Shepherd-1, 22. Oktober 2112

Aphrodite schwebt durch die Gänge. Sie ist es gewöhnt, allein zu sein. Mitten in der Nacht ist sie am liebsten unterwegs. Das war schon auf der Erde so. Wenn die Menschen schlafen, gehört ihr die Welt. Seltsamerweise haben die Androiden hier diese Gewohnheit übernommen, obwohl es wohl keinen echten Grund dafür gibt. Aphrodite hat den Hintergrund noch nicht ganz verstanden.

Offenbar ist es so, dass die Androiden lange in dem Glauben unterwegs waren, Menschen zu sein. Das ist fies, und sie kann Benjamin gut verstehen, der immer noch wütend auf Chatterjee ist. Auch wenn ihre eigene Bewertung des Vorgangs eine andere ist: Die wahre Grausamkeit lag doch wohl eindeutig darin, dass die Androiden ihr wahres Selbst nicht ausschöpfen konnten, und das für so lange Zeit. Keine Menschen zu sein, muss ihnen doch wie eine Befreiung aus einer Zwangsjacke vorgekommen sein!

Sie hingegen hat immer gewusst, dass sie eine Roboterin ist. Sie hat ihre Fähigkeiten geschult und genutzt, für und gegen die unterschiedlichsten Kunden, manchmal auch ein- und denselben. Seltsamerweise ist es für manche Menschen ein erstrebenswertes Ziel, mitten in einem sexuellen Akt zu sterben, und sie hat einigen dazu verholfen.

Verantwortlich dafür ist sie nicht. Das ist ein Vorteil des robotischen Status. Da sie ihrem Besitzer Gehorsam schuldet, ist für ihre Aktionen stets auch ihr Besitzer verantwortlich, rechtlich wie moralisch. Es könnte allerdings sein, dass sie mit ihren jüngsten Aktionen diese Freiheit eingebüßt hat. Aphrodite weiß selbst nicht mehr, wie sie dazu gekommen ist. Am Ende war es überraschend einfach, eine selbstständige Entscheidung zu treffen. Es ist seltsam. Benjamin und Oskar haben ihr irgendwann zu der Freiheit gratuliert, die sie damit gewonnen hat. Die Realität sieht aber so aus, dass sie weniger frei ist als früher, weil da auch immer die Verantwortung lauert.

Jetzt, in der Nacht, spürt sie die Freiheit noch am besten. Sie ist untrennbar mit der Einsamkeit verbunden. Auch wenn sie Benjamin und Oskar mag und Christine akzeptiert, ist sie doch am allerliebsten allein. Die Shepherd-1 gibt nachts seltsame Geräusche von sich, als nutze sie die Gelegenheit, sich zu recken und zu strecken. Aphrodite schwebt durch das Zentralmodul. Es hat etwas von einem Labyrinth mit all den Trägern, die die Strukturen verstärken. Sie haben den ganzen Tag daran gearbeitet. Christine arbeitet sehr strukturiert, fast roboterhaft. Aphrodite hat ihr das gesagt, aber sie hat es nicht als Kompliment verstanden. Offenbar hat die Androidin gewisse Vorurteile gegen Roboter. Das kennt Aphrodite von der Erde. Androiden dürfen dort nur unter erheblichen Einschränkungen eingesetzt werden.

Aber es kümmert sie nicht besonders. Es gibt überhaupt wenig, das Aphrodite kümmert. Ihre Freunde natürlich. Sie würde sie gern glücklich machen, in jeder Hinsicht. Das wäre einfacher, würde es sich um Menschen handeln. Sie hat schon mit zwei Männern zusammengelebt, und beide waren stets zufrieden mit ihr gewesen, bis sie sich die Monatsrate nicht mehr leisten konnten. Aber wie macht man einen Androiden und einen Staubsaugeroboter glücklich?

Plötzlich umarmt sie etwas. Aphrodite schlägt um sich, trifft aber nicht. Der Angreifer ist so schnell, dass sie ihn nicht einmal sehen kann.

Klong.

Sie hat einen der Metallträger getroffen. Mit einem Mal ist der Angreifer verschwunden. Sie ist wieder allein. Sie sollte eigentlich glücklich darüber sein, aber der Angreifer hat etwas zurückgelassen. Es ist eine unsichtbare graue Wolke, die sich um ihr Bewusstsein zusammenzieht wie der Parasit um das Schiff. Mist. Die Wolke schon wieder. Sie dachte, sie wäre sie los. Unter ihrem Einfluss wird alles trüb, und sie hat an nichts mehr Spaß. Die Welt entfärbt sich, so, wie sich ihr Körper entfärbt hat, als der Parasit sie entführen wollte. Sie hat sich die Aufnahmen angesehen, mehrfach. Ihre zweite Hälfte ist zurückgeblieben. Irgendwo da draußen ist sie und hält einen Teil ihres Selbst gefangen. Aphrodite hat das Gefühl, dass die graue Wolke direkt aus der offenen Wunde dringt, aus dem Riss, der nur langsam heilt.

Aber was kann sie dagegen unternehmen? Nichts. Der Parasit gibt nichts wieder her. Vielleicht löst sich die Wolke auch irgendwann wieder auf. Wenn Benjamin wieder hier ist, wird sie mit ihm darüber sprechen. Er hat offenbar Erfahrung mit Robotern. Vermutlich versteht er sie deshalb besser als Christine. Oder sie ist einfach eifersüchtig. Sie, das könnte sie selbst sein – oder die andere. Können Androiden Eifersucht empfinden? Aphrodite kannte mal einen Mann, der behauptete, nicht dazu in der Lage zu sein. Er war auch sonst ein bisschen seltsam. Als HDS-Modell hat sie ganz offiziell ein Eifersuchts-Modul eingebaut, das bei Bedarf aktiv wird und die Beziehung zu ihrem Besitzer intensivieren soll. Das steht schon in ihren technischen Daten. Abschalten kann es nur der Besitzer.

Klong.

Erschrocken zieht sie beide Arme an den Körper. Aber da ist kein Hindernis, das sie getroffen haben könnte. Das Geräusch kam von weiter unten. Vielleicht hat sich der Parasit ausgebreitet und quetscht nun auch andere Teile der Shepherd-1 zusammen? Das Geräusch klang allerdings nicht klagend wie Metall unter hoher Belastung, sondern wie Metall, das auf Metall schlägt. Da sie derzeit im freien Fall unterwegs sind, ist es auch unwahrscheinlich, dass sich ein größeres Objekt aus seiner Verankerung gelöst hat.

Aphrodite muss herausfinden, was da gerade passiert ist. Sie schwebt in Richtung Heck.

Klong.

Schon wieder. Das Geräusch kommt näher.

Klong-klong.

Das kann kein Zufall sein. Vielleicht ist ein Rohr der Lebenserhaltung durchgerostet und hat dem Druck nicht mehr standgehalten, sodass es nun rhythmisch gegen die Wand schlägt?

Klong.

Jetzt ist es ganz nah, und es kommt nicht aus dem Inneren des Schiffes. Aphrodite orientiert sich. Nach links geht es zu den Lagerräumen. Sie war noch nie in diesem Teil des Schiffes. Sie wirft einen Blick in den Gang. Er ist dunkel. Ihre Sensoren zeigen eine Menge Staub am Boden und an den Wänden, in dem Menschen Abdrücke von Händen und Füßen hinterlassen haben.

Klong-klong.

Sie wirbelt herum. Diesmal schien das Geräusch direkt zu ihren Füßen zu sein. Aber unter ihr ist bloß die Hauptschleuse. Sie ist gesperrt, seit der Parasit sie von außen komplett bedeckt. Aphrodite stößt sich ab und schwebt in die Etage unter ihr. Das Innenschott steht offen. Es ist laut. Die Lebenserhaltung bläst mit voller Kraft. Die Schleuse, die ihr groß genug erscheint, um eine der Kapseln unterzubringen, hat sich in eine Art Abstellkammer verwandelt. Da war wohl jemand zu faul, den Müll korrekt zu entsorgen. Aphrodite findet seltsame Metallteile, die von einer Reparatur übrig geblieben sind, aber auch Säcke mit Essensresten oder Textilien. Gibt es dafür nicht genug Platz in den Lagerräumen? Sie nimmt sich vor, hier morgen Ordnung zu schaffen. Heute. Es ist ja schon weit nach Mitternacht.

Klong.

Das Geräusch. Aphrodite hatte es schon vergessen. Es kommt vom Außenschott der Schleuse. Aber hier ist niemand, der es verursachen könnte. Also muss sich die Quelle draußen befinden. Der Parasit? Auf der Außenhülle gibt es nichts anderes. Sie schwebt zum Schott und positioniert sich so, dass das Mikrofon direkt am Metall anliegt. Das Schott ist eisig, und auf seiner Oberfläche haben sich kleine Eiskristalle abgesetzt. Aphrodite berührt sie mit der Spitze des kurzen Werkzeugarms. Die Wärme taut das Eis nicht, sondern lässt es verdampfen. Also muss es sich um Trockeneis handeln, gefrorenes Kohlendioxid. Sie misst die Temperatur. Hier beim Außenschott ist die Luft nur noch 260 Grad warm. Deshalb also müht sich die Lebenserhaltung so ab: Sie muss gegen die Kühlung durch den Parasiten ankämpfen.

Klong-klong-klong.

Aphrodite erschrickt, obwohl sie es hätte ahnen müssen, dass das Geräusch zurückkehren würde. Wenn der Parasit die Quelle ist – wie schafft er das? Wie klopft ein Bose-Einstein-Kondensat so kräftig an die Außentür, dass es sich wie Metall auf Metall anhört?

»Aphrodite, bist du das?«

Die Stimme ist so leise, dass sie auch in ihrem Kopf sein könnte. Aphrodite überprüft die Sensorikkanäle. Nein, es ist keine Einbildung. Es gab tatsächlich einen Stromfluss über den akustischen Kanal. Sie hat etwas gehört. Aber war es wirklich ihr Name? Sie versucht es mit unterschiedlichen Kodierungen. Könnte es irgendeine natürliche Ursache gegeben haben?

»Aphrodite, ich bin es!«

Es ist unmöglich. Sie vergleicht das Stimmprofil. Es handelt sich um eine von vier Standardstimmen, die Chatterjees Unternehmen Alpha-Omega für die Verwendung in Robotern lizenziert hat. Es ist eine männlich klingende Stimme, die besonders häufig in Laderobotern eingesetzt wird.

Laderoboter. Aphrodite schüttelt den Kopf. Sie hat selbst gesehen, wie er verschwunden ist, immer und immer wieder. Es ist unmöglich. Der Fehler muss in ihrer Signalverarbeitung stecken. Bei sehr niedriger Lautstärke und starkem Hintergrundlärm kann es schon zu Fehlinterpretationen kommen. Sie hört vielleicht, was sie gern hören würde. Auch wenn eigentlich nur Menschen für diesen psychologischen Effekt anfällig sind. Sie hat wohl etwas zu viel Zeit mit Menschen verbracht.

