»Guten Morgen«, sagt Aphrodite.
Aus dem Gang weht es kühl. Benjamin trägt immer noch seinen Pyjama. Er freut sich trotzdem, sie zu sehen.
»Guten Morgen! Das ist ja eine nette Überraschung. Komm doch rein.«
Aphrodite drückt ihm eine Art Koffer in die Hand. »Bitte verstaue das irgendwo, wo es stabil steht.«
»Was ist das?«
»In dem Behälter befinden sich alle Proben, die ich gestern gesammelt habe. Christine will sie nicht in der Shepherd-1 haben, wenn wir zu der Signalquelle fliegen.«
»Also sollen wir sie mitnehmen? Das ist doch noch viel riskanter.«
»Nein, wir sollen sie zerstören.«
»Warum öffnen wir sie nicht einfach da draußen?«
»Wir haben das schon ausführlich diskutiert«, sagt Aphrodite.
Hört er Ungeduld heraus? Für die Roboterin sind das ganz ungewohnte Töne.
»Aber ich war nicht …«
»Du warst nicht zu erreichen«, sagt Aphrodite. »Nun lass uns schon herein. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Uns? Aphrodite schiebt ihn sanft zur Seite. Hinter ihr steht Chatterjee und grinst. Er hat einen Raumanzug über dem Arm. Den, mit dem er gestern gesprochen hat. Benjamin verzieht den Mund, grinst dann aber zurück. Er weiß, dass er es weiß. Das genügt ihm. Wenn er bloß noch wüsste, was er da eigentlich weiß.
»Guten Morgen, Benjamin«, sagt Chatterjee.
»Guten Morgen, Ilan«, sagt Benjamin, nur für den Fall, dass Christine über die Sprechanlage zuhört.
Er lässt die beiden an sich vorbei. »Macht es euch schon mal bequem.«
Dann holt er sich frische Sachen aus dem Schrank und zieht sich im Gang um. Es ist immer noch ziemlich kühl hier draußen. Als er seine Kapsel wieder betritt, ist es dort noch kälter.
»Ich habe mir erlaubt, ein bisschen zu lüften«, sagt Chatterjee.
Sagt Ilan. Er muss sich daran gewöhnen, an Ilan zu denken, wenn er Chatterjee sieht. Wenn er Ilan sieht. Christine hält ihn also für verbohrt. Das ist zwar unfair, aber wenn er sie darauf aufmerksam macht, bestätigt er ihr Urteil bloß. Chatt … Ilan ist verbohrt. Er weiß nur noch nicht, an welchem Plan er so hartnäckig arbeitet. Bis dahin muss Benjamin das Spiel einfach mitspielen. Er hat keine Wahl.
»Gute Idee, Iiilaaan«, sagt er. »Ich hoffe, du hast dich gut erholt?«
»Sehr gut. Ich habe meinen Anzug noch an ein paar Stellen ausgebessert.«
Ausgebessert, na klar. Würde er ihn genau untersuchen, würde er bestimmt frische Reparaturspuren finden. Ilan überlässt nichts dem Zufall.
»Es ist immer gut, seine Ausrüstung in Schuss zu halten«, sagt Aphrodite.
»Ich muss mich noch dafür entschuldigen, dass ihr mich nicht erreichen konntet«, sagt Benjamin. »Ich brauchte ein bisschen Privatsphäre und habe danach vergessen, die Verbindung wieder freizugeben.«
Bei dem Wort »Privatsphäre« zuckt Ilan deutlich zusammen. Jetzt ahnt er, dass Benjamin ihm hinterherspioniert hat. Vielleicht war es ein Fehler. Aber Ilan weiß sicher sowieso, dass er ihm nicht vertraut.
»Was haben wir denn genau vor?«, fragt Benjamin.
»Wir werden die Proben in den Triebwerksstrahl einbringen«, erklärt Aphrodite. »Dort werden sie verdampfen, ohne dass wir zuvor die Behälter öffnen müssten.«
»Eine clevere Vorgehensweise«, sagt Benjamin.
»Das war meine Idee«, sagt Ilan.
Du weißt eben, wie man Dinge spurlos verschwinden lässt. Benjamin verkneift sich den Satz.
»Es freut mich, dass du so positiv zu unserer Mission beiträgst«, sagt er.
