Als er aufwacht, ist die Hölle los. Ilan, Christine und Oskar diskutieren lautstark. Benjamin versteht nur Satzfetzen, so sehr reden sie durcheinander. Christines und Oskars Stimmen hallen stark. Anscheinend gibt es auf der Shepherd-1 Probleme. Er richtet sich auf und schwebt zu Ilan, der auf dem Bett sitzt und in das Mikrofon seines Helms spricht. Er erinnert sich, wie er Chatterjee nachts auf der Shepherd-1 beobachtet hat. Da hat er genauso gesessen und geflüstert. Hat er etwa dabei schon heimliche Gespräche geführt? Aber mit wem?
»Sie besteht darauf, den Laderoboter hereinzuholen«, sagt Christine.
»Na ja, das Risiko dürfte überschaubar sein. Warum macht ihr denn so ein Problem daraus?«, fragt Ilan.
Benjamin nimmt ihm den Helm aus der Hand. »Warum sprecht ihr denn nicht mit mir?«
»Guten Morgen, Benjamin«, sagt Christine. »Ilan hat gesagt, dass du schläfst, also wollten wir dich nicht wecken.«
»Ich bin unschuldig«, sagt Ilan und legt die Handflächen an die Brust. »Sie haben mir verboten, dich dazuzuholen. Ich musste sogar hierher gehen.«
»Das ist nett, aber bei dem Lärm kann doch sowieso niemand schlafen«, sagt er. »Außerdem möchte ich gern über alles informiert sein. Das wisst ihr doch.«
Christine erklärt ihm, worum es geht und dass sie eigentlich bereits die Entscheidung getroffen haben, die Hauptschleuse unter allen Umständen geschlossen zu halten.
»Aber das ist doch albern«, sagt Ilan. »Der Druckausgleich wird den Parasiten wegpusten.«
»Ich bin dagegen«, sagt Benjamin. »Die Shepherd-1 ist jetzt schon in seinem Würgegriff. Wenn wir ihn auch noch ins Innere lassen, können wir das Schiff gleich aufgeben.«
»Ja, das finde ich auch. Ich wollte euch nur informieren. Diese Aphrodite scheint dir ja am Herzen zu liegen. Sie hat uns gebeten, dich zu kontaktieren.«
Seine Wangen werden warm. Es ist seltsam, was ihn mit der Sexroboterin verbindet. Dabei geht es nicht um erotische Anziehung. Eher fühlt er sich als ihr Mentor, so wie Yoda und Luke Skywalker.
»Es tut mir sehr leid für sie«, sagt er. »Aber eure Entscheidung ist richtig. Die Shepherd-1 ist unser aller Zuhause, das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.«
»Nun macht mal halblang«, sagt Ilan. »Ich finde die Idee von Aphrodite nachvollziehbar. Wie würdet ihr es denn finden, wenn ihr die Hälfte eurer Erinnerungen eingebüßt hättet? Und umsetzbar ist es auch. Der Parasit ist nur bei minimalen Temperaturen aktiv, wie es sie im Schiff gar nicht gibt.«
Dass Chatterjee sich für andere einsetzt, ist neu. Sollte er sich wirklich geändert haben? Benjamin ist beinahe geneigt, ihm zuzustimmen, nur um zu sehen, wie ernst es ihm damit ist. Aber sie können doch den Parasiten nicht auch noch in das Schiff eindringen lassen.
»Und warum versucht der Parasit, die Shepherd-1 zu zerstören, wenn er doch so harmlos ist?«, fragt Benjamin.