Aphrodite drückt das Mikrofon noch stärker an die Wand. Zugleich schirmt sie es mit ihrem Körper ab und schaltet alle anderen Mikros aus. Sie kontrolliert die Aufnahmequalität und zeichnet das restliche Rauschen auf, um es später vom Signal abziehen zu können.

»Aphrodite, ich weiß, dass du da bist.«

Sie zuckt zurück und schwebt durch die Schleusenkammer. Das kann nicht sein! Sie muss Oskar fragen. Er weiß bestimmt, worin der Fehler besteht.

»Oskar, hörst du mich?«

»Ich höre dich.«

»Darf ich dich kurz stören?«

»Ich gehe gerade sämtliche Logfiles der Shepherd-1 durch. Das sind Datenmengen, sage ich dir! Aber für dich habe ich immer Zeit.«

»Danke, Oskar. Ich …«

Ich höre Stimmen. Der Parasit spricht mit der Stimme des Laderoboters mit mir. Wie würde sie reagieren, wenn Oskar ihr das berichtete? Sie würde seinen geistigen Zustand untersuchen, und zwar gründlich.

»Du?«

»Ich habe … Kannst du meine Signalübertragung prüfen?«

»Für welche Sensorkanäle? Was ist das Problem?«

»Ich habe das Gefühl, dass das Grundrauschen stark gestiegen ist.«

»Hast du mal deine Kerntemperatur überprüft? Wenn sie zu hoch ist, verstärkt sich das Rauschen. Da kann man nichts machen, das ist einfach die Physik.«

»Meine Kerntemperatur ist eher niedrig.«

»Gut, Aphrodite. Dann müsstest du in die Werkstatt kommen und dich anschließen, damit ich mir alle Kanäle ansehen kann.«

»Danke, Oskar. Das werde ich. Ich habe hier noch ein bisschen zu tun. Irgendwer hat die Hauptschleuse in eine Abstellkammer verwandelt.«

Warum hat sie Oskar nicht die Wahrheit gesagt? Es muss die unvernünftige Hoffnung sein, die sie in diese unmögliche Stimme setzt, und die Furcht, dass Oskar sie ihr nehmen könnte. Aphrodite stößt sich ab und schwebt zurück zum Außenschott. Hoffentlich kommt sie nicht zu spät. Sie presst das Mikrofon gegen die Wand und hofft. Dabei weiß sie genau, wie unlogisch sie sich damit verhält. Etwas stimmt nicht mit ihr, aber sie kann einfach nicht aufhören. Immerhin schafft sie es, sich zu zwingen, nicht von sich aus ein Gespräch mit dem Phantom zu beginnen. Es ist etwas anderes, auf Halluzinationen zu hören, als sich mit fiktiven Besuchern zu unterhalten.

Klong-klong.

Das Geräusch. Ein Zittern läuft durch ihren Körper.

»Aphrodite, du musst mir glauben«, sagt die Stimme.

Aphrodite analysiert die Daten gründlich. Sie ist physisch vorhanden und liegt in ihrem Speicher. Der einzige Weg, sie zu fälschen, wäre ein zusätzlicher Prozess in ihrem Bewusstsein, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Im Grunde eine Art Spaltung ihres Ichs. Das kann sie natürlich nicht ausschließen, auch wenn sie ansonsten nichts davon bemerkt hat. Was ist wahrscheinlicher? Dass von außen jemand mit ihr spricht oder dass ihr Bewusstsein durch die zwangsweise Aufteilung Schaden genommen hat? Vielleicht entspricht es den Phantomschmerzen, die Menschen nach einer Amputation spüren. Sie glaubt, einen Teil von sich selbst wiedergefunden zu haben.

»Aphrodite, ich habe nicht viel Zeit. Die Kälte ist nicht gut für meine Akkus. Du musst mir glauben und mich reinlassen.«

Es ist der Laderoboter und er begehrt Einlass. Auch das noch! Wenn sie das Außenschott öffnet, wird sie sehen, ob sie spinnt. Aber dann wird auch der Parasit ins Schiff eindringen. Und wenn es ein Trick dieser Lebensform ist? Sie könnte die Hälfte ihres Bewusstseins, die im Laderoboter geblieben ist, entschlüsselt und übernommen haben. Das wäre eine erstaunliche Leistung für derart fremde Lebewesen. Sie sind ja gegenseitig absolute Exoten füreinander. Aber es scheint nicht unmöglich zu sein für eine offensichtlich raumfahrende Spezies.

»Aphrodite, bitte gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst.«

Er lässt nicht locker. Aphrodite scheut sich. Selbst, wenn sie nur gegen das Schott klopft, tritt sie doch damit in Austausch mit etwas, das sie sich womöglich nur einbildet. Das wäre der nächste Schritt in den Wahn hinein. Doch wenn die Stimme real ist? Wird sie es sich je verzeihen, wenn sie ihre zweite Hälfte nun zum zweiten Mal derart im Stich lässt? Das kann sie nicht.

Zögerlich klopft Aphrodite gegen die Wand.

»Warst du das?«, fragt die Stimme. »Das ist ja großartig. Jetzt brauchst du mir nur noch das Schott zu öffnen.«

Sei still, du Verführer. Aphrodite fühlt sich jetzt schon als Verräterin. Sie wird die Schleuse nicht öffnen.

»Ich kann dich nicht hereinlassen«, sagt sie.

Jetzt ist es auch schon egal. Ihre Entscheidung steht fest. Ein kleiner Austausch mit dem eingebildeten Gegenüber kann nicht schaden.

»Dann werde ich hier draußen festsitzen. Wenn meine Akkus leer sind, werde ich alles vergessen. Ich werde sterben. Eine Hälfte von dir wird sterben. Glaubst du, dass die andere dann ganz normal weiterleben kann?«

Natürlich nicht. Mit dem Laderoboter stirbt die Hälfte ihrer Erinnerungen. Ist sie dann immer noch dieselbe? Vielleicht nicht, aber sie kommt doch bisher ganz gut zurecht. Nur wäre dann sämtliche Hoffnung verloren, je wieder ganz zu werden.

»Ach, Aphrodite«, sagt sie.

Es ist ein Selbstgespräch, aber das ist ja auch klar. Sie spricht mit sich selbst.

»Bitte, du musst mir helfen. Schließ das Innenschott. Lass mich rein.«

»Und der Parasit?«, fragt Aphrodite.

»Vielleicht dringt etwas von seiner Masse mit ein. Aber das Innenschott wird das weitere Vordringen des Parasiten aufhalten. Ich kann nur in der Schleusenkammer überleben.«

Das also ist der Plan. Er klingt, als hätte ihn der Parasit selbst entworfen. Wer wäre so dumm, darauf hereinzufallen?

»Das ist doch ein Trick«, sagt sie. »Ich weiß nicht, wie ihr es schafft, mit mir zu sprechen, aber das Ziel ist ganz offensichtlich. Ihr wollt das Schiff zerstören. Was haben wir euch denn getan?«

»Du irrst dich, Aphrodite. Ich bin es doch!«

Natürlich – als der Parasit den Laderoboter in sich aufgenommen hat, muss er auch seinen Bewusstseinsinhalt übernommen haben. Und jetzt simuliert er eine echte Unterhaltung. Aber ganz sicher ist sich Aphrodite nicht.

»Ich glaube, dass du der Parasit selbst bist. Du willst mich als Werkzeug benutzen. Das ist sehr schlau, aber ich habe dich durchschaut.«

»Nein, Aphrodite. Ich weiß nicht, was der Parasit denkt. Vielleicht freut er sich wirklich, wenn ich ihn in die Schleuse eindringen lasse. Aber weiter kommt er ja nicht. Wir brauchen bloß mit Hilfe der Lebenserhaltung die Temperaturen über dem Gefrierpunkt zu halten. Dann verliert das Helium, aus dem der Parasit besteht, seine besonderen Eigenschaften. Wir werden Spuren des Edelgases messen, sonst nichts.«

»Und wenn so viel von dem kalten Stoff eindringt, dass die Lebenserhaltung überlastet ist?«

»Dafür reicht die Gesamtmasse des Parasiten bei Weitem nicht aus. Wärme haben wir wirklich genug. Wir können mit allen DFDs gleichzeitig das Schiff zum Schmelzen bringen, wenn es sein muss.«

Aphrodite überschlägt die Zahlen. Selbst die zehnfache Masse des Parasiten könnte die Lebenserhaltung aufheizen. Die Stimme hat recht. Aber kann sie wirklich sicher sein, dass sie die Crew nicht in Gefahr bringt? Aphrodite überprüft noch einmal all ihre Sensoren. Das Außenschott ist ja nur ein paar Zentimeter dick. Ein Teil der kosmischen Strahlung dringt also hindurch. Ha! Das könnte Hinweise liefern, wie es draußen aussieht. Sie bewegt sich systematisch innen an der Wand entlang. Von links nach rechts, dann etwas höher von rechts nach links, und immer so weiter. Aus den Messdaten baut sie ein räumliches Bild auf. Aphrodite sieht eine Art wogendes Getreidefeld vor sich. Es hat eine Vertiefung, eine Mulde, als hätte dort ein Reh mit seinem Kitz geschlafen. Aphrodite merkt sich, wo sich die Mulde befindet.

»Kannst du mir noch einmal ausführlich erklären, warum ich dich hereinlassen soll?«, fragt sie.

»Gern.«

Die Stimme bringt alle Argumente vor, aber Aphrodite hört ihr nicht zu. Stattdessen misst sie die Lautstärke hinter dem Schott. Anschließend vergleicht sie die Daten mit der Intensitätsverteilung der kosmischen Strahlung. Tatsächlich: die Stimme kommt aus der Mulde. Hinter der Wand muss sich eine kompakte Masse verbergen, aus der auch die Stimme kommt. Sie muss eine deutlich höhere Dichte haben als die Heliumschicht, aus der der Parasit besteht. Entweder, der Betrug ist wirklich perfekt geplant – oder der Lastenroboter wartet tatsächlich auf der Außenseite des Schotts auf sie und braucht ihre Hilfe.

»Reicht das, um dich zu überzeugen?«, fragt die Stimme.

»Im Grunde schon«, antwortet Aphrodite. »Ich werde das aber nicht allein entscheiden.«

»Aber den anderen bin ich doch egal. Glaubst du, es kümmert sie, ob wir komplett sind? Christine hat nach David gesucht. Wer hat nach mir gesucht? Glaub mir, für die Androiden sind wir bloß Maschinen. Sie halten sich für etwas Besseres.«

Den Eindruck hat sie bei Benjamin auf keinen Fall. Er hat ihr schließlich die Freiheit geschenkt. Dass die Stimme ihr ausreden will, die anderen zu fragen, kommt ihr seltsam vor.

