Nachdem uns Theo im Flur allein gelassen hat, schaffe ich wieder Abstand zwischen Val und mir.
— Laß uns reingehen, sage ich.
Im Wohnzimmer setze ich mich so hin, daß derTisch zwischen uns ist.
— Marek, ich---
— Nein, warte, erst habe ich dir was zu sagen, unterbreche ich sie und rede, ohne lange nachzudenken.
— Ich werde nicht vergessen, daß du mich belogen hast. Wir hätten darüber reden können. Es gab keinen Grund, die Medikamente heimlich abzusetzen. Stell dir vor, ich hätte nicht in der Sauna nachgesehen. Jemand anderes hätte dich gefunden, und du wärst wahrscheinlich wieder in der Klapse gelandet. Zum dritten Mal, Val. Deine Eltern hätten dich da garantiert nicht mehr rausgeholt. Hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht?
Sie will etwas sagen, ich spreche schnell weiter.
— Warte, ich bin gleich fertig. Ich will nur, daß du weißt, daß ich dir das nicht verzeihen werde. Das ist jetzt eine Sache, die zwischen uns steht. Wirklich zwischen uns steht, begreifst du das? Und ich habe auch genug von dieser Jagd nach den Schnellen. Wir fahren jetzt nach Hause. Ich habe mit Gerald gesprochen, und er erwartet mich am Abend in Kassel. Du brauchst Hilfe und Schutz, bevor dir auch noch etwas passiert. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht im Stich lassen werde, Val, glaub mir das.
Ich bin durchgeschwitzt. Vals Blick ist unverändert. Ich hoffe, sie nimmt mir das alles ab.
—Verstehst du mich? frage ich nach.
- Ich verstehe dich.
- Und was sagst du dazu?
Val schiebt mir einen Zettel zu.
- Das haben sie mir auf die Innenseite meiner Arme geritzt.
-Was?!
Ich lese, was auf dem Zettel steht. Es verschwimmt, wird wieder deutlich. Es ist nicht in Vals Handschrift geschrieben. Ich sehe sie an.
- Eingeritzt?
- Ich will dir das nicht zeigen, sagt Val.
- Es ... es tut mir leid, ich ...
- Es ist schon gut. Das ist ihre Nachricht an mich. Es ist schon in Ordnung. Das hier zwischen uns beiden ...
Sie nimmt meine Hände zwischen ihre.
- ... ist jetzt wichtiger, Marek. Ich will mich ehrlich bei dir entschuldigen. Ich habe keinen anderen Weg gesehen. Ich wußte, daß du mich davon abhalten würdest, das Medikament abzusetzen. Es war mir einfach zu wichtig. Und ich war zu feige, um mich mit dir anzulegen.
Sie sieht mir in die Augen, ich weiche ihrem Blick aus. Ich will nicht, daß sie feige ist, ich will nicht, daß sie recht hat.
- Und ich verstehe auch, daß du nach Kassel willst. Ich wünschte, ich könnte so einfach in unser altes Leben zurückkehren, aber ich kann nicht mit dir kommen. Ich habe einen Plan. Ich glaube, ich muß das jetzt angehen, sonst laufe ich davon, pumpe mich mit Medikamenten voll und habe ewig Angst. Ich weiß, was ich machen muß. Theo findet den Plan gut, er steht hinter mir. Aber das ist nicht wichtig, wichtig ist mir, daß auch du dahinterstehst.
- Du willst hier bleiben?
Ich kann es nicht glauben. Ich sage es noch einmal.
- Du willst hierbleiben? Bei Theo? Du kennst den Typen doch gar nicht, wie ...
Mir fällt nicht ein, was ich sagen soll. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen.
- Habt ihr was miteinander? frage ich und bereue es sofort.
- Marek, du hörst mir nicht zu. Ich habe einen Plan.
- Du kannst nicht hierbleiben, sage ich.
Sie sieht mich nur an und sagt nach einer langen Pause:
- Hörst du mir jetzt zu?
Ich nicke, dann erzählt mir Val ihren Plan.
Zwei Stunden später bringt mich Theo zum Wagen. Val hat sich nach dem Essen wieder hingelegt. Ich habe ihr versprochen, so schnell wie möglich aus Kassel zurückzukommen.
Nichts ist geklärt.
Ich weiß noch immer nicht, was ich von ihrer Aktion halten soll. Val dachte sich, es könnte klappen. Es hat nicht geklappt, und sie hat dafür bezahlt. Gut. Dennoch kann ich nicht einfach sagen, alles ist wieder beim alten, laß uns weitermachen. Und dann dieser Plan. Theo findet, wir sollten es probieren. Es ist verrückt, es wird nie klappen. Wie sollen wir jemanden überraschen, der nach völlig anderen Regeln existiert? Einen Schnellen fangen, das ist doch der letzte Mist. Aber ich bin dabei. Val und Theo wollen auf meine Rückkehr warten, danach gehen wir es zusammen an. Ich denke nicht daran, Val im Stich zu lassen.
- Bist du dir sicher, daß sie hierbleiben kann? frage ich
Theo, als wir das Haus verlassen, Ich meine, sie könnte aus-flippen und eine Angstattacke bekommen. Ich habe das erlebt, es ist kein Spaß.
Theo winkt ab.
- Ihre Medikamente machen sie harmlos. Sie wird eine Menge schlafen. Außerdem sind es ja nur zwei Tage. Mach dir bitte keine Sorgen, ich spiele Babysitter, bis du wieder da bist. Regel das mit deinem Job, ich habe Zeit, das Kino läuft auch ohne mich. Hast du meine Telefonnummer?
Ich schüttle den Kopf und erzähle ihm, daß ich seine Nummer heute morgen über die Auskunft bekommen, aber nicht notiert habe. Theo nimmt eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und schreibt mir seine private Telefonnummer auf die Rückseite.
- Danke.
Wir kommen zu meinem Wagen. Ich mache mit dem Eiskratzer die Frontscheibe frei. Theo kehrt die Seitenfenster mit den Händen sauber und formt einen Schneeball. Er wirft auf eine Laterne und trifft.
Ich steige ein, Theo reicht mir die Hand durchs Fenster. Ich habe das Gefühl, ihn seit Jahren zu kennen.
- Komm bald zurück, sagt er zum Abschied.
- Ein, zwei Tage. Ihr werdet nicht mal merken, daß ich weg war.
Dann sage ich, was ich vor Val nicht sagen wollte:
- Du weißt, was sie ihr gedroht haben, wenn sie die Tür öffnet.
Theo haucht in seine Hände und sagt, ja, er hätte schon darüber nachgedacht.
- So leicht lasse ich mich nicht überraschen. Aber ich werde vorsichtig sein, wem ich die Wohnungstür öffne. Dasselbe gilt auch für dich.
- Ich weiß. Paß bitte auch auf, daß sie ihre Pillen nimmt.
- Keine Sorge.
Theo klopft zum Abschied auf das Autodach. Ich lege den Gang ein und rolle langsam vom Parkplatz. Theo schliddert einige Meter hinter dem Wagen her und bleibt dann stehen. Sekunden später trifft ein Schneeball mein Rückfenster. Ich hupe kurz und bin sehr erleichtert, mit so einer simplen Lüge davongekommen zu sein.
