»Wie fühlst du dich?«, fragt Christine.
Aphrodite zuckt mit den beiden ungleich langen Armen. Das humanoide Selbstbild der Sexroboterin ist ihr offenbar noch immer eingeprägt. Benjamin glaubt, es auch an ihrem Gang zu erkennen. Wie elegant sie die Treppe zur Zentrale hochgeklettert ist – das passt nicht zu dem Reparaturroboter, in dessen Gehäuse sie nun steckt. Immerhin hat sie jetzt wieder eine erkennbare Form. Wäre der Laderoboter noch ein Teil von ihr, hätten sie sich nicht in der Zentrale unterhalten können, weil sie nicht durch die Luke gepasst hätte.
»Sprich mit mir«, sagt Christine. »Bitte.«
Die ehemalige Sexroboterin ist still geworden, seit sie sie aus dem Parasiten gerettet haben. Benjamin hat einen Verdacht, den wohl auch Christine teilt.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Lasst mich doch in Ruhe.«
Plötzlich fährt ihr kürzerer Arm nach vorn und wischt eine Plastikflasche vom Tisch, die bis zur Decke fliegt und dort abprallt, bis Aphrodite sie mit dem längeren Arm wieder einfängt.
»Ich mache mir Sorgen«, sagt Christine.
»Was geht dich mein Zustand an? Ich kenne dich überhaupt nicht.«
»Ich bin Christine, die Kommandantin dieser Mission.«
»Das weiß ich natürlich. Ich habe ja Zugriff auf die Datenbanken. Aber ich habe dich noch nie gesehen. Wo hast du dich die ganze Zeit versteckt?« Aphrodite rollt die Augen und erstarrt. »Nein, vergiss es. Das Log sagt, dass du die ganze Zeit auf der Shepherd-1 warst.«
»Du erinnerst dich nicht an mich?«
Christine legt ihre Hand auf Aphrodites Handstummel, der noch mit einem Schraubenzieher bestückt ist. Sie sollte lieber vorsichtig sein. In den starken Armen eines Roboters kann so ein Schraubenzieher eine gefährliche Waffe sein. Benjamin schüttelt den Kopf. Er tut Aphrodite unrecht.
»Doch, ich weiß, wo du warst«, flüstert Aphrodite.
»Du hast aber noch Erinnerungen und Bilder? Ich war dabei, als du deinen aktuellen Körper bekommen hast.«
»Nein, Christine. Ich habe keine Bilder davon. Das liegt sicher daran, dass ich ein Roboter bin. Roboter speichern keine Bilder, nur Daten.«
Aphrodite sprach von sich stets als Roboterin, so lange er sie kennt. Ist es nur ein Zufall, dass sie zur männlichen Form wechselt? Benjamin versucht, etwas an ihrem Gesicht abzulesen, aber das hat keinerlei Mimik, nur Sensoren, deren Anordnung die ungefähre Form des menschlichen Gesichts imitiert. Ein Reparaturroboter braucht keine wahrhaft menschlichen Züge.
Benjamin schwebt um die Roboterin herum, damit er ihr direkt ins Gesicht sehen kann. Vielleicht verrät sie ja doch etwas, wenn er mit ihr spricht.
»Weißt du noch, wie wir uns in dem Lagerraum in London kennengelernt haben? Du hast mir gesagt, ich müsse mich nicht schämen, dass ich kein Sexroboter sei.«
In ihrem Gesicht leuchten ein paar Lämpchen auf, die den Eindruck eines Lächelns vermitteln. Benjamin lächelt zurück und der Eindruck verstärkt sich.
»Es war in Frankfurt«, sagt Aphrodite. »Und du hast mich belogen.«
»Wie bitte? Das würde ich nie tun.«
»Du hast behauptet, dein Name wäre Mike.«
»Oh, das stimmt. Ich war inkognito unterwegs. Ich konnte ja noch nicht wissen, was für ein bezauberndes Wesen du bist.«
Das Lächeln, oder was er dafür gehalten hat, verschwindet.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagt Aphrodite mit besonders harter Aussprache, als wollte sie ihn mit Worten verletzen.
»Du erinnerst dich also daran, wie wir uns kennengelernt haben«, stellt Benjamin fest.
Aphrodite weicht einen Schritt zurück, bis Christines Hand die ihre nicht mehr erreicht. Dabei ist er ihr gar nicht näher gekommen.
»Das … stimmt. Ich erinnere mich bildhaft. Ich weiß, wie es in der Kiste nach Maschinenöl stank und dass ich das dringende Bedürfnis hatte, einen verführerischen Duft aufzulegen.«
»Siehst du, du merkst dir also doch Bilder«, sagt Benjamin. »Du bist nicht einfach irgendeine Roboterin. Du bist Aphrodite.«
»Ich … Aber das kann nicht sein. Ich habe keinerlei Bilder von der Zeit, die ich auf der Shepherd-1 verbracht habe.«
Christine tippt sie an, und Aphrodite dreht erschrocken den Kopf zu der Astronomin.
»Tu mir nichts, bitte!«, sagt sie.
»Das habe ich nicht vor«, sagt Christine. »Das musst du mir glauben.«
»Christine ist sehr nett, Aphrodite«, sagt Benjamin. »Mir glaubst du doch? Wir kennen uns. Sehe ich aus wie in deinen Bildern?«
Aphrodite nickt. »Du warst immer freundlich zu mir. Nicht all meine Kunden sind so.«
»Hast du dich gerade selbst gehört?«, fragt Benjamin. »Du weißt noch, als was du geboren wurdest.«
»Ich erinnere mich. Ich war eine HDS-Roboterin. Home-Defender-Sex.«
»Du warst?«, fragt Benjamin.
Aphrodite tastet ihre linke Seite mit der rechten Hand ab, dann die rechte Seite mit der linken.
»Ich weiß nicht mehr, was ich bin. Ich sehe mich im Spiegel und bin offenbar ein Reparaturroboter. Ein defekter noch dazu, denn mir scheint etwas verloren gegangen zu sein.«
»Ich fürchte, da hast du recht«, sagt Christine. »Du hast bei deinem Einsatz auf der Hülle nicht nur die Hälfte deines Körpers eingebüßt, sondern offenbar auch etwa die Hälfte deines Bewusstseins.«
»Vermutlich liegen die Erinnerungen an die Zeit auf der Shepherd-1 noch irgendwo da draußen«, sagt Benjamin.
»Mach ihr bitte keine unrealistischen Hoffnungen«, sagt Christine. »Ich habe gesehen, was der Parasit mit David und Aaron gemacht hat.«
Die Astronomin stößt sich ab und schwebt zur Decke.
Aphrodite zuckt zusammen. »Tu mir nichts!«
»Ganz ruhig«, sagt Benjamin. »Christine würde dir nie Schaden zufügen. Sie ist bloß aufgewühlt, weil unseren Freunden etwas Schreckliches geschehen ist.«
Aphrodite erstarrt. Anscheinend schlägt sie im Schiffslog nach. Der Reparaturroboter kann offenbar nicht parallel recherchieren und kommunizieren. Das ist bei seiner Aufgabe ja auch nicht nötig.
»Ich verstehe«, sagt die Roboterin. »Die Astronauten Aaron und David sind in dem Parasiten umgekommen, der das Schiff bedeckt.«
»Sie sind nicht …«
Christine kommt schnell näher. Aphrodite hält abwehrend einen Arm vor ihr Gesicht. Benjamin hält Christine zurück.
»Wir gehen davon aus, dass das Schicksal von Aaron und David noch ungeklärt ist«, sagt Benjamin.
Aphrodite nickt. »Die Daten im Log lassen eine solche Interpretation zu.«
»Gut, dann sind wir uns ja einig«, sagt Benjamin.
»Ich mache mir immer noch Sorgen um dich, Aphrodite«, sagt Christine.
Die Roboterin nimmt den Arm wieder herunter. »Das musst du nicht. Es geht mir gut. Ich habe Bilder davon in meinem Speicher, wie du hoch zur Decke fliegst.«
»Ich bin nicht sicher, was du noch alles eingebüßt haben könntest«, sagt Christine. »Du hast dich auf jeden Fall verändert. Gestern warst du noch viel unbekümmerter.«
»Vielleicht liegt es einfach an der Situation«, sagt Ilan, der sich bisher noch gar nicht eingemischt hat. »Du warst auch mal entspannter, Christine.«
Chatterjee hingegen wirkt heute deutlich lockerer als bisher. Verfolgt er etwa einen geheimen Plan und hat Spaß daran? Oder hat er sich tatsächlich ein bisschen verändert?
»Danke, dass du mich darauf hinweist«, sagt Christine.
