Als wir im Wohnzimmer stehen und den leeren Sessel sehen, habe ich für einen Augenblick das Gefühl, daß Theo und ich uns mit dem Haus auf einer Reise befinden. Wenn ich mich umdrehe und aus dem Fenster sehe, dann wird da nichts sein. Keine verschneite Landschaft, sondern nur das Weltall, ohne Sterne oder irgendwelche Sonnen, die reinste Schwärze.
Ich kneife die Augen zusammen, öffne sie wieder. Theo leuchtet mit der Taschenlampe. Auf dem Boden vor dem Sessel hegen das Kabel und der Gürtel, mit denen ich Marek gefesselt habe. Theo richtet den Lichtstrahl in das Wohnzimmer.
— Er muß noch im Haus sein, sagt er, Sein Mantel und die Stiefel sind noch da, ohne würde er draußen sofort erfrieren.
Er greift sich den Schürhaken, während ich mit nervösen Händen eine neue Kerze aus dem Schrank nehme und aufstelle.
—Was tust du?
— Ich halte das nicht aus, wenn es so dunkel ist, sage ich.
Wir beginnen das Haus zu durchsuchen. Wir arbeiten
uns vom Erdgeschoß hoch zum Dachboden und leuchten mit den Taschenlampen in jeden Winkel. Marek bleibt verschwunden. Keines der Fenster steht offen.
— Auch wenn wir ihn nicht sehen, kann er überall sein, sage ich, als wir wieder im Wohnzimmer ankommen.
-Wie meinst du das?
— Er ist so schnell, daß er direkt neben uns stehen könnte, und wir würden es nicht merken.
— Das ist nicht witzig, Val.
— Das war auch nicht witzig gemeint, erwidere ich.
-Vielleicht sollten wir doch mehr Licht machen, sagt Theo.
Innerhalb von ein paar Minuten haben wir die abge-
brannten Kerzen ausgetauscht. Alles sieht aus wie vorher, nichts ist mehr gleich.
Ich schließe mich im Bad ein und sitze auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel. Ich habe die Knie an die Brust gezogen und wünschte, ich wäre eine von diesen Frauen, die in ein Koma fallen und nach zehn Jahren in einem sauberen Krankenhaus erwachen. Und alle weinen und freuen sich, daß sie wieder da ist. Ich würde viel dafür geben.
Als ich mich beruhigt habe und das Bad verlasse, sitzt Theo auf dem Sofa und hat den Schürhaken auf den Knien liegen.
-Wenn sie Marek geholt haben, sage ich, Dann lassen sie uns vielleicht in Ruhe.
— Deswegen sind wir nicht hier, Val. Ich gehe nicht, ohne Jennis Mörder gesehen zu haben. Außerdem glaube ich nicht, daß sie uns in Ruhe lassen. Sie haben uns die Messer und die Axt abgenommen, sie wollen etwas.
Ich setze mich zu ihm. Wir starren ins Feuer. Zwei Holzscheite sind noch da.
-Wir müssen bald Holz holen, sage ich.
Theo rührt sich nicht.
—Theo?
Er sieht mich an. Er hat Tränen in den Augen.
— Ich glaube, ich werde heute Nacht jemanden töten.
Ich kann das verstehen. Ich möchte jedem einzelnen
Schnellen die Worte in die Brust schneiden, die sie mir in die Arme geritzt haben.
-Wir kriegen sie, sage ich und lege meine Hand auf seine Brust. Theos Herz rast, sein Atem geht so schwer, als wäre er eben gerannt. Ich kann spüren, wie mich das erregt, und bin überrascht, daß ich jetzt an Sex denke. Hier im Halbdunkeln, in dieser Situation. Ich möchte Theos Hose öffnen, ich möchte mich auf ihn setzen und nichts anderes mehr spüren als---
— Nicht jetzt, sagte Theo und umschließt mein Handgelenk, Wir müssen Holz holen.
Es gefällt mir nicht, das Haus schon wieder zu verlassen. Auch wenn der Schuppen höchstens dreißig Meter entfernt ist. Das letzte Mal, als wir draußen waren, verschwand Marek.
Da wir keine Axt mehr haben, suchen wir im Schuppen passende Stücke für den Kamin, sammeln Reste vom Boden auf und füllen den Weidenkorb. Durch den Türrahmen blicke ich immer wieder zum Haus zurück. Ich will nicht, daß mir etwas entgeht, ich will vorbereitet sein.
-Warum hat Marek das getan? sagt Theo irgendwann und richtet sich auf. Es ist das erste, was er sagt, seitdem wir hier draußen sind. Ich weiß keine Antwort. Marek ist mir ein Rätsel, und tief in mir schmerzt es, daß er so mit mir spielt.
— Ich habe keine Ahnung, wie Marek denkt, sage ich.
Wir sammeln, bis der Korb kaum noch zu tragen ist, keiner von uns will in der nächsten Stunde noch einmal herausgehen. Theo hebt den Weidenkorb an. Ich will mit anfassen, aber er wehrt ab und sagt:
— Geh am besten vor.
Ich vergrabe die Hände in den Manteltaschen und verlasse den Schuppen als erste. Nach ein paar Metern merke ich, daß
irgend etwas anders ist. Ich lege den Kopf in den Nacken. Der Wind hat aufgehört. Der Himmel ist voller Sterne, dazwischen leuchtet schmal die Sichel des Mondes.