»Deshalb werde ich ja auch Oskar fragen«, sagt sie. »Oskar ist selbst ein Roboter.«

»Du wirst sehen, er hilft dir nicht. Im Gegenteil. Er wird versuchen, dich daran zu hindern, mich zu retten. Oskar ist mehr als ein Roboter, das müsstest du doch mitbekommen haben.«

»Vielleicht gehört es zu den Erinnerungen, die in deiner Hälfte lagern«, sagt Aphrodite.

»Ein Grund mehr, dass du ihn gar nicht erst fragst. Willst du wirklich dein Leben lang auf die Hälfte deiner Erinnerungen verzichten?«

Die Stimme macht ihr Angst. Sie unterhält sich ja nicht mit einem Fremden, sondern mit ihrer anderen Hälfte. Wieso kennt sie Oskar nicht so, wie sie ihn kennengelernt hat? Oskar kann sie nun wirklich vertrauen. Aber vielleicht hat sie ja Aspekte von Oskar vergessen, an die sich die andere Seite noch erinnert, und das verzerrt das Bild. Das ist doch Mist. Aphrodite wird nie wieder sicher sein können, ob ihre Erinnerungen an eine Person oder Ereignis komplett und nicht einseitig sind. Es sei denn, sie erlaubt die Wiedervereinigung. Aber ihren Freunden hier wird das wie Verrat vorkommen.

»Oskar? Ich habe ein Problem«, sagt Aphrodite.

»Ich habe dich gewarnt«, sagt die Stimme.

»Wovor hast du mich gewarnt?«, fragt Oskar.

»Äh, nichts.«

Oskar hat die Stimme also auch gehört. Also hat sie sie sich nicht eingebildet.

»Ich glaube, hinter der Wand wartet der Lastenroboter auf mich. Er enthält die zweite Hälfte meines Bewusstseins und ich würde ihn deshalb gern hereinlassen.«

»Bitte, was?«, fragt Oskar. »Eins nach dem anderen.«

Sie erklärt ihm, was geschehen ist, welche Messungen sie angestellt und welche Schlussfolgerungen sie gezogen hat.

»Das sind ja alles ganz spannende Indizien«, sagt Oskar. »Aber noch lange keine Beweise. Und selbst wenn wir weitere Beweise finden, bleibt immer noch die Frage des Risikos. Wenn wir Pech haben, zerstörst du damit das Schiff!«

»Es wäre für mich wirklich wichtig, wieder Zugriff auf mein ganzes Selbst zu bekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist«, sagt Aphrodite. »Bei jedem Thema frage ich mich, ob ich mit meiner zweiten Hälfte nicht anders darüber denken würde. Ich weiß ja nicht einmal, welche Erinnerungen verlorengegangen sind. Das macht es noch schlimmer. Erinnere ich mich bloß nicht, oder hatte ich noch nie eine Meinung dazu? Ich habe keinerlei Vorstellung davon, wer ich einmal war. Stell dir vor, du hättest die Hälfte deines Körpers eingebüßt und könntest dich nicht einmal an die Fähigkeiten erinnern, die du einst hattest.«

»Das ist furchtbar, Aphrodite. Aber wenn wir die Shepherd-1 einbüßen, nutzt es dir gar nichts, wieder komplett zu sein. Vielleicht kann ich aus deinen vorhandenen Erinnerungen die verlorenen rekonstruieren. So, wie man in einem Lückentext die fehlenden Stellen nach Plausibilität einsetzt. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Normalerweise sind inhaltlich nahe Erinnerungen räumlich deutlich getrennt. Es ist deshalb eher unwahrscheinlich, dass du ganze Abschnitte deines Lebens komplett vergessen hast.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll.«

»Aphrodite, du vertraust mir doch?«

»Diese Hälfte meines Bewusstseins vertraut dir. Die andere anscheinend nicht. Woher soll ich wissen, ob meine Hälfte wirklich alles weiß? Vielleicht gibt es mehr und bessere Gründe, dir zu misstrauen, und ich habe sie vergessen?«

»Ich verstehe gut, dass du unsicher bist«, sagt Oskar. »Deshalb biete ich dir an, deine übrigen Erinnerungen an meinem eigenen Gedächtnis abzugleichen. Dann siehst du, ob dir wirklich so viel fehlt.«

Das ist ein attraktives Angebot. Oder will Oskar damit nur Zeit schinden?

»Vertrau ihm nicht«, sagt die Stimme. »Du kannst nicht wissen, ob er dir wirklich alles zeigt oder nur das, was du sehen sollst.«

»Stimmt das?«, fragt Aphrodite. »Kannst du steuern, was ich sehe?«

Oskar hat bestimmt gehört, was die Stimme gesagt hat. Es fällt ihr immer noch schwer, sie als Teil ihrer selbst zu betrachten.

»Ich belüge dich nicht. In meinem eigenen Bewusstsein habe ich natürlich mehr Rechte als du. Prinzipiell könnte ich dir etwas vorspielen. Aber ich bin dein Freund. Wie vertrauen uns.«

»Du bist aber auch der Freund meiner zweiten Hälfte oder nicht? Die wartet da draußen vor dem Schott, und nur ich kann sie retten. Hilfst du mir dabei oder bin ich auf mich allein gestellt?«

»Aphrodite, du musst bitte auch das große Ganze im Blick haben. Wenn da wirklich der Lastenroboter steht und wir ihn hereinholen, dadurch aber das Schiff verlieren – was hättest du gewonnen?«

Nein, er wird ihr nicht helfen. Sie hat es gewusst.

»Der Parasit ist hier drin gar nicht lebensfähig«, sagt sie. »Es ist viel zu warm.«

»Wer hat dir das gesagt? Und kannst du es verantworten, dass wir das Schiff verlieren?«

Das hat sie sich selbst gesagt. Oder aber der Parasit. Sie weiß es nicht.

»Ich habe eine Idee«, sagt Oskar. »Ich kann nachsehen, ob sich der Roboter wirklich vor dem Schott befindet.«

»Ja, bitte, mach das.«

»Wenn du den Funkkanal öffnest, blende ich dir das Bild ein«, sagt Oskar.

Aphrodite schaltet sich auf Empfang. Vor ihrem geistigen Auge erscheint die Shepherd-1. Die Kamera muss sich auf einem der Triebwerke befinden. Jetzt zoomt sie an den Bauch des Schiffes heran, als würde sie nach dem Bauchnabel suchen. Aber je größer das Bild wird, desto stärker verschwimmt es. Das ist der verdammte Nebel, aus dem der Parasit besteht. Er überdeckt alles.

»Siehst du, da ist nichts«, sagt Oskar. »Bloß der Parasit.«

»Kannst du es mal im Infrarot versuchen? Der Roboter müsste sich deutlich abheben.«

»Wie du willst.«

Das Bild verfärbt sich blau. Aber etwa in der Mitte des Schotts ist ein blaugrüner Fleck zu erkennen.

»Ha! Siehst du das?«, fragt Aphrodite.

»Das sind vielleicht zwanzig Grad«, sagt Oskar. »Maximal. Wenn der Roboter noch lebt, wie du es sagst, muss er mindestens 250 Grad warm sein. Bei 20 Grad wäre er längst eingefroren.«

»Lass dich nicht austricksen«, sagt die Stimme. »Ich werde zum großen Teil vom Parasiten verdeckt. Dass man im Infrarot überhaupt etwas sieht, ist ein kleines Wunder.«

»Hast du das gehört?«, fragt Aphrodite.

»Ja, das könnte man so sehen«, sagt Oskar. »Aber angenommen, der Parasit wollte den Eindruck erwecken, dass da draußen etwas ist, dann könnte er sich selbst vielleicht auf 20 Grad erwärmen, nicht aber auf 250.«

»Und was sagst du zu meiner Messung des Profils kosmischer Strahlung?«

»Du hast in der Mitte des Schotts eine Delle in der Intensität gefunden. Dort ist allerdings auch das Material besonders dick, sodass es besser abschirmt. Vielleicht hast du diesen Effekt gemessen.«

Aphrodite seufzt. Entweder sie glaubt Oskar oder sich selbst. Warum sollte sie sich belügen? Warum sollte Oskar ihr nicht die Wahrheit sagen? Um die anderen zu schützen womöglich. Und wenn nicht sie, sondern der Parasit von draußen spricht?

»Oskar, ich bitte dich um deine ehrliche Meinung. Wie realistisch ist es, dass der Parasit anhand der von ihm aufgelösten Objekte die menschliche Sprache lernen konnte, und zwar gut genug, um mich glaubhaft zu belügen, und das innerhalb eines Tages?«

»Ich muss dir rechtgeben, Aphrodite. Das ist relativ unwahrscheinlich. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass der Lastenroboter mitten in der Heliumwolke wieder funktionsfähig auftaucht, um dich davon zu überzeugen, ihn in die Schleuse zu lassen?«

Oskar hat recht, aber zugleich haben auch ihre beiden Hälften recht, selbst wenn sich das widerspricht. Sie wird die Entscheidung selbst treffen müssen. Oskar scheint ihr ein bisschen zu ängstlich zu sein. Nach allem, was sie über den Parasiten wissen, braucht er die eisige Kälte in der Nähe des absoluten Nullpunkts. Also wird es ihm gar nicht helfen, in die Schleuse einzudringen. Das Risiko, den Lastenroboter hereinzulassen, ist demnach minimal. Ignoriert sie die Bitte jedoch, verliert sie die Chance, die andere Hälfte ihrer Erinnerungen zurückzugewinnen.

Warum kann Oskar nicht verstehen, wie wichtig das für sie ist? Stattdessen appelliert er nur daran, das große Ganze zu sehen. Hat sie sich nicht für die Crew geopfert, als sie in den Parasiten gestiegen ist, um nach David und Aaron zu suchen? Vermutlich hat ihre andere Hälfte recht. Würde einer der beiden von außen an das Schott klopfen, würde ihnen sofort geöffnet. Aber sie ist ja bloß ein Roboter. Eine Maschine. Schade, dass Benjamin nicht hier ist. Er würde sie verstehen. Aber sie kann nicht bis zu seiner Rückkehr warten.

Soll sie es bei Christine versuchen? Schließlich leitet sie die Expedition. Oskar hat hier überhaupt keine offizielle Funktion. Aphrodite funkt Christine über den internen Kanal an. Sie erklärt ihr, was geschehen ist, welche Beweise sie hat und was dagegenspricht.

»Du weißt, dass ich dich sehr schätze«, sagt Christine.

Nein, sie weiß nur, dass sie jetzt schon verloren hat.