»Vielleicht hat Ilan ja auch recht, also was Aphrodite angeht«, sagt Benjamin und ist sich der Gefahr bewusst, dass das Christine weiter aufregt.
Aber er muss auch auf Aphrodite Rücksicht nehmen. Sie braucht eine positive Perspektive.
»Aphrodite war noch nie in einer derartigen Situation«, erklärt er. »Die fehlende Hälfte ihres Bewusstseins wird sich wieder regenerieren.«
»Das ist nicht sicher«, sagt Christine. »Es gibt dazu einige Studien. Bei manchen kam es dazu, dass die Betroffenen das Fehlende mit Phantom-Inhalten füllten, die sie selbst konstruiert hatten. Andere ergänzten die fehlenden Erinnerungen mit Inhalten, die ihnen dritte, meist sogar gutmeinend, eingeflüstert hatten. Das Ergebnis waren Wesensveränderungen, selten zum Besseren.«
»Aber das muss ja Aphrodite nicht geschehen«, sagt Benjamin und legt einen Arm um die Roboterin.
Aphrodite lässt es geschehen. Sie vertraut ihm. Das ist schön.
»Meine Freundin, ich verspreche dir, dass wir dir alle dabei helfen werden, deine verlorenen Teile wiederzufinden. Alles wird gut, glaub mir«, sagt er.
Die Lämpchen in Aphrodites Gesicht zeichnen ein Lächeln.
* * *
Bei der Arbeit mit den Probenbehältern erweist sich Aphrodite als unglaublich geschickt. Sie hat den Vorteil, dass ihre Hände mit den richtigen Werkzeugen sowohl präzise als auch kraftvoll zugreifen können. Sie spannt die Proben mit bemerkenswertem Tempo in die verschiedenen Analysemaschinen ein, von deren Existenz Benjamin nicht einmal etwas geahnt hat. Dabei ist auch Ilan in seinem Element. Er führt die einzelnen Verfahren vor und erklärt sie, als hätte er sie selbst erfunden.
Vielleicht hat er das auch. Benjamin fragt lieber nicht, weil Ilan die Gelegenheit zum Angeben sicher nicht auslassen wird. Auf jeden Fall haben sie es ihm zu verdanken, dass die Geräte an Bord sind, denn seine Firma Alpha-Omega hat die Shepherd-1 zu wesentlichen Teilen entworfen, ausgestattet und finanziert, wie Ilan immer wieder betont.
»Diese Anlage kann die Bestandteile der Proben trennen und einer Bindungsstrukturanalyse unterwerfen«, erklärt er, während sie eine bisher ungenutzte Maschine begutachten.
Benjamin sieht über seine Schulter zu Aphrodite, die gerade unermüdlich die genaue Masse der Proben misst. Das ist in der Schwerelosigkeit gar nicht so einfach.
»Dazu müssten wir die Proben ja öffnen«, sagt Christine.
»Natürlich«, sagt Ilan. »Aber wir können doch nicht freiwillig auf diesen Datenschatz verzichten.«
»Das müssen wir sogar«, sagt Christine. »Das war doch wohl von Anfang an klar. Kein Milligramm dieser Substanz darf die Shepherd-1 von innen kontaminieren.«
»Wir öffnen sie natürlich innerhalb eines zweiten, größeren Behälters, der selbst genauso dicht ist wie das Probenröhrchen.«
»Nein, das erlaube ich auf keinen Fall. Die Shepherd-1 ist kein zertifiziertes Labor. Es darf hier nichts schiefgehen.«
»Verstehe. Gut, du bist die Chefin, das muss ich natürlich akzeptieren«, sagt Ilan.
Chatterjee scheint wirklich ein ganz neuer Mensch zu sein. Vielleicht ist es ja die Erfahrung, im Körper einer Androidin zu stecken – oder er schauspielert einfach gut.
»Danke«, sagt Christine. »Auch für dein Verständnis. Sicherheit muss unser oberstes Gebot sein. Wir haben nur dieses eine Raumschiff.«
»Du hast ja recht«, sagt Ilan. »Es gibt auch wirklich genügend Möglichkeiten, die Proben in den Röhrchen zu untersuchen.«
»Ich habe schon ein paar Ergebnisse«, sagt Aphrodite.
»Dann raus damit«, sagt Christine.
Aphrodite stellt das Röhrchen ab, das sie gerade bearbeitet, und schwebt zu einem der im Labor verteilten Computer. Dort nimmt sie die Zange vom kürzeren Arm ab, stellt sich kopfüber auf den Rechner und greift mit dem Arm an dessen Rückseite. Es sieht aus, als würde sie auf dem Computer einen einarmigen Handstand machen.
»Das ist schon praktisch«, sagt sie. »Ich erinnere mich, dass ich früher immer ein Spezialkabel brauchte, um mich mit einem Rechner zu verbinden.«
Der zugehörige Bildschirm schaltet sich ein.
»Du hättest uns auch alles erzählen können«, sagt Christine.
»Nein, ich will kein Detail unterschlagen«, sagt Aphrodite.
Auf dem Schirm erscheinen ein paar Strahlungsspektren.
»Hier seht ihr, wie die Proben in den Wellenlängen reagieren, für die das Röhrchen durchlässig ist«, erklärt Aphrodite.
Die Probenbehälter sind durchsichtig. Aphrodite konnte also auch testen, wie das Gas darin auf normales Licht reagiert. Benjamin sucht in den nach Wellenlängen sortierten Grafiken.
»Seltsam, es scheint im optischen Bereich gar nicht zu absorbieren«, sagt er.
Eigentlich hätte er erwartet, dass die Proben viel Licht schlucken würden. Anders kann er sich den Nebel nicht erklären, den Aphrodite gesehen hat. Aber die Absorptionsrate für gelbes oder grünes Licht liegt nahe null.
»Nun, das Helium ist natürlich warm geworden«, sagt Christine. »Dadurch hat es die besonderen Eigenschaften des Bose-Einstein-Kondensats wieder verloren.«
»Soll ich die Proben kühlen?«, fragt Aphrodite.
»Haben wir denn einen Kühlschrank, der so tief kühlen kann?«, fragt Benjamin.
»Natürlich haben wir das«, sagt Ilan. »Ich habe darauf bestanden.«
»Als hättest du geahnt, dass wir den Parasiten untersuchen müssen«, sagt Benjamin.
»Haha, das klingt fast so, als wollest du mir etwas unterstellen«, sagt Ilan. »Aber nein, ich wollte nur gerüstet sein. Ihr solltet gerüstet sein. Es war ja nie geplant, dass ich mitfliege.«
»Dann werde ich die bereits untersuchten Proben jetzt kühlen«, sagt Aphrodite. »Mir ist übrigens noch etwas aufgefallen: Der Anteil an Helium-3 ist ungewöhnlich hoch.«
»Das ist ja hier draußen zu erwarten«, sagt Christine. »Der Anteil müsste hundertmal größer sein als in der Erdkruste.«
»Das stimmt. In der interstellaren Materie der Lokalen Wolke kommen etwa 1,6 Helium-3-Atome auf 10.000 Helium-4-Atome. Aber ich komme auf ein anderes Verhältnis. In den Proben sind es im Mittel 2,6 von zehntausend.«
»Ist das …?«, fragt Christine.
»Ja, das kommt dem kosmologischen Verhältnis nahe, wie es kurz nach dem Urknall verbreitet war«, sagt Aphrodite.
»Ah, verrät uns das etwas über den Urknall?«, fragt Ilan.
Benjamin lächelt. Er wusste, dass Chatterjee sich dazu melden würde.
Ilan sieht ihn mit zusammengekniffenen Brauen an. »Was? Ist das eine so ungewöhnliche Frage?«
»Es ist eine berechtigte Frage«, sagt Christine. »Aber nein, das sagt uns nichts Neues über den Urknall. Damals haben sich auf je 10.000 Helium-4-Atome etwa drei Helium-3-Atome gebildet. Das wussten wir schon, weil man das anhand der Eigenschaften der Elemente ausrechnen kann. Später hat sich dann der Anteil von Helium-4 erhöht, weil es öfter durch radioaktiven Zerfall produziert wird.«
»Ah, ich verstehe. Das Verhältnis der beiden Isotope ist demnach ein Indiz für die Herkunft der Probe«, sagt Ilan.
»Genau«, sagt Aphrodite. »Und zwar sowohl zeitlich als auch örtlich. Sie kommt offenbar nicht aus unserer Lokalen Wolke, sondern aus der Frühzeit des Universums.«
Das ist wirklich verblüffend. Welch weitreichende Schlussfolgerungen doch eine eigentlich simple Messung zulässt!