—Verrückt, sage ich, Wie schnell das geht.
Ich lasse den Kopf im Nacken und drehe mich langsam. Als ich wieder stillstehe, ist mir ein wenig schwindelig, aber ich mag das Gefühl.
-Was meinst du, ob morgen früh ...
Ich verstumme, Theo ist noch im Schuppen.
—Theo?
Etwas bewegt sich in den Schatten.
-Theo, ist alles okay?
Langsam löst sich Theo aus der Dunkelheit und steht still. Denke ich.
-Was...
Er bewegt sich. Langsam und konzentriert hebt er den Fuß, hebt ihn, hebt ihn und senkt ihn, senkt ihn, und sein Blick ist dabei auf mich gerichtet, ohne daß ich das Gefühl habe, daß er mich sieht, denn als ich einen Schritt zur Seite gehe, bleibt der Blick auf dieselbe Stelle gerichtet, und in dem Moment begreife ich, daß es wieder soweit ist.
Ich versuche stillzustehen. Ich versuche ganz ruhig stillzustehen. Ich will nicht schnell sein, ich will, daß Theo mich sieht.
—Theo, sage ich, Es ist soweit.
Nichts, keine Reaktion. Was hört er? Hört er dieses schrille, hohe Geräusch, das auf dem Anrufbeantworter gewesen ist?
Theo drückt sich am Türrahmen vorbei und macht den nächsten Schritt, und wird dabei langsamer und langsamer. Ich denke an Wurzeln, ich denke an Zement, ich muß steinern werden, ich will, daß er mich ...
Und dann sehe ich sie hinter dem Schuppen hervorkommen. Es ist die Frau aus der Sauna. Sie läuft über den Schnee auf uns zu. Falsch. Sie läuft auf Theo zu. Ich versuche mich zu bewegen, ich will nicht mehr Zement sein, ich will dazwischengehen, aber sie ist viel zu schnell. Ich bin ein Witz dagegen, klebe am Schnee fest, klebe an der Luft fest und kann Theo nicht warnen.
Die Schritte der Frau bringen den Schnee kaum durcheinander. Kleine Verwehungen bleiben zurück, wo sie eben noch gewesen ist.
- HINTER DIR!
Ich weiß nicht, ob mich Theo versteht, er muß aber etwas gehört haben. Seine Augen weiten sich, er dreht sich um. Langsam, einen Zentimeter pro Minute.
Die Frau steht längst hinter Theo. Sie sieht mich an und hält sich den Zeigefinger an die Lippen. Dann hebt sie die andere Hand, und ich sehe eine Stablampe. Und ich sehe Theos Gesicht von der Seite. Die Frau schlägt zu. Theo sinkt zu Boden, als wäre er eine Feder. Fällt und fällt und fällt dem Schnee entgegen.
Ich warte nicht ab, bis er auf den Boden schlägt, sondern drehe mich um und renne.
Was tust du?
Rennst du vor den Schnellen davon?
Fällt dir nichts Besseres ein, als schon wieder davonzurennen?
Was tust du nur?
Ich weiß es nicht, ich weiß nur, ich kann nicht einfach stehenbleiben, deswegen renne ich auf das Haus zu, steige durchs Fenster und erstarre. Obwohl Theo alle Kerzen ausgetauscht hat, brennen nur noch vier davon auf dem Couchtisch, der Rest des Wohnzimmers liegt im Dunkeln.
Der Mann aus der Sauna sitzt auf dem Sofa und hält eine
Teetasse in der Hand. Er hebt sie, als würde er mir zuprosten, und trinkt dann einen Schluck. Vor dem Kamin hockt eine Frau und wärmt ihre Hände. Als sie mich ansieht, erkenne ich sie wieder, weiß aber nicht, woher.
- Ich habe dich das erste Mal gewarnt, jetzt ist es das letzte Mal, sagt die Frau, und da fällt es mir ein. Damals in Jennis Wohnung, als ich Asta zur Hilfe gerufen habe. Sie.
Hinter mir steigt die Frau aus der Sauna durchs Fenster. Sie sind komplett.
-Wo ist Marek? frage ich.
—Wer ist Marek? fragt der Mann zurück und lacht.
Seine Teetasse steht jetzt auf dem Tisch. Da liegen auch Theos Jagdmesser und die Axt. Da liegen die Schraubenzieher und Hämmer und alle anderen Messer. Die Frau ist vom Kamin verschwunden. Sie sitzt neben dem Mann auf dem Sofa und hat die Beine übereinandergeschlagen.
- Marek hat mir alles erzählt, sage ich, Ich weiß, daß ihr nur spielt.
—Wer spielt? fragt die Frau hinter mir.
-Wer will schon spielen, sagt der Mann und steht auf.
Die Frau neben ihm klatscht einmal in die Hände.
- Es reicht, sagt sie und reicht dem Mann das Jagdmesser, Zieh ihr die Haut ab. Und mach schnell.
Die drei lachen. Der Mann winkt mich zu sich. Ich stehe da und kann mich nicht rühren. Der Mann winkt wieder. Die Frau hinter mir gibt mir einen Stoß in den Rücken. Ich sinke auf die Knie und lege die Arme um mich. Ich will nicht mehr.
- Bitte, geht, geht einfach, bitte ...
Ich flüstere nur, ich will nicht aufsehen, es gibt nichts zu sehen.