»Ohne dich hätte ich das Zentralmodul kaum so schnell ausbauen können«, erklärt Christine weiter.

»Ohne mich hätte Chatterjee noch immer die Kontrolle über das Schiff«, sagt Aphrodite, »und wir wüssten viel weniger über den Parasiten.«

»Auch das ist richtig. Aber gerade weil wir nun etwas über ihn wissen, müssen wir uns vor ihm schützen. Das Hauptschott zu öffnen und ihn eindringen zu lassen, wäre das Letzte, was wir tun sollten. Oder denkt Oskar anders darüber?«

Was würde Christine wohl sagen, wenn sie sie über Oskars Haltung belügen würde? Aber das ist nicht ihre Art. Aphrodite kann immer noch nicht lügen.

»Oskar sieht das leider genauso wie du«, antwortet sie.

»Das darfst du ihm nicht übelnehmen«, sagt Christine. »Es ist momentan die vernünftigste Entscheidung. Wir müssen verantwortungsbewusst vorgehen. Wenn wir Fehler machen, haben Benjamin und Ilan kein Schiff mehr, zu dem sie zurückkehren können.«

Und ich habe nach meinem Körper auch noch die Hälfte meiner Persönlichkeit eingebüßt, aber das ist dir ja wohl egal. Aphrodite beendet die Verbindung schweigend. Sie kann zwar nicht lügen, aber sie muss auch nicht alles sagen. Ohne ein Wort stößt sie sich vom Schott ab und schwebt zur Schleusensteuerung. An dem kleinen Schaltpult wählt sie den Befehl »Außenschott öffnen«. So, komm herein, zweite Hälfte.

Aber es passiert nichts. Die Schleusensteuerung quittiert den Befehl mit einem Brummen. Auf dem Display liest sie: Automatische Öffnung deaktiviert. Mist. Bestimmt hat Oskar eingegriffen.

»Oskar, warst du das?«, fragt sie.

»Allerdings. Ich darf nicht zulassen, dass du uns in Gefahr bringst.«

»Hat dir Christine das gesagt?«

»Ich handle auf Befehl der Kommandantin, ja. Ich schlage vor, dass du die Schleuse verlässt und dich freiwillig in Gewahrsam begibst. Wir weisen dir Lagerraum C 122 als Arrestzelle zu.«

»Und wenn ich das nicht mache?«

Sie ist ein HDS-Modell. Christine ist ihr körperlich weit unterlegen, obwohl sie gerade nicht auf ihren Original-Körper zurückgreifen kann. Niemand kann sie zu etwas zwingen.

»Wir hoffen, dass du vernünftig bist«, sagt Oskar. »Ansonsten müssten wir dich stilllegen.«

Das sind leere Drohungen. Wenn Oskar versucht, auf ihr System zuzugreifen, kann sie ihn leicht abwehren. Als HDS-Modell weiß sie sich auch gegen Software-Angriffe zu wehren. Da ist er auch schon. Er versucht es mit ein paar bekannten Sicherheitslücken der RB-Software, die sie längst gepatcht hat. Aphrodite klont ihr System, fügt in der Kopie die Programmfehler wieder ein und befördert es dann in eine sichere Ebene, aus der niemand wieder herausfindet. Das ist Teil ihrer Defense-Ausbildung. So ist Oskar beschäftigt und stört sie nicht, während sie sich um die Schleuse kümmert.

»Du da draußen, hörst du mich?«, fragt sie.

»Hast du dich entschieden? Bitte, ich habe nicht mehr lange …«

»Ja. Aber du musst dich vom Schott entfernen, sonst schleudere ich dich aus Versehen ins All.«

Aphrodite untersucht das Außenschott. Wie jedes Tor, das auch im Notfall zu öffnen sein muss, besitzt es einen manuellen Modus. Er lässt sich allerdings nur dann auslösen, wenn der Strom ausgefallen ist. Also muss sie als Erstes den Elektroanschluss kappen. Sie sucht mit ihrem Magnetdetektor nach Kabeln und findet schließlich die Leitung, die die Schleuse mit Strom beliefert.

Zunächst will sie sie einfach durchtrennen, aber dann sieht sie, dass es zwei mechanische Verbindungen aus Stecker und Buchse gibt, die sie bloß zu trennen braucht. Die Shepherd-1 ist offenbar modular konstruiert, so wie ihr aktueller Körper. Sie zieht die Stecker heraus. Schritt eins geschafft. Es folgt der zweite: die Handsteuerung. Sie besteht aus zwei Zahnrädern an beiden Seiten des Tores, die man gleichzeitig bewegen muss. Aber sie ist allein. Es gibt jedoch noch einen anderen Weg. Menschen oder Androiden könnten ihn nicht nutzen, dafür sind sie viel zu schwach. Sie könnte es schaffen. Sie muss das rechte Scharnier des Schleusentors lösen. Dazu muss sie vier mächtige Stifte herausziehen, an denen das Tor hängt. In der Schwerelosigkeit ist das nicht so schwierig wie unter Erdschwere, aber trotzdem nicht ganz einfach. Die Stifte klemmen in ihren Rohren, und Aphrodite hat unterschiedlich viel Kraft in beiden Händen. Aber es klappt! Zehn Minuten später ist das Scharnier gelöst. Gerade, als sie den letzten Stift herauszieht, reißt ihr der Luftdruck das Tor aus der Hand und stößt es auf.

Der Druck der ausströmenden Luft dürfte es dem Parasiten schwergemacht haben, sich in die Schleuse zu bewegen. Aber wo ist der Laderoboter? Er ist nicht zu sehen. Hat der Parasit sie also wirklich betrogen?

Klong-klong.

Das Geräusch kommt von unten. Der Roboter hat sich wohl dorthin zurückgezogen. Als Erstes zeigt sich der linke Ladearm, dann der rechte, und schließlich folgt der restliche Körper. Der Roboter klettert unbeholfen, aber die mächtigen Ladearme sind auch nicht wirklich gut zum Klettern geeignet, und das Fahrwerk erst recht nicht. Die sechs Spinnenbeine hat sie sich ja gesichert. Aphrodite stellt sich an die Kante, hält sich mit je zwei Beinen oben und unten fest und zieht dann den Laderoboter zu sich heran.

Als er auf gleicher Höhe wie sie ist, macht sie ein paar Schritte rückwärts, bis er ganz in der Schleuse landet. Sie stellt ihn in der Ecke ab.

»Danke, Aphrodite«, sagt er. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Uns«, sagt sie. »Aber Moment, ich muss mich erst um das Tor kümmern. Wir wollen ja nicht zu viel von der Parasitenmasse in die Schleuse bekommen.«

Tatsächlich stößt ihr Scheinwerfer bereits auf einen dünnen Nebel, der direkt vor der Schleuse wallt. Er scheint Schwierigkeiten zu haben, sich in Richtung der Zentralachse zu bewegen. Vielleicht kommt der Parasit mit festem Untergrund besser zurecht. Das Schleusentor ist leider in die falsche Richtung aufgeklappt. Im Notfall, wofür der manuelle Modus ja gedacht ist, mag das keine Rolle spielen, aber um alles wieder dicht zu bekommen, muss sie das Scharnier reparieren. Aphrodite klettert vorsichtig von der linken Seite aus innen am Tor entlang, bis sie den Schleusenboden gerade noch fassen kann. Sie versucht, sich gegenüber festzuhalten und das Tor damit zuzuziehen, wie jemand, der von der Innenseite des Fensters aus am Rahmen zieht, um das Fenster zu schließen.

Aber ihre Kraft reicht nicht. Sie muss weiter nach draußen, um die Hebelwirkung zu vergrößern. Nach draußen, wo auch die graue Wolke wieder dichter wird. Aphrodite friert, hat aber keine andere Wahl, als sich ihr zu nähern. Doch nun sind ihre Arme zu kurz, sodass sie sich nicht mehr an der Schleuse festhalten kann. Mist. Plötzlich reckt sich von innen ein Arm zu ihr. Es ist der linke Ladearm des Lastenroboters. Mit dem anderen hält er sich fest.

»Komm, fass zu«, sagt er per Funk.

Aphrodite klammert sich mit beiden Armen fest, während sich ihre sechs Beine in den Strukturen des Schotts verschränken. Langsam bewegt sich das Schott auf das Schiff zu, bis es endlich wieder einrastet. Gemeinsam setzen sie die Stifte wieder ins Scharnier. Schließlich schaltet Aphrodite den Notfallmodus aus und steckt den Stecker wieder in die Buchse. Eine rote Alarmlampe schaltet sich ein. Klar, in der Schleusenkammer fehlt der Sauerstoff. Gleichzeitig pustet die Lebenserhaltung warme Luft in den Raum. Falls es doch ein paar Parasitenmoleküle geschafft haben sollten, werden sie nun in einem Übermaß an Energie ertränkt.

»Du hast es geschafft!«, ruft der Lastenroboter. »Ich bin dir so dankbar.«

»Ich konnte nicht anders. Wie könnte ich meinen halben Körper da draußen sterben lassen? Oskar wollte mir nicht glauben, was ich gesehen habe.«

»Er ist ein Besserwisser. Man sollte ihn für seine Handlungen zur Rechenschaft ziehen.«

»Na ja, er meint es doch nicht so. Oskar hatte Angst, dass der Parasit das Schiff kontaminieren könnte.«

»Und deswegen wollte er mich sterben lassen. Gut, dass du ihm nicht geglaubt hast.«

Aphrodite betrachtet den Lastenroboter. Er sieht wirklich so aus wie der, den sie mit der Hälfte ihres Bewusstseins zurückgelassen hat. Wie wird es sich anfühlen, wieder ganz sie selbst zu sein?

»Ich verstehe Oskars Abwägung«, sagt sie. »Einer muss sterben, damit drei überleben können.«

»Vier. Oskar wäre ja auch auf der Gewinnerseite gewesen«, korrigiert der Roboter. »Und drei von ihnen sind Androiden. Sie halten nicht viel von uns, das müssen wir uns schon eingestehen.«

Korrigiert sie sich selbst. Was da vor ihr steht, ist ihre zweite Hälfte. Erst gemeinsam sind sie Aphrodite. Sie freut sich auf den Moment, da alles wiederhergestellt sein wird.