Es ist ein Winter wie dieser hier. Seit Wochen schneit es, und wir verbringen die Zeit nach der Schule draußen. Am Horr-berg rodeln, aufs Eis rausgehen oder Iglus aus Schnee bauen. Ich bin wieder dreizehn Jahre alt, und jeder Tag ist ein aufregender Tag. Am Morgen steige ich ungeduldig aus dem Bett, renne von der Schule nach Hause, Sachen in die Ecke, kurz etwas essen, dann raus, raus, raus. Alle sind dabei, Gabi und der dicke Carl, Bernie und Didi, Jenni natürlich, Klaus und sein Bruder Tim. Es kommen auch viele aus den Nachbarklassen und dann natürlich Spasti. Spasti ist immer dabei. Er hält seinen Abstand und bleibt in unserer Nähe, damit er nach Hause gehen kann, sobald wir gehen. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht, denn mein Kopf tut weh. Ich bin bei der letzten Abfahrt vom Schlitten gefallen und mit dem einen Ohr im Schnee gelandet. Ich wundere mich ein wenig, daß ich dreizehn Jahre alt bin. Ich müßte älter sein, ich habe die Schule abgeschlossen, ich wohne nicht mehr zu Hause. Das zu wissen beruhigt mich, obwohl es in meinem Kopf klingelt und das Ohr sich anfühlt, als würde es brennen. Der Sturz war hart. Während die anderen wieder auf den Berg steigen, laufe ich zwar noch mit, habe aber genug vom Rodeln. Ich setze mich auf einen Baumstumpf und lasse mir von Erika eine Zigarette geben. Plötzlich bin ich nicht mehr dreizehn, ein Jahr ist vergangen, und Erika und ich sind vierzehn, tragen rosa Lippenstift mit Bananengeschmack und klauen unseren Eltern die Zigaretten, wann immer wir die Chance dazu haben.
Dummerweise versucht meine Mutter seit einem halben Jahr, mit dem Rauchen aufzuhören, und mein Vater ist auf Pfeife umgestiegen, damit Mutter es leichter hat. Ich schnorre also, wo ich nur kann. Erika kennt das von mir und verzieht den Mund und sagt, ich sollte mir doch gleich zwei nehmen, damit es beim nächsten Mal nicht so peinlich wird. Ich mache Hahaha und strecke ihr die Zunge raus. Als sie mit Didi auf den Schlitten steigt, wünsche ich ihr, daß sie mit ihrer Zuckerschnute im Schnee landet. Jetzt sitze ich hier, und es ist keiner mehr auf dem Berg. Niemand rodelt, alle sind verschwunden. Ich rufe laut »Hallo!«, aber es gibt kein Echo. Mir wird kalt. Ich schlage die Arme um mich, wie ich das einmal in einem Film gesehen habe, und bemerke die Pudelmütze von Spasti. Mehr ist von ihm nicht zu sehen. Ich stehe auf und will über den Hügel gehen. Ich bräuchte eine Weile, aber ich mache nur einen einzigen Schritt und bin da. Spasti steht vor einer Schneewehe und hat mit Ästen die Umrisse einer Tür in den Schnee gelegt. Sie ist vielleicht zwei Meter hoch und einen Meter breit. Es gibt sogar eine Klinke.
—Was treibst du da? frage ich.
Spasti erschrickt nicht. Er dreht sich nicht einmal um, sondern korrigiert einen der Zweige und verschränkt zufrieden die Arme vor der Brust.
— He, Spasti?
— He, Val, sagt er, Ich dachte, du kommst gar nicht mehr.
-Was treibst du da?
— Hab ‘neTür gemacht.
— Und wozu?
— Weil da eine hingehört. Ist ‘n Durchgang, verstehst du? Da geht’s durch.
Er zeigt auf seine Tür. Ich nicke, als wüßte ich, wovon er spricht. Dann gehe ich näher ran.
— Ohoh, nicht so nahe, sagt Spasti.
—Wieso?
- Ich muß doch aufpassen, daß da keiner durchgeht. Wenn du da durchgehst, kommste nicht mehr zurück.
- Quatsch.
- Nee, is kein Quatsch, is echt wahr. Ich paß auf, ich bin
der Wächter, der---
- Du bist kein Wächter, unterbreche ich ihn, Du bist keiner von den Schnellen, Spasti, verarsch mich nicht.
Spasti kichert. Er hält sich die Hände vor den Mund. Seine Hände sind voller Schnee. Als er seine Hände senkt, ist der Schnee verschwunden.
—Wer sind schon die Schnellen, sagt er.
- Das willst du gar nicht wissen, sage ich.
- Wer sind schon die Schnellen, wiederholt Spasti, als hätte er mich nicht gehört, dann springt er vor und versucht mich aufzuhalten.
-Was machst’n da? Nee, Val, mach mal nicht.
Aus der Nähe kann ich sehen, daß er dieTür dekoriert hat. Mit Beeren und Tannenzapfen zwischen den Ästen.
- Schick, sage ich.
- Paß ja auf, daß du nicht reinfällst, warnt mich Spasti.
- Ich falle da nicht rein, sage ich und strecke die Hand aus,
ich guck nur, ob---
Spasti stößt mich mit solcher Wucht zur Seite, daß ich erneut auf mein Ohr falle. Ich schreie und schlage auf ihn ein. Ich weiß nicht, wie lange wir uns keilen, irgendwann liege ich keuchend im Schnee und stehe wieder auf. Es ist wieder ein Jahr vergangen. Nur Spasti ist nicht gealtert. Seine Nase blutet, und die Wangen glühen rot.
- Ich guck doch bloß, sage ich.
- Du lügst, sagt Spasti.
Ich stelle mich vor dieTür.
- Nicht, sagt Spasti.
Ich breite die Arme aus.
- Bitte, sagt Spasti.
Ich lasse mich in die Schneewehe fallen und sitze mit einem Mal aufrecht im Bett. Das T-Shirt klebt an meinem Körper, draußen ist es dämmerig, ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
— Marek?
Ich steige aus dem Bett und gehe in das Wohnzimmer. Langsam erkenne ich alles wieder.
—Theo?
Ich schalte eine der Lampen an und schaue in den Flur. Mareks Mantel und seine Schuhe sind verschwunden. Ich renne zum Fenster. Auf dem Parkplatz steht ein anderes Auto und tief in mir ist plötzlich ein schmerzhaftes Ziehen. Ich hätte nicht gedacht, daß mich Mareks Verschwinden so treffen könnte. Warum habe ich getan, als ob es in Ordnung wäre, daß er fährt? Jetzt ist er weg, und ich bereue es, mir nicht mehr Mühe gegeben zu haben.
Er ist bald wieder da, beruhige ich mich und lehne die Stirn gegen die Fensterscheibe. Das kalte Glas fühlt sich gut an. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie Marek im Auto sitzt, wie Musik läuft.
Als ich die Augen wieder öffne, steht ein Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sein Gesicht liegt im Schatten, das Licht der Straßenlaterne ist hinter ihm. Er lehnt an einem Auto und sieht hoch, sieht mich direkt an.
Ich weiche zwei Schritte zurück. Ohne den Blick vom Fenster zu nehmen, finde ich den Schalter der Lampe und lösche das Licht. Langsam zähle ich bis hundert, bevor ich mich wieder dem Fenster nähere.
Der Mann steht noch immer unten und schaut hoch.
Theo findet mich im dunklen Wohnzimmer auf dem Sessel. Ich habe die Beine angezogen und rauche. Der Aschenbecher liegt auf meinem linken Knie, die zweite Schachtel Zigaretten auf meinem rechten. Ich habe eine Kippe an der anderen angezündet und bin froh, daß Theo endlich da ist.
— Warum sitzt du im Dunkeln? fragt er und bringt den Einkauf in die Küche.
— Sie wissen, was ich vorhabe, sage ich.
Theo bleibt stehen und kommt mit den zwei Tüten zurück in das Wohnzimmer.
— Sie ... was?
— Sie beobachten das Haus, sie wissen, was ich vorhabe.
Theo stellt die Tüten ab und geht zum Fenster. Er sieht nach
links und rechts.
— Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sage ich, Vor einem roten Auto. Ein Mann mit langem Mantel.
Theo atmet tief ein.
— Da ist niemand?
Theo schüttelt den Kopf, dann öffnet er das Fenster und läßt es einen Spalt offenstehen. Er setzt sich mir gegenüber auf das Sofa. Als er die Lampe einschaltet, kneife ich die Augen kurz zusammen.
-Wie sah er aus? Konntest du sein Gesicht erkennen? War es der Mann aus dem Schwimmbad?
— Ich weiß es nicht, sage ich und drücke die Zigarette aus.