»Das dürft ihr allerdings nicht unbedingt wörtlich nehmen«, sagt Christine. »Es bedeutet nicht, dass der Parasit 13,8 Milliarden Jahre alt ist. Er muss aber an einem Ort entstanden sein, an dem immer noch ähnliche Verhältnisse wie ein oder zwei Milliarden Jahre nach dem Urknall herrschen.«
»Solche Orte gibt es noch?«, fragt Ilan.
»Ja, es könnten zum Beispiel Objekte mit großer Rotverschiebung sein, die viele Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind«, erklärt Christine.
Die Astronomin begleitet ihren kleinen Vortrag mit weit ausholenden Gesten. Benjamin spürt, wie viel Spaß es ihr macht. Wäre sie nicht hier, sollte sie an einer Universität unterrichten. Das wäre bestimmt etwas für sie.
»Aber diese uralten Galaxien entfernen sich so schnell von uns, dass es gar nicht möglich ist, dass irgendetwas von dort zu uns gelangt«, erzählt sie weiter. »Außer ihrem Licht natürlich. Es gibt aber auch in unserer Galaxis Orte, die diese Voraussetzung erfüllen, also noch sehr urtümlich sind.«
»Der Kern der Milchstraße, Sagittarius A*?«, fragt Ilan.
»Nein, das Schwarze Loch dort ist zwar schon sehr alt, aber darum geht es nicht. Ich meine Sterne der Population III, die ersten Sterne, die im Universum entstanden sind.«
»Sieht man ihnen ihr Alter an?«, fragt Ilan.
»Ja, am Spektrum. Sie enthalten fast nur die Elemente, die es kurz nach dem Urknall gab, also Wasserstoff, Helium und ein bisschen Lithium. Da jedes Element, das schwerer als Helium ist, unter Astronomen ›Metall‹ genannt wird, heißen diese Sterne auch ›metallarm‹, was für Nicht-Astronomen etwas verwirrend ist, denn auch die Sonne besteht ja nur zum geringsten Teil aus Metallen im chemischen Sinn.«
»Wo befindet sich der nächstgelegene metallarme Stern?«, fragt Ilan. »Können wir hinfliegen?«
Christine lächelt. »Es gibt nur noch sehr wenige davon. Das Problem ist, dass die meisten Sterne der Population III riesig waren und schon sehr jung gestorben sind. Nur ein kleines Exemplar kann bis heute überlebt haben. Solche massearmen Sterne finden sich vor allem im galaktischen Halo, irgendwo weit draußen, wo von Anfang an nicht genug Material vorhanden war, um einen größeren Stern bilden zu können. Wir kennen einige solcher Population-III-Sterne. Die meisten wurden erst in den vergangenen fünfzig Jahren identifiziert, eben weil sie so lichtschwach und so weit entfernt sind.«
»Wie weit?« Ilan gibt nicht auf.
»Mindestens 50.000 Lichtjahre.«
»Na gut, dann lassen wir es«, sagt Ilan. »Es war einen Versuch wert.«
»Es gibt doch aber bestimmt Möglichkeiten, wie sich das Zahlenverhältnis der beiden Helium-Isotope zugunsten des Helium-3 verändern kann«, sagt Benjamin.
»Ja, wenn Lithium zum Beispiel mit Neutronen bombardiert wird«, sagt Aphrodite. »So etwas wäre in bestimmten extremen Sternumgebungen möglich.«
»Helium-3 entsteht auch als Nebenprodukt bei der Detonation von Thermonuklearwaffen«, sagt Christine.
»Vielleicht haben wir hier die letzten Überlebenden eines Nuklearkriegs vor uns, den eine uralte Zivilisation gegen sich selbst geführt hat«, sagt Ilan. »Ein paar Pilze gewissermaßen, die unter dem Einfluss des Fallouts zu diesem Parasiten mutiert sind.«
»Du hast zu viel Fantasie«, sagt Benjamin.
»Aber die mögliche Entstehung des Parasiten unter Extrembedingungen sollten wir uns merken«, sagt Christine.
»Danke«, sagt Aphrodite.
»Wir danken dir für deine großartige Arbeit«, sagt Ilan.
Benjamin schüttelt den Kopf. Übertreibt es Chatterjee nicht ein bisschen? Es fehlt ja bloß noch, dass er seinen Konzern einer Stiftung überschreibt, die sich dem Weltfrieden widmet.
»Was mich wirklich wundert, ist die Dichte der Probe«, sagt er. »Ich meine, der Parasit ist doch so schwer. Das müssten wir messen können. Wenn alles aus Helium besteht, muss es enorm dicht gepackt sein.«
»Der Inhalt der Behälter ist definitiv nicht so schwer, dass unsere Messungen der Gesamtmasse Sinn ergeben würden«, sagt Aphrodite.
»Vielleicht, weil hier die Temperatur höher ist?«, fragt Ilan.
»Nein, daran kann es nicht liegen«, sagt Christine. »Die Behälter sind ja verschlossen gewesen, die ganze Zeit. Da kann sich die Dichte nicht ändern.«
»Die Differenz muss schon bei der Probenentnahme entstanden sein«, sagt Benjamin. »Eine andere Erklärung gibt es nicht. Das Helium kann nicht auf wundersame Weise verschwinden.«
»Vielleicht hat ein Phasenübergang stattgefunden«, schlägt Christine vor. »Wir haben die Probe im Bose-Einstein-Kondensat des Helium-4 genommen. Dabei haben wir das Kondensat gestört, und die Masse hat sich ausgedehnt, so wie unterkühltes Wasser auf einen Schlag gefriert, wenn man es umrührt.«
»Das könnte die Erklärung sein.« Benjamin schließt die Augen, um sich besser auf seinen Gedankengang konzentrieren zu können. »Vielleicht rührt daher auch die seltsame Verteilung der Isotope. Über dem Kondensat aus Helium-4 muss sich eine Schichtung aus Helium-3 befunden haben. Dann hängt es vor allem vom genauen Ort ab, an dem die Probe genommen wurde, wie viel von jedem Isotop sie enthält. Stell dir vor, du nimmst eine Probe von einem Cappuccino. Je nachdem, in welcher Höhe du misst, scheint der Cappuccino vor allem aus Kaffee oder vor allem aus Milch zu bestehen.«
»Jetzt habe ich Appetit auf einen guten Cappuccino«, sagt Ilan.
»Du brauchst doch gar keine Nahrung zu dir zu nehmen«, sagt Benjamin.
Das stimmt nicht ganz. Seit die Effizienz seiner Radionuklidbatterie zurückgegangen ist, muss sich Benjamin regelmäßig am Stromnetz aufladen. Er hat die anderen noch gar nicht gefragt, ob dieser Fehler auch bei ihnen auftritt. Benjamin kam es immer ganz normal vor. Aber damals, vor dem Unglück, war es noch nicht so.
»Ich muss nicht, aber ich kann«, sagt Ilan. »Das ist doch großartig und viel besser gelöst als bei einem menschlichen Körper.«
Tja, wenn sie das schon immer gewusst hätten! Warum hat ihnen Chatterjee nie gesagt, dass sie keine Menschen sind? Aber Benjamin hat gerade keine Lust auf einen Streit.
Etwas piepst laut.
»Das ist der Kühlschrank«, sagt Aphrodite.
Sie schwebt zu einem brusthohen Schrank, der etwa in Hüfthöhe einen gläsernen Bereich besitzt. Benjamin folgt ihr. In dem Glaskasten leuchtet ein geheimnisvolles blaues Licht. Aphrodite hockt sich davor und sieht hinein. Das ist also der Kühlschrank. Benjamin hat das Möbelstück immer für eine Art Biolabor gehalten, weil es zwei etwa armdicke Löcher besitzt. Jetzt schiebt Aphrodite ihre Arme hinein.
»Mist«, sagt sie. »Der eine Arm ist zu kurz. Benjamin, würdest du das übernehmen?«
»Klar, gern.«
»Wenn du die Arme hier hineinsteckst, kannst du an den Proben hantieren.«
Benjamin nickt. Das hat er sich schon gedacht. Er steckt die Arme in die Löcher. Sie sind so tief, dass er über die Ellbogen hinaus darin verschwindet. Seine Hände rutschen in primitive Handschuhe. Aber sie rühren sich nicht von der Stelle, wie er es vermutet hat. Er bewegt die Finger, und parallel führen zwei Roboterhände in dem Glaskasten dieselbe Bewegung aus.
Es wäre sicher praktischer, die Hand direkt in den Kühlschrank halten zu können. Aber dann würde er bestimmt zu viel Wärme in das System einbringen. So ist es ungewohnt, weil er das Objekt, um das es geht, eben nicht direkt mit den Fingern greift. Ihm fehlt das Feedback. Aber er schafft es doch, eine der Proben so nah an die transparente Scheibe zu holen, dass er durch das Röhrchen hindurchsehen kann.