»Wir wissen nicht, ob es Absicht ist«, sagt Ilan. »Vielleicht ist es ja eine normale Reaktion. Gib einem Säugling deinen kleinen Finger in die Hand. Das Baby greift sofort zu. Dabei will es dir aber nicht den Finger abreißen. Es kann gar nicht anders.«
»Nur ist das kein Baby. Das Ding zerquetscht unser Schiff!«
Chatterjee seufzt. »Eure Entscheidung. Wäre ich Aphrodite, würde ich mich ganz schön im Stich gelassen fühlen. Ich meine, wenn da David oder Aaron vor der Tür warteten, würdet ihr doch nicht zögern, oder?«
Ilan hat ja recht. Ist das unfair? Ja. Benjamin bekommt Kopfschmerzen. Wenn der Parasit ins Schiff gelangt und dort aktiv wird, verlieren sie ihr Zuhause. Sollen sie in der Kapsel bis Alpha Centauri fliegen? Chatterjee spekuliert vielleicht damit, dass sie zur Erde umkehren könnten. Zeit haben sie ja genug. Aber das Triebwerk der Kapsel ist allein gar nicht stark genug, um den von der Shepherd-1 mitgegebenen Impuls so weit umzukehren, dass sie selbstständig in den Erdorbit zurückkehren könnten. Sie brauchen das große Schiff auf jeden Fall.
»Christine, hörst du mich?«, fragt er.
»Klar und deutlich.«
»Es tut mir leid, aber du musst die Entscheidung treffen. Ich mag Aphrodite sehr, deshalb kann ich da nicht neutral urteilen.«
Er ist so ein Feigling! Würde er Aphrodite wirklich mögen, hätte er sich für sie eingesetzt. So benutzt er sie bloß, um selbst keine Entscheidung treffen zu müssen. Seine Kopfschmerzen verstärken sich. Hätten sie die Roboterin doch bloß mitgenommen. Dann hätte niemand bemerkt, dass ihre zweite Hälfte vor der Hauptschleuse wartet.
»Verstanden«, sagt Christine. »Dann bleibt es bei meiner Entscheidung. Oskar findet sie auch richtig. Meldet euch bitte, wenn ihr euch der Signalquelle nähert. Shepherd-1 over and out.«
Es knackt, dann ist die Verbindung beendet. Benjamin gibt Ilan den Helm zurück. Wieder muss er daran denken, wie Chatterjee nachts in den Helm geflüstert hat.
»Darf ich offen sprechen?«, fragt Ilan.
»Ja, klar, wieso nicht? Ich bitte darum.«
Wieso fragt er? Bisher hatte Chatterjee doch auch kein Problem damit.
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein Feigling bist«, sagt er.
Benjamin zuckt zurück, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Aber er sagt nichts. Er schüttelt nicht einmal den Kopf. Chatterjee hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Benjamin richtet sich auf und schwebt zu seiner Liege zurück. Sein Mitreisender folgt ihm. Hoffentlich lässt er ihn in Ruhe. Benjamin zieht den Bildschirm heran und tut, als würde er intensiv den Kurs der Kapsel begutachten. Ilan gähnt laut.
»Wenn du nichts dagegen hast, haue ich mich jetzt mal für ein paar Stunden aufs Ohr«, sagt er.
»Mach das«, antwortet Benjamin.

* * *
Er braucht länger als eine Stunde, um Aphrodite aus dem Kopf zu bekommen. Immer wieder sieht er sie, wie sie traurig vor dem Schleusentor steht, einen klagenden Blick aus ihren simulierten LED-Augen auf ihn gerichtet. Er hätte sie nicht im Stich lassen dürfen, aber er musste sie im Stich lassen. Sogar Chatterjee hat sich für sie eingesetzt. Warum hat er nicht auch darauf bestanden, die Luke zu öffnen? Christine hätte sich wahrscheinlich trotzdem dagegen entschieden. Schließlich war Oskar auf ihrer Seite. Er ist einfach feige. Damit muss er jetzt fertigwerden.
Dass der Langstreckenscanner die ersten Daten liefert, verdrängt die Gedanken an Aphrodite aus seinem Kopf. Die Signalquelle scheint sich an der berechneten Position zu befinden. Dann sind vermutlich auch alle anderen Daten, die Oskar aus der Bedeckung errechnet hat, korrekt. Benjamin stellt sich einen riesigen, schwarzen Würfel mit 50 Kilometern Kantenlänge vor. Nein, ein Würfel ist unpraktisch. Eine Kugel ist die optimale Form, bietet sie doch die größtmögliche Form bei gegebener Oberfläche, also gleichem Materialeinsatz.