-Aber du bist dir sicher---
—Theo, ich habe ihn gesehen, also bin ich mir sicher, okay?
— Ja, okay, aber woher sollten sie wissen, was du vorhast?
Ich kann es ihm nicht erklären, es ist einfach ein Gefühl.
Theo beugt sich vor.
— Sie sitzen nicht in deinem Kopf, Val. Sie können nicht wissen, was du denkst. Und das heißt, sie haben keine Ahnung, was wir Vorhaben. Entspann dich, hier bist du sicher.
Ich wünschte, ich könnte das glauben. Ich sehe zum Fenster, versuche mich zu entspannen. Natürlich hat Theo recht, die Schnellen können nicht wissen, was wir Vorhaben, sie sitzen nicht in meinem Kopf.
— Hat Marek noch was gesagt? frage ich.
— Er ist spätestens Mittwoch wieder zurück. Vielleicht schon Dienstagabend. Also mach dir keine Sorgen, wir pak-ken das schon.
Er steht auf und hebt die Tüten vom Boden auf.
— Ich bringe den Einkauf in die Küche und koche uns etwas. Möchtest du vorher einen Tee?
— Gerne, sage ich.
Theo verschwindet in der Küche. Ich reibe mir die Arme und sehe zum Fenster, will aufstehen und es schließen.
Aber was ist, wenn da unten wieder jemand steht und zu mir hoch-schaut? Was dann?
Und so bleibe ich sitzen und friere im Windzug und warte, daß Theo mir den Tee bringt und dieses verdammte Fenster für mich schließt.
Wir verbringen den Nachmittag mit einigen Runden Backgammon, danach lege ich mich wieder hin und schlafe ein paar Stunden. Ich bin völlig ausgebrannt und könnte mich immerzu im Bett verkriechen.
Als ich wieder erwache, sitzt Theo mit einem Bier in der Küche. Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch und starrt das Telefon an.
—Will es nicht klingeln? albere ich herum.
— Ich kann ihre Eltern nicht anrufen, sagt Theo, Seitdem du dich hingelegt hast, sitze ich vor diesem Ding und kann es nicht tun. Ich ...
Er fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. Es gefällt mir besser, wenn er es geschlossen trägt. Es macht ihn klarer.
— Es wird komisch aussehen, wenn ich nicht nachfrage, wo Jenni ist. Aber ich kann es nicht. Ich komme mir dabei so falsch vor. So unglaublich falsch.
— Soll ich sie anrufen? frage ich.
Theo sieht mich an.
— Und was willst du sagen?
— Daß ich Jenni seit gestern abend erwarte, aber sie ist nicht gekommen und ich ...
Theo schüttelt den Kopf und starrt wieder aufs Telefon.
— Du lügst schlechter als ich, das würde nichts werden. Ich setze mich zu ihm an den Tisch.
— Geht es deiner Lippe besser?
Ich halte ihm meinen Mund entgegen, als wollte ich, daß er mich küßt. Theo sieht sich meine Oberlippe an und nickt.
— Bist du dir wirklich sicher, daß du das durchziehen willst? fragt er mich, Ich meine, ich habe nachgedacht. Kannst du nicht einfach die Schnellen zu dir rufen? Für ein kleines Gespräch, um die Lage zu klären?
Ich lache los, Theo lacht mit.
— Ich wünschte, es wäre so einfach, sage ich.
— Und was tun wir, wenn es nicht mehr klappt? Wenn du dein Medikament absetzt und nichts passiert? Keine Schnellen und kein Horrortrip mehr?
— Das ist kein Horrortrip, sage ich.
—Wie nennst du es dann?
Ich erzähle Theo, daß mir einer der Ärzte bei meinem zweiten Aufenthalt in der Geschlossenen dieselbe Frage gestellt hat. Er wollte, daß ich ihm meine Psychose beschreibe. Ich sollte die Augen schließen und sagen, was ich sehe, wenn ich an meine Psychose denke.
-Und?
- Ich erinnerte mich an einen Wintertag. Ich muß vierzehn gewesen sein, und Spasti hatte mit Ästen einenTürrah-men in eine Schneewehe gelegt. Das war das erste, was mir in den Kopf kam. Spasti und seine komische Tür.
- Schick.
- Es geht, sage ich und ziehe das Telefon zu mir, Kann ich kurz...
- Natürlich.
Bei Marek hebt niemand ab.
-Vielleicht steckt er im Stau, sagt Theo.
Ich probiere es über das Handy und spreche Marek auf die Mailbox.
- Film gucken? fragt Theo, nachdem ich aufgelegt habe.
-Willst du nicht erst...
Ich halte ihm das Telefon entgegen. Theo schüttelt den Kopf. Ich wünschte, ich könnte so ehrlich zugeben, daß ich feige bin.
—Wie wäre es dann mit einem Film? frage ich.
Theo lächelt.
2
Im Verlauf des Abends probiere ich noch zweimal, Marek zu erreichen. Theo bezieht das Sofa, was ich albern finde. Er soll in seinem Bett schlafen, aber Theo winkt ab.
- Ich kann da heute nicht schlafen. Außerdem macht mir das hier auf dem Sofa wirklich nichts aus. Also geh schon rüber. Sobald Marek zurück ist, braucht ihr den Platz.
Im Bad wechselt Theo meine Verbände. Am meisten schmerzen die Schnitte an den Händen. Während ich mir das Gesicht wasche, nimmt Theo seine Kontaktlinsen heraus und legt sie nicht in die Schalen.
—Was tust du da?
Er wickelt sie in Toilettenpapier, holt die Reinigungsflüssigkeit und den Aufbewahrungsbehälter vom Regal und geht in die Küche. Als er wiederkommt, reibt er sich die leeren Hände und sagt:
— Ich hatte die Dinger nur wegen Jenni, ich habe sie nie richtig vertragen.
Er setzt seine Brille auf.
— So sehe ich im Original aus.
Er grinst, aber ich kann sehen, daß er es nicht komisch findet. Die Brille steht ihm, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf seine Augen. Ich mache ihm ein Kompliment, Theo überhört es.
— Reich mir mal das Wundpuder, sagt er, und damit ist das Thema Kontaktlinsen für ihn abgeschlossen. Er verbindet mich weiter. Als er bei meinem Bauch angekommen ist, klingelt das Telefon.
Theo geht ran, ich bleibe im Bad sitzen und lese die Gebrauchsanweisung auf dem Mullverband. Theo kommt nach einer Minute zurück und gibt mir den Hörer.
— Ich stand im Stau, ist das erste, was Marek sagt, Und das Handy hatte bei dem Sauwetter keinen Empfang. Danke für die Nachrichten.
— Gern geschehen, sage ich, Bist du jetzt zu Hause?
— Und fix und fertig. Die halbe Autobahn war gesperrt, weil sich ein Laster quergelegt hatte. Ich dachte schon, ich müßte draußen kampieren. Alles in Ordnung bei euch?
— Alles in Ordnung, sage ich und sehe zur offenen Badezimmertür. Ich erzähle Marek nichts von dem Mann, der vor dem Haus gestanden hat. Ich will ihm das Gefühl geben, ich hätte alles im Griff.
Wir reden ein paar Minuten Unsinn, vergleichen das Wetter in Kassel - kaum Schnee, dafür windig - mit dem Wetter in Oldenburg - zu viel Schnee und kein Wind. Dann nimmt Mareks Stimme einen merkwürdigen Ton an, er sagt wie beiläufig:
— Und du nimmst...
— ... mein Medikament, spreche ich für ihn weiter, Pünktlich und ohne Ausnahmen.
— Danke.
— Ich habe dir zu danken, sage ich.
Wir schweigen. Als es unangenehm wird, sagt Marek:
— Ich bin bald da. Morgen früh ist das Treffen mit Gerald, ich hoffe, daß die Kunden nicht irgendwelche Pläne für den Januar haben. Ich denke, das wird den ganzen Tag dauern, vielleicht den nächsten Morgen dazu. Dienstagmittag ist es bestimmt erledigt, und ich bin abends wieder in Oldenburg. Ist das gut?