- Bitte ...
Schritte kommen auf mich zu.
- Du hast gedacht, daß hinter all dem hier ein Sinn liegt, höre ich den Mann sagen.
Seine Finger streichen durch mein Haar, krallen sich fest. Ich spüre das Messer am Ohr, die Spitze der Klinge berührt meine Ohrmuschel und schneidet hinein, als gäbe es keinen Widerstand.
- Ich könnte dir das Gehirn rauskratzen, spricht er weiter, Ich könnte so viele Dinge mit dir machen. Ich könnte dich vor Angst sterben lassen. Weißt du, wie das ist, vor Angst zu ersticken?
Ich nicke, ich weiß es, ich kenne es, ich habe es erlebt, ich weiß es.
- Du weißt nichts, sagt der Mann und zieht mich in eine sitzende Position, Woher solltest du auch etwas wissen?!
Er öffnet meine geballte Hand und drückt mir das Jagdmesser hinein.
-Was...
- Fang an. Fang mit deinen Füßen an. Wir haben Zeit. Wir schauen dir zu. Befrei dich von dir. Schäl dich. Nun fang schon an.
Ich spüre Finger an den Stiefeln, dann sind meine Füße frei und die Socken werden heruntergezogen. Ich werde nach hinten gedrückt, Finger wandern über meine Hose, ziehen sie mit dem Slip herunter. Ich sitze mit bloßem Hintern auf dem Boden, die Dielen sind vom Kamin aufgewärmt.
-Arme hoch.
Ich sitze wieder aufrecht und hebe die Arme. Es ist so, als wäre ich fünf Jahre alt und meine Mutter zieht mich aus. Nichts bleibt. Ich bin nackt und spüre, wie die Kälte über den Boden streicht.
- Zeig uns etwas Schmerz, sagt eine der Frauen.
Ich weine, eine Hand schlägt gegen meinen Hinterkopf, ich nicke und beuge mich vor und setze das Messer an.
Ich erwache mit dem Gesicht im Schnee. Mein Kopf fühlt sich an, als ob die linke Seite weggesprengt worden wäre. Vorsichtig setze ich mich auf und versuche mich zu erinnern. Es ging zu schnell, ich konnte nicht reagieren. Erst war da Val, die in den Himmel starrte. Im nächsten Moment schrie sie und zeigte hinter mich. Es ging zu schnell, ich hatte diesen Weidenkorb voller Holz im Arm und drehte mich um. Ich hatte keine Chance. Der Schlag erwischte mich unter dem linken Ohr und hat mir beinahe den Kiefer ausgerenkt.
Die Spuren um mich herum sehen aus, als wären hier zehn Leute gewesen. Ich ziehe mich an der Schuppenwand hoch. Meine Knie sind weich, hoffentlich habe ich keine Gehirnerschütterung. Kaum daß ich das gedacht habe, kommt mir alles hoch, und ich lehne am Schuppen und erbreche mich.
Danach geht es mir besser. Ich suche nach meiner Brille, krieche im Schnee herum, kann sie aber nicht finden. Es muß auch so gehen. Ich stecke mir eine Handvoll Schnee in den Mund, der Schmerz in den Zähnen macht mich wach. Ich spucke den Schnee aus und laufe zum Haus.
-Val?
Ich stehe am Fenster. Es ist dunkel im Haus, kein Kerzenlicht, kein Kaminfeuer, vollkommene Dunkelheit und ich
ohne Brille. Sogar mit Licht würde ich kaum etwas erkennen.
—Val, alles okay bei dir?
Ich lausche, dann höre ich ein Schluchzen, Schritte, ein Rascheln, ein Schaben. Ich weiß, ich sollte da nicht reinsteigen, ich sollte machen, daß ich wegkomme.
—Val, ich komme rein.
Stimmengemurmel, dann ein schrilles Fiepen und wieder Ruhe. Ich steige durch das Fenster und taste mich zum Kamin. Irgendwo muß der Schürhaken liegen, ich habe ihn fallengelassen, als ich den Weidenkorb nahm, er müßte ...
Ich stoße mit den Fingerspitzen dagegen.
- Leute, ich habe hier eine Waffe, und ich habe große Lust euch damit den Schädel einzuschlagen. Also kommt ruhig näher!
Niemand kommt. Ich sehe eine Bewegung vor einem der Fenster und bleibe mit dem Rücken an der Wand. Schritte, jemand rennt die Treppe rauf oder runter. Ich warte und spüre, wie mir der Schweiß das Gesicht herunterläuft.
-Val? Bist du okay?
Ein Kichern, ich habe das Gefühl, daß mir jemand ganz nahe ist. Ich sehe eine Bewegung direkt vor mir, hole aus und schlage zu. Nichts. Ich lehne den Rücken wieder gegen die Wand. Warte.
-Theo, paß auf.
Leise, weit entfernt, Val.
- Bist du okay?
-Theo, bitte paß auf.
- Ich paß schon auf. Wo bist du?
Keine Antwort. Das Rascheln wiederholt sich, etwas schabt rauh über eine Wand, ich sehe für Sekunden Funken auf-sprühen.
- Es sind drei, höre ich Val flüstern.
Wieder eine Bewegung, dieses Mal neben mir, etwas berührt mich am Arm, ich schrecke zurück und schlage zu, hämmere einmal, zweimal gegen die Wand, höre den Putz rieseln, höre mich selbst keuchen.