Aber vielleicht haben die Besucher auch etwas Vorhandenes ausgebaut, einen Asteroiden zum Beispiel. Solche Projekte haben Menschen auch schon vorgeschlagen. Wenn sie aus solcher Entfernung kommen, wie es den Anschein hat, müssen sie mit sehr wenig Ressourcen auskommen, und vermutlich handelt es sich auch nur um wenige Individuen. Die von Oskar gemessene Geschwindigkeit impliziert, dass sie seit Tausenden, wenn nicht Millionen Jahren unterwegs sein müssen. Entweder, sie sind die ganze Zeit im Kryoschlaf, oder sie haben sich an das Leben in ihrem Raumschiff angepasst. Ein Generationenschiff also?
Wahrscheinlich denkt er viel zu irdisch. Wenn der Parasit etwas mit der Signalquelle zu tun hat, werden sie die Besucher auf den ersten Blick vielleicht gar nicht als solche erkennen. Aber eine gewisse Ähnlichkeit muss es geben, sonst hätten sie ihnen nicht die zusammengeschnittenen Äußerungen von David und Aaron schicken können. Oder war das als Warnung gemeint? Handelt es sich womöglich um eine Art interstellarer Kammerjäger, die bei Parasitenbefall aufräumen? Dann sollte die Shepherd-1 sich beeilen. Die Behandlung ist dringend.
Benjamin geht den Funkkanal durch. Nachdem sie aufgehört haben, den Fremden Signale zu schicken, sind auch sie verstummt. Das ist schade. Es ist immer am besten, wenn man im Gespräch bleibt. Benjamin kodiert einen weiteren Roman im 41er-System der Außerirdischen. Diesmal wählt er »Der alte Mann und das Meer« von Hemingway. Es ist deutlich kürzer als »Moby Dick« und vielleicht einfacher zu verstehen. Und wenn die Empfänger nichts mit Literatur anfangen können? Er versucht es mit einem DNS-Molekül. Benjamin stellt es in einem dreidimensionalen Koordinatensystem dar und übersetzt die Werte in das 41er-System der Fremden.
Moment. Sie kennen ja die Größeneinheiten nicht. Das erschwert die Übersetzung. Die Besucher werden nicht wissen, ob er ein Molekül oder ein Raumschiff beschreibt. Besser, er arbeitet mit natürlichen Einheiten, die auf den in diesem Universum geltenden Naturkonstanten beruhen. Der Computer braucht für die Umrechnung nur einen Augenblick. Interessant ist, dass die entsprechenden Zahlen im 41er-System der Fremden deutlich kürzer ausfallen. Spricht das nicht dafür, dass sie mit dem Konzept der natürlichen Einheiten vertraut sind? Eine Planck-Länge entspricht ja nur gut 10 hoch minus 35 Metern, da erhält man in der Realität sehr schnell sehr große Zahlen.
Es sei denn, das Leben der Fremden ist auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit organisiert – bei drei Grad in einem bosonischen Kondensat zum Beispiel. Dort ist die Planck-Länge alltäglich. Dafür jedoch braucht man sehr kleine Werte für die Temperatur.
Benjamin beschreibt das DNS-Molekül neu in Planck-Längen, rechnet es in das 41er-System um und schickt die Daten ab. Die Übertragung der kompletten Beschreibung dauert drei Minuten. Das wäre also die Biologie. Geht er jedoch vom Aufbau des Parasiten aus, können die Fremden damit vielleicht auch nichts anfangen. Sie haben sich ja von Anfang an auf die Mathematik konzentriert. Wie wäre es denn, wenn er sie mit mathematischen Fragen konfrontiert? Es gibt da ein paar spannende Themen, die die irdische Wissenschaft noch nicht gelöst hat. Vor der Abreise von der Erde hat er vom Banach-Tarski-Paradoxon gehört. Ein Mathematiker hatte Schlagzeilen gemacht, weil er behauptet hatte, eine Verbindung dieses Paradoxons mit der Realität herstellen zu können, sehr zur Verwunderung der meisten Physiker.