— Das ist gut.
— Grüß mir Theo, ja?
— Theo wird gegrüßt, sage ich so laut, daß es Theo hören kann.
Er taucht imTürrahmen auf und wartet, daß ich mich verabschiede.
— Es geht ihm gut, sage ich und reiche Theo das Telefon, Er hat im Stau gestanden und ist fix und fertig. Wahrscheinlich wird er schon Dienstagabend zurück sein.
Ich zeige in das Regal.
— Könntest du mir meine Pillen geben? Sie liegen in dem Kosmetiktäschchen.
Theo drückt mir eine Pille aus der Verpackung und fragt, ob ich Wasser brauche.
— Es geht auch so, sage ich und schlucke die Pille. Danach hebe ich meine Arme, bin Minuten später frisch verbunden
und lege mich ins Bett. Das Medikament schlägt mit voller Wucht an. Ich spüre, wie mein Körper tiefer in die Matratze einsinkt — schwer und erschöpft und dann plötzlich gewichtslos. Es wäre schön, wenn Marek hier wäre. Ich würde gerne spüren, wie er sich an mich schmiegt und in mein Ohr atmet. Langsam und stetig.
Ich erwache von der Stille. Kein Uhrenticken und kein Rauschen der Rohrleitungen ist zu hören. Ich weiß nicht, wie spät es ist, und schaue aus dem Fenster.
Es muß früher Morgen sein. Das fahle Leuchten der Straßenlaternen wirkt wie aus der Kulisse eines Kriegsfilms. Kein Auto fahrt, alle Parkplätze sind besetzt, und niemand steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sieht zu mir hoch. Es hat aufgehört zu schneien.
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, Marek anzurufen. Um seine Stimme zu hören, für ein paar Minuten nur. Aber ich weiß, daß das egoistisch wäre. Auch wenn Marek für vieles Verständnis hat, will ich es nicht ausreizen.
Also lege mich wieder ins Bett und ziehe mir die Decke bis zu den Ohren hoch. Liege auf dem Rücken, liege auf der Seite, liege wieder auf dem Rücken und bin überhaupt nicht mehr müde.
Ein Knarren erklingt, dann ein dumpfes Geräusch.
Ich öffne die Augen, das Knarren wiederholt sich. Ich schwinge die Beine aus dem Bett. DieTür zum Wohnzimmer ist nur angelehnt.
Theo schläft auf dem Sofa. Sein Mund ist offen, sein Kopf wird von den offenen Haaren gerahmt. Es sieht aus, als würde er nicht atmen. Mit ein paar Schritten bin ich bei ihm und lege mein Ohr über seinen Mund. Da ist kein Atmen zu hören. Ich halte die Luft an, warte, warte ... und da höre ich es. Ein sanftes, langes Zischen. Es kommt aus Theos Mund, als hätte es sich durch meterlange Tunnel gekämpft. Dann passiert fast eine Minute lang nichts, bevor Theo mit einem Seufzer einatmet. Ich richte mich auf und sehe auf dem Boden das Buch, das ihm aus der Hand gefallen sein muß. Ich lege es auf den Glastisch neben seine Brille. Es erzeugt einen hohlen Ton, der an einen Gong erinnert. Irgend etwas stimmt nicht. Theos Atmen, der hohle Ton. Ich zögere. Dann habe ich es.
Ich packe Theos Schultern, um ihn zu wecken. Eine Stimme sagt:
— Die im Dunkeln sieht man nicht.
Ich lasse Theos Schultern los und schaue in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist.
Der Mann hat einen der Sessel bis an die Bücherwand geschoben, so daß ich ihn im Schatten nicht erkennen konnte.
-Aber...
Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Das kann nicht sein, das ist einfach nicht möglich.
— Ist es doch, sagt eine zweite Stimme hinter mir.
Die Frau steht im Türrahmen, Stiefel und Mantel, das blonde Haar erinnert mich für einen Moment an Jenni. Der Moment vergeht, und es ist wieder die Frau aus dem Schwimmbad. Zischend höre ich Theo ausatmen.
—Woher...?Wieso ...?
— Es war nicht schwer, dir zu folgen, sagt der Mann, Oder dachtest du, es gibt einen Ort, an den du verschwinden kannst, ohne daß wir es mitbekommen?
Die Frau lacht und winkt ab. Die Geste hinterläßt im Dunkeln einen silbernen Streifen. Ich weiß nicht, wen von den beiden ich ansehen soll. Mein Kopf ruckt hin und her.
— Schau mich an, sagt die Frau.
— Darauf fall ich nicht noch einmal rein, sage ich, Das
letzte Mal hat er mich gepackt und---
— Und was sollte mich dieses Mal davon abhalten? fragt der Mann und steht neben mir. Da ist mit einem Mal seine Anwesenheit, wo vorher nichts gewesen war. Ich kneife die Augen zusammen und erwarte, das Messer zu spüren. Als ich sie wieder öffne, sitzt der Mann wieder im Sessel.
— Ich habe nichts getan, verteidige ich mich, Ich habe meine Pillen genommen, und ich habe ...
Ich verstumme, weil ich weiß, daß sie genau wissen, was ich getan und was ich nicht getan habe. Sie sind die Wächter, sie kriegen mit, sobald ich versuche, die Tür zu öffnen.
-Wieso taucht ihr auf, obwohl ich die Tür nicht geöffnet habe? frage ich.
—Was ist das für eine Frage? sagt die Frau.
— Ich habe keine Ahnung, sagt der Mann.
—Wir kommen, wann wir wollen, sagt die Frau.
— Oder dachtest du, das wäre anders? sagt der Mann.
— Hattest du eine Theorie? sagt die Frau.
— Ich will sie nicht hören, sagt der Mann.
— Ich auch nicht, sagt die Frau, Denn was du denkst oder dir zusammenspinnst, ist absolut unwichtig.
Sie kommt näher und bewegt sich dabei so schnell, daß ich sie an der Stelle sehe, an der sie eben noch gestanden hat. Ich bin zu langsam, ich kann ihr überhaupt nicht folgen.
—Wieso bist du nicht nach Hause gefahren? fragt sie, Dachtest du, du bist zu Hause nicht sicher? Dachtest du, du bist hier sicherer? Und wer ist er?
Ich folge ihrem Blick.
— Er ist der Freund meiner Freundin. Jenni.
— Er war der Freund deiner Freundin, korrigiert mich die Frau und tippt mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Ich will zurückweichen, rühre mich aber nicht von der Stelle und sage:
- Ihr hättet das nicht tun sollen.
— Du hättest das nicht tun sollen, korrigiert sie mich erneut. Plötzlich schreie ich sie an:
- ICH HABE NICHTS GETAN, VERDAMMT NOCH MAL, ICH HABE NICHTS GETAN!
Die Frau legt den Finger auf ihre Lippen.
- Soll dein neuer Freund wach werden?
Der Mann hockt plötzlich neben Theo. Ich sehe das kalte Blau der Klinge, als er es gegen Theos Wange drückt. Theo zuckt zurück und liegt wieder still.
— Er sollte lieber nicht wach werden, sagt der Mann und sieht zu mir hoch, Wie wäre es, wenn ich ihm sein Gesicht abziehe? Und dann klebe ich es ans Fenster, und sobald er erwacht, wird es das erste sein, was er sieht.
Ich fange an zu weinen, zittere am ganzen Körper. Die Frau winkt den Mann zu sich. Er taucht neben uns auf. Wir bilden ein Dreieck. Ich glaube die beiden zu riechen - eine Mischung aus Ozon und glühendem Metall.
—Was ... was wollt ihr?
Die Frau lächelt. Sie hat kleine, an den Enden abgerundete Zähne.
— Uns in Erinnerung rufen. Dich wissen lassen, daß du uns am Herzen liegst. All das.
— Bis zum nächsten Mal, sagt der Mann und löst sich vor meinen Augen auf. Er wird zu einer Bewegung aus Farben und Formen. Ich spüre ihn hinter mir, seine Hand legt sich über meinen Mund und schiebt mir etwas zwischen die Lippen.