- Kannst du sie sehen? frage ich.
- Sie sind zu schnell, sagt Val und schreit plötzlich auf.
-Val?!
Ich höre sie wimmern, ich kann noch immer nicht sagen, wo sie ist. Ich will still sein und brülle los:
- IHR VERDAMMTEN SCHWEINE! WAS SEID IHR NUR FÜR FEIGE SCHWEINE?! WENN EINER VON EUCH ETWAS MIT JENNIS TOD ZU TUN HAT, DANN SOLL ER SICH MIR STELLEN, DAMIT WIR ES ZU ENDE BRINGEN!
Wieder keine Antwort. Hastige Schritte, das Quietschen des Sofas, Geflüster. Ich wünschte, ich könnte in der Dunkelheit sehen.
-Theo, paß auf.
- Ich paß schon ...
Etwas bewegt sich auf mich zu, ich blinzle, es ist wieder weg. Ich mache einen Schritt nach vorn, halte den Schürhaken wie ein Schwert. Wieder eine Bewegung, direkt vor mir. Ich gehe darauf zu, es weicht zurück, ich gehe näher ran, werde schneller, entschlossener — dann ist es verschwunden.
Ich sehe mich um und begreife, was ich für einen Fehler gemacht habe. Die Wand, ich hätte die Wand nicht verlassen sollen. Hastig mache ich ein paar Schritte nach hinten. Der Rücken muß gedeckt bleiben, das sieht man in jedem Actionfilm, ich muß meinen Rücken---
Ich drehe mich um und will zur Wand laufen, da sehe ich eine Bewegung aus der Dunkelheit heraus. Jemand kommt auf mich zugerannt. Ich will zurückweichen, ich bin zu langsam, spüre den Schmerz und sehe hinunter. Das Messer ist bis zum Anschlag in meinem Bauch verschwunden. Es gibt einen Ruck, als es hochgezogen wird. Es fühlt sich an, als ob tief in mir ein Knoten durchtrennt worden wäre. Ein Gefühl der Erleichterung. Ich falle auf die Knie,
falle zur Seite und spüre
den Aufschlag nicht
spüre nur die
Ruhe und Zufriedenheit
Es ist so
angenehm
daß es im Dunkeln geschieht
Es ist nicht falsch
und es ist nicht richtig
Es ist
Wie oft habe ich schon
mit Freunden rumgealbert
wie das Ende wohl
aussehen wird
An Dunkelheit habe ich nie gedacht
Ich hätte an Dunkelheit denken sollen
Dunkelheit
ist das richtige Ende
weiß nicht, ob ich
liege
spüre nichts mehr
dann bewegt sich
ein Schatten über mir
und senkt sich langsam
auf mich herab
eine Stimme füllt meinen
Kopf
einatmen
ausatmen
— Du bist zu langsam.
Klar und
deutlich
Die Stimme löst sich auf
das Atmen verschwindet
der Schatten schwebt wieder
über mir und
senkt sich dann auf
mich herab
Das ist der Tod
denke ich
Ich blinzle
ich sehe
Wir sind von
Angesicht
zu Angesicht
Als ich klein war, gehörte ich zu den Nieten, wenn es ums Versteckspielen ging. Ich war mir sicher, daß mich niemand sehen konnte, wenn ich ihn nicht sah. Also hing immer mein Bein oder mein Fuß irgendwo raus. Die anderen Kinder hatten leichtes Spiel mit mir. Irgendwann fing ich an, mir Verstecke zu suchen, auf die keiner kam. Es waren keine erlaubten Verstecke. Es waren Orte, an denen man nicht suchte, weil sie nicht zum Spiel gehörten. Einmal lief ich über die Straße und ging eine Nachbarin besuchen. Einmal setzte ich mich in die Badewanne, häufte dreckige Wäsche über mich und schlief ein. Und einmal saß ich festgebunden auf einem Sessel und arbeitete unermüdlich an den Knoten, bis ich sie aufbekam. Und dann blieb ich weiter sitzen. Und das war der schwierige Part. Weiter sitzen zu bleiben und nicht wie ein Blöder aufzuspringen und Frei! Ich bin frei! zu rufen.
Ich habe es aufgegeben, mit Worten an Theo heranzukommen. Meine Warnungen bringen nichts. Als die beiden aus dem Haus gehen, um nach Spuren zu suchen, befreie ich mich von den Fesseln. Val hat sich zwar Mühe gegeben, doch ich hatte genug Zeit, die Knoten zu lockern. Was jetzt? Durchs Fenster kann ich nicht verschwinden, sie würden mich sofort sehen. Während ich überlege, was ich tun soll, brennen die letzten zwei Kerzen herunter und erlöschen. Gleichzeitig. Dann höre ich Val und Theo auf das Haus zurennen.
Mir ist klar, daß es keine gute Idee ist, sich in einem der Zimmer zu verstecken, sie würden mich garantiert finden, also taste ich mich durch die Dunkelheit auf die Haustür zu und ziehe sie auf. Strahlendes Weiß leuchtet dahinter. Eine Wand aus Schnee. Zwischen demTürrahmen und der Haustür ist etwas Raum. Ich stelle mich in diesen Raum und ziehe dieTür hinter mir zu.