Es ist nämlich mathematisch möglich, eine Kugel so in die Punkte zu zerlegen, aus denen sie besteht, dass sich aus dem Ergebnis zwei neue, zur ersten identische Kugeln konstruieren lassen. Es gibt einen Taschenspielertrick, bei dem man eine Schokoladentafel auf bestimmte Weise zerteilt und wieder zusammensetzt, wobei sie ihre Größe beibehält und trotzdem ein zusätzliches Stück entsteht, das aus dem Nichts zu kommen scheint. In diesem Fall handelt es sich um eine optische Illusion. Die Tafel schrumpft beim Zerschneiden. Aber bei der von Banach und Tarski beschriebenen Operation schrumpfen die Kugeln nicht. Das Original wird bei identischem Materialaufwand verdoppelt.
In der Regel sollte, was mathematisch zu beschreiben ist, auch in der Realität funktionieren. Aber Masse aus dem Nichts zu zaubern, ist nur unter ganz bestimmten Umständen möglich und sicher nicht über eine mathematische Operation an einer Kugel. Benjamin überlegt, wie er das Paradoxon so beschreiben kann, dass die Fremden es durchschauen. Ihre mathematische Sprache versteht er selbst nicht so richtig, obwohl er sie in seinem Androidengehirn perfekt speichern kann. Am besten, er versucht es mit einer räumlichen Darstellung. Das Koordinatensystem haben sie ja bereits als Grundlage etabliert. Benjamin konstruiert im Computer einen kurzen Film, der die Zerlegung in zwei Kugeln darstellt, und kodiert ihn dann in das Datensystem der Fremden. Die Nachricht ist deutlich länger als der Roman. Das Funkmodul zeigt ihm eine Übertragungszeit von acht Minuten an.
Banach und Tarski. Im Nachhinein ist er nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Welcher Mensch kennt denn dieses Paradoxon schon? Nur, weil eine Zivilisation ein Problem gelöst hat, müssen ja nicht all ihre Mitglieder über alles Bescheid wissen. Er hätte vielleicht mit etwas anderem anfangen sollen, mit dem Satz des Pythagoras etwa oder den binomischen Formeln.
Benjamin lehnt sich zurück. Er denkt vermutlich schon wieder zu irdisch. Warum sollte den Fremden Pythagoras näher liegen als Banach und Tarski?
Der Funkempfänger springt an. Benjamin dreht ihn leiser, um Chatterjee nicht zu stören. Sein Begleiter hat sich auf die linke Seite gelegt und scheint sich abgeschaltet zu haben. Das T-Shirt ist verrutscht, sodass Benjamin einen guten Blick auf den Brustansatz hat. Seine Wangen werden heiß. Schnell sieht er wieder auf den Schirm, der das eintreffende Funksignal anzeigt. Er hört kurz hinein, doch da ist nur Rauschen. Also leitet er es direkt in den Analysator um, der daraus hoffentlich etwas Verständliches produzieren kann.
Ein paar Minuten vergehen. Benjamin trommelt mit den Fingern auf der Lehne. Schließlich wird der Bildschirm kurz schwarz, um gleich darauf eine zweidimensionale Kurve anzuzeigen. Sie sieht ganz anders aus als das empfangene Signal, das eher konstant war. Die Kurve hingegen schwingt auf und ab wie … Wie ein Sprachsignal! Er lässt es vom Rechner abspielen. Durch den Raum schallt eine Art Musik, die ihn an die Töne erinnert, die Wale von sich geben. Ob das die Antwort auf den Roman ist, den er kodiert hat? Kunst gegen Kunst? Oder haben sie den Text für Gesang gehalten? Oder ist das, was er für Walgesang hängt, die Sprache der Außerirdischen? Und was teilen sie ihm dann mit?