—Werde nicht nachlässig, sagt die Frau.
- Denk an uns, sagt der Mann.
Sie warten, bis ich die Pillen geschluckt habe. Dann hebt die Frau die Hand. Ich spüre einen leichten Schlag gegen die
Schläfe und liege auf dem Dielenboden. Mein Hinterkopf schmerzt, die Beine prickeln, als wären sie eingeschlafen. Ich blinzle verwirrt. Theos Gesicht erscheint über dem Sofarand. Im Dunkeln sehe ich ein Glitzern, seine Augen sind unangenehm weiß.Theo sagt:
— Bist du gefallen?
Ich will schreien, mein Mund schnappt lautlos auf und zu - in Theos Gesicht ist jeder Muskel zu sehen, die Augen sind ohne Lider, seine Zähne erinnern an Perlen, die Haut ist verschwunden.
Ich kneife die Augen fest zu.
Als ich sie wieder öffne, ist es still. Keine Uhr tickt, keine Rohrleitung rauscht, und durch die Fenster fallt blaues Mor-genlicht.
—Theo?
Ich springe aus dem Bett und renne ins Wohnzimmer. Theo schläft auf dem Sofa, das Buch liegt neben der Brille auf dem Glastisch, das Zimmer ist leer. Ohne zu zögern schalte ich das Deckenlicht an.
-Was ist...
Theo schirmt seine Augen ab. Er greift nach seiner Brille und setzt sie auf. Ich drücke mir die Hand auf den Mund und bin so erleichtert, daß ich beinahe loskichere.
-Was ist los? fragt Theo, Hast du schlecht geschlafen?
Er rutscht zur Seite, ich setze mich neben ihn.
— Beruhige dich, du zitterst ja.
Er legt einen Arm um mich, und so sitzen wir eine Weile. Dann schlägt Theo vor, mir eine heiße Milch zu machen. Ich schüttle den Kopf.
— Bleib bei mir, sage ich und drücke mich an ihn, bis er seine Brille wieder absetzt und es sich auf dem Sofa bequem macht. Und so liegen wir bis in den späten Morgen hinein — ich an Theo geklammert, er mit den Armen um mich.
Ich erwache als erste und trenne mich von Theo, ohne ihn zu wecken. Nachdem ich ihn wieder zugedeckt habe, löse ich im Bad den Verband von meinen Händen und wasche mir das Gesicht. Beim Abtrocknen sehe ich, daß mein Kosmetiktäschchen vom Regal gefallen ist. Ich kniee mich hin und räume die paar Sachen ein, die sich auf dem Boden verstreut haben. Lippenstift, Tampons, Haarspangen. Als ich in das Täschchen schaue, finde ich meine Pillen nicht. Ich suche auf dem Boden. Sie bleiben verschwunden.
Ein mulmiges Gefühl macht sich in meinem Magen breit. Ich will nicht panisch reagieren. Ich möchte das Licht ausmachen und in die Küche gehen, um in aller Ruhe Kaffeewasser aufzusetzen. Das ist mein Plan. Statt dessen gehe ich ins Wohnzimmer zurück und bleibe vor dem Sofa stehen. Ich entdecke die Pillenschachtel auf den Dielen neben einem der Tischbeine und hebe sie auf.
Zwei Pillen fehlen.
Ich gehe mit der Schachtel ins Bad und lege sie in mein Kosmetiktäschchen. Danach setze ich Wasser auf und warte, daß Theo wach wird. Es gibt keinen Grund, ihm das zu erzählen. Es reicht, wenn ich in Panik gerate. Es gibt keinen Grund, ihn in Panik zu versetzen. Ich habe das im Griff.
THEO
- Es ist für dich.
-Was?
Ich sehe ein Knie, eine kleine Narbe auf dem Oberschenkel, feine, goldene Härchen. Val steht vor mir, Handtuch um den Kopf gebunden, in T-Shirt und Slip. Sie muß eben aus dem Bad gekommen sein. Als ich mich aufsetze, rutscht die Decke von mir und fallt vom Sofa. Val hält mir den Telefonhörer entgegen.
— Es ist für dich, irgendein Berghoff.
Ich greife nach meiner Brille.
— Danke. Hallo?
-Tag, Berghoff mein Name. Spreche ich mit Herrn Kerst? Wir stehen hier mit einer Lieferung für Sie, aber uns macht keiner auf. Da dachten wir, rufen wir mal durch, vielleicht hören Sie ja das Klingeln nicht. Ist ja groß da drinnen. Sollen wir denn schon mal mit dem Entladen anfangen? Wir wissen ja nicht, wohin das alles gehen soll, aber wenn Sie uns mal die Tür aufmachen, dann---
— Moment mal, unterbreche ich und stehe auf, Welche Lieferung ist das?
— Douglasie, ganz feine Sache. Haben Sie doch bestellt? Ich habe hier den Lieferschein und da ...
Während er redet, suche ich auf meinem Schreibtisch nach dem Kalender. Der Montag ist eingekreist. DIELENLIEFERUNG. 11 UHR.
-Hallo?
- Bin noch dran.
- Entschuldigen Sie, mir ist da was dazwischengekommen. Ich ... Ich bin noch in Oldenburg. Wie lange sind Sie noch da draußen? Ich könnte in einer Dreiviertelstunde bei Ihnen sein.
Ich höre Berghoff mit jemandem im Hintergrund sprechen und möchte mich ohrfeigen. Wie konnte ich die Lieferung nur vergessen? Eine bessere Frage ist, was will ich mit den Dielen anfangen? Als ob ich alleine aufs Land ziehen würde.
— Hören Sie, meldet sich Berghoff wieder, Machen Sie sich mal keinen Streß, wir haben hier in der Umgebung noch zwei Termine, dann ist Mittag, und danach kommen wir noch mal vorbei und erledigen das in einem Rutsch. Was sagen Sie dazu? Sind Sie einverstanden? Sagen wir gegen zwei? Ist zwei für Sie in Ordnung?
- Danke. Vielen Dank. Bis um zwei.
Ich stütze mich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und atme tief durch. Es gibt Dinge, die für andere unbedeutend sind, mich aber völlig schaffen. Zuspätkommen und Termine vergessen stehen an oberster Stelle. Ich weiß nicht, wo ich das herhabe. Es sitzt tief und ist mir gnadenlos peinlich. Ich kann riechen, wie verschwitzt ich wegen des Anrufs bin, und beschließe, erst einmal zu duschen. Nachher werde ich einen Kasten Bier für die Fahrer besorgen.
- Schenk ihnen doch ein paar Freikarten, schlägt Val vor, als ich ihr nach der Dusche davon erzähle.
— Meinst du, sie gehen ins Kino?
— Wenn nicht sie, dann ihre Frauen oder Kinder. Wann mußt du denn dort sein?
- Um zwei. Ich fahre um kurz nach eins los und bin gegen sechs wieder zurück.
- Nimmst du mich mit?
Ich lache.
- Das meinst du nicht ernst, oder? Da draußen ist nicht viel. Es gibt kein Fernsehen, kein Telefon und keine Nachbarn. Die Toilette funktioniert zwar, aber zum Spülen muß man einen Eimer Wasser nachkippen. Von acht Räumen ist nur das Erdgeschoß fertig. Der Rest hat kahle Böden mit Lattengestellen, auf denen die Dielen fehlen.
— Habt ihr einen Kamin?
Sie sagt ihr, und ich verspüre einen Stich. Ja, wir. Jenni bestand darauf, daß ich das Wohnzimmer samt Kamin als erstes fertig habe. Die paar Nächte, die sie mit draußen war, verbrachten wir auf Schaffellen vor dem Feuer. Es fiel uns danach schwer, in unsere kleine Wohnung nach Oldenburg zurückzukehren.
— Wir haben einen Kamin, sage ich, Einen von diesen schwedischen mit Glasscheibe in der Tür. Davorzusitzen ist besser als jedes Fernsehprogramm.
