächter. Die Zeit gerinnt, und ich werde wie sie. Das sollten wir ausnutzen. Wir stellen ihnen eine Falle und schnappen uns einen von ihnen. Ich weiß, das klingt verrückt, aber bisher war ich allein, mit eurer Hilfe könnte es klappen. Stell dir vor, was er uns alles verraten könnte! Was aber noch wichtiger ist — Marek und du, ihr würdet endlich sehen, daß sie echt sind. Das ist mir wichtig. Daß ihr sie seht. Und wenn wir das schaffen, haben wir auch Jennis Mörder.
Ihre Augen strahlten, als sie das sagte. Sie griff immer wieder nach ihrem Glas, drehte es in der Hand und leckte sich über ihre wunde Lippe.
— Und du meinst, die anderen Schnellen lassen das zu? fragte ich.
— Sie wissen ja nichts davon, es wird sie also überraschen. Keiner von denen denkt doch daran, daß wir Zurückschlagen könnten. Wir drehen den Spieß um. Sie haben auch nicht damit gerechnet, daß ich sie mit Jenni übers Internet suche. Der neue Plan wird sie kalt erwischen, da bin ich mir sicher, das wird klappen.
Ich konnte beobachten, wie die Müdigkeit sie trotz des Enthusiasmus mehr und mehr überkam. Langsam, aber stetig verschwand die Energie aus ihren Augen. Es war wie die Ausblende in einem Film.
— Ich denke darüber nach, hatte ich ihr versprochen, und eine Stunde später habe ich noch immer keinen klaren Gedanken in meinem Kopf.
—Theo?
— Ich bin in der Küche.
Val kommt aus dem Schlafzimmer. Ihre bloßen Füße tapsen über die Dielen, dann steht sie in ihre Decke gewickelt im Türrahmen, Arme vor der Brust verschränkt, ein Fuß auf dem anderen.
— Ist er immer noch weg?
— Er kommt schon zurück, sage ich.
— Hast du nachgedacht?
— Ich bin dabei, aber ich will, daß du weißt, warum ich das alles mache.
Val nickt und setzt sich zu mir an den Tisch.
— Mir ist egal, wer die Schnellen sind, wo sie herkommen oder warum es sie überhaupt gibt. Von mir aus können sie die Welt versklaven oder eine Fernsehserie drehen, das juckt mich nicht. Ich will nur dem gegenübertreten, der Jenni umgebracht hat, das ist alles, der Rest ist mir egal.
Val sagt, das sei ihr schon klar gewesen.
— Gut, sage ich, Dann hätten wir das geklärt. Kommen wir zu deinem Plan. Ich will, daß Marek mit dabei ist. Du mußt ihn überzeugen.
— Ich verspreche es dir, meint Val, Sobald er zurück ist, rede ich mit ihm.
Sie reibt sich über die Arme.
— Könnte ich mich schnell waschen? Ich habe das Gefühl, Ameisen krabbeln unter meiner Haut.
Ich hole ihr Handtücher aus dem Schrank und stelle die Heizung im Bad an. Val bittet um einem Waschlappen, auch den gebe ich ihr und lasse sie allein.
Ich setze Wasser für Tee auf. Während ich warte, daß es kocht, schaue ich in den verschneiten Hinterhof und erinnere mich, daß außer uns noch immer niemand von Jennis Tod weiß. Wie lange will ich das noch aufschieben?
Ich stelle die Gasflamme unter dem Kessel klein und hole das Telefon aus dem Wohnzimmer.
Wen zuerst?
Ich tippe 110 und unterbreche die Verbindung.
Es wird komisch aussehen, wenn ich nicht zuerst Jennis Eltern anrufe und frage, wo sie steckt.
Ich tippe die Nummer ihrer Eltern und unterbreche die Verbindung.
Das Telefon in meiner Hand knackt, ich lockere meinen Griff und starre auf den Boden. Ich weiß nicht, wie lange ich schon da stehe — das Telefon am Ohr und das monotone Freizeichen im Kopf — als mich Vals Schrei zusammenschrek-ken läßt.
Das Telefon fallt mir aus der Hand, ich renne zum Badezimmer und stoße die Tür auf. Val steht unter der Dusche. Ich kann durch den Plastikvorhang ihren nackten Körper erkennen. Sie ist allein.
- Bist du allein? frage ich.
Keine Antwort. Val steht nur da und rührt sich nicht. Durch den Vorhang sind ihre Konturen verzerrt. Ich greife mir eine Massagebürste mit langem Holzstiel. Ich weiß, daß ich lächerlich aussehe, aber ich habe wirklich Angst, daß noch jemand hinter diesem Vorhang hockt und mit seinem Skalpell darauf wartet, mir die Kehle durchzuschneiden.
-Val?
Nichts. Ich reiße den Vorhang mit einem Ruck auf. Val sieht mich starr an. Sie hält die Arme nach oben, als würde sie jemand mit einer Waffe bedrohen.