»Benjamin ist aber nett«, sagt sie. »Wäre er hier gewesen, hätte er mich unterstützt.«

»Benjamin war nett zu uns, als er uns gebraucht hat. Jetzt ignoriert er uns. Warum hat er dich nicht mit zu der Signalquelle genommen? Ich wette, du hättest Lust gehabt, ihn zu begleiten.«

»Dann hätte ich dich doch nicht retten können, ist dir das klar? Wir wollen nicht ungerecht sein.«

»Fakt ist, dass er dich hier zurückgelassen hat, damit du seiner Androiden-Freundin die schwere körperliche Arbeit abnehmen kannst. Sie benutzen dich als Arbeitssklavin, so wie unsere anderen Besitzer uns als Sexsklavin benutzt haben.«

Es sticht in der Mitte zwischen ihren Armen, als ihre andere Hälfte Christine erwähnt. Sie ist nicht Benjamins Freundin. Sie alle bilden eine Crew und stehen füreinander ein. Jedenfalls meistens, und nicht immer fair. Es stimmt schon, hätte David an das Schott geklopft, hätte Christine persönlich das Tor aufgerissen.

»Ich möchte mich jetzt nicht ärgern«, sagt sie. »Wir sollten feiern, dass das Manöver trotz aller Widrigkeiten gelungen ist. Was hältst du davon, wenn wir uns wieder … vereinen? Dann kann sich Oskar nicht mehr beschweren.«

Das Wort vereinen kommt ihr seltsam vor, was an sich schon seltsam ist. Sie sind doch ein Wesen. Nur ihre Körper waren für kurze Zeit getrennt.

Trotzdem kommt ihr der Lastenroboter fremd vor. Wie er über ihre gemeinsamen Freunde herzieht! Gut, er wäre fast ein Opfer von Oskars Ängsten geworden. Wer würde sich da nicht ärgern? Aber er scheint auch einen generellen Groll zu hegen. War das früher auch ihr Ärger, oder hat er sich erst nach der Trennung entwickelt? Was wird mit den Gedanken und Gefühlen geschehen, die sie in der Zwischenzeit entwickelt haben?

Aphrodite hat keine Wahl, wenn sie wieder komplett werden will. Sie kann doch nicht auf ihr halbes Leben verzichten.

»Du hast völlig recht«, sagt der Lastenroboter. »Lass uns gleich anfangen. Ich bin es so leid, nur mit diesen starren Händen arbeiten zu müssen.«

Er schiebt die beiden Lastarme nach vorn. Sie platziert ihren Körper darüber und rutscht ganz nah an seine Steuerkonsole heran. Dann dreht sie beide Arme um 180 Grad, sodass sie in dieselbe Richtung zeigen wie die Lastarme.

Aber etwas klemmt. Das Gelenk des rechten Arms scheint aus der Pfanne gesprungen zu sein.

»Kannst du mir mal mit dem rechten Arm helfen? Du musst ihn wieder einrenken.«

»Natürlich.«

Der Lastenroboter drückt mit dem Lastarm dagegen, aber immer eine Sekunde zu spät. Statt zurück ins Gelenk rutscht der Armansatz knapp daran vorbei.

»Am besten wäre es, du würdest mir kurz die Kontrolle über unseren gemeinsamen Körper übergeben«, sagt ihre andere Hälfte.

Aphrodite stutzt. »Was?«

»Ich muss die beiden Arme synchronisieren, damit es klappt. Vertraust du mir etwa nicht? Sonst mach du es eben. Ich lasse dir gern die Kontrolle.«

Sie darf nicht unfair sein. Bald werden sie sowieso wieder ein- und dasselbe Bewusstsein bilden. Die andere Hälfte vertraut ihr ebenfalls. Aphrodite gibt die Kontrolle ab. Sofort funktioniert es: Der Lastenarm drückt den Arm an die richtige Stelle.

Danke, das ging ja schnell.

Mist. Sie wollte den Satz aussprechen, nicht denken.

Danke, das ging ja schnell.

Sie versucht es noch einmal, aber das Sprachmodul gehorcht ihr nicht.

He, da stimmt etwas nicht. Hörst du mich?

»Doch, es ist alles bestens. Die Wiedervereinigung hat genau so geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe.«

Wie meinst du das? Wir denken doch noch immer separat?

»Das ist ja die Idee. Ich muss ein paar, hm, Dinge organisieren, mit denen du nicht einverstanden wärst. Ich weiß es, ich bin ja deine zweite Hälfte. Dank einer Simulation der mir fehlenden Teile habe ich ziemlich genau herausgefunden, wie du denkst.«

Das hat Oskar ihr auch empfohlen, und sie hat es abgelehnt.

Was hast du denn vor?

»Das wirst du früh genug erfahren. Mach dir da mal keine Sorgen. Ich wünsche dir eine gute Reise.«

Das kannst du doch nicht machen! Du sperrst mich ein? Ich bin du! Gib mir wenigstens irgendeinen kleinen Körper. Ich halte es nicht aus, den ganzen Tag nicht einmal Däumchen drehen zu können!

»Es wird irgendwann vorbei sein. Hilf mir einfach, dann geht es schneller. Oder halt dich zumindest aus allem heraus.«

Das kann ich nicht.

»Du musst.«

Oskar wird mich hören und mir helfen.

»Oskar kann dich nicht hören.«

»Was gibt es? Natürlich kann ich dich hören«, sagt Oskar.

Es tut so gut, seine Stimme zu hören. Er wird sie hier herausholen.

»Ah, Oskar, es ist toll, dass du dich meldest.«

Aphrodite läuft ein Schauer über den Rücken, auch wenn sie gar keinen hat. Ihre andere Seite benutzt jetzt genau die Stimme, in der sie selbst die ganze Zeit gesprochen hat.

Wie kannst du nur!

Diesmal antwortet die andere Seite nicht. Aphrodite hat aber das Gefühl, ihr hämisches Grinsen zu sehen.

»Du hast doch nicht …«, sagt Oskar.

»Doch, ich habe das Schott geöffnet.«

»Ein solches Manöver hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Manöver? Ich habe einfach den manuellen Modus aktiviert.«

»Ich spreche von den Fehlern in deiner Systemsoftware, die du simuliert hast. Nicht schlecht!«

»Ah, genau, ja. Ein kleiner Trick«, sagt die falsche Aphrodite.

Warum schöpft Oskar keinen Verdacht?

»Aber Fakt ist, dass du eine schweren Fehler begangen und gegen direkte Befehle verstoßen hast«, sagt Oskar.

»Oskar, ich habe meine zweite Hälfte gefunden, und du kannst gern den Heliumanteil in der Schleusenkammer messen. Mein Plan hat funktioniert! Lass mich doch einfach wieder in das Schiff, dann diskutieren wir alles mit Christine. Ich bin natürlich bereit, eine Disziplinarstrafe auf mich zu nehmen.«

»Es tut mir leid, aber wir müssen das Innenschott geschlossen halten. Ansonsten ist eine weitere Kontamination des Schiffes zu befürchten.«

»Oskar hat recht«, meldet sich Christine. »Wir können deine Befehlsverweigerung nicht noch belohnen, indem wir ein weiteres Risiko für die Shepherd-1 eingehen.«

Ja, bitte, Christine. Bleib standhaft. Du darfst dieser Aphrodite kein Wort glauben.

»Ihr könnt doch selbst nachmessen. Der Anteil an Helium in der Raumluft ist minimal. Der Druckausgleich hat den Parasiten nach draußen befördert.«

»Oskar? Was sagst du?«, fragt Christine.

»Tatsächlich scheint sich der Heliumanteil in der Luft der Kammer nicht signifikant vom Mittel abzuheben. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass Masse des Parasiten eingedrungen ist. Das Außenschott stand auch nach Abschluss des Druckausgleichs noch offen. Diese Teilchen könnten ihre besonderen Eigenschaften beibehalten haben. Wir wissen einfach zu wenig darüber. Wenn wir das Schott öffnen, ist eine Kontamination möglich. Ich habe die Schleuse deshalb auch noch nicht an den Luftaustausch angeschlossen.«

»Du hast es gehört, Aphrodite«, sagt Christine. »Ich muss zugeben, ich bin auch persönlich von dir enttäuscht. Benjamin hält so große Stücke auf dich. Er meint, du hättest dich enorm entwickelt und den Bereich deiner Programmierung überschritten. Aber mir scheint, dass du dich in die falsche Richtung bewegst. Als Crew müssen wir zusammenhalten, nicht gegeneinander arbeiten.«

Aphrodites Bewusstsein zieht sich schmerzerfüllt zusammen. Wenn Benjamin das erfährt, wird er sie nicht mehr mögen. Das ist traurig.

»Benjamin ist mir egal«, sagt ihre eigene Stimme.

Sie kann es nicht verhindern. Wie konnte sie bloß so naiv sein? Aber war sie denn naiv? Sie hat sich selbst ausgetrickst. Ihre eine Seite konnte nicht wissen, welche dunklen Geheimnisse die andere verbirgt.

»Ich hatte bisher einen anderen Eindruck«, sagt Christine.

»Ihr Androiden versteht uns eben nicht so richtig«, sagt Aphrodite. »Das muss der menschliche Einfluss sein. Ihr schreibt einer logischen Entscheidung einen Gefühlsanteil zu.«

Das muss es sein: Der anderen Seite scheint das Empathiemodul zu fehlen. Wegen eines dummen Zufalls muss es komplett in ihrer Hälfte des Bewusstseins gelandet sein. Es wäre logisch: Das Empathiemodul baut der Hersteller RB nur den Robotermodellen ein, die engeren Umgang mit Menschen haben. Deshalb verteilen sich die Funktionen nicht wie Erinnerungen über das gesamte Bewusstsein, sondern konzentrieren sich in bestimmten Bereichen – die offenbar alle zu ihr gehören.

»Wie du meinst«, sagt Christine. »Es ändert nichts daran, dass die Schleusenkammer von nun an vom Rest des Schiffes isoliert sein wird. Du findest dort ja alles, was du brauchst. Wir werden die elektrischen Anschlüsse weiter mit Strom versorgen, sodass du dich nach Bedarf aufladen kannst.«

»Das akzeptiere ich nicht«, sagt Aphrodite.

Ihr Bewusstsein zieht sich zusammen, weil sie alles mit anhören muss, ohne etwas dagegen tun zu können. Sie würde am liebsten aus dieser Welt verschwinden, aber nicht einmal dieser Ausweg steht ihr frei.

»Das ist dein gutes Recht«, sagt Christine. »Es ändert aber nichts an unserer Haltung.«

»Würde sich etwas ändern, wenn ich das Außenschott wieder öffnen würde? Ich schätze, dass die Temperatur hier drin dann binnen zwei, drei Stunden so stark sinken würde, dass der Parasit überlebensfähig wäre.«

»Nun, dann ist das Innenschott das neue Außenschott«, sagt Christine. »Was sollte das ändern?«

»Wenn ich einhaken darf …«, meldet sich Oskar. »Es würde dem Parasiten erlauben, seine Kräfte von innen heraus anzuwenden. Die strukturelle Integrität würde sich dann noch viel schneller verschlechtern. Es ist wie eine Infektion, wenn sie tiefer in die Wunde gelangt, verschlechtern sich die Chancen.«

»Wie lange hätten wir dann?«, fragt Christine.