Das ist die maximale Schleimerei, die ihm einfällt. Solange das Risiko besteht, dass Christine zuhört, wird er eben den einsichtigen, netten Kollegen spielen. Danach ist es dann mit der heilen Familie wieder vorbei.
»Aber gern doch«, sagt Ilan. »Ich wünsche mir, dass ihr mich irgendwann als vollwertiges Mitglied der Crew betrachtet.«
Jetzt übertreibt er es langsam. Aber Benjamin lässt sich nichts anmerken.
»Was war eigentlich der Grund, warum wir so übervor… überaus vorsichtig vorgehen?«, fragt er. »Ich meine, was spricht dagegen, das bisschen Helium einfach ins All zu schütten? Außerhalb des Kühlschranks scheint es sich ja um ein gewöhnliches Edelgas zu handeln.«
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, sagt Aphrodite. »Wir sehen ja nicht, wie es sich verhält, wenn wir die Röhrchen öffnen. Womöglich heftet es sich an den Raumanzug, und dann bringen wir es aus Versehen wieder mit ins Schiff. Es gibt hier nirgends Detektoren für Helium.«
»Verstehe«, sagt Benjamin. »Dann lasst mich doch schnell noch meinen Raumanzug holen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagt Aphrodite, streckt ihren langen Arm zum Schott und schließt es damit. »Ein Anzug genügt. Du fliegst. Ilan hat sich angeboten, den Teil mit dem Triebwerksstrahl zu übernehmen.«
»Ja, das ist nicht ganz so einfach, weil das Schiff natürlich beschleunigt, wenn wir die DFDs Stützmasse ausstoßen lassen. Diesem Risiko wollte ich Aphrodite nicht aussetzen.«
»Das ist sehr großzügig von dir«, sagt Benjamin.
Was hat er dort draußen vor? Der Plan ist wirklich nicht ganz ungefährlich. Wenn Ilan dieses Risiko eingeht, muss es sich für ihn auch lohnen. Ob er womöglich eine der Proben abzweigen will? Oder er ist tatsächlich ein neuer Mensch. Christine scheint es ihm glauben zu wollen. Benjamin atmet tief durch. Er wird jede Probe mitzählen, die Ilan in den Abgasstrahl befördert.
* * *
Wie schon bei der Untersuchung der Shepherd-1 lässt Benjamin die Kapsel langsam vom Schiff einholen. So laufen sie keine Gefahr, selbst in den Strudel der heißen Stützmasse zu geraten. Noch existiert er allerdings gar nicht. Das Fusionstriebwerk, das Oskar ausgesucht hat, läuft auf niedrigster Stufe und erzeugt damit den Strom, den das Schiff braucht. Die Shepherd-1 selbst fliegt antriebslos geradeaus.
Der Steuerungscomputer piept. Sie haben den geplanten Ausstiegspunkt fast erreicht.
»Bist du bereit, Ilan?«, fragt Benjamin.
»Ja.«
Benjamin dreht sich um. Ilan salutiert sogar. Jetzt wird es langsam peinlich.
»Rühren!«, befiehlt Benjamin. »Aphrodite, bitte öffne ihm das Schott. Ausstieg in dreißig.«
In einer halben Minute könnte er Chatterjee los sein. Für immer. Er bräuchte nur irgendwie dafür zu sorgen, dass er gleich mitsamt der Proben in die heiße Stützmasse fällt. Nein, das wäre Mord. Chatterjee mag ein Arschloch sein, aber ein Mord ist in keinem Fall zu rechtfertigen.
Auf dem Bildschirm läuft ein Countdown, der bei zehn angekommen ist. Benjamin greift unter seinen Pilotensitz und holt die Atemmaske hervor. Er muss zwar nicht atmen, aber das Gefühl, zu ersticken, hat er ohne Sauerstoff doch. Es ist so unangenehm, dass er lieber die Maske aufsetzt.
»Drei, zwei, eins, los!«, zählt er laut mit.
Ein heftiger Luftstoß zeigt ihm, dass Aphrodite das Schott geöffnet hat.
»Beeilung!«, ruft er.
Es wird sofort eisig. Seine Haut wird starr. Das ist eine Schutzfunktion, um eine tiefergehende Schädigung zu verhindern.
»Ilan ist draußen«, bestätigt Aphrodite.
Quietschend fällt nun auch das Schott zu.