Benjamin dreht sich zur Seite und tippt Ilan an. Er wacht nicht auf. Benjamin schüttelt ihn stärker. Das einzige Ergebnis ist, dass die rechte Brust fast ganz aus dem Ausschnitt fällt. Das T-Shirt ist eindeutig zu weit geschnitten. Er zieht es etwas zurecht, sodass es den größten Teil der künstlichen Haut wieder bedeckt. Benjamin kneift Ilan kräftig in den Arm, aber selbst das lässt ihn kalt. Chatterjee hat offenbar den uneingeschränkten Schlafmodus aktiviert, der auf keinerlei Signale von außen reagiert. Er kennt wohl seinen Körper noch nicht so gut. Benjamin würde es schon aus Sicherheitsgründen so einrichten, dass bei starken Sinnesreizen ein Neustart erfolgt.
Dann hat Ilan eben Pech gehabt und kann der Entschlüsselung der außerirdischen Botschaft nicht zusehen. Benjamin wendet sich wieder dem Bildschirm zu, auf dem nun ein DNS-Molekül erscheint. Haben sie die Nachricht zurückgeschickt, weil sie sie nicht verstanden haben? Die Struktur scheint jedenfalls identisch zu sein. Er überlagert die Darstellung mit dem Original. Nein, es gibt einen Unterschied: Die Spirale dreht sich andersherum. Was wollen sie damit sagen?
Aber das ist noch nicht alles. Es folgt eine zweite DNS-Struktur. Sie sieht der ersten ähnlich, dreht sich aber richtig herum. Benjamin vergleicht auch sie mit dem Original. Der Unterschied liegt deutlich unter zehn Prozent. Ganze Abschnitte sind gleich. Er öffnet die Metadaten der Quelldatei. Was er geschickt hat, war die genetische Struktur einer Labormaus. Nun lässt er die von den Außerirdischen empfangene DNS analysieren. Der Rechner findet das Vorbild blitzschnell: Es ist menschliches Genmaterial, ganz eindeutig.
Benjamin lehnt sich zurück. Die Außerirdischen kommen von so weit her – wie sollten sie da Kontakt mit Menschen gehabt haben? Der Parasit an der Außenwand der Shepherd-1 kann die Struktur nicht erfasst haben. Bisher hatten nur Androiden mit ihm Kontakt. Benjamin wüsste nicht, wo sich in seinem Körper menschliches Genmaterial befinden sollte. Und doch ist die Darstellung eindeutig. Er könnte sogar herausfinden, welche Eigenschaften dieser Mensch hatte, wie er ungefähr aussah, unter welchen Allergien er litt oder ob er zu bestimmten Krankheiten neigte.
Ein Rätsel. Es wird sicher nicht das letzte bleiben. Zumal er den letzten Teil der Botschaft noch gar nicht ausgewertet hat. Vielleicht steckt darin die Lösung des Paradoxons? Dann hätte sich diese Reise schon gelohnt. Tatsächlich erscheint etwas auf dem Bildschirm, das an ein dreidimensionales Koordinatensystem erinnert. Die Achsen sind nicht mit Pfeilen besetzt und mit x, y und z beschriftet, aber sie stehen im rechten Winkel zueinander. Mitten in der Darstellung erscheint eine winzige Kugel. Sie wächst und wächst, bis sie etwa halb so groß wie der Bildschirm ist. Jetzt beginnt sie, sich zu zerlegen. Sie zerfällt in sechs gleich große Kugeln, die sich dann zu zweien vereinigen. Die beiden neuen sind von der ersten nicht zu unterscheiden. Doch nun werden sie wieder kleiner. Sie schrumpfen und schrumpfen, bis sie nicht mehr zu sehen sind.
Was war das denn? Der Absender hat seine Botschaft offenbar um einen Aspekt erweitert, den Benjamin nicht versteht. Wieso verschwinden die Kugeln wieder?