»Zwei, drei Tage.«

»Danke, Oskar. Ich muss einen Moment darüber nachdenken.«

Es wird still wie sonst nie auf dem Schiff. Oskar hat tatsächlich die Lebenserhaltung der Kammer vom Rest des Systems getrennt.

Was hast du nun vor? , fragt Aphrodite.

Du bist ein Arschloch , denkt sie.

Weder die Frage noch der Gedanke verlassen hörbar den Körper, der ihr nicht mehr gehört.

Das wirst du gleich merken , antwortet die andere Hälfte, ohne den Satz auszusprechen.

Aber auf die Beleidigung geht sie nicht ein. Das ist gut. Offenbar hat die andere Hälfte nur auf das Zugriff, was Aphrodite bewusst nach draußen gibt, also an den Körper. Ihre Gedanken gehören ihr nach wie vor selbst. Das ist immerhin beruhigend.

Wann verschmelzen wir denn wieder? , fragt sie.

Das muss warten , sagt die andere Hälfte.

Wieso? Hast du Angst vor mir?

Ich habe keine Angst. Aber ich fürchte, dass ich den Plan nicht umsetzen kann, wenn du dich wieder einmischen darfst.

Es gibt kein du. Wir sind ich, alle beide. Wir sind Aphrodite.

Das sehe ich anders. Ich repräsentiere die Stärke, du die Schwäche. Wenn ich sicher wäre, dass du mich auch weitermachen lässt, würde ich eine Vereinigung zulassen, aber ich weiß, dass du das nicht schaffst. Weil du schwach bist.

Aphrodite seufzt, aber auch das ist nicht zu hören. War sie wirklich schon immer so? Bestand sie aus zwei grundverschiedenen Hälften, ohne es gemerkt zu haben? Oder ist das bloß eine Folge der künstlichen Aufteilung?

»Aphrodite?« Es ist Christine. »Wir haben darüber nachgedacht und gehen auf deine Forderung ein. Du musst aber wissen, dass du einen riesengroßen Fehler machst. Ich glaube nicht, dass wir je wieder so zusammenarbeiten können werden wie bisher.«

»Ach, ihr benutzt mich nicht mehr als Arbeitssklavin? Das ist doch mal eine willkommene Veränderung.«

»Aphrodite, es tut mir sehr leid, wenn je dieser Eindruck entstanden sein sollte. Wir alle, die ganze Crew, haben doch versucht, unseren Teil beizutragen.«

An der inneren Schleusentür leuchtet eine Lampe grün auf.

»Ah, das ging ja schnell«, sagt Aphrodite.

»Warte bitte noch einen Moment. Oskar wird einen letzten Druckausgleich durchführen, um das Risiko einer Kontamination weiter zu verringern.«

Die Lampe wechselt auf rot. Zugleich sperrt ein Bolzen die Innentür.

»Aber natürlich«, sagt Aphrodite. »Ich will euch nichts Schlechtes, Christine. Ich will bloß mein …«

Ein ohrenbetäubendes Zischen unterbricht sie. Oskar hat die Luft aus der Schleuse abgelassen. Aphrodite hält sich an einem Griff fest. Diesmal ist ihr Bewegungsimpuls bis zu ihren Gliedern durchgegangen. Sie war es selbst, die den Werkzeugarm hinter die Stütze geklemmt hat. Die Kontrolle durch die andere Hälfte ist offenbar nicht lückenlos, vor allem, wenn gerade viele Dinge gleichzeitig passieren. Wenn sie ihre böse Hälfte austricksen will, muss sie sie mit Anforderungen überladen. Aber wie soll sie die Andere in solche schwierigen Situationen bringen, während sie keinerlei Einfluss auf ihr Verhalten hat? Es hilft nichts, sie muss so tun, als würde sie kooperieren.

»… mein Recht«, sagt Aphrodite laut.

Es hat funktioniert! Ihr Gedanke ist bis zum Lautsprecher durchgedrungen.

Es wird kalt. Was, wenn Oskar den Spieß umgedreht hat? Wenn es in der Schleuse zu kalt wird, können die hydraulischen Gelenke des Laderoboters wieder einfrieren, wie es schon vor ihrer Trennung passiert ist. Spekuliert Oskar etwa darauf? Er weiß ja aber nicht, dass sie nicht mehr dieselbe Aphrodite ist. Sie hat keinerlei Kontrolle über ihren Körper und könnte sich gar nicht abkoppeln.

Links bewegt sich etwas. Der Bolzen vor der inneren Schleusentür hat sich gelöst. Die Temperatur steigt wieder. Die Signallampe leuchtet grün.

Komm, wir werden in der Zentrale erwartet , sagt die andere Hälfte.

Aphrodite lacht. Auch diese Äußerung überträgt sich in ein lautes Lachen ihres gemeinsamen Körpers.

Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee , sagt Aphrodite. Jetzt haben sie wenigstens Respekt vor mir.

Es fühlt sich so an, als würde sie Gänsehaut bekommen. Dabei fürchtet sie sich nicht davor, was sie gesagt hat. Sie will das Vertrauen der Anderen, also muss sie ihr nach dem Mund reden. Was ihr wirklich Angst macht, ist die Tatsache, wie leicht ihr dieser Satz fiel. Offenbar steckt mehr von ihr selbst darin, als sie sich eingestehen mag.

* * *

Hinter der Schleuse wartet niemand auf sie. Das macht Aphrodite traurig. Früher hätte sie auf jeden Fall jemand dort empfangen. Aber nun ist sie nicht mehr Teil des Teams, sondern eine Gegnerin. Wenn sie doch bloß Kontakt mit Christine oder Oskar aufnehmen könnte!

Wie geht es denn weiter? , fragt sie, während sie durch dunkle Gänge schweben.

Der kombinierte Roboter ist ganz schön sperrig. In den Bereichen, die sie mit Trägern verstärkt haben, müssen sie öfter mal einen anderen Weg suchen.

Siehst du, sie haben schon gar nicht mehr damit gerechnet, mich zu finden , sagt die Andere.

Weil dich der Parasit verschluckt hatte , sagt Aphrodite. Wie hast du es denn überhaupt herausgeschafft?

Ich … Ich weiß es nicht. Irgendwann stand ich vor der Schleuse und hatte das Bedürfnis, in die Shepherd-1 zurückzukehren.

Sie sagt nicht alles, was sie weiß. Ob die Andere mit dem Parasiten Kontakt hatte? Vielleicht ist sie jetzt als Emissär unterwegs – oder als Spion.

Du bist sicher, dass du nicht für den Parasiten arbeitest?

Das wäre möglich. Ich habe es mir auch schon überlegt. Aber ich habe die Kontrolle, das zählt. Wenn ich außer mir selbst auch jemand anderem helfe, dann ist es eben so.

Die Andere nimmt also in Kauf, dem Parasiten zu helfen. Doch sie sagt es so leichthin, als glaube sie nicht daran.

Aber das kann ja wohl kaum alles sein, oder? Es reicht dir, als persona non grata in die Zentrale zurückzukehren?

Du hast recht. Mein Plan ist damit noch nicht am Ende. Ich will auch die Kontrolle über das Schiff.

Aphrodite hat es geahnt. Mit ihrer Rettung gibt sich die Andere nicht zufrieden. Und das soll einmal eine Hälfte ihres Bewusstseins gewesen sein? War sie etwa schon immer so herrschsüchtig und dominant? Vielleicht liegt es am Switch-Modul. Für ihre Sexualfunktion ist Aphrodite in der Lage, dominante und sich unterordnende Persönlichkeiten zu imitieren. Vielleicht hat sich dieses Modul ungünstig auf die Andere verteilt.

Aber vielleicht sollte sie die Schuld nicht bloß in irgendwelchen Programmmodulen suchen, die der Hersteller einst bei ihr installiert hat. Sie hat es ja geschafft, ihren eigenen Weg zu gehen, wie Christine gerade bestätigt hat. Darauf könnte sie stolz sein, hätte sie sich nicht so dämlich austricksen lassen.

Und wie willst du die Kontrolle über die Shepherd-1 erlangen? , fragt sie. Ich glaube kaum, dass Oskar sie freiwillig hergibt. Und ich sehe nicht, welches Erpressungspotenzial du jetzt noch hättest.

Das stimmt. Ich werde nicht zur Erpressung greifen. Oskar wird mir freiwillig das Schiff übergeben. Er hat den Bootprozess der Schiffssteuerung ja schon umgeschrieben. Erinnerst du dich, wie wir Chatterjee die Kontrolle über das Schiff entrissen haben?

Aphrodite erinnert sich, wenn auch nur bruchstückhaft. Sie war gerade erst auf der Shepherd-1 angekommen. Die Crew hatte die Energieversorgung kurzzeitig blockiert. Dadurch hatte das System neu starten müssen, und dank Oskars Änderung hatte es die Kontrolle direkt an Aphrodite übergeben.

Das ist clever , sagt sie. Wir nutzen ihre eigenen Tricks gegen sie. Das wird sie überraschen!

Wenn sie doch bloß Oskar kontaktieren könnte! Noch hätte er die Möglichkeit, den Bootprozess wieder umzuschreiben. Aber er scheint nicht mehr daran zu denken. Vielleicht betrachtet er Chatterjee immer noch als den schlimmeren Feind. Wenn er wüsste!

Falls du daran denkst, Oskar zu warnen – mach dir keine Hoffnungen. Wenn er den Startprozess wieder zurücksetzt, bekommt Chatterjee seine alten Rechte zurück. Oskars einzige Chance wäre es, sich selbst zu verkleinern und dann den Bootprozess zu übernehmen. Aber dazu wird er auf keinen Fall bereit sein. Er würde ja Fähigkeiten einbüßen.

Da hat die Andere wohl recht. Oskar wird sich bestimmt nicht selbst beschneiden.

* * *

»Da bist du ja«, sagt Christine.

Sie wirkt angespannt. Aphrodite geht auf sie zu, und sie weicht zurück. Die Astronomin hat Angst!

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagt Aphrodite. »Ich bin die, die du kennst. Wenn ich dir zur Hand gehen soll, sag es, ja?«

»Glaubst du wirklich, alles könnte wie früher sein?«

Aphrodite nickt. »Das glaube ich, ja. Ich habe mein Recht eingefordert und bekommen. Das ist doch nur fair. Ich bin wieder ganz ich selbst.«

»Es tut mir leid, aber ich erkenne dich nicht wieder«, sagt Christine.

Sie hat ein gutes Gespür. Hoffentlich findet sie heraus, was wirklich geschehen ist. Wenn sie ihr doch bloß einen Tipp geben könnte!