»Danke, Aphrodite.«
Benjamin schaltet auf die Außenkamera. Chatterjee hat es bereits auf die Hülle des Schiffes geschafft. Noch herrscht dort Schwerelosigkeit, was alles vereinfacht. Benjamin verfolgt, wie er sich systematisch zum Triebwerk bewegt, das sich etwas hinter ihnen befindet. Benjamin erhöht die Geschwindigkeit der Kapsel ein wenig, damit sie mit der Shepherd-1 gleichauf bleibt.
»Ich bin auf Position«, sagt Ilan.
»Oskar, hast du das gehört?«, fragt Benjamin.
»Bestätigt. Beginne mit dem Einströmen der Stützmasse.«
Das ist der kritische Moment der Aktion, und zwar für sie alle. Die Stützmasse, neutraler Wasserstoff, fließt zum ersten Mal seit Wochen wieder in die Triebwerkskammer. Dort wird sie ionisiert und erhitzt; dadurch wächst der Impuls der Teilchen. Dann öffnet Oskar den Auslass, und mit ihrem Ausströmen verleihen die Wasserstoff-Ionen, die dann bloß noch Protonen sind, dem Schiff nach alter Newtonscher Tradition das Gegenteil ihres eigenen Impulses. Pro Teilchen ist das nur ein kleiner Betrag, aber in der Summe genügt es, die ungleich schwerere Shepherd-1 zu beschleunigen.
Das Problem ist allerdings, dass dieser Prozess gerade am Anfang nicht perfekt zu dosieren ist. Beschleunigt das Schiff stärker als die Kapsel mit ihrem altmodischen chemischen Antrieb, könnte womöglich die Kapsel in den heißen Abgasstrom geraten. Das könnte sie durchaus das Leben kosten. Benjamin gibt deshalb sicherheitshalber ein bisschen mehr Gas, als es eigentlich nötig wäre, auch auf die Gefahr hin, dass er Ilan dann nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann.
»Stützmasse erreicht kritischen Impuls«, sagt Oskar.
In diesem Moment öffnet sich die Kammer und das heiße Gas strömt aus. Benjamin drückt den Steuerungshebel nach vorn. Die Kapsel ist etwas zu schnell. Er reduziert die Leistung ein wenig, aber schon scheint sie die Shepherd-1 zu überholen. Also doch etwas mehr Beschleunigung. Er muss jetzt sehr gut aufpassen und immer wieder nachregulieren. Aber er will auch mitzählen, ob Ilan wirklich alle Proben entsorgt. Deshalb fokussiert er die Kamera auf seinen Körper. Sie folgt nun automatisch seinen Bewegungen.
»So kann ich Ilan helfen, sobald er Hilfe braucht«, sagt Benjamin, weil er das Gefühl hat, dass Aphrodite ihn skeptisch beobachtet.
»Das ist gut«, sagt die Roboterin.
»Ich beginne jetzt mit der Entsorgung«, meldet Ilan.
»Bestätigt«, sagt Benjamin. »Eine Probe nach der anderen.«
Dann kommt er wenigstens nicht durcheinander. Ilan bückt sich und greift zwischen seine Beine. Dort hat er die Kiste mit den Proben eingeklemmt. Er nimmt die erste heraus, bindet das Ende einer Sicherungsleine darum und wirft. Die Probe fliegt in hohem Bogen, überquert die Schutzwand vor dem Triebwerk und wird von dem Seil wieder in Richtung Schiff gezwungen. Die anderen haben die Länge der Schnüre so berechnet, dass das Probenröhrchen etwa zwei Meter hinter der Shepherd-1 wieder eintrifft. Dort ist zwar nichts zu sehen – denn die Stützmasse ist ja durchsichtig, zumindest im sichtbaren Spektrum –, aber trotzdem verformt sich die Flasche in Sekundenschnelle. Die Schnur reißt, und der Abgasstrom hat kaum Zeit, die Reste mitzureißen, weil bereits nichts mehr davon übrig ist.
»Hat es geklappt?«, fragt Ilan.
»Und ob es funktioniert hat«, sagt Benjamin. »Die Methode ist spektakulär.«
Selbst, wenn das Helium erhalten bliebe, was sehr wahrscheinlich ist, denn der Stützmassestrom ist ja kein Fusionskraftwerk, treiben es die Impulse der anderen Teilchen doch so schnell vom Schiff weg, dass sie es ein für alle Mal los sind.