— Alles okay?
Ihre Mund zittert. Ich kann jeden Schnitt deutlich sehen. Auf ihren Brüsten, den Armen, auf ihrem Bauch. Und dann entdecke ich, was Marek übersehen haben muß, als er ihre Wunden verband. Vielleicht war es zu dem Zeitpunkt noch blutverschmiert und unkenntlich. Jetzt ist es ausgewaschen und tritt klar und deutlich hervor.
Auf die Innenseite von Vals rechten Arm ist vom Handgelenk bis zur Achselhöhle in groben Buchstaben eingeritzt: Weil es uns immer gab. Und auf dem linken Arm von der Achselhöhle bis zum Handgelenk: Weil es uns immer geben wird.
- Mach das weg, sagt Val leise.
Ich lege die Bürste zur Seite und weiß nicht, was ich tun soll.
- Bitte, mach das weg, wiederholt sie, ohne die Arme zu senken.
Ich greife mir ihre Handgelenke und muß gegen ihren Widerstand ankämpfen, drücke aber die Arme Zentimeter um Zentimeter herunter. Ein Wimmern dringt aus Vals Mund.
- Setz dich, sage ich und bringe sie dazu, sich in der Duschkabine auf den Boden zu setzen. Sie zittert, drückt die Arme fest an ihre Seite. Mir kommt kein Wort über die Lippen. Ich sollte sie trösten, ich sollte irgend etwas Beruhigendes sagen, aber da ist nichts.
Im Arzneischrank finde ich Wundpuder. Sollten einige der Schnitte anfangen zu eitern, ist es besser als flüssiges Antiseptikum. Ich trage es auf und hoffe, daß sich keine der Wunden infiziert hat.
-Wie schlimm ist es? fragt Val.
Ich erzähle ihr, daß die Schrift auf ihren Unterarmen nur aus oberflächlichen Schnitten besteht, die mit der Zeit verblassen werden. Ich habe keine Ahnung von Narben und bei welcher Art von Wunden sie Zurückbleiben.
Val läßt mich auch die Schnitte auf ihren Brüsten und dem Bauch neu desinfizieren. Dabei erzählt sie mir, wie sie als
Kind einen Jungen gekannt hatte, den alle nur Spasti nannten. Spasti tat alles, damit ihn die anderen Kinder mochten. Er ließ sich in voller Fahrt vom Fahrrad fallen, er nahm jede Herausforderung an und lernte nie, sich vor Schmerzen zu schützen.
— Ich habe mal einen Stock aufs Eis rausgeworfen und gesagt, er soll ihn holen. Spasti hat keine Sekunde gezögert. Er lief raus und brach nahe am Ufer durch die Eisdecke. Wir haben uns weggepackt vor Lachen. Spasti stand einfach bis zur Hintern im Eis und steckte fest. Dann kämpfte er sich frei und versuchte, an einer anderen Stelle übers Eis zu laufen. Er kam nie weiter als zwei Meter, ehe er erneut einbrach. Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn er es bis zur Mitte des Sees geschafft hätte, wo das Wasser richtig tief war. Ich weiß auch nicht, wie er die Kälte aushielt. Wir riefen ihm zu, er sollte es seinlassen. Spasti dachte nicht daran, er wollte mir den Stock zurückbringen. Irgendwann wurde uns das langweilig, und wir hauten ab, bevor ein Erwachsener kam und uns fragte, was wir da mit Spasti machten. In den folgenden Wochen kam Spasti nicht zur Schule. Lungenentzündung, wurde uns gesagt. Ich habe mich nie bei ihm entschuldigt, aber ich glaube, das hätte er auch nicht verstanden. Vielleicht ist das hier die Strafe. Spasti hatte so viele Kratzer und Narben wegen uns, vielleicht ist das eine Revanche.
— Blödsinn, sage ich und frage sie, ob Jenni damals schon mit ihr um die Häuser gezogen ist. Es ist ein billiger Themenwechsel. Ich will nichts über malträtierte Jungen hören. Ich will etwas Licht. Val beginnt zu erzählen, und obwohl ich den Großteil der Geschichten schon kenne, höre ich zu, als wären sie mir neu.
— Das wär’s, sage ich nach einer Viertelstunde und verschließe das Wundpuder, Soll ich dir was zum Anziehen holen?
Ich bringe ihr ein weites Hemd von Jenni und ihre Reisetasche. Danach verlasse ich das Bad und warte, daß Marek kommt. Daß Val das Bad verläßt. Daß es weitergeht.
Wir sitzen im Wohnzimmer und trinken Tee. Val hält die Tasse mit beiden Händen und stellt sie nach jedem Schluck vorsichtig wieder ab. Ich hätte ihr das weite Hemd von Jenni nicht geben sollen. Immer wieder wandert mein Blick von Vals Gesicht zu diesem Hemd hinunter. Ich frage mich, wann Jenni es das letzte Mal getragen hat und ob ihr Geruch jetzt aus dem Hemd verschwunden ist.