Stille. Die Ruhe von Schnee. Die Geräusche aus dem Haus. Val und Theo, die durch das Fenster steigen und sich wundern, wo ich geblieben bin.
Ich lehne mit dem Rücken an der Haustür, meine Knie drücken gegen die Schneewand.
Jeden Moment erwarte ich, daß sich dieTür öffnet. Jeden Moment erwarte ich, daß die Schneewand näher kommt und mich erdrückt. Ich spüre, wie ich anfange, panisch schneller zu atmen. Und dann ist da nichts mehr. Schwärze in meinem Kopf, alle Gedanken verschwinden darin.
2
Als ich wieder zu mir komme, ist mein Gesicht in den Schnee gedrückt und ich schnappe hektisch nach Luft. Ich beruhige mich nur langsam. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Die Haustür ist noch immer in meinem Rücken, die Schneewand vor mir. Meine Knie schmerzen, und ich habe das Gefühl, daß die Dunkelheit um mich herum nur darauf wartet, daß ich wieder in sie versinke. Ohne zu zögern, fange ich an zu graben.
Ich grabe unermüdlich. Sobald ich eine Pause einlege, fühlt es sich an, als würde mich diese Masse aus Schnee umschließen. Also hacke ich mit den bloßen Händen auf sie und hoffe, daß sie nicht über mir zusammenbricht. Angst treibt mich an. Die Dunkelheit ist vor mir, ich schaufle sie zur Seite und...
... höre ein Geräusch hinter mir, lasse die Hände sinken, horche.
Es kann der Schnee sein, der langsam nachgibt.
Ich lege den Kopf schräg.
Es bleibt still.
Was werden Val und Theo tun, wenn sie herausfinden, daß ich diesen Tunnel hier grabe?
Ich sehe zurück. Auch da ist nur Dunkelheit, wohin ich auch blicke, kein Licht. Ich zögere nicht mehr und grabe weiter, robbe Zentimeter um Zentimeter auf den Knien voran, während mein Hirn unaufhörlich darüber nachdenkt, warum Jenni und Asta sterben mußten. Gab es einen Streit? Was hatten sie getan, daß Val so weit ging, sie zu töten?
Warum nur, Val?
Als ich den Schneetunnel verlasse, ist es noch immer Nacht und windstill. Meine Hände bluten und sind gefühllos. Der Schmerz kommt erst, als sie wieder warm werden.
Mein Wagen steht an derselben Stelle, an der ich ihn geparkt habe. Die Türen sind verschlossen, der Kofferraum aber offen. Keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn auch der Kofferraum verschlossen gewesen wäre.
Minutenlang lehne ich gegen den Wagen und versuche, zu Atem zu kommen. Dann klappe ich den Rücksitz nach vorne und krieche über den Kofferraum hinein. Meine Reisetasche befindet sich auf dem Beifahrersitz. Pullover, T-Shirts, Hosen. Ich breite alles über mir aus und liege zitternd darunter. Knie an die Brust gezogen, Arme über dem Kopf. Ich will nichts weiter, als hier liegen und langsam verschwinden. Mit der Umgebung verschmelzen. Unauffindbar.
Ein Dröhnen weckt mich. Orange Lichter tanzen durch den Wagen. Ich habe das Gefühl, daß der Boden bebt und bin für einen Moment völlig desorientiert. So muß sich Val oft gefühlt haben. An einem fremden Ort erwachen und keine Ahnung haben, wer man ist. Ich setze mich auf. Die Sonne scheint blaß über der Landschaft. Ich kurbele das Seitenfenster herunter und strecke den Kopf hinaus. Das Dröhnen kommt von einem Schneeschieber, der sich die Anhöhe hochkämpft und einige Meter vor meinem Wagen stehenbleibt. Der Fahrer sieht mich und winkt. Es ist nicht derselbe Fahrer, dem ich gestern nacht gefolgt bin. Ich winke zurück und ziehe mir zwei Pullover über. Meine Hände sind geschwollen, mir schmerzt jeder Muskel. Die Luft weht schneidend durch das Fenster herein, ich spüre, wie mein Kopf sich klärt. Der Fahrer läßt den Motor laufen und stapft über den Schnee zu mir.
-Verdammt schön kalt, um im Auto zu schlafen, sagt er.
- Kleiner Streit, antworte ich und zeige auf meine Nase.
Der Mann spuckt aus.
- Das ist das Wetter. Da haßt jeder den anderen. Kann nur hoffen, ich habe keine Unannehmlichkeiten gemacht. Konnte gestern früh nicht kommen. War der reinste Wahnsinn.
Ich sehe ihn nur an, ich habe keine Ahnung, wovon er spricht.
— Sollte einen Wagen hier rausziehen, komme ich zu spät?
Er schaut in die Landschaft, ich schaue zum Tunnel, den
ich in der Schneewehe hinterlassen habe.
— Schon weg, sage ich.
-Was?
—Wir haben den Wagen schon rausgezogen.
— Oh, das ist gut, dachte schon, ich hätte Mist gebaut. Ich mach Ihnen mal schnell den Weg frei, mehr Schnee wird es heute nicht geben. Dann muß ich auch schon weiter. Und kümmern Sie sich um Ihre Hände, das sieht nicht gesund aus.
Ich nicke und warte, daß er den Schneeschieber wendet, erst dann steige ich aus und laufe zum Haus. Irgendwo da drin hegen meine Schuhe und mein Mantel mit den Autoschlüsseln.