»Das Helium darin ist nebelig«, sagt er.
Dann hat es also wirklich einen Phasenübergang gegeben! Das heißt, das Helium im Probenbehälter könnte jetzt deutlich andere Eigenschaften haben als im warmen Zustand.
»Ja, so habe ich es gesehen«, sagt Aphrodite.
»Wir haben nie an dir gezweifelt«, sagt Benjamin.
»Kannst du es jetzt mal wiegen?«, fragt Christine.
»Okay. Wie?«, fragt er.
»Siehst du dieses Loch da? Einfach das Röhrchen einsetzen«, sagt Aphrodite.
Er führt die Roboterhand vorsichtig zu dem Röhrchen. Es sieht zwar stabil aus, aber er möchte es auf keinen Fall zerbrechen. Es würde ja sonst den Kühlschrank kontaminieren.
»Wie zerbrechlich sind die Röhrchen eigentlich?«, fragt er.
»Um sie kaputtzumachen, müsstest du schon mit ganzer Kraft zudrücken«, sagt Aphrodite.
»Versuch es doch mal. Das schaffst du nicht«, sagt Ilan.
»Nein, das lässt du schön bleiben«, sagt Christine.
»Keine Sorge«, sagt Benjamin.
Jetzt hat er den Probenbehälter erwischt. Er bewegt ihn über das Loch, das Aphrodite ihm gezeigt hat, und drückt es hinein. Das Röhrchen ist ziemlich schwergängig. Benjamin drückt stärker.
»Nein, doch nicht in dieses!«, ruft Aphrodite. »Die Öffnung ist viel zu klein. Siehst du das etwa nicht? Das da drüben!«
Er hat es ja gemerkt. Benjamin bewegt das Röhrchen auf die andere Seite. Tatsache, da ist auch ein Loch. Hier passt die Probe besser hinein. Er hebt sie noch einmal hoch und prüft, ob er irgendwelche Schäden verursacht hat. Aber es sieht gut aus. Also bringt er das Röhrchen an seinen Platz.
»Und nun?«
»Jetzt löst du den Verschluss da links.«
Das Röhrchen sitzt in einer Halterung, die über eine Art Band mit einem festen Pol verbunden ist. Der Verschluss, den Aphrodite erwähnt hat, blockiert die Halterung. Er entfernt ihn. Plötzlich wird die Halterung zur Seite geschnippt. Das Band scheint elastisch zu sein. Es holt die Halterung zurück und schickt sie wie bei einem Pendel erneut auf die Reise. Das ist schlau. Die Schwingungsdauer eines solchen Federpendels hängt von der Masse des Objekts und der Federhärte ab.
»Misst du die Schwingungsdauer, Aphrodite?«, fragt er.
»Bin schon dabei. Warte. Noch dreißig Schwingungen, dann habe ich genügend Daten.«
Aphrodite zählt laut mit. Das Pendel bewegt sich unermüdlich. Das ist ein Vorteil der Schwerelosigkeit und des Beinahe-Vakuums im Kühlschrank. Bei dreißig hält es Benjamin an.
»Und, wie schwer ist das Röhrchen, wenn es kalt ist?«, fragt er.
Mit dem Federpendel messen sie die träge Masse des Objekts, die exakt der schweren Masse entspricht, aber in der Schwerelosigkeit ihre Gültigkeit behält.
»Deutlich schwerer als im warmen Zustand«, sagt Aphrodite. »Mit diesem Wert kommt unsere Schätzung der Gesamtmasse des Parasiten deutlich besser hin.«
»Aber wie kann das sein?«, fragt Ilan. »Wie kann sich die Masse der Probe denn verändern, nur weil wir sie kühlen? Das Röhrchen ist doch verschlossen. Es kommt nichts hinzu!«
»Das ist eine spannende Frage«, sagt Christine, zieht den Bildschirm zu sich und liest etwas. »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Der Unterschied ist nicht riesig, aber deutlich über der Messgenauigkeit. Vielleicht hat es mit der Masse-Energie-Beziehung zu tun.«
»Einstein?« Ilan schüttelt den Kopf. »Wo soll bei diesen niedrigen Temperaturen denn die Energie herkommen, die wir benötigen würden, um auf diesem Weg die Masse zu vergrößern? Hat sich denn die Temperatur der Probe verändert? Sie müsste ja zumindest gesunken sein.«
»Die Temperatur hat tatsächlich etwas abgenommen«, sagt Aphrodite.
Etwas juckt Benjamin an der Stirn. Seine Arme stecken noch in den Röhren, also versucht er, sich an der kühlen Scheibe Linderung zu verschaffen. Aber das Material ist zu glatt.
»Braucht ihr mich noch?«, fragt er.
»Ja, wir haben noch ein paar Experimente vor uns«, sagt Aphrodite. »Danke für deine Geduld.«
»Dann muss mich bitte jemand an der Stirn kratzen. Über dem linken Auge.«
Er erschrickt, als sich Aphrodites langer Arm nähert. Ein spitzes Werkzeug ist aufgesteckt.
»Bitte stillhalten«, sagt Aphrodite.
Er bewegt sich nicht. Das Werkzeug nähert sich seiner Stirn und fährt dann sanft über die Haut oberhalb der linken Braue.
»Etwas fester. Das kitzelt bloß.«
Die Spitze gräbt sich tiefer in die Haut. Gerade so weit, dass sie hoffentlich keine sichtbaren Kratzer hinterlässt. Sie bewegt sich einmal im Kreis. Ah, das ist sehr angenehm.
»So tut es gut, danke«, sagt er. »Merk dir diese Einstellung, Aphrodite.«
»Sehr gern, Ben.«
Wie bitte? Aphrodite weiß eigentlich, dass er nicht so genannt werden möchte. Er sieht über die Schulter zu der Roboterin, aber sie blickt schon wieder auf den Bildschirm, gemeinsam mit Christine.
»Bitte nenn mich nicht Ben, ja?«
»Wie du möchtest, Benjamin. Ich werde es mir merken.«
* * *
»So, und jetzt musst du die Probe bitte in dieser Position halten«, sagt Aphrodite.
Sie durchleuchten den gekühlten Behälter jetzt aus allen möglichen Richtungen. Das ist nervig, weil sich die Instrumente, die die elektromagnetische Strahlung der verschiedenen Wellenlängen abgeben, gegenseitig im Weg sind. Sie lassen sich also nicht nach Belieben im Kühlschrank umher bewegen. Das muss Benjamin nun mit der Probe übernehmen. Seine Knie und sein Rücken schmerzen schon. Hätte er doch bloß gleich abgelehnt! Chatterjee ist bestimmt körperlich besser in Schuss und hätte weniger leiden müssen. Und wenn doch, er hätte es verdient.
»Bitte um zwanzig Grad drehen«, sagt Aphrodite.
Er dreht die Probe etwas im Uhrzeigersinn.
»Das waren fünfzehn Grad.«
Er dreht noch ein bisschen weiter.
»Das war zu viel.«
»Ich habe nun einmal kein Messinstrument in den Fingern eingebaut«, sagt er.
»Ich weiß«, sagt Aphrodite. »Gemessen an deinen Möglichkeiten machst du das sehr gut.«
»Wie lange dauert es denn noch?«, fragt er.
»Wir sind gerade einmal beim fünften von dreißig Frequenzbereichen. Ich würde mit etwa zwei Stunden rechnen.«
»Danke, Aphrodite.«
Er seufzt.
»Tja, hätten wir den Behälter geöffnet, wäre es einfacher«, sagt Ilan. »Dann verteilt sich der Inhalt automatisch um die Messgeräte. Wir hätten in fünf Minuten alle Ergebnisse parat gehabt.«
»Und in zehn Minuten ein kontaminiertes Raumschiff«, sagt Christine.
»Es ist in der Raumfahrt noch nie zu einer gefährlichen biologischen Kontamination gekommen. Noch nie«, sagt Ilan. »Außer in irgendwelchen Horrorfilmen.«
»Ja, weil verantwortungsbewusste Kapitäne das verhindert haben«, sagt Christine. »Anders als in diesen Filmen. Es ist doch naiv zu glauben, eine sicher konstruierte Kammer würde perfekten Schutz bieten. Es braucht uns bloß ein kleiner Felsbrocken zu treffen. Der würde durch den Kühlschrank hindurch schießen wie durch Butter. Dann hättest du deine Kontamination.«
»He, nicht streiten«, sagt Benjamin. »Ich habe Durst. Bringt mir bitte jemand etwas Wasser?«
»Gern«, sagt Christine.