Val grinst mich an.
— Okay, wenn du mitkommst, bleiben wir bis morgen nachmittag. Du hast da draußen deine Ruhe, und ich kann versuchen, ein paar von den Dielen zu verlegen.
- Ich helfe dir, sagt Val, Ich hatte früher im Basteln eine Eins, du wirst dich wundern. Außerdem bin ich sehr gespannt, was ihr euch da aufgebaut habt. Jenni hat so viel von dem Hof erzählt. Dort draußen muß es jetzt phantastisch sein. All der Schnee und die Einsamkeit.
Ich lache, ihr Enthusiasmus ist ansteckend.
— Du ziehst dich am besten warm an, wir haben nur den Kamin. Und versuch, Marek vorher zu erreichen, damit er weiß, wo wir sind.
Val sieht zum Telefon.
- Bevor wir aber irgendwas machen, sagt sie und knöpft ihr Hemd auf, Wird es Zeit, daß du die Mumie befreist.
Im Badezimmer setzt sie sich auf einen Hocker, und ich löse als erstes denVerband um ihren Bauch. Die Schnitte verheilen gut. Val betrachtet sich im Spiegel und will keinen neuen Verband.
- Heb mal die Arme.
Der Schriftzug unter ihren Armen ist angeschwollen und sticht rot von der blassen Haut ab. Als ich ihn berühre, zuckt Val zusammen.
- Du wirst unbewußt daran rumscheuern, laß mich zumindest diese Stellen verbinden.
- Nur die Arme?
- Nur die Arme.
Während ich sie verbinde, kann ich ihr Haar riechen. Es war komisch, Val gestern nacht im Arm zu halten. Fremd und doch vertraut. Und ich muß zugeben, ich fühlte mich besonders, weil ich es war, der ihr die Angst nahm. Da zieht sich mein Magen zusammen. Wann habe ich Jenni jemals die Angst genommen? Es muß etwas Besonderes sein, jemandem seine Ängste zu nehmen. Ein Beweis, eine Bestätigung.
- Stimmt was nicht?
Val sieht mich von unten her an. Ich schüttle den Kopf und konzentriere mich wieder auf denVerband.
Seit der letzten Nacht ist etwas in mir in Bewegung geraten. Waren meine Gedanken um Jenni vorher hastig und unscharf gewesen, sind sie jetzt sehr präzise und so deutlich, daß ich das Gefühl habe, ich bräuchte bloß die Hand auszustrecken und könnte Jenni berühren.
Kleinigkeiten halten mich auf, unzählige Details lassen mich taumeln. Ich könnte vor fast jedem Gegenstand in der Wohnung stehenbleiben und mir seine Geschichte in Erinnerung rufen. Es reicht schon, daß ich in der Küche alltägliche Handgriffe erledige. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Umrisse — Jenni, wie sie am Tisch sitzt; Jenni, wie sie im Türrahmen lehnt oder sich anschleicht. Dann kneife ich die Augen zusammen und mache weiter mit dem, was ich gerade getan habe. Ich sehe mich nicht um, ich weiß, daß da nichts ist.
— Danke, daß du Jenni zu mir gebracht hast, sage ich, als wir gerade dabei sind, eine Einkaufsliste zusammenzustellen.
Val sieht mich an, als hätte ich einen Witz gemacht.
- Ich meine das genau so, wie ich es gesagt habe. Hätte ich auf Umwegen von ihrem Tod erfahren, wäre ich bestimmt zusammengebrochen. Sie aber noch einmal sehen zu dürfen und sie zu begraben, das hat mir etwas von Jenni zurückgegeben. Nicht Fremde haben entschieden, wie wir uns voneinander verabschieden sollten. Ich war es, verstehst du das?
- Natürlich versteh ich das, sagt sie und beugt sich vor, um mich auf den Mundwinkel zu küssen. Danach steht sie auf.
- Die Einkaufsliste kann ich auch allein schreiben. Ruf du lieber ihre Eltern an, dann hast du es hinter dir.
Ich bleibe im Wohnzimmer sitzen, Val schließt die Tür hinter sich. Das Telefon hegt am anderen Ende des Sofas. Ich rutsche rüber und nehme es in die Hand. Draußen beginnt es wieder zu schneien. Erst unauffällig, dann immer dichter. Ich glaube, den Wind zu hören. Ich glaube, eine Bewegung hinter mir zu spüren. Jenni, die mit mir darauf wartet, daß ich endlich ihre Eltern anrufe. Ich sitze und lausche und sage irgendwann leise:
-Gut.
Nach der Anspannung und der Angst, die ich vorher hatte, geht mir das Gespräch viel zu schnell. Ehe ich weiß, was passiert, habe ich meinen Part hinter mir und bin dabei, Fragen zu beantworten.
— Hast du es denn bei ihrer Freundin in Kassel versucht?
— Die hat seit Samstag nichts mehr von ihr gehört. Sie rief mich an, weil sie wissen wollte, ob Jenni gut angekommen ist. Ich dachte, sie wäre vielleicht bei euch vorbeigefahren.
Jennis Vater schweigt, und ich kann mir vorstellen, wie er dabei vor sich hinnickt, als würde mit dieser Bewegung jeder Gedanke einzeln verdaut. Er gehört zu der Sorte von Männern, die in Filmen den Snob darstellen. Gestutzter Bart, kantiges Gesicht und braungebrannt. Solche Männer tragen immer ein Hemd von Lacoste oder T-Shirts von Boss, dazu beige Bundfaltenhosen und Segelschuhe. Er mag mich nicht, weil ich keine Ambitionen habe. Er ist das Klischee des Vaters und hat es gehaßt, daß Jenni nie das Klischee der Tochter sein wollte.
— Ich spreche mit Petra und rufe dich gleich zurück, sagt er und legt auf.
Jennis Mutter paßt in eine trockene Komödie und würde ein großartiger Gegenpart zu Jack Nicholson sein. Sie besitzt einen bissigen Humor, ohne den sie wahrscheinlich ihren Mann schon vor dreißig Jahren erwürgt hätte. Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Sie hat mir immer wieder gesagt, daß ich der Mann für Jenni sei. Auf diese Weise gab sie Jenni ein gutes Gefühl. Oder, wie Jenni einmal feststellte: »Damit zeigt sie mir, daß ich auf dem richtigen Weg bin.« Leider hat mir Jenni auch erzählt, daß ihre Mutter bisher jeden ihrer Freunde als den Mann gesehen hat.
Zehn Minuten später ruft mich ihr Vater zurück.
-Theo, wir sollten die Polizei anrufen.
- Soll ich---
- Nein, ich mach das schon. Hör du dich bei ihren Freunden um. Es ist mir ein Rätsel. Muß denn das kurz vor Weihnachten passieren?! Ihre Mutter ist sehr enttäuscht. Es paßt überhaupt nicht zu Jenni. Habt ihr euch gestritten?
Ich schüttle den Kopf, schlucke an den Worten, die in meinem Hals feststecken und sage gepreßt:
- Es gab keinen Streit.
- Petra fragt, ob du Jenni geschlagen hast?
- Frank, ich sagte doch, es gab keinen Streit.
- Du lügst mich nicht an?
- Nein, ich lüg dich nicht an, es ging uns gut, es ...
Ich verstumme, ich heule, ich spüre die Tränen, wie sie auf meinen Schoß fallen.
- Ich habe Angst, sage ich, und ich sage nicht, daß ich Angst um meine hebe, um meine süße Jenni habe, weil ich weiß, daß sie nicht mehr wiederkommen wird, weil sie in eine Decke eingewickelt auf einem Grundstück liegt, das uns beiden gehörte und auf dem wir unsere Kinder großziehen wollten.
-Jetzt reiß dich zusammen, Junge, das klären wir schon. Vielleicht hat sie ja jemanden getroffen. Oder es gab einen Unfall, und sie liegt im Krankenhaus. So etwas sieht man jeden Tag im Fernsehen. Hör du dich bei ihren Freunden um. Ich rede mit der Polizei.