»Das war eine vierdimensionale Darstellung in einer dreidimensionalen Welt«, erklärt Ilan.
Benjamin erschrickt. Sein Begleiter hat die Augen geöffnet und den Blick auf den Schirm fixiert.
»Ist das eine neue Antwort von der Signalquelle?«, fragt er.
»Genau.«
»Du hast ohne mich weitergemacht?«
Ilan klingt ein bisschen enttäuscht.
»Ich hatte keine Chance, dich zu wecken. Du darfst die Sensorikschwelle nicht zu hoch setzen, sonst kann dich auch im Notfall niemand aktivieren.«
»Ah, das hatte ich vergessen. Was hast du ihnen denn geschickt?«
»Einen Roman, ein DNS-Molekül und das Banach-Tarski-Paradoxon.«
Benjamin erklärt, was er bereits herausgefunden hat.
»Wie kommst du darauf, dass es eine vierdimensionale Darstellung ist?«, fragt er.
»Weil man genau so eine Hyperkugel in 3D sieht«, sagt Ilan. »Stell dir vor, du würdest in einer Fläche wohnen und eine 3D-Kugel betrachten. Du könntest von ihr immer nur eine Scheibe sehen – einen Kreis. Wie groß er ist, hängt immer davon ab, wo sich die Kugel gerade befindet. In vier Dimensionen ist es dasselbe. Wir als Bewohner einer 3D-Welt können von den vier Dimensionen nur x, y und z sehen: eine Kugel, die erst wächst und dann wieder schrumpft, während sie durch unseren dreidimensionalen Raum zieht.«
Die Beschreibung klingt logisch. Es muss eine höherdimensionale Form des Paradoxons geben. Das wollte der Absender wohl damit ausdrücken.
»Verstehe«, sagt Benjamin.
»Dann kannst du mir ja nun Tanach-Barski erklären.«
»Banach-Tarski. Das waren zwei polnische Mathematiker. Sie haben 1924 bewiesen, dass man eine Kugel mathematisch in zwei identische Kugeln zerlegen kann.«
»Das klingt ein bisschen utopisch«, sagt Ilan.
»In der Physik ist es ja auch unmöglich«, sagt Benjamin. »Das hat die Wissenschaftler aber nicht davon abgehalten, sich zu fragen, ob in der Mathematik nicht doch ein Körnchen physikalischer Wahrheit steckt.«
»Du hast gehofft, die Außerirdischen hätten es herausgefunden.«
»Du hast mich durchschaut, Ilan.«
»Und, haben sie?«
»Du hast es ja selbst gesehen. Offenbar haben sie eine Erweiterung des Paradoxons geschickt, das wohl auch in höherdimensionalen Räumen gilt.«
»Und was war mit der DNS?«, fragt Chatterjee.
»Sie haben Maus- gegen Menschen-DNS getauscht – obwohl sie noch nie Kontakt mit menschlicher DNS gehabt haben sollten. Oder habt ihr an Bord etwas davon versteckt?«
»Hm-hm.«
»Wie bitte?«
»Nun, wir wollten eure Körper ja möglichst echt gestalten. Wenn ihr euch Proben genommen und einer DNS-Analyse unterzogen hättet, hätte die euch als Menschen eingestuft.«
Das ist allerdings überraschend. So viel Aufwand, bloß um sie besser über ihre wahre Natur täuschen zu können!