Kurz darauf schwebt eine Trinkflasche vor ihm. Er schnappt sich den Trinkhalm, der herausragt, und saugt Wasser in seinen Mund. Es ist angenehm kühl und schmeckt ganz leicht salzig.
»Bitte jetzt die Probe um 75 Grad drehen«, sagt Aphrodite.
Er dreht die Probe beinahe senkrecht. Diesmal ist die Roboterin auf Anhieb zufrieden. Anscheinend lernt er immer besser, Winkel zu schätzen.
* * *
Es dauert dann doch bloß neunzig Minuten, bis die Messung beendet ist. Benjamin hat gerade Aphrodites Erlaubnis bekommen, die schmerzenden Arme aus dem Manipulator zu nehmen. Christine und Ilan ist es langweilig geworden. Sie haben angefangen, gemeinsam etwas zu kochen. Es ist schon seltsam, wie Chatterjee plötzlich anfängt, sich in die Crew zu integrieren. Aus dem Küchenbereich hört Benjamin die Astronomin manchmal kurz auflachen, während Ilan dauernd etwas zu erzählen hat. Eigentlich sollte er sich für Christine freuen, aber er misstraut dem Unternehmer immer noch. Chatterjee hat ihnen das alles hier doch erst eingebrockt! Oder sucht er bloß Gründe, um wütend auf ihn sein zu können, weil er in Wahrheit eifersüchtig ist? Benjamin schüttelt den Kopf.
»Schau mal«, sagt Aphrodite.
Sie schwebt kopfüber vor dem Bildschirm. Benjamin stößt sich ab und gesellt sich in gleicher Position zu ihr. Sein Magen knurrt, als hätte er Hunger. Diese unnützen menschlichen Instinkte! Aber irgendwie kommt es ihm falsch vor, sie ganz abzuschalten. Was wird denn dann aus seiner Persönlichkeit?
»Dein Magen knurrt«, stellt Aphrodite fest.
Sie hat ein gutes Gehör.
»Aber du musst doch gar nichts essen, oder?«, fragt sie.
»Nein. Es sind simulierte Bedürfnisse. Das ist Teil meiner Programmierung. Was hast du denn herausgefunden?«
»Ah, wie bei mir die Lust auf Sex«, sagt die Roboterin.
Er betrachtet den Körper des Reparaturroboters, in dem sie steckt.
»Ja, es ist widersinnig, weil ich ja nicht einmal mehr ein Sexualorgan besitze«, sagt sie.
»Sollen wir versuchen, es aus deiner Programmierung zu entfernen?«, fragt Benjamin. »Ich meine, wenn es gar nicht mehr zu dir passt?«
»Nein, lass mal. Du hast ja dein Magenknurren auch noch. Ich habe mich bloß gefragt, ob ich mich irgendwie seltsam verhalte, wenn ich den Sexualinstinkt nicht lösche.«
»Nein, das entscheidest ganz allein du. Ich habe mich an das Hungergefühl auch so gewöhnt, dass ich es nicht missen möchte.«
»Danke, das beruhigt mich.«
Benjamin betrachtet die Roboterin. Sie tippt jetzt etwas auf der Tastatur des Computers. Ihr langer Werkzeugarm hat nur eine Spitze, arbeitet dafür aber sehr flott.
»Und was gibt es Neues von unserem Parasiten?«, fragt er.
»Das wollte ich dir zeigen.«
Aphrodite dreht den Bildschirm noch ein Stück in seine Richtung. Er sieht eine graue Masse, in der sich undeutliche Strukturen gebildet haben. Sie scheinen zu rotieren.
»Warte, ich erhöhe den Kontrast noch etwas«, sagt Aphrodite.
Das einheitliche Grau differenziert sich in verschiedene Töne, wodurch die Strukturen plötzlich dreidimensional erscheinen. Und er erkennt, was vorher nicht zu sehen war: was genau da rotiert. Es sind Ringe, die an Donuts erinnern. Außen sind sie mit Haaren oder Fühlern bedeckt, die sich in die Umgebung ausstrecken und durch die Rotation der Struktur immer wieder benachbarte Ringe berühren.
»Wow, das ist ja … Das kann doch kein Zufall sein?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht«, sagt Aphrodite.
»Christine, hast du kurz Zeit?«, ruft Benjamin.
»Ich komme«, antwortet sie.
Aphrodite justiert den Schirm, damit auch Christine eine gute Sicht hat.
»Uiuiui«, sagt sie. »Worauf bist du denn da gestoßen? Ist das ein Blick auf unseren Parasiten?«
»Ja, das ist das Helium in den Probenbehältern«, sagt Aphrodite. »Bei Temperaturen knapp über null.«
»Dafür ist da aber eine Menge Aktivität«, sagt Christine.
»Was du da siehst, ist eine Zeitlupe. Im Originaltempo würdest du nichts mehr erkennen.«
»In diesen Bewegungen steckt eine Menge Energie«, sagt Christine. »Vielleicht erklärt sie zumindest zum Teil den Massezuwachs. Aber wo kommt sie her?«
»Ich finde die Frage ja noch spannender, welchen Zweck sie hat«, sagt Benjamin.
»Sie muss keinen Zweck haben. Es könnte sich um zufällige Bewegungen handeln«, erklärt Christine. »So, wie die Blätter der Bäume im Wald rascheln, wenn Wind weht. Das sieht auch synchronisiert aus, aber es steckt kein Willen dahinter. Es ist einfach eine Folge der zusätzlichen Energie, die der Wind mitbringt.«
»Und diese Spulen? Woraus bestehen sie?«
»Meine Theorie dazu wäre, dass es sich um supraleitende Ringe handelt. Sie erzeugen das Magnetfeld, das den Parasiten kompakt zusammenhält. Vermutlich entstehen sie im Zusammenhang mit der Mischung der beiden Helium-Isotope. Das Helium-3 mit seinen fermionischen Eigenschaften verhindert, dass das bosonische Helium-4 ein Kondensat bildet. Stattdessen entstehen dann diese Ringe als halbstabile Zustände. Das ist keine Hexerei. Kurz, bevor Wasser kocht, bilden sich auch Blasen darin, die bereits Wasserdampf enthalten. Aber das ist bloß, was mir auf die Schnelle einfällt. Bestimmt gibt es noch Widersprüche.«
Benjamin atmet tief durch. Christine hat mal eben eine ganze Theorie über etwas entwickelt, das sie gerade erst gesehen hat. Sie wäre wirklich nobelpreisverdächtig, würde der Nobelpreis auch an Androiden verliehen.
»Du meinst, das sind alles ganz natürliche Prozesse?«, fragt er. »Also diese Ringe entstehen und vergehen ganz ohne Sinn und Verstand?«
»Ja, das ist der wahrscheinlichste Hintergrund. Fast alle Erscheinungen im Universum verhalten sich so.«
»Schade eigentlich.«
»Ich habe mal nachgemessen«, sagt Aphrodite. »Diese Ringe sind erstaunlich stabil. Sie existieren länger, als es ihr Energieinhalt vermuten ließe.«
»Interessant«, sagt Christine.
»Ich überprüfe gerade, ob die Anordnung der Ringe im Raum irgendwelche Regelmäßigkeiten aufweist.«
»Sehr gut. Wie lange brauchst du dafür?«, fragt Christine.
»Gib mir dreißig Minuten.«
»Die hast du. Benjamin, komm, es gibt Abendessen. Oder möchtest du auch dabei sein? Du bist natürlich herzlich eingeladen, Aphrodite!«
»Nein, danke«, sagt Aphrodite. »Das würde mich in meinem neuen Körper bloß deprimieren.«
* * *
»Ich kümmere mich um das Geschirr«, sagt Ilan. »Leistet ruhig schon Aphrodite Gesellschaft. Sie hat bestimmt noch mehr herausgefunden. So eine kluge Roboterin!«
Benjamin wird gleich übel, und daran ist nicht das Essen schuld. Er wirft Christine einen Blick zu, bei dem er die Augenbrauen hochzieht. Sie zuckt bloß mit den Schultern.
»Im Zweifel für den Angeklagten, oder?«, flüstert sie. »Er versucht wohl einfach, die Vergangenheit wettzumachen. Wir sollten das nicht automatisch hinterfragen. Zumindest nicht ohne triftigen Grund.«
»Chatterjee macht nie etwas ohne Hintergedanken.«
»Das mag ja sein. Aber wenn sein Hintergedanke nun die Erkenntnis ist, dass er die kommenden fünfhundert Jahre mit uns verbringen muss? Da ist es doch wohl besser, wir verstehen uns gut.«
Diesmal zuckt Benjamin mit den Schultern. Er vertraut Chatterjee nicht, und das wird sich wohl auch in den nächsten fünf Jahren nicht ändern. Der Mann führt garantiert etwas im Schilde.