Nachdem ich aufgelegt habe, nehme ich mir Jennis Adreßbuch vor und rufe jeden an. Wirklich jeden. Es sind an die dreißig Leute, und natürlich weiß keiner, wo Jenni steckt. Die Worte kommen lauwarm aus meinem Mund. Es ist eine Farce, es ist meine Farce, und ich bin alles andere als stolz auf sie. Val stört kein einziges Mal. Ich höre sie in der Küche und wünsche mir, daß sie hereinkommt und mich festhält.
Als ich fertig bin, ist das Telefon naßgeschwitzt und klebrig. Val sitzt am Küchentisch und liest Zeitung.
—Alles in Ordnung? fragt sie.
Ich will sagen, daß es vorbei ist, daß ich alle angerufen habe und sogar der letzte Idiot Bescheid weiß, daß ich Jenni nicht finden kann. Es ist offiziell, möchte ich rufen, die Suche ist eröffnet! Alles, was ich herausbringe, ist:
— Jenni ist jetzt wirklich tot.
Val will aufstehen, um mich zu umarmen, aber ich gehe an ihr vorbei und nehme mir ein Glas Wasser und setze mich mit an den Tisch.
- Ich brauche kein Mitleid mehr, sage ich.
Val schiebt die Zeitung von sich. Wir sehen uns an. Ich müßte erleichtert sein, die Farce lebt, ich habe sie in Gang gesetzt und bin nicht mehr verantwortlich für sie. Ich spüre keine Erleichterung, da ist nur ein hohles Gefühl, denn es gibt ab diesem Moment niemanden mehr, vor dem ich so tun könnte, als würde Jenni jeden Moment durch die Tür kommen.
Während Val versucht, Marek zu erreichen, packe ich ein paar Sachen ein und schaue nach der Post. Vier Briefe sind für Jenni. Ich drehe sie in den Händen, unschlüssig, was ich
mit ihnen anfangen soll. Ich lasse sie auf dem Schreibtisch hegen und stecke eine Rolle Kinokarten für die Fahrer ein. Das Gespräch mit Jennis Vater hat mich so sehr ins Schwitzen gebracht, daß ich ein zweites Mal duschen muß. Als ich das Bad verlasse, sitzt Val noch immer im Wohnzimmer, telefoniert aber nicht mehr.
— Können wir? frage ich.
Sie reagiert nicht, ihre Augen sind geweitet.
— Ist irgendwas passiert?
Sie blickt auf, schüttelt den Kopf.
— Ich ...
Sie räuspert sich.
-... ich habe ihn nicht erreicht, aber ich wollte ihn unbedingt sprechen, bevor wir rausfahren, also habe ich ...
Sie sieht zum Telefon, sieht mich wieder an.
-... im Büro angerufen. Er wollte ja bei Gerald sein. Wegen der Konferenz, er wollte vermeiden, daß die Kunden noch im Januar mit...
Val verstummt.
- Unwichtig, sagt sie nach einer Pause, Auf jeden Fall habe ich Gerald erreicht. Seine erste Frage war, wann Marek endlich zurückkommen würde.
Val zieht die Beine auf das Sofa und legt die Arme um ihre Knie.
- Gerald sagt, er hat seit letztem Mittwoch nichts mehr von Marek gehört.
- O Scheiße, rutscht es mir heraus.
Ich setze mich auf den Rand des Glastisches.
—Wieso sollte er...
Ich weiß nicht, was ich fragen will.
- Er hat gelogen, sagt Val, Er hat uns angelogen.
— Aber warum?
Val hält sich beide Hände vor den Mund, Tränen treten ihr
in die Augen. Als sie die Hände wieder herunternimmt, sagt sie beinahe flüsternd:
- Ich habe es geahnt, Theo, ich wußte, daß da was nicht stimmt. Ich habe es geahnt.
Sechs Stunden sind vergangen, und ich bin sehr verwirrt. Wir sind auf dem Bauernhof, das Holz ist entladen und im oberen Stockwerk. Die Dämmerung hat sich über die verschneite Landschaft gelegt, als würde all das Weiß sie stören. Die Scheite im Kamin sind zu einer Schicht Glut heruntergebrannt, und eben war ich im Schuppen und habe Holz gehackt. Keine Ahnung, was ich mein ganzes Leben lang in der Stadt getrieben habe, wenn das hier mein Zuhause ist.
Ich stelle den Weidenkorb mit Holz neben den Kamin. Val schläft noch immer auf einem der Sessel, eingemummt in eine Decke. Ich glaube, genauso werde ich sie in Erinnerung behalten - eingemummt und mit geschlossenen Augen.
Ich lege Holz nach. Die Schatten erwachen und bewegen sich über die Wände. Das Knacken und Prasseln füllt den Raum.
Ich gehe mir die Hände waschen und weiß noch immer nicht, was ich denken soll. Val hat auf der Fahrt hierher viel geredet und dabei nervös in den Rückspiegel gesehen. Ich wollte es ihr nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie sie damit umgeht, aber ich hätte es gut gefunden, wenn sie ihr Medikament zur Beruhigung genommen hätte.
Für Val steht fest, daß Marek zu den Schnellen gehört.
Ich habe nicht gelacht, als sie das sagte. Vielleicht hätte ich lachen sollen. Marek ist für mich ein Schaf. Er kann sich nicht verstellen, da bin ich mir sicher. Aber da ich nicht ge-lacht und keinen Witz gemacht habe, mußte ich mir Vals Begründungen anhören.
- Er ist aus dem Nichts in mein Leben reingeplatzt, ja? Er fing mich nach einer Party ab, doch niemand, den ich kenne, hatte je was von ihm gehört. Ich meine, ich war auf der Party, und er ist mir nicht aufgefallen. Dann ist es so, daß ich all die Leute, von denen Marek spricht, nie kennengelernt habe. Nicht einmal Gerald, ist das nicht merkwürdig? Nach über einem Jahr? Warte, das ist nicht alles. Marek ist der einzige, der einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Die Tür war nicht aufgebrochen, als ich nach Hause kam und Jenni im Bad fand. Das Schloß hatte keine Kratzer. Jemand hat die Schnellen hereingelassen oder sie haben sich selbst reingelassen - mit einem Schlüssel. Und was denkst du, warum er mit mir nach Berlin gefahren ist? Glaubst du wirklich, daß er mit meiner Mutter reden wollte? Glaubst du, daß es Zufall war, daß der Computer und alle Beweise verschwunden waren, als wir wieder zurückkamen? Theo, glaubst du das wirklich?
- Ich weiß es nicht, habe ich geantwortet, und Val hat geflucht und in den Rückspiegel gesehen.
Ihr wichtigster Beweis war Bettina, die auf Marek gezeigt und ihn als einen der Schnellen identifiziert hat. Genauso sagte es Val:
- Bettina hat ihn identifiziert.
Ich habe diesen Moment nicht vergessen und weiß noch genau, daß wir alle drei darüber lachen mußten. Alle drei.
Und dann die Szene im Besuchercafé. Ich hatte sie völlig vergessen.
- Guck dir das mal genauer an, sagte Val und drückt ihre Zigarette aus, Plötzlich verschwindet Marek aus dem Café und meint später, ihm wäre schlecht gewesen. Dabei haben wir ihn durch den Park laufen sehen, und das sah nicht da-nach aus, als ob er kotzen mußte. Das sah aus, als würde er jemandem nachrennen. Was hat er da getan? Woher kannte er sich auf dem Gelände aus?
- He, warte, unterbrach ich sie, Das sind allesTheorien, Val. Sobald Marek morgen abend auftaucht, reden wir mit ihm.
Val hat den Kopf geschüttelt und gesagt, daß sie Angst, schreckliche Angst hätte, ihn wiederzusehen. Ob ich das nicht verstehen könne.