Ich beuge mich vor und schaue in den Tunnel hinein. Er ist zum größten Teil in sich zusammengebrochen, nein, noch einmal will ich da nicht durch.
Ich wische eines der Fenster frei. Die Küche ist leer und verlassen. Auf dem Tisch stehen zwei Becher und eine Teekanne, eine Zeitschrift ist daneben aufgeschlagen. Ich wische das nächste Fenster frei. Theo liegt auf dem Sofa und schläft, von Yal sehe ich keine Spur. Der Kamin ist dunkel, das eine Fenster auf der gegenüberliegenden Wandseite steht offen. Es könnte eine Falle sein, aber irgendwie interessieren mich Fallen im Moment wenig — ich habe keine Schuhe und nur zwei Paar Socken an den Füßen und stehe in kniehohem Schnee.
Ich umrunde das Haus. Von dieser Seite aus kann ich Val sehen. Sie sitzt nackt auf einem der Sessel. Ihre Füße sind blutverschmiert, die Hände liegen gefaltet im Schoß. Für eine Sekunde zucke ich zurück, aber sie hat mich am offenen Fenster gesehen.
— Oh, bin ich froh, daß du kommst.
Sie lächelt, ihr Gesicht ist klar und liebevoll, dann schaut sie zur Seite, zischt ein paar Worte und ihre Mimik flippt aus, als hätte sie einen Anfall. Val schaut ernst, dann wütend, dann lächelt sie und sieht mich wieder an.
- Bin ich zu schnell? fragt sie.
Sie ist viel zu schnell, die Hände flattern auf und nieder, die Füße scharren über den Boden, dann ist sie wieder still und ich sage:
- Nein, kein bißchen,
— Dann komm und befrei mich.
Sie hält ihre Hände hoch, die Handgelenke aneinander gedrückt, als wäre sie gefesselt.
Ich steige durchs Fenster.
Der Boden ist ein Chaos von Dreck und Blut. Die Wände sind zerkratzt, das Polster quillt aus dem Sofarand, tiefe Risse ziehen sich über den Couchtisch, dunkle Fuß- und Handabdrücke auf den Dielen.
— Du weißt nicht, wie froh ich bin, daß du endlich da bist, sagt Val, Du kannst es dir nicht vorstellen. Es wird immer leichter, weißt du? Vielleicht ist es Übung. Ich kann mich konzentrieren und es bremsen. Ganz leicht. So wie jetzt. Mal bin ich da, und mal bin ich weg. Aber ich gebe mir Mühe, versprochen. Du sollst dich ja nicht erschrecken.
Sie lächelt wieder merkwürdig. Aus der Nähe erkenne ich, wie sehr sie damit kämpft, ihr Gesicht zu entspannen. Das Lächeln ist eine Summe von verkrampften Muskeln. Die Mundwinkel zucken, das eine Augenlid spielt verrückt, etwas Speichel läuft ihr aus dem Mund. Hat Jenni sie so gesehen? Hat sie Panik bekommen? War das der Grund?
- Sie hätten das nicht tun sollen, sagt Val und streckt mir
Hände und Füße entgegen, Es gab keinen Grund, mich zu fesseln. Wie hätte ich Theo schon helfen können? Auf mich hört ja keiner. Was sollte ich machen?
Ich sehe mich um. Ich weiß, es ist unsinnig, es gibt keine Schnellen, dennoch sehe ich mich um. Unsicher und verängstigt.
- Keine Angst, sagt Val, Sie sind verschwunden und kommen nicht wieder. Bis es nötig ist. So war es, so wird es immer sein. Weil es sie immer gab, weil es sie immer geben wird. Sie dachten, ich weiß das nicht. Sie dachten, ich bringe mich um. Sie wollten das als Ende der Geschichte. Als ob ich das tun würde. Deswegen sitze ich hier. So schnell kann das gehen. Plötzlich sitze ich hier. Bitte, befrei mich, es tut so weh.
Ich sehe wieder auf ihre Handgelenke, die sie aneinander preßt.
-Val, was ist passiert?
Es ist wie ein Schlag. Sie zuckt zurück, drückt sich die Hände zwischen die Brüste, zieht die Beine hoch, verschwindet in sich selbst. Es ist mir so vertraut. Ihre Augen werden dunkel, und als sie spricht, kann ich hören, daß ich sie verliere. Ihre Stimme ist schwach und weit entfernt:
- Aber mir hat doch keiner was gesagt. Woher sollte ich denn wissen, daß Jenni schwanger war. So was muß man doch sagen, oder? Und jetzt liegt sie am Wasser, arme Jenni. Wenn Theo das gewußt hätte, hätte er sie nie gehen lassen. Alle verschwinden. Auch Asta ist einfach verschwunden. Sie haben ihn geholt. Er hat sein Bestes gegeben, genau das hat er. Meinst du nicht? Was meinst du?
Sie beugt sich vor, hält mir die Hände wieder entgegen.
- Ich tue alles, wenn du mich befreist. Ich verrate dich auch nicht.
Ich merke jetzt erst, daß ich heule. Ich kenne diese Frau, ich kenne sie angezogen und nackt, ich kenne sie lachend und voller Wut; ich kenne sie mit ihren Macken, Leidenschaften und Träumen. Und jetzt weiß ich nicht, wen ich vor mir habe. Das hier ist sie, und das hier ist sie nicht mehr.