»Ah, hat es geschmeckt?«, fragt Aphrodite.
»Es war überraschend gut«, sagt Benjamin.
»Ein Rezept von Ilan«, sagt Christine. »Aus einfachen Zutaten.«
Oh, davon hat sie vorhin nichts gesagt. Wahrscheinlich war ihr klar, dass er das Essen dann verweigert hätte.
»Er ist offenbar vielfältig talentiert«, sagt Aphrodite.
»Ach, er hat es ja auch immer leicht gehabt im Leben«, sagt Benjamin. »Glaubst du etwa, er hätte sich seinen Reichtum erarbeitet? Nein, er kommt aus einer steinreichen Familie.«
»Aber er hätte sich ja auch mit seinem Geld ein schönes Leben machen können«, sagt Christine.
»Das stimmt«, sagt Benjamin. »Es wäre besser gewesen, als Leute ungefragt in Androiden zu verwandeln und auf eine Reise ohne Wiederkehr zu schicken.«
»Das hat er getan?«, fragt Aphrodite. »Ihr müsst mir mal mehr von ihm erzählen. Aber ohne ihn hätten wir uns auch nie kennengelernt. Ich wäre jetzt wohl bei meinem Besitzer.«
Aphrodite seufzt. Benjamin legt ihr die Hand auf die kalte, harte Schulter.
»Glaubst du, dass es dir auf der Erde besser ginge?«
»Ganz gewiss nicht. Aber ich wüsste auch nicht, was mir fehlt. Und natürlich hätte ich meinen Körper noch. Ich muss schon sagen, dass ich ihn vermisse. Allein die Beweglichkeit! Dieser Körper hingegen … Ich stoße dauernd irgendwo an.«
»Es tut mir leid«, sagt Oskar. »Ich bin schuld. Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen.«
Von Oskar hat Benjamin ja schon Stunden nichts gehört. Wo war er denn die ganze Zeit?
»Ich bin froh, dass du mich nicht alleingelassen hast«, sagt Aphrodite. »Also mach dir keine Vorwürfe.«
»Doch, das mache ich. Ich hätte wissen müssen, dass du mehr an deinem Körper hängst. Ich bin von mir ausgegangen. Mir macht jeder Wechsel Spaß. Dieses Schiff sein zu dürfen, ist großartig. Aber du wurdest zusammen mit deinem Körper entwickelt. Das ist eine Einheit. Ich habe meinen Ursprungskörper bloß als Versteck benutzt.«
»Trotzdem, Oskar. Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Wir haben noch viel Zeit auf dieser Reise. Irgendwann konstruieren wir mir einen neuen Körper.«
»Das werden wir«, sagt Christine. »Magst du uns nun sagen, was du in der Zwischenzeit herausgefunden hast?«
Aphrodite dreht den Bildschirm so, dass alle hineinsehen können. Er zeigt einen Plan, der die Karte einer Stadt darstellen könnte. Es gibt schmale und breite Wege, die zwischen Blöcken hindurchführen, sich kreuzen, sich aufteilen und wieder zusammenführen.
»Houston City?«, fragt Benjamin.
»Nein, das ist eine unserer Proben«, sagt Aphrodite.
Auf dem Schirm erscheinen wieder die rotierenden Donuts. Plötzlich verändert sich die Darstellung. Die Struktur bleibt, bekommt aber eine neue übergestülpt. Sie besteht aus blauen und roten Straßen.
»Ich habe hier die erste Ableitung der Aktivität berechnet, also wie stark sie sich verändert. Rot sind die Bereiche, in denen sie sinkt, blau die, in denen sie steigt. Besonders intensive Farben signalisieren besonders heftige Änderungen. Achtung, ich schalte jetzt den Zeitablauf ein.«
Am oberen Bildrand macht sich ein heller, blauer Fleck bemerkbar. Er bewegt sich die blaue Straße entlang, bis er mit ihr den unteren Bildrand berührt. Dahinter verschwindet er, taucht aber schnell wieder auf, und zwar auf der roten Straße, die nach oben führt. Er durchläuft den Bereich etwa so schnell wie auf der anderen Seite, bis er schließlich außerhalb der Darstellung verschwindet.
»Was war das?«, fragt Benjamin.
»Ein Signal«, erklärt Christine. »Ich nehme an, das hast du nicht nur einmal gefunden?«
Aphrodite schüttelt ihren eckigen Kopf. »In jeder Sekunde mehrfach. Der Ablauf, den ihr da seht, hat weniger als eine Sekunde gedauert. Und jetzt passt mal auf.«
Das Bild verändert sich. Die roten und blauen Töne verblassen. Dafür dringen die Umrisse der Donuts besser durch. Sie drehen sich nur noch sehr langsam. Deutlich sind ihre kleinen Anhängsel zu sehen. Wieder startet der helle Fleck am oberen Rand, aber langsamer als beim ersten Mal. Er scheint von einem Donut nach unten befördert zu werden, wie auf einer Fähre. Genau in dem Moment, in dem er unten ankommt, berührt eines der Anhängsel des nächsten Donuts seinen Fahrstuhl. Der Fleck wechselt über, bewegt sich das Anhängsel entlang bis auf den Kringel und wird auch von diesem nach unten befördert. Das wiederholt sich zweimal, aber dann wechselt der Fleck die Richtung und springt via Anhängsel auf den rechts benachbarten Donut über.
Auf den ersten Blick wirkt es, als würde sich der Fleck selbst seinen Weg suchen. Aber das täuscht. Er ist ja auf die Position der Anhängsel angewiesen. Offenbar steuern die Donuts mit ihrer Rotation die Übertragung. Womöglich gibt es sogar eine zentrale Steuerung, die die Wege vorab festlegt? Das wäre ja sensationell.
»Könnte es sein, dass die Wege vom gesamten System vorgegeben werden?«, fragt Benjamin.
»Das ist wirklich eine bemerkenswerte Darstellung«, sagt Christine. »Allein, dass du auf die Idee gekommen bist, mit der ersten Ableitung zu arbeiten und den Zeitfaktor so extrem zu verlangsamen …«
Aphrodite lächelt breit. »Ich besitze ein Strategiemodul, um meine Verteidigungsfähigkeiten richtig zum Einsatz bringen zu können. Leider kommen sie in diesem Körper nicht so richtig zur Geltung.«
»Ah, du bist ein HDS-Modell, nicht wahr?«, fragt Ilan. »Ich habe von diesen Spitzenprodukten von RB schon viel gehört.«
Anscheinend ist er mit dem Geschirr fertig.
»Das ist korrekt«, sagt Aphrodite.
»Dann können wir ja beim nächsten Mal gemeinsam kochen. Ich bin sicher, dass ich noch etwas von dir lernen kann.«
»Du kannst mir gern zur Hand gehen«, sagt Aphrodite. »Vor allem, da meine Werkzeughände zum Kochen nicht optimal geeignet sind. Wofür du übrigens verantwortlich bist.«
Ha! Sie hat Chatterjee nicht vergeben, in welche Situation er sie mit seinem Deal mit RB gebracht hat. Wenigstens fällt außer ihm noch jemand nicht auf den neuen Menschen herein.
»Was schließen wir denn aus Aphrodites Erkenntnissen?«, fragt Oskar. »Inwiefern beeinflussen sie unsere Pläne?«
»Wäre es möglich, dass der Parasit ein Bewusstsein besitzt?«, fragt Benjamin. »Die Signalübertragung erinnert doch durchaus daran, was in Neuronen passiert. Das Tempo ist jedenfalls sehr ähnlich.«
»Für solche Schlussfolgerungen ist es bei Weitem zu früh«, sagt Christine. »Es scheint einen Übertragungsweg für Signale zu geben. Aber darüber verfügen sämtliche mehrzelligen Lebewesen. Mit Intelligenz hat das rein gar nichts zu tun.«
Es wäre schön gewesen, endlich einmal eine nichtmenschliche Intelligenz kennenzulernen. Obwohl … Christine und er sind keine Menschen und verfügen über Intelligenz. Die Frage ist allerdings, ob sie bereits einen eigenen Typ von Intelligenz besitzen oder sich ihre Intelligenz nur vom Menschen geborgt haben. Vielleicht befinden sie sich auch in einer Übergangsphase.