Ich verstand schon, aber alles war möglich — vielleicht hatte Marek eine andere Frau getroffen, vielleicht war es ein einfaches Mißverständnis. Es konnte ein Dutzend Gründe geben, wegen der er uns angelogen hatte.
-Was für Gründe denn? wollte Val wissen, Nun sag schon.
- Es könnte eine andere Frau sein, was weiß ich.
Val hatte gelacht.
- Marek ist zu treu, um sich auf eine andere Frau einzulassen.
- Gut, wenn du meinst, beendete ich das Thema, Warten wir, bis er wieder da ist.
Während Val schläft, fahre ich ins nächste Kaff und versuche, Marek über sein Handy zu erreichen. Beim dritten Versuch spreche ich ihm auf die Mailbox, daß er eine gute Erklärung parat halten sollte, wenn er morgen abend kommt.
—Val hat mit Gerald geredet...
Während ich spreche, halte ich mich unbewußt zurück und erwähne mit keinem Wort, daß wir auf dem Land sind. Etwas von Vals Panik muß auf mich abgefarbt haben. Danach rufe ich im Kino durch und spreche kurz mit Rita. Ich lasse sie wissen, daß ich bis Dienstagnachmittag hier draußen sein werde, um die Böden zu machen.
- Sollte sich Jenni melden, dann sag ihr das, bitte.
- Kein Problem.
Rita macht eine Pause und stellt die übliche Frage:
- Habt ihr euch gestritten?
- Nein, alles war gut, antworte ich und lege auf. Ich wische mir die schweißfeuchten Hände an der Jeans trocken und beschließe, Jenni alles an ihrem Grab zu erzählen. Ich will, daß ihr jedes Detail bekannt ist; ganz besonders will ich, daß sie versteht, warum ich tue, was ich tue. Insgeheim hoffe ich auf ein Zeichen von ihr, daß jeder meiner Schritte bisher richtig war. Mir fehlt solch ein Zeichen.
Es ist kurz nach neun. Draußen scheint sich ein Sturm zusammenzubrauen. In den oberen Stockwerken höre ich den Wind durch das Mauerwerk pfeifen. Ich kann nur hoffen, daß das Dach keine Macken hat. Mitte Januar wollte jemand kommen und es sich ansehen. Um die Abdichtung der Fenster will ich mich kümmern, sobald die Böden fertig sind.
Ich habe mir etwas zu essen gemacht und den Schlafsack vor dem Kamin ausgebreitet. Val ist einmal kurz aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen, und schläft wieder auf dem Sessel. Ich würde gerne wissen, was in ihr vorgeht und wie gut sie ihre Ängste kaschiert. Ihre Vorgeschichte mit der Psychose, die Bedrohung durch die Schnellen, dann Jennis Tod, die Fahrt zu mir, Zwischenstop in Hamburg und dann der Angriff im Schwimmbad. Wie packt sie das? Schon bei der Szene im Schwimmbad wäre ich völlig durchgedreht. Als ich ihr das sagte, winkte sie ab und meinte, es wären die Medikamente, die sie ruhig hielten, und natürlich Marek, der sie immer wieder auf den Boden zurückbrachte. Jetzt ist Marek nicht da, und jemand muß seine Stelle einnehmen. Falsch, jemand will.
-He?
Ich berühre ihren Fuß. Val blinzelt, sieht mich an.
— Willst du auf dem Sessel bleiben? Das Sofa ist frei. Du kannst dich aber auch zu mir legen, hier unten ist es wärmer.
Val befreit sich aus der Decke und kommt zu mir auf den Boden. Ich weiß, ich sollte das nicht tun, denn ich habe es mit Jenni getan. Auf den Schafsfellen vor dem Feuer. Die erste Nacht. Aber ich glaube, es ist richtig. Ich hoffe, es ist richtig. Und als sich Val an mich schmiegt und weiterschläft, bin ich mir sicher, daß ich keinen Fehler gemacht habe. Auch wenn meine Erektion gegen Vals Bauch drückt und mein Mund trocken ist, versuche ich, eine bequeme Lage zu finden und schließe die Augen.
Jenni küßt mich. Ich spüre ihren Körper, wie er sich an mich drückt, ich soll sie halten, ich soll sie spüren. Ihr Atem füllt meinen Mund, ihre Hände sind überall. Das Gefühl von Haut auf Haut---
Ich öffne die Augen und sehe graue Holzasche. Der Kamin hat seine Romantik verloren. Er ist verrußt und staubig. Ich spüre die Kälte auf dem Gesicht und den nackten Schultern. Die Außentemperatur muß stark gefallen sein, das Haus kühlt sonst nicht so schnell aus. Val liegt nicht mehr neben mir. Ich drehe mich um. Sie schläft eingemummt in ihre Decke auf dem Sofa.
Ich stehe auf und reibe mir über die Arme. Pullover und Hose liegen auf dem Stuhl. Nachdem ich mich angezogen habe, spüre ich die Kälte richtig und beginne zu zittern. Erst jetzt fällt mir die Stille auf. Ein milchiges Licht fällt durch die Fenster. Ich versuche rauszusehen, das Fenster ist eingeschneit.
In Stiefeln, mit hochgestelltem Mantelkragen und Schal um den Hals gehe ich zur Tür, ziehe sie auf und lache los. Es gibt kein Draußen mehr. Vor mir steht fest und unnachgiebig eine Schneewand. Ich drücke hier und da probeweise dagegen und versuche, ein Loch hineinzuhauen. Der Schnee gibt nach, als wäre er aus Knete.
Auch der Ausgang zur Terrasse ist versperrt, dicht drückt der Schnee gegen das Glas und läßt nur wenig Licht herein. Nur auf der Seite, die zum Tümpel hinausgeht, sind die Fenster nicht zugeweht. Ich nehme den Weidenkorb, öffne eines der Fenster und steige raus.
Draußen habe ich das Gefühl, ich könnte überall sein — Kanada, Sibirien, Alaska. Keine Straße und keine Häuser sind von hier aus zu erkennen. Nur weites, weißes Land.
Ich gehe um das Haus, um mir die Vorderseite anzusehen. Der Wind muß aus dieser Richtung gekommen sein. Die Schneewehe reicht bis zum ersten Stock. Von der Haustür und den Fenstern im Erdgeschoß ist nichts zu sehen. Es sieht aus, als hätte jemand das Haus an eine Schneewehe gebaut. Ich hätte nie gedacht, daß so etwas möglich ist. Wenn ich wollte, könnte ich im ersten Stock mit einem Schlitten aus dem Fenster steigen und die Schneewehe herunterrodeln.
Ich mache mich auf den Weg zum Schuppen, der ebenfalls von einer Seite nicht zu sehen ist, und hacke Holz. Später will ich einen Tunnel bis zur Haustür freischaufeln, bis dahin muß es reichen, das Holz durch das Fenster ins Haus zu bekommen. Bei meiner Rückkehr mache ich eine Menge Lärm, und dann rutscht mir der Weidenkorb aus den Händen, und die Hälfte des Holzes fällt polternd auf den Boden.
Val wird wach und streckt sich auf dem Sessel.
—Wieso nimmst du nicht die Tür? fragt sie.
-Weil sie eingeschneit ist, antworte ich und setze das Holz neben dem Kamin ab, Es wird eine Weile dauern, bis wir sie freischaufeln können.
— DieTür?
— Nein, die gesamte Hausfront.
Val will sich das ansehen und zieht sich an, während ich ein Feuer mache und Kaffee aufsetze. Als Val durchs Fenster wieder hereinkommt, sind ihre Wangen rot, und sie hat ein Leuchten in den Augen.
— Das ist ja der absolute Wahnsinn!
Sie setzt sich zu mir an den Tisch und nimmt den Becher zwischen ihre Hände.
— Hast du gut geschlafen? fragt sie mich.
—Tief und fest. Und du?
— Ich habe mich auf das Sofa gelegt, weil mir der Boden zu hart war. Aber das war auch nicht das richtige.
Sie reibt sich den Nacken und lacht; ich bin rot geworden, ohne daß ich einen Grund dafür sehe.