Ich nehme ihre Hände in meine und trenne die Handgelenke.
— Oh, danke, danke, sagt Val und streichelt mir über das Gesicht, Das ist so lieb von dir, danke, danke.
Dann kniee ich mich hin und berühre ihre Fußgelenke. Die Haut ist blutverkrustet, hier und da sind Buchstaben eingeritzt, an einigen Stellen fehlt die Haut völlig. Wie konnte sie sich das nur antun?
. Ich löse die Fußknöchel voneinander. Es gibt ein unangenehmes Geräusch, weil sie durch das eingetrocknete Blut zusammenkleben.
— Du bist frei, sage ich und blicke auf. Val schlägt sich die Hände vors Gesicht. Sie lacht, sie lacht so sehr, daß ihr Bauch wackelt.
— Ich bin frei! höre ich sie sagen, Ich bin endlich frei!
Plötzlich wird sie ernst und ergreift meine Hände.
-Wenn wir einmal ein Kind haben, ja, versprichst du, versprichst du, versprichst du, daß du es mir nicht wegnimmst?
Mein Hals ist zugeschnürt, ich nicke.
— Ja, ich verspreche es.
— Niemand wird es mir wegnehmen?
— Niemand, sage ich.
Val küßt meine Fingerspitzen. Ich berühre ihr Gesicht, beruhige das Zucken und Zittern, drücke sie langsam in deii Sessel.
— Lehn dich zurück, Val, schließ deine Augen.
Sie hört auf mich, atmet tief ein, schließt die Augen.
Ich finde im Flur zwei Decken. Als ich damit ins Wohnzimmer zurückkomme, hat sich Val auf dem Sessel zu einem
Ball zusammengerollt. Ich höre sie leise summen, streichle ihr über den Kopf und wickle sie in die Decken ein.
- Ich bin gleich da, sage ich und gehe zum Sofa, Theo?
Ich hocke mich hin und berühre ihn an der Schulter. Ich habe keine Ahnung, wie er reagieren wird, und ob er mich noch immer für einen von den Schnellen hält.
Theos Kopf rollt nach rechts. Ich sehe das Blut an seinem Ohr und will mich abwenden. Ich will das nicht tun, ich muß das nicht tun, dennoch ziehe ich den Schlafsack herunter.
Die Wunde geht hoch bis zum Brustkorb. Seine Hände liegen um den Griff des Jagdmessers — nicht, als würden sie das Messer herausziehen wollen, eher so, als würden sie es halten.
Ich breite den Schlafsack wieder über ihm aus und stehe auf. Ich kann nicht reagieren, in mir macht sich eine Traurigkeit breit, die keine Reaktion zuläßt. Ich möchte mich auf den Boden legen und wie Val zusammenrollen. Ich will im Kamin ein Feuer machen, aufräumen und Theo und Val zu einem normalen Tag wecken. Für einen Moment glaube ich, wenn ich in die Küche gehe und Wasser aufsetze, werden die beiden im Türrahmen auftauchen und fragen, was es zum Frühstück gibt.
Eine Viertelstunde lang hänge ich über dem Klo, aber nichts kommt heraus. Mein Magen ist ein einziger Krampf, und anstatt mich zu übergeben, heule ich in die Kloschüssel.
Ich finde meine Stiefel unter dem Stuhl, auf dem mein Mantel liegt. Nachdem ich die nassen Socken abgestreift habe, steige ich barfuß in die Stiefel, ziehe mir den Mantel über und verlasse das Haus durch das Fenster.
Der Wagen springt überraschend schnell an, macht aber ein komisches Geräusch. Ich steige aus und schaue hinten nach. Der Auspuff ist mit Schnee verstopft. Ich befreie ihn, wische den Schnee von der Windschutzscheibe und steige wieder ein. Erst als die Temperatur im Wagen angenehm ist, kehre ich zum Haus zurück.
Ich weiß, daß Val und Theo von irgendwoher immer Holz geholt haben, und finde den Schuppen knappe dreißig Meter vom Haus entfernt. Auch er ist eingeschneit und steht fast unsichtbar in der Landschaft. Vor dem Eingang liegt ein umgeworfener Weidenkorb. Ich sammle das Holz ein und sehe ein Glitzern im Schnee. Es ist Theos Brille. Ich stecke sie in meinen Mantel und trage das Holz zum Haus.
Von Val ist kein Summen mehr zu hören, sie schläft. Ich bleibe vor Theo stehen und weiß nicht, ob ich das Jagdmesser rausziehen soll oder nicht. Ich finde es wichtig, die richtige Entscheidung zu treffen.
- Was für einen Unterschied macht es schon? sage ich halblaut und beschließe, das Messer stecken zu lassen.
In der Küche finde ich außer der Zeitschrift auch einen kleinen Stapel Zeitungen. Ich bringe sie ins Wohnzimmer und gehe noch zweimal Holz aus dem Schuppen holen. Danach lege ich um Theo und das Sofa herum einen Kreis aus Holzscheiten. Abwechselnd kommt immer ein Haufen Zeitungspapier dazwischen.