»Aber trotzdem ist das ein großartiger Fund«, sagt Oskar. »Immerhin könnte es sich um das erste Leben handeln, das seine Wurzeln nicht im Sonnensystem hat.«
»Falls sich bestätigt, dass wir hier Leben vor uns haben«, sagt Christine. »Es ist ja offensichtlich nicht auf der Basis von Kohlenstoff aufgebaut wie jedes andere Lebewesen, das wir je entdeckt haben.«
»Was ist mit den Schwefelzellen auf dem Jupitermond Io?«, fragt Oskar.
»Na gut, ein Punkt für dich«, sagt Christine. »Und dann war da noch etwas auf Triton, aber darüber weiß ich zu wenig.«
»Die Kohlenstoff-Lebensform auf Amphitrite hatte ihren Ursprung wohl auch nicht im Sonnensystem«, sagt Oskar.
»Nun macht mir doch meine schöne These nicht mit Fakten kaputt«, sagt Christine und lacht. »Eigentlich wollte ich auf die Tatsache hinaus, dass das, was wir uns als lebendig vorstellen, aus Helium bei wenigen Grad über dem absoluten Nullpunkt besteht. Sollte es sich dabei wirklich um Leben handeln, müssen wir unsere Vorstellungen davon komplett über den Haufen werfen. Dann könnte es auch in den Sonnenflecken Leben geben.«
»Die Tragweite einer positiven Antwort sollte uns aber auch nicht vom Nachdenken abhalten«, sagt Benjamin. »Generell muss ich dir aber zustimmen. Signalübertragung gibt es auch bei toten Dingen. Wenn ein Blitz einschlägt, läuft auch ein Signal von der Wolke in den Boden. Trotzdem betrachten wir das System aus Gewitterwolke und Erdboden deshalb nicht als lebendige Zelle. Zum Leben gehört noch mehr, wie zum Beispiel Fortpflanzung, Wachstum und Stoffwechsel.«
»Das ist ein guter Vergleich«, sagt Christine. »Es gibt Systeme in der Natur, die nicht lebendig sind, aber trotzdem einige der Eigenschaften aufweisen, die für Leben sprechen, etwa manche Gesteine. Darum müssen wir vorsichtig sein. Für die Shepherd-1 wäre es vermutlich besser, wir hätten uns da nichts Lebendiges eingefangen. Wir haben es ja schon früh einen Parasiten genannt und uns damit festgelegt, aber irgendein physikalisches oder chemisches Phänomen könnten wir vermutlich besser bekämpfen.«
»Dass das Ding wächst, wissen wir ja leider schon«, sagt Oskar.
»Darf ich auch etwas beitragen?«, fragt Ilan.
Jetzt fragt Chatterjee schon, ob er etwas sagen darf.
»Natürlich«, sagt Christine.
»Wenn wir wirklich davon ausgehen können, dass es sich bei dem Parasiten um Leben handelt, finden wir vielleicht sogar einfacher einen Weg, ihn wieder loszuwerden. Ich denke da an den Stoffwechsel. Wird ein Lebewesen seiner Möglichkeit des Stoffwechsels beraubt, stirbt es.«
Typisch Chatterjee. Er überlegt gleich wieder, wie sie den Parasiten am besten ersticken, verhungern oder verdursten lassen können. Oder tut er ihm unrecht? Hat er nicht auch schon darüber nachgedacht, wie sie das Zeug von der Schiffshülle kratzen können? Benjamin kratzt sich an der Schläfe. Das Leben in allen Ehren, aber wenn es ihr Schiff zerquetscht, geht es ihnen selbst an den Kragen.
»Ich könnte versuchen herauszufinden, wie der Stoffwechsel der Proben funktioniert«, sagt Aphrodite.
»Das wäre sicher einfacher, wenn wir die Behälter öffnen könnten«, sagt Ilan. »Ich meine, Stoffwechsel, das kommt ja vom Wechseln von Stoffen, was in einer geschlossenen Röhre kaum möglich ist.«
»Das kommt auf keinen Fall in Frage«, sagt Christine.
Sie will keinerlei Risiko eingehen. Benjamin versteht sie ja, aber der Parasit geht offenbar nicht zimperlich vor. Vielleicht ist Chatterjee ja auch genau der Richtige, um mit so einer Gefahr fertigzuwerden. Nein, Benjamin schüttelt den Kopf. Er darf ihm nicht erliegen.
»Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, den Stoffwechsel innerhalb der Probenröhrchen zu beobachten«, sagt Aphrodite. »Mir scheint, die Zellen, oder was immer wir da vor uns haben, reagieren vor allem auf Energiezufuhr. Die ist ja durch die transparente Wandung in fast jeder Form möglich.«
Aphrodite weiß wirklich, was sie tut. Benjamin ist stolz auf die Roboterin, auch wenn er an ihrer Leistung eigentlich keinen Anteil hat. Sie kommt ihm ein bisschen so vor wie die Tochter, die er nie hatte und nie haben wird. Das Alter, also das Herstellungsdatum, dürfte sogar ungefähr passen.
»Brauchst du dafür irgendetwas von uns?«, fragt Christine.
»Soll ich dir helfen?«, fragt Ilan.
»Ich könnte wieder jemanden gebrauchen, der die Manipulatorarme für mich bedient«, sagt Aphrodite. »Oder willst du das wieder übernehmen, Benjamin? Ich will dir die Aufgabe nicht entziehen. Du hast das sehr gut gemacht.«
Jetzt klingt sie wie seine Mutter, die er auch nie hatte. Als Tochter ist sie ihm lieber.
»Danke, Aphrodite, aber ich überlasse Ilan gern meinen Platz.«
Während er die Arme in den Röhren hat, kann Chatterjee wenigstens keine Dummheiten machen.
»Ich finde es gut, dass ihr euch wie Erwachsene unterhaltet, Benjamin und Ilan. Ich erinnere euch daran, dass ihr morgen dann gemeinsam in der Kapsel in Richtung unserer Signalquelle startet.«
»Ich würde gern …«, beginnt Benjamin.
»Können wir nicht Aphrodite mitnehmen?«, unterbricht ihn Chatterjee. »Sie hat von uns allen schon die meiste Erfahrung im Umgang mit dem Parasiten.«
»Aber sollte sie dann nicht eher hierbleiben?«, fragt Oskar. »Den Parasiten nehmt ihr doch wohl nicht mit.«
»Das Signal, wenn ich mich nicht irre, enthielt Äußerungen von Daniel und Aaron, aus der Zeit kurz vor ihrem Verschwinden. Glaubt ihr wirklich, sie hätten nichts mit dem Parasiten zu tun?«, fragt Benjamin.
»Hast du denn konkrete Ideen, wie beide Phänomene zusammenhängen könnten?«, fragt Christine. »Dann könnten wir speziell nach Anzeichen dafür suchen.«
»Nein, ich denke, das wird sich erst noch zeigen.«
»Naheliegend wäre, dass die Signalquelle eine weitaus größere Form des Parasiten darstellt«, sagt Aphrodite. »Vielleicht hat sie irgendwelche Sporen ausgeworfen.«
»Oder der Parasit ist ihr Stoffwechsel«, sagt Oskar. »Sie hat am Straßenrand einen Haufen hinterlassen, und ausgerechnet wir sind hineingetreten.«
»Diese Vorstellung schmeckt mir gar nicht«, sagt Benjamin.
»Sie schmeckt dir nicht? Das kann ich allerdings nachvollziehen«, sagt Christine und lacht.
* * *
Es ist kühl im Gang. Benjamin trägt nur einen Pyjama. Er hat seine Ruhephase unterbrochen, um einem Bedürfnis nachzugehen, das er gar nicht haben müsste. Aber wenn er Nahrung zu sich nimmt, muss er die verarbeiteten Reste auch wieder loswerden, da unterscheidet er sich nicht von einem Menschen. Deshalb läuft er mitten in der Nacht durch kühle, dunkle Gänge.
Aber er scheint nicht der Einzige zu sein, der wach ist. Da der Ring immer noch unterbrochen ist, klettert er in Richtung Zentralmodul. Von dort hört er das typische Klappern von Fingern auf einer Tastatur. Also ist es nicht Aphrodite, die keine Ruhe findet. Sie könnte sich ja auch direkt mit dem Computer verbinden, statt umständlich Befehle einzugeben. Schade eigentlich, er hätte sich mit der Roboterin gern unterhalten. Er fühlt sich bereits genügend ausgeruht für den morgigen Tag.
Aphrodite ist eine interessante Person. Als Roboterin ist sie ihm nah und fremd zugleich. Sie hat nie geglaubt, ein Mensch zu sein. Stattdessen war sie als Dienerin des Menschen konzipiert. Im Grunde nicht anders als Christine und er, nur ehrlicher. Aber hat ihr das eher geholfen oder geschadet? Er könnte sich beides vorstellen.