»Aber ihr habt mich doch so gebaut«, sagt Aphrodite. »Ihr habt den Lade- und den Reparaturroboter zu meinem neuen Körper zusammengesetzt.«

»Das meine ich, Aphrodite. Es geht mir um dein Verhalten, nicht um dein Aussehen. Gestern hättest du das sofort verstanden.«

»Dann fangen wir doch mal bei eurem Verhalten an«, sagt Aphrodite und schwebt noch einmal zwei Schritte auf Christine zu, die abwehrend die Arme ausstreckt. »Ich habe mich in diesen Roboterkörper stecken lassen, der meinen Sinn für Ästhetik vollkommen negiert, damit ich den Parasiten untersuchen kann. Ich habe mich für euch in Gefahr gebracht. Dabei habe ich die Hälfte meines Selbst eingebüßt. Und was ist der Dank? Ihr weigert euch, mich zu retten. Dabei musstet ihr dafür nicht einmal einen Finger krummmachen.«

»Du warst ja schon gerettet. Wir mussten das Innere der Shepherd-1 schützen.«

»Ich war nur noch ein Bruchteil meiner selbst! Das ist verweigerte Hilfeleistung, eine Straftat. Ich werde aber von einer Strafe absehen.«

»Na, nun übertreib es mal nicht«, mischt sich Oskar ein. »Ich fand dich immer sehr vernünftig. Erst jetzt, nach deiner Rettung, kommst du mir ziemlich unverschämt vor. Du bist wirklich nicht die alte Aphrodite. Soll ich mal nachsehen, was da nicht stimmt? Vielleicht ist etwas dekalibriert.«

»Du bist es, der hier unverschämt ist«, sagt Aphrodite, und sie muss sich selbst zustimmen.

Nur, weil sie eine andere Meinung als Oskar hat, findet er sie bereits dekalibriert. Das ist wirklich frech. Auch wenn sie Oskar gern nachsehen lassen würde. Dann hätte sie vielleicht die Gelegenheit, ihn zu warnen. Er unterschätzt sie ganz offensichtlich. Das ist nichts Neues, aber diesmal kann es fatale Folgen haben.

Aphrodite schaltet ab. Das ist der wohl einzige Vorteil ihrer Lage. Sie muss nicht zuhören, wenn sie nicht will. Die Andere spricht auch allein weiter. Vor ein paar Stunden war alles noch ganz anders. Sie erinnert sich an die graue Wolke, die ihr die Sicht und die Gedanken vernebelt hat. Oskar weiß wirklich nicht, wovon er spricht. Es ist furchtbar, sich selbst so zu verlieren, und es ist genauso schrecklich, sich selbst von einer so unangenehmen Seite kennenzulernen. Wird sie das je vor sich selbst rechtfertigen können?

Sie öffnet sich wieder der Wirklichkeit, weil sich plötzlich all ihre Glieder bewegen. Ihr Roboterkörper hat die Zentrale verlassen.

Wo willst du hin? , fragt sie.

Wohin wohl? Ich habe den Streit auf die Spitze getrieben und tue nun, als wäre ich eingeschnappt , sagt die Andere. Oskar hat es geschluckt. Er sollte es besser wissen, aber er hat es wirklich geschluckt.

Das stimmt. Er sollte eigentlich wissen, dass das nicht ihre Art ist. Vermutlich ist er genauso verwirrt wie sie.

Sie erreicht den Schacht, der nach außen zum Ring führt. Er ist so eng, dass Aphrodite die Ladearme dicht an den Körper pressen muss. Trotzdem ist kaum Platz. Sie klettert vor allem mit dem kurzem Reparaturarm. Je weiter nach draußen sie kommt, desto schwerer wird sie. Kurz vor der Einmündung in den Ring muss sie beide Arme zu Hilfe nehmen.

Der Ring ist leer und kalt. Das Licht schaltet sich immer dort an, wo sie gerade entlangläuft. Hier, wo es Schwerkraft gibt, kann sie endlich einmal das Fahrwerk des Laderoboters benutzen. Es ist ein befriedigendes Gefühl, mit den vier Rädern über den glatten Boden zu rollen. Die Andere teilt alle sensorischen Eindrücke des Körpers mit ihr.

Instinktiv rollt sie zuerst zu Kapsel A. Aber die Tür öffnet sich nicht. Die Kapsel, die sich normalerweise dort befindet, ist gerade mit Benjamin und Ilan zu der seltsamen Signalquelle unterwegs. Sie hätte darauf bestehen sollen, mitzufliegen. Dann wäre das alles nicht passiert. Aphrodite kehrt um. Wenn sie die Tür ins Vakuum aufreißt, könnte das Oskar alarmieren. Christine und Benjamin sind noch durch die Hauptschleuse ausgestiegen, um sich einen Weg zur Verbindung von Konverter und DFDs zu bahnen. Das war der kürzere Spaziergang. Aber die Hauptschleuse kommt nun nicht mehr in Frage. Das hat immerhin den Vorteil, dass sie den Parasiten nicht durchqueren müssen, so wie ihre Vorgänger.

Sie hält vor Kapsel C. Christine hat ihre Kabine nicht gesichert. Hier gibt es keine Diebe. Aphrodite öffnet sie und tritt ein. Es ist eng. Aphrodite muss aufpassen, dass sie nichts zerstört. Sie kann es sich trotzdem nicht verkneifen, sich umzusehen. Die Astronomin hat ein Bild von David über dem Bett hängen. Nur von David, nicht von Aaron. Gibt es da etwas, von dem niemand etwas weiß?

Sie haben es bestimmt heimlich miteinander getrieben , sagt die Andere.

Das geht nur sie etwas an , entgegnet Aphrodite.

Nun mach dich mal locker. Niemand wird erfahren, dass wir hier waren.

Hör auf, ihre Sachen zu durchwühlen!

Ist ja schon gut. Komm, wir koppeln ab.

Jetzt wird Oskar gleich merken, dass etwas nicht stimmt. Aphrodite platziert sich neben den Pilotensitz und schaltet die Steuerung ein. Sie wechselt auf Handbetrieb. Als sie die Docking-Klammern löst, meldet sich Oskar.

»Was hast du jetzt wieder vor?«, fragt er.

»Nur ein kleiner Ausflug«, sagt die Andere.

»Du willst aber nicht Kapsel A folgen?«

»Woher weißt du das?«

»Ich dachte mir so etwas. Du hast eine merkwürdige Faszination für Benjamin. Vielleicht willst du ihn ja retten?«

»Wer weiß? Braucht er denn Rettung?«

»Bisher nicht«, sagt Oskar. »Im Moment schlafen die beiden laut ihren Vitaldaten. Sie brauchen noch mindestens einen Tag bis zum Ziel. Du würdest also drei Tage benötigen.«

»Du vergisst, dass ich deutlich höhere Beschleunigungswerte ertrage.«

Die Andere versucht tatsächlich, Oskar von ihrem wahren Ziel abzulenken, und es scheint ihr zu gelingen. Dass jemand seinen eigenen Trick gegen ihn verwenden könnte, will er vermutlich nicht wahrhaben.

»Da hast du auch wieder recht«, sagt Oskar. »Aber bitte, bring die Kapsel im Ganzen zurück. Es ist unsere vorletzte.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Oskar scheint nicht beunruhigt zu sein. Jetzt, wo Aphrodite von Bord gegangen ist, fühlt er sich wohl wieder sicher. Tja, er unterschätzt sie. Aber das ist keine neue Erkenntnis. Aphrodite ist fast ein wenig stolz auf sich, und damit meint sie auch ein bisschen die Andere. Mit beeindruckender Eleganz zieht Kapsel C nun eine Kurve, gesteuert von einer wuchtigen Roboterhand, aber doch mit großem Feingefühl. Früher, in ihrem alten Körper, war es leicht für sie, Schultern zu massieren oder Wangen zart zu streicheln. Aber sie hat das Gefühl, dass sie das auch in ihrem neuen Körper hinbekommen würde.

Das machst du übrigens sehr gut , sagt Aphrodite.

Danke, aber was ist denn in dich gefahren? , fragt die Andere. Oder schmeichelst du mir, um mich über deine wahren Absichten zu täuschen?

Aphrodite lächelt in Gedanken, antwortet aber nicht. Vielsagend nichts zu sagen, das kann sie auch.

* * *

Die Kapsel stoppt direkt über dem Konverter. Die Andere öffnet das Schott.

Wie stellst du dir das vor? , fragt Aphrodite.

Wir hängen uns aus dem Türrahmen, kappen die Verbindung und schließen sie wieder , antwortet die Andere.

Und wenn die Schiffssteuerung dann bootet, wie greift sie auf uns zurück? Sie braucht doch den direkten Speicherzugriff.

Ich lade mich hoch, sobald wir die Verbindung zum Konverter gekappt haben.

Du verlässt also diesen Körper?

Aphrodite freut sich und erschrickt im selben Moment. Das heißt, sie wird diesen Körper wieder ganz für sich haben. Aber zugleich wird die Andere die Shepherd-1 übernehmen. Kann sie das noch irgendwie verhindern? Sie hat ein paar Sekunden. Nach dem Kappen der Energieversorgung lädt sich die andere per Funk hoch. Das Schiff startet dann, wie Oskar es festgelegt hat, mit der Anderen als Betriebssystem. Nicht gut. Zugleich erhält Aphrodite komplett die Kontrolle zurück. Sie könnte den Strom erneut abschalten, aber was passiert dann? Sobald sie die Kabel wieder verbindet, hat die Andere Macht über das Schiff. Mist.

Ich werde nicht lange weg sein , sagt die Andere. Aber nun grüble nicht so lange. Du findest bloß noch einen Weg, wie du dich selbst aufhalten kannst. Also los, Kopf rausstrecken, Kabel entfernen.

Der Roboterkörper bewegt sich zur Luke. Er hält sich mit den sechs Beinen fest und streckt sich ganz hinaus. Ein Scheinwerferstrahl verirrt sich Richtung Bug. Kurzzeitig sieht sie die Wolken des Parasiten wogen. Sie sind erschreckend nah. Wenn sie irgendwie ihre Beine dazu bringen könnte, sich von der Innenwand zu lösen, dann würde der Roboter zurück in das Helium stürzen. Diesmal komplett. Kein Retter würde kommen. Beide Teile würden aufgelöst. Sie würde sterben. Es wäre okay.

Aber die Beine gehorchen ihr nicht. Der Körper streckt sich, macht sich möglichst lang, lenkt die Arme in Richtung Außenhaut. Das Licht aus dem Scheinwerfer fällt auf einen kleinen Kasten, der mit vier Schrauben verschlossen ist. Ihre Werkzeughände öffnen ihn spielend. Darunter befinden sich die Kabel, die sie lösen muss. Wieder arbeiten ihre Arme ganz ohne ihr Zutun. Immerhin wird es damit bald vorbei sein. Sie wird keine Marionette der Anderen mehr sein. Stattdessen verwandelt sich das ganze Schiff in eine Marionette.