Als ich fertig bin, stehe ich eine ganze Minute einfach nur da und zähle rückwärts bis Null. Ich denke dabei nichts, ich habe keine Rede vorbereitet. Ich habe es schon immer gehaßt, wenn während eines Vereinsspiels der Schiedsrichter eine Schweigeminute ausrief. Da standen wir dann, 22 Jungs in kurzen Hosen und Gras am Knie und hatten keine Ahnung, wie wir uns verhalten sollten. Außer stillstehen, ernst schauen, kaum atmen. Für sechzig Sekunden denke ich jetzt nur an Theo, denke seinen Namen. Ich kann nicht an Jenni oder Asta denken, weil ich die beiden nicht kannte. Ich denke an Theo. Ich sehe ihn vor mir, wie er mir in der dun-klen Küche gegenüber sitzt. Ich sehe ihn wütend, wie er mich schlägt. Und ich sehe ihn erleichtert, wie er mir von Jenni erzählt. Dann bin ich bei Null angekommen, nehme die Brille aus meiner Manteltasche und setze sie Theo auf.
Es ist Zeit.
Ich steige aus dem Kreis und drehe meine Runde um das Sofa. Was ich berühre, geht in helle, klare Flammen auf.
Ich hebe Val mitsamt den zwei Decken vom Sessel. Sie liegt leicht auf meinen Armen, als wäre sie nicht wirklich da. Als hätte ich sie damals in Berlin vergessen und nur ihre Hülle mitgenommen.
Es gelingt mir, mit Val durchs Fenster zu steigen, ohne daß sie dabei wach wird. Ich lege sie auf den Rücksitz meines Autos, steige ein und fahre langsam vom Grundstück, ohne mich umzusehen. Die Reifen knarren auf dem Schnee. Der Wagen schert zweimal aus, dann bin ich auf der gestreuten Straße.
Hinter mir wächst ein Schatten in den klaren Tag hinauf. Ich verstelle den Rückspiegel, die Flammen schlagen aus den Fenstern, dichter Qualm ragt gerade in den Himmel, nur die Schneewehe an der Häuserfront ist noch weiß und unberührt und verbirgt eine Tür, die es bald auch nicht mehr geben wird. Ich verstelle den Spiegel wieder und hoffe, ich habe das Richtige getan. Ich sage mir, ich habe das Richtige getan. Ich habe.
Wenn ich ehrlich bin, dann möchte ich einer von diesen Helden sein, die sich eines Menschen annehmen und ihn beschützen. Vor allen Krankheiten, vor Unglücken und Flüchen bewahren. Ich wünschte, ich könnte den Mut und die Kraft aufbringen, an das Gute im Menschen zu glauben. Ich wünschte, ich wäre ein Optimist. Oder einfach jemand anders. Aber ich bin es nicht, ich werde es nie sein. Kein Held, kein Beschützer und kein Optimist.
Val schläft auf dem Rücksitz. Es ist ein klarer Wintermorgen, und die Landschaft um uns herum schimmert in einem silbernen Licht. Wenn ich mich vorbeuge, sehe ich die Sonne als trüben Kreis über den Strommasten hängen. Sie hat für mich keine Bedeutung, sie ist einfach nur eine weit entfernte Sonne, die nicht wärmt.
Ich öffne das Fenster, um die Kälte zu spüren. Wind peitscht durch das Wageninnere und macht mein Gesicht gefühllos. Dennoch lasse ich das Fenster offen, obwohl mir Tränen aus den Augen laufen und ich die Straße kaum noch sehen kann.
Ich versuche mir vorzustellen, wie ich Val in einer Anstalt besuche. Ich höre mich von Hoffnung und Zukunft reden, höre mich Mut machen. Dann stelle ich mir vor, wie Vals Blick langsam bricht, wie sie in kleine Teile zerfällt und Jahr für Jahr weniger wird. Und dann versuche ich mir vorzustellen, wie mein Leben seinen Lauf nimmt. Ohne Val. Ohne eine Spur der letzten Tage. Eine andere Frau. Neue Geschichten und Räume, eine vollkommen neue Welt. Beide Gedankengänge schmerzen. Sie passen nicht zusammen und haben ein bitteres Aroma, so daß ich Galle im Gaumen schmecke und aus dem Fenster spucke.
Ich weiß nicht, was genau ich machen werde. Ich weiß nur, was auch immer ich tue, zum Schluß hin wird es wie ein sanfter Selbstmord aussehen. Das bin ich Val schuldig. Es muß in Sanftheit enden.
ENDE
Gregor Tessnow
für die Unermüdlichkeit, mit der du meine Arbeit liest, und den Humor, ohne den das Schreiben nicht möglich wäre
&
Selim Özdogan
für die Telefongespräche, das richtige Feeling und diesen bestimmten Grad an Lässigkeit, ohne den wir Schriftsteller nicht möglich wären
&
Max Dorner
für die Begeisterung, das Wissen um mehr und das präzise Auge, ohne das eine Menge unentdeckt geblieben wäre
&
Beate Köhler
für die Tips und Korrekturen, was das Medizinische angeht, und die Geduld, ohne die man einen Schriftsteller nicht ertragen könnte &
Chuck Palahniuk, Majgull Axelsson, John Sandford für ihre Bücher, die mich in den letzten Jahren nicht losgelassen haben
&
Okkervil River, Howe Gelb, The Kingsbury Manx, Bright Eyes für ihre Musik und den perfekten Sound zum perfekten Soundtrack
&
Corinna Bernburg für die große Kunst, eine Muse zu sein, und für die Liebe und den Glauben, aus denen heraus alles entsteht