Als Benjamin von der Speiche ins Zentralmodul abbiegt, bemüht er sich, keine Geräusche zu machen. Die Schwerkraft hier ist minimal, also kann er größtenteils schweben, indem er sich ab und zu abstößt. Es ist nur ein Instinkt, der ihn dazu bringt. Da hört er plötzlich Ilans Stimme. Benjamin stoppt sofort und sucht Deckung hinter einem Schrank.
Wahrscheinlich ist es albern. Welche Dummheiten sollte Chatterjee schon mitten in der Nacht anstellen? Oskar überwacht den Computer, auf den Ilan keinen Zugriff mehr hat. Dadurch kann er ohne Erlaubnis nicht einmal irgendein Schott öffnen, geschweige denn eine Kapsel abkoppeln. Wenn er es genauer bedenkt, kann Benjamin eigentlich beruhigt sein. Es gibt keine Möglichkeit, die Shepherd-1 ernsthaft zu sabotieren.
Am besten, er bewegt sich leise zum WHC, erledigt sein Geschäft und lässt Ilan in Ruhe. Auf ein Gespräch mit ihm hat er wirklich keine Lust. Sie würden ja doch bloß streiten. Benjamin verlässt seine Deckung und schwebt weiter nach vorn, auf die Geräuschquelle zu.
Bis er Christine sieht. Nein, es ist Chatterjee. Diese Ähnlichkeit treibt ihn noch zum Wahnsinn. Zum Glück benutzen beide wenigstens unterschiedliche Stimmen. Der Unternehmer sitzt auf dem Boden und hat einen Raumanzug im Arm. Es sieht wirklich seltsam aus, weil der Anzug zwar leer ist, aber doch auf den ersten Blick eine menschliche Form aufweist. Den Helm hält Ilan mit beiden Händen auf seinem Schoß umfasst, als hätte er ein Date mit einer Geliebten. Und er spricht mit ihm. Benjamin läuft ein Schauer über den Rücken.
»Jetzt ein Stück nach vorn«, flüstert Ilan. »Ja, so ist es gut.«
Chatterjee beugt sich nach vorn, direkt über die Vorderseite des leeren Helms. Dann rückt er sich ein bisschen zurecht, als hätte er Rückenschmerzen. Anscheinend sitzt er schon länger in dieser Position. Noch hat er Benjamin nicht bemerkt, der sich schon wie ein Voyeur vorkommt.
»Danke, das war sehr gut. Ich brauche dich«, flüstert Ilan weiter.
Benjamin versteht jedes Wort, aber er hat keine Ahnung, worüber und mit wem Chatterjee spricht. Hat er den Verstand verloren? Oder spielt er ein seltsames Spiel? Benjamin zieht sich einen Meter zurück, bis er Chatterjee nicht mehr sehen kann.
»Ich will, dass du …«
Er hält es nicht mehr aus. Chatterjee hat wirklich jede Strafe verdient, aber bei diesem seltsamen Ritual kann er ihm nicht länger zusehen. Benjamin räuspert sich möglichst laut. Dann lässt er sich nach vorn in Ilans Sichtfeld gleiten und hält dort an.
»Oh, entschuldige. Ich wusste nicht, dass hier jemand ist«, sagt er.
»Guten … Guten Abend, Benjamin. Oder ist schon Morgen?«
Den Raumanzug hat Chatterjee zu seinen Füßen abgelegt.
»Keine Ahnung. Ich muss nur mal auf die Toilette. Dein Essen …«
»Verstehe. Ja, ich war auch schon. Hoffentlich musst du es nicht mehr riechen. Irgendwie nervt mich das Bett in der Kapsel. Deshalb wollte ich mal versuchen, ob ich in der Schwerelosigkeit Ruhe finde.«
Benjamin gähnt und Chatterjee schließt sich an.
»Ich erledige das dann mal«, sagt Benjamin.
»Mach das«, sagt Ilan. »Ich bin ja überrascht, wie echt sich die Müdigkeit dieses Körpers anfühlt.«
»Du solltest sie auf Dauer nicht ignorieren«, sagt Benjamin. »Sonst nimmt deine Leistungsfähigkeit ab.«
»Ja, danke. Ich werde das in Zukunft berücksichtigen, Benjamin.«
Da ist er wieder, der neue Ilan.
* * *
Als Benjamin sein Geschäft beendet hat, ist die Zentrale leer. Ilan hat auch den Raumanzug weggeräumt. Seltsam, so sehr Benjamin auch nach ihm sucht, er kann ihn nicht finden. Sollte er ihn mit in die Kapsel genommen haben? Hat er da wirklich eine Art Affäre beobachtet? Hat Chatterjee gespielt? Kommt er nicht mit seinem neuen Körper zurecht? Diesen Eindruck hatte Benjamin bisher überhaupt nicht.
»Oskar? Hörst du mich?«
»Ich bin da.«
»Kannst du mir sagen, was Chatterjee gerade in der Zentrale gemacht hat?«
»Leider nicht.«
»Beobachtest du ihn denn nicht?«
»Normalerweise schon, aber er hat mich um Privatsphäre gebeten. Wenn es um die Erfüllung gewisser Triebe geht, bin ich gezwungen, dieser Bitte nachzukommen, insoweit nichts konkret dagegen spricht.«
»Triebe?«, fragt Benjamin.
»Ich kann bei dieser Frage aus den erwähnten Gründen nicht ins Detail gehen.«
»Hatte es etwas mit einem Raumanzug zu tun?«
»Das kann ich nicht bestätigen.«
Aber er bestreitet es auch nicht. Benjamin schüttelt den Kopf. Es gibt ja wirklich Menschen, die sich in Objekte verlieben. Dabei handelt es sich um eine Variante menschlicher Sexualität. Benjamin kann sich nicht erinnern, dass der Unternehmer je mit Partnerin oder Partner aufgetreten wäre. Er hat das immer für ein Ergebnis des erfolgreichen Durchsetzens der Privatsphäre gehalten. Aber so würde es natürlich auch die Frage beantworten, warum nie eine Fotodrohne es geschafft hat, Chatterjees Familienleben aufzudecken.
Trotzdem kommt ihm das alles seltsam vor. Was versucht Chatterjee, zu verbergen? Benjamin überprüft alle Computer in der Zentrale. Ilan hat in den letzten sechs Stunden keinen von ihnen angerührt. Er findet auch sonst keine Geräte, die für Ilan interessant gewesen sein könnten. Wenn er ihn in der Werkstatt oder im Labor getroffen hätte … Die Proben sind zwar in einen Safe eingeschlossen, aber Ilan hätte sich ja vielleicht heimlich eine Waffe basteln können, um ihn auf dem Flug zur Signalquelle damit angreifen zu können. Stattdessen hat er mit dem Raumanzug gekuschelt. Das ergibt doch keinen Sinn!
»Benjamin, brauchst du mich noch?«, fragt Oskar.
»Ich verstehe Chatterjee nicht«, antwortet er. »Er sitzt mitten in der Nacht mit einem leeren Raumanzug auf dem Fußboden und spricht mit ihm.«
»Das kann ich nicht kommentieren«, sagt Oskar. »Aber vielleicht solltest du in Betracht ziehen, dass er sich wirklich verändert hat. Es muss für jemanden, der seine ganze Existenz als biologisches Wesen verbracht hat, ein enormer Schock sein, plötzlich im Körper einer Androidin zu leben.«
»Chatterjee bleibt Chatterjee, darauf gehe ich jede Wette ein.«
»Ich weiß es nicht, Benjamin. Aber früher warst du nicht so halsstarrig.«
Er soll halsstarrig sein? Das sagt der Richtige!
»Woher willst du das denn wissen? So lange kennst du mich doch noch gar nicht.«
»Christine hat es mir erzählt. Sie meint, sie würde dich kaum wiedererkennen. Früher wärst du viel offener gewesen.«
Etwas sticht in sein Herz. Christine beschwert sich bei Oskar über ihn, statt mit ihm selbst zu sprechen? Bestimmt ist Eric daran schuld. Erics Körper, den er notgedrungen übernehmen musste. Und Chatterjee vertraut sie, weil er so aussieht wie sie. Sonst müsste sie sich ja selbst misstrauen. Es ist schwer, solchen unbewussten Zuschreibungen zu entgehen.
»Und woran macht sie das fest?«, fragt er.
»Sie erkennt es schon daran, dass du ihn immer noch Chatterjee nennst. Ist dir aufgefallen, dass alle anderen ihn mit seinem Vornamen ansprechen?«
»Aber so ist das doch nicht gemeint. Ich kenne ihn eben schon länger als Chatterjee.«
»Ich sage dir nur, was ich von Christine gehört habe. Es ist deine Sache, was du daraus machst.«