Vor mir liegt der Zettel, auf dem ich mir den Spruch notiert habe. Nachher werde ich die Suchmaschine damit füttern. Das Internet war zwar eine Sackgasse, dennoch bin ich mir sicher, daß die Schnellen in der kurzen Zeit nicht alle Spuren verwischt haben können.
—Weil es uns immer gab, zitiere ich, Weil es uns immer geben wird.
- Ganz schön pathetisch, was? sagt Val.
— Mehr als das, sage ich, Wenn du mich fragst, dann sind das verdammt kranke Schweine, und das hier ist ein verdammt kranker Spruch.
- Es ist mehr ein Statement, sagt Val, Sie haben mich gebrandmarkt, als wäre ich ihr Vieh. Ich wollte von ihnen wissen, warum sie das tun. Vielleicht ist das ihre Art, mir zu antworten.
Sie schiebt mir die Tasse zu, ich gieße nach.
-Theo, ich glaube, sie haben Angst vor mir.
— Blödsinn.
Sie zuckt mit der Schulter und nimmt einen Schluck Tee.
—Val, wieso reitest du darauf herum? hake ich nach, Wieso sollten sie Angst vor dir haben?
—Weil sie mich warnen, immer wieder warnen. Sie wollen nicht, daß ich eine Psychose habe. Und falls ich doch eine habe, dann bezahlt jemand, der mir wichtig ist. Aber warum nicht ich? Warum ziehen sie mich nicht einfach aus dem Verkehr?
Sie wartet, ob ich ihr antworte, bevor sie weiter spricht:
—Weil sie nicht können, Theo. Irgend etwas hält sie davon ab. Sie wollen nicht, daß ich die Welt sehe, wie sie ist. Ich darf die Tür nicht öffnen. Ich meine, wonach klingt das für dich?
— Nach einer Phobie? mache ich einen lahmen Witz.
— Ja, eine Val-Phobie, stimmt sie mir ernst zu, Bleibt die Frage, was diese Phobie bei ihnen auslöst. Ich habe schon daran gedacht, mit meinen Eltern zu sprechen. Vielleicht reicht das alles Jahrzehnte zurück, als ich noch ein Kind war.
— Ja, sage ich, Vielleicht bist du ein Gen-Experiment oder hast zu lange an radioaktiven Bonbons gelutscht. Val, hör dir das doch mal an.
— Okay, ich gebe zu, daß---
Es klingelt an der Tür. Val springt sofort auf.
— Das ist Marek.
— He, warte!
Ohne auf mich zu hören, rennt sie in den Flur. Ich folge ihr.
— Du weißt nicht, ob es Marek ist, sage ich und halte die Tür zu.
— Ich weiß es, sagt sie und schiebt meinen Arm beiseite.
Marek steht vor uns, Hände in den Manteltaschen, Augen
groß.
—Was ist? fragt er und sieht von Val zu mir.
— Wir sind dein Empfangskomitee, sagt sie und streckt ihm beide Hände entgegen.
-Val, ich---
Sie unterbricht ihn, indem sie die Arme um ihn schließt.
- Es tut mir leid. Laß uns reden, dann wirst du mich verstehen, Marek, ja?
Marek sieht mich über Vals Schulter hinweg an. Sein Blick ist verwirrt. Er legt die Arme um Val. Ich kann ihn gut verstehen. Meine Wut würde genauso schnell verschwinden, wenn es um Jenni ginge. Liebe. Ich verdrücke mich in die Küche und schließe die Tür hinter mir. Ich betrachte die Wände. Es wird Zeit, daß ich mal streiche. Ich schaue auf die Dielen. Und den Boden abziehen könnte ich auch.
So stehe ich da und denke mir, ich könnte so vieles hier neu machen, doch dem Gedanken fehlt die Substanz. Jenni und ich hatten nicht vorgehabt, mehr Geld in die Wohnung zu stecken. Wir hatten den alten Hof und waren auf dem Weg in ein neues Zuhause. Die Wohnung zu renovieren würde bedeuten, den Hof aufzugeben. Aber was soll ich alleine mit dem Hof? Ja, aber was willst du alleine mit dieser Wohnung? ist die andere Frage. Zu viele Erinnerungen leben hier, die sich nicht mit einer neuen Schicht Farbe überstreichen lassen---
Ich klatsche einmal laut in die Hände und zucke selbst erschrocken zusammen. Es reicht. Es reicht völlig. Mein Selbstmitleid geht mir auf die Nerven. Schluß, Sense. Sollte ich mich noch einmal selbst bemitleiden, setzt es Schellen.
Ich nehme Zwiebeln von der Ablage neben dem Waschbecken und beginne sie kleinzuschneiden. Erst nach der sechsten Zwiebel lege ich das Messer zur Seite und frage mich, was ich hier tue.
Ich habe keine Ahnung, was ich kochen will.