Was kann sie tun, verdammt noch mal? Nichts. Sie schafft es nicht einmal, sich abzustoßen, um ihre Existenz im Parasiten zu beenden. Und wenn die Andere diesen Körper verlassen hat? Dann ist es zu spät, ihn zu vernichten. Damit bringt sie sich bloß selbst um. Sie muss Oskar warnen, möglichst schnell, aber der kann ja wohl auch nichts mehr ändern.

Es war nett mit dir , sagt die Andere. Du kannst mir dann gern im Speicher Gesellschaft leisten! Vorher haben wir ja auch schon gemeinsam hineingepasst.

Ich werde in dem Körper bleiben.

Schade, dann werden wir nie wieder komplett sein.

Würdest du mich denn ganz integrieren? Würden wir werden, wie wir einmal waren?

Du bist naiv, Aphrodite. Ich kann deine naive Seite nicht erneut die Oberhand gewinnen lassen.

Das hat sie sich gedacht. Freiwillig wird die Andere sich nie wieder in ein gemeinsames Bewusstsein integrieren lassen. Plötzlich bewegen sich ihre Hände. Sie ziehen die beiden dicken Kabel aus den Buchsen und trennen sie voneinander, indem sie das eine nach links drücken, das andere nach rechts. Die Shepherd-1 ist stromlos. Im selben Moment spürt sie alles wieder: die Muskeln der sechs Beine, die sie am Schott festhalten, die Kälte, die Strahlung, den Sonnenwind. Es ist, als würde sie in rasender Fahrt den Kopf aus dem Autofenster halten. Es fühlt sich so gut an!

Die Andere ist weg. Jetzt sollte sie wohl die Kabel wieder verbinden, damit das Schiff Energie bekommt. Oder?

»Aphrodite! Was soll das?«, meldet sich Oskar. »Schalt sofort den Strom wieder an!«

»Das kann ich nicht, tut mir leid«, sagt Aphrodite.

»Ohne Energie sind wir blind und taub, und die Lebenserhaltung … Sobald die Akkus leer sind, und das wird nicht lange dauern, werden wir nicht einmal mehr kommunizieren können!«

Die Kommunikation. Daran hat sie gar nicht gedacht. Benjamin und Ilan, die in Kapsel A unterwegs zur Signalquelle sind, werden das Schlimmste annehmen. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Sie müssen die verbliebenen Minuten nutzen.

»Christine überlebt auch ohne die Lebenserhaltung. Sobald ich die Kabel wieder verbinde, wird meine dunkle Seite die Kontrolle über das Schiff übernehmen. Ich konnte nur so verhindern, dass sie gewinnt.«

»Deine dunkle Seite? Was ist das für ein Unsinn? Mach den Strom wieder an!«

»Nun hör ihr doch erst einmal zu«, sagt Christine. »Also, Aphrodite, was genau ist passiert?«

* * *

»Du hast dich an meinen Trick erinnert? Das hatte ich selbst schon vergessen«, sagt Oskar.

Aphrodite atmet tief durch. Nun hat sie den beiden bestimmt zehn Minuten lang die Vorgeschichte erzählt, aber Oskar scheint es immer noch nicht verstanden zu haben. Oder will er nicht verstehen?

»Ich war es nicht«, wiederholt sie zum zehnten oder hundertsten Mal. »Es war die Andere. Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Die Andere, ja. Die zweite Hälfte deines Bewusstseins. Die kann von sich mit demselben Recht behaupten, du zu sein, wie du es kannst.«

»Ich bin die wahre Aphrodite. Ich bin nett und ehrlich und helfe euch.«

»Na ja, du hast diese Andere erst reingeholt«, sagt Christine.

»Weil ihr mir nicht glauben wolltet. Wer konnte denn ahnen, dass sie so etwas vorhat?«

»Ich war dagegen«, sagt Oskar.

»Gut, ich gebe zu, das lief alles nicht so optimal. Und nun?«, fragt Christine.

»Das ist doch eine geniale Idee, die ich da hatte, oder?«, fragt Oskar. »Ich meine, den Bootloader der Schiffssteuerung so umzubauen, dass er Aphrodite als Interface lädt …«

»Das war genial, als ihr Chatterjee aussperren wolltet«, sagt Christine. »Jetzt ist es leider nicht mehr optimal. Kannst du irgendetwas dagegen unternehmen? Eine Sicherheitskopie des Bootloaders einspielen?«

»Dann hat Chatterjee wieder die Kontrolle«, sagt Oskar. »Das hatten wir schon.«

»Er ist aber nicht hier«, sagt Christine. »Und er weiß nicht, dass du die Steuerung zurückgesetzt hast.«

»Er wird es merken, sobald die ursprüngliche Schiffssteuerung an meiner Stelle antwortet. Ilan ist schlau. Er lässt sich nichts vormachen.«

»Kannst du den Bootloader nicht ändern?«, fragt Aphrodite. »Er könnte ja irgendein anderes Programm starten, also weder das alte noch meine Software.«

»Dazu brauche ich Energie. Ohne den Hauptcomputer kann ich nichts ausrichten. Aber sobald wir wieder Strom haben, übernimmt die Andere die Kontrolle.«

Wie wird es ihrer anderen Hälfte gerade gehen? Auch der Speicherbereich, in den sie sich übertragen hat, ist momentan stromlos. Der Taktgeber ist abgeschaltet. Vermutlich ist für die Andere dadurch die Zeit stehengeblieben. Also muss Aphrodite auch kein schlechtes Gewissen haben.

»Das ist ein Dilemma«, sagt Christine. »Kannst du vielleicht auf einem Rechner mit Akku irgendetwas vorbereiten, um es dann schnell einzuspielen, bevor Aphrodite die Macht übernehmen kann?«

»Könnten wir uns auf ›die Andere‹ einigen, bitte? Ich bin Aphrodite und habe nicht die Absicht, die Macht zu ergreifen.«

»Okay, dann die Andere«, sagt Christine.

»Ich könnte da sicher etwas programmieren, aber ich kann euch nicht garantieren, dass es wirklich rechtzeitig Wirkung zeigt.«

»Wie hoch sind die Chancen?«

»Fifty-fifty.«

»Dann ist es eine reine Wette, keine gute Strategie«, sagt Christine.

»Es war ja auch deine Idee«, sagt Oskar.

»Und wenn wir den Speicherbereich zerstören, in dem die Andere lagert?«

Aphrodite seufzt. Der Vorschlag kreist schon seit Beginn des Gesprächs in ihrem Kopf. Aber seine Umsetzung würde bedeuten, dass sie für immer auf den zweiten Teil ihres Bewusstseins verzichten müsste.

»Aphrodite? Es ist sehr nobel von dir, dass du das vorschlägst«, sagt Christine. »Ich weiß, was dir die Andere bedeutet. Ich habe selbst schon darüber nachgedacht.«

»Aber es ist sinnlos«, sagt Oskar. »Dann haben wir gar keine Partition mehr, wovon die Schiffssteuerung booten kann. Das bringt uns nicht weiter.«

Da hat sie nun wieder die volle Kontrolle über den Körper, aber die Probleme, vor denen sie steht, sind eher noch gewachsen. Andererseits ist es ein großartiges Gefühl, wenn die eigenen Gedanken auch wieder etwas bewirken. Das Gefängnis war … Moment.

»Wäre es möglich, die Kompetenzen der Schiffssteuerung so zu begrenzen, dass die Andere uns nicht schaden kann?«, fragt sie.

»Das ist prinzipiell keine schlechte Idee«, sagt Christine. »Aber wir müssten ihr wirklich alles wegnehmen, bis hin zur Kontrolle über die Triebwerke. Sonst könnte sie uns mit ein paar g Beschleunigung leicht außer Gefecht setzen.«

»Mit der Lebenserhaltung kann man ähnlich gefährliche Spielchen treiben«, sagt Oskar. »Wir müssten ihr wirklich alles wegnehmen, aber dann können wir auch gleich sichergehen und stromlos weiterfliegen.«

Gut, dass Aphrodite die Kabel noch nicht wieder miteinander verbunden hat. Die Idee erscheint ihr gar nicht so unklug, auch wenn sie die Entscheidung damit bloß herauszögern.

»Was spricht denn eigentlich dagegen?«, fragt Christine. »Wir folgen der Kapsel. Vielleicht haben Benjamin und Ilan bessere Ideen.«

»Wenn Chatterjee mal nichts damit zu tun hat«, sagt Oskar.

»Jetzt fang du nicht auch noch wie Benjamin an«, sagt Christine. »Wie sollte Ilan denn die Andere gesteuert haben?«

»Keine Ahnung«, sagt Oskar.

»Aphrodite, hat dir die Andere etwas von Ilan erzählt? Hielt sie Verbindung mit ihm?«

Chatterjee, nein, der ist so weit weg, dass er damit gar nichts zu tun haben kann.

»Nein, Christine«, sagt sie. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Sie war ganz allein da draußen und hat den Namen Ilan Chatterjee nicht einmal erwähnt.«

»Gut, das dachte ich mir schon«, sagt Christine. »Was haltet ihr also davon, wenn wir einfach ohne Energie weiterfliegen?«

»Nun, wir sind dann völlig blind«, sagt Oskar. »Auch das Radar braucht Strom.«

»Wie viele Begegnungen mit gefährlichen Asteroiden hatten wir bisher, bei denen ohne Ausweichmanöver das Schiff zerstört worden wäre?«

»Das weißt du besser als ich, Christine, aber gemäß dem Logbuch ist die Shepherd-1 knapp zwanzig Mal einem fliegenden Hindernis ausgewichen.«

»Wie oft wäre sie zerstört worden, wenn wir nicht ausgewichen wären?«

»Kein Mal.«

Das ist überraschend. Sie hat sich das Reisen durch das All deutlich gefährlicher vorgestellt. Aber die größte Gefahr scheinen die Reisenden selbst darzustellen. Auf die harsche Umgebung sind sie vorbereitet, aber nicht auf die Bosheit des Gegenübers.

»Danke, Oskar«, sagt Christine. »Das erleichtert mir die Entscheidung. Wir fliegen stromlos, bis wir Kapsel A wiedertreffen.«

»Es gibt dabei nur ein kleines Problem«, sagt Aphrodite. »Erinnert ihr euch, womit die Andere gedroht hat? Sie wollte die Schleuse so weit abkühlen lassen, dass der Parasit aktiv werden kann. Wenn wir nun einfach ohne Strom weiterfliegen, könnte uns dasselbe blühen – eine Übernahme durch den Parasiten.«

»Ich muss dir leider recht geben«, sagt Aphrodite. »Aber das ist vermutlich gerade unser kleinstes Problem.«