»Könnten wir so vielleicht auch den Parasiten loswerden?«, fragt er. »Wir bräuchten ja bloß eines der DFDs so umbauen, dass es in Richtung Schiff zeigt. Gegen das heiße Plasma hat das eisige Helium doch keine Chance.«
»Aber die Schiffshülle auch nicht, mein Bester«, sagt Oskar. »Behalte du mal lieber die Geschwindigkeit im Auge. Ich habe das Gefühl, dass ihr zu langsam seid.«
Oh, Mist. Oskar hat recht. Die Shepherd-1 beschleunigt stärker als sie. Das kommt davon, dass er Ilan beim Werfen der zweiten Flasche beobachtet hat. Benjamin erhöht die Energie des chemischen Triebwerks. Aber es genügt noch nicht.
»Oskar? Ihr fliegt uns noch davon«, sagt Benjamin.
Die Shepherd-1 kann der Kapsel ganz leicht enteilen, schon mit nur einem der Triebwerke.
»Verstanden. Ich reduziere den Stützmassefluss etwas.«
Jetzt fliegen sie wieder gleich schnell. Ilan ist ein bisschen zu weit weg. Benjamin bremst die Kapsel deshalb für einen Moment.
»Dritte Probe entsorgt«, meldet Ilan, als hätte er geahnt, dass Benjamin gerade an ihn gedacht hat.
»Es gibt da ein Problem«, sagt Oskar.
»Hat es mit uns zu tun?«, fragt Benjamin. »Dann solltest du dich beeilen, Ilan.«
»Ich bin nicht sicher. Die strukturelle Integrität der Shepherd-1 hat sich insbesondere im Zentralbereich um acht Prozentpunkte verringert.«
»Das heißt, der Parasit greift wieder an?«, fragt Benjamin.
»Ich weiß nicht, ob es ein Angriff ist«, sagt Oskar. »Aber er zieht sich wieder stärker zusammen.«
Vielleicht mag der Parasit nicht, wie sie gerade die Proben entsorgen.
Vielleicht gefällt dem Parasiten nicht, was wir gerade mit den Proben machen«, sagt Ilan.
Jetzt haben sie schon dieselben Gedanken. Beunruhigend!
»Du willst sagen, der Parasit könne erkennen, was sich in den Röhrchen befindet?«, fragt Christine.
»Ich muss Ilan rechtgeben. Der zeitliche Zusammenhang legt das nahe«, sagt Benjamin.
»Na, wenn du Ilan zustimmst, muss es wohl die Wahrheit sein«, sagt Christine.
»Im Ernst – das bedeutet ja nicht, dass der Parasit sich wirklich selbst erkennt. Wenn man die Artgenossen mancher Tiere tötet, sind auch manche in der Lage, darauf spezifisch zu reagieren. Vielleicht entsteht bei der schnellen Erhitzung des Heliums ein Signal, das der Parasit auffangen kann und auf das er reagiert, indem er sich zum Schutz zusammenzieht.«
»Gut, Benjamin. Das mag wirklich sein«, sagt Christine. »Machen wir doch einen Versuch. Ilan, du wirfst bitte ein paar Minuten lang keine Proben mehr in den Stützmassestrahl.«
»Okay, verstanden. Keine Proben mehr entsorgen.«
»Wie steht es um die strukturelle Integrität, Oskar?«, fragt Christine.
»Verschlechtert sich nicht mehr. Verbessert sich aber auch nicht.«
»Hm, damit haben wir noch keinen Beweis. Wir warten eine Minute, dann entsorgst du noch ein Röhrchen, Ilan.«
»Verstanden, Christine.«
Sie warten. Benjamins Lieblingsbeschäftigung. Nein! Er hasst es, warten zu müssen. Deshalb zählt er nun die Sekunden mit.
»Jetzt darfst du«, sagt er, als er bei null angekommen ist.
Ilan befestigt einen weiteren Probenbehälter an einer Schnur und wirft ihn.
»Perfekte Flugbahn«, sagt Benjamin.
»Danke.«
Das Röhrchen senkt sich in das heiße Gas. Kurz darauf ist es nicht mehr zu sehen.
»Vorsicht! Die strukturelle Integrität ist gerade um zehn Prozentpunkte gesunken«, meldet Oskar. »Das Ding will uns umbringen!«
»Hast du das gehört, Ilan?«, fragt Benjamin. »Komm bitte rein. Wir beenden diesen Versuch.«