»Verstehe. Kannst du mir dann auch sagen, wessen DNS das ist?«
Chatterjee setzt sich auf, richtet seine Kleidung und streicht sich durch die Haare. Er sieht Christine so ähnlich! »Es kommen wohl vor allem Aaron und David in Frage, oder?«
Benjamin nickt. »Sie hatten als einzige Kontakt mit dem Parasiten.«
»Das impliziert aber auch, dass der Parasit und die Signalquelle im Austausch stehen.«
»Ich habe jedenfalls keine andere Erklärung.«
»Na gut, aber ob es Aarons oder Davids DNS ist, muss ich mit dem Schiffscomputer der Shepherd-1 abstimmen. Dafür werde ich Admin-Rechte brauchen.«
Benjamin lacht. »Hehe, netter Versuch.«
Ilan stimmt in das Lachen ein. Es klingt ehrlich. Er zieht seinen eigenen Bildschirm zu sich. »Warte, ich kontaktiere die Datenbank auf der Shepherd-1.«
Benjamin speist die DNS derweil in das Analyseprogramm ein. Es läuft lokal auf dem Schiffsrechner. Zwar kann es die DNS nicht bestimmten Menschen zuordnen, aber es ist in der Lage, Besonderheiten zu ermitteln. Die Software braucht eine Minute für ihre Untersuchung. Danach gibt sie eine längere Liste aus.
»Das ist interessant«, sagt Benjamin. »Was sie uns da geschickt haben, ist offenbar keine gewöhnliche DNS.«
»Was ist denn daran so besonders?«
»Sie enthält eine größere Zahl von Veränderungen. Ich glaube sogar, man könnte sie Verbesserungen nennen. Der Mensch, dem diese DNS gehört, hätte ein größeres Hirnvolumen, könnte seine Nahrung effizienter nutzen, besäße ein effizienteres Immunsystem und schärfere Sinne.«
»Sag bloß, er könnte auch Blitze aus seinen Fingern sprühen oder Laserstrahlen aus den Augen schießen lassen.«
»Haha, nein, es ist kein Mutant. Einfach nur ein optimierter Mensch. Mit euch haben diese Veränderungen also nichts zu tun?«
»Nein, Benjamin. Wir haben euch möglichst unauffällige DNS spendiert. Eure Körper basieren ja nicht darauf.«
»Das heißt, Aaron oder David haben gar keine natürlichen Locken?«
In dem DNS-Strang hat Benjamin eher zufällig das entsprechende Merkmal gefunden.
»Beide nicht, nein.«
»Wem gehört denn dann die Superman-DNS?«
Diesmal lacht Chatterjee nicht. Im Gegenteil, er hat einen ziemlich besorgten Gesichtsausdruck mit einer breiten Falte auf der Stirn.
»Es tut mir leid, aber die Shepherd-1 antwortet nicht. Ich versuche es immer wieder, aber das Schiff scheint auf allen Frequenzen tot zu sein.«
Mist. Mist. Mist. Der Parasit hat wohl früher zugeschlagen, als sie es erwartet haben. Oder hat sich Aphrodite über Christines Anordnung hinweggesetzt und ihre zweite Hälfte in die Schleuse gelassen?
Chatterjee greift zum Mikrofon. Benjamin lässt es geschehen.
»Kapsel A an Shepherd-1, bitte kommen.«
Keine Antwort.
»Dies ist ein Notruf. Dies ist ein Notruf.«
Ilan verstößt damit zwar gegen sämtliche Bestimmungen, aber die Shepherd-1 antwortet trotzdem nicht. Wenn seine Freunde dazu in der Lage wären, hätten sie auf den Notruf ganz bestimmt reagiert.
»Es muss irgendwas passiert sein«, sagt Chatterjee. »Wir sollten umdrehen.«
»Dann erreichen wir das Schiff nicht, weil uns der Treibstoff ausgeht«, sagt Benjamin. »Wir müssen einfach warten, bis sie hier sind. Vielleicht ist es ja bloß eine Störung der Funkanlage. Das kommt mir bekannt vor.«
»Du brauchst mir keine beruhigenden Geschichten zu erzählen«, sagt Ilan. »Wenn wir die Shepherd-1 nicht mehr erreichen, ist die Kacke definitiv am Dampfen. Ich habe das Schiff mit entworfen. Wenn die Funkanlage schweigt, hat das gesamte Schiff keinen Strom mehr. Wir sind ja so nah, dass sie uns auch mit der Kurzreichweitenantenne anfunken könnten. Dass zwei Antennen auf einmal kaputtgehen, ist so gut wie unmöglich.«
»Dass der Strom komplett ausfällt, ja wohl auch«, sagt Benjamin.
»Zum Glück sind keine Menschen an Bord«, sagt Ilan.
Benjamin schnauft. Jetzt tut er noch so, als hätte er ihnen einen Gefallen getan.
»Ich hätte kein Auge zutun können, wenn ich gewusst hätte, dass da Menschen unterwegs sind«, sagt Ilan. »Diese Mission war viel zu wichtig, um sie schwachen Wesen aus Fleisch und Blut anzuvertrauen.«
»Wenn du mich mit Schmeicheleien auf deine Seite bringen willst, bist du bei mir an der falschen Adresse.«
Benjamin erhebt sich. Er schwebt zum Bullauge, das aussieht, als wäre es mit einer mattschwarzen Folie überzogen. Es ist zu hell in der Kapsel, um draußen Sterne erkennen zu können, geschweige denn die Shepherd-1. Der Geschäftsmann ist ihm ein Rätsel. Warum hat er vorhin so vehement Aphrodite unterstützt, obwohl er die Roboterin gar nicht wirklich kennt und sie ihn aus dem Schiff ausgesperrt hat? Kopfüber hört Benjamin zu, wie Ilan seine – ja, was denn eigentlich? – fortsetzt.
»Das ist keine Schmeichelei, das ist mein Ernst. Man sieht es ja jetzt auch. Ein Stromausfall? Na und? Wärme und Luft sind überbewertet. Ihr könntet die nächsten tausend Jahre auch ohne überstehen.«
»Tja, nur wäre uns dabei scheißkalt, und wir hätten dauernd das Gefühl, zu ersticken. Du hast es ja auch schon ausgekostet, dieses Gefühl.«
»Das stimmt, das würde ich gern in Zukunft vermeiden. Aber es lässt sich überwinden. Ein paar kleine Änderungen in der Software, und ihr fühlt euch im Vakuum pudelwohl.«
»Ihr? Wir! Du bist jetzt einer von uns. Eine von uns, sorry.«
Benjamin stößt sich ab und schwebt zu seinem Sitz zurück. Die Kapsel besitzt auch ein Infrarot-Teleskop. Gestern haben sie damit noch die Shepherd-1 abgesucht. Er startet die Steuerungssoftware und richtet es entlang des Hecks aus. Ja, da ist etwas. Dieser kleine, verwaschene Fleck ist die Shepherd-1.
»Ah, hast du sie gefunden?«, fragt Ilan.
»Sieht so aus.«
Benjamin zoomt so weit wie möglich in das Bild hinein. Aber die Auflösung genügt nicht. Der Fleck bleibt ein Fleck. Wie weit der Parasit schon vorgedrungen ist, kann er nicht erkennen.
Erschöpft lehnt er sich zurück. Irgendwie hat er sich das alles ganz anders vorgestellt. War es ein Fehler, hierher zu kommen? Wäre er nicht mitgekommen, wäre Chatterjee allein zur Shepherd-1 gereist, hätte das Schiff übernommen und Christine gezwungen, die Daten herauszurücken, für die er all das auf sich genommen hat. Die Wahrheit. Und dann? Nein, es wäre auch nicht alles gut geworden. Aber Oskar, Aphrodite und er wären noch auf der Erde. Benjamin würde irgendwo einen Baum beschneiden, Oskar würde ihm helfen, und Aphrodite … Nun, sie wäre zwar Eigentum irgendeines reichen Mannes, hätte aber nicht ihr halbes Bewusstsein eingebüßt.
Der Bildschirm gleitet ihm aus der Hand. Er muss kurz eingenickt sein. Benjamin schließt die Augen, hört aber, wie Ilan mit der Zunge schnalzt. Er hat wohl etwas gefunden, aber es interessiert ihn nicht. Sie haben kein Raumschiff mehr, zu dem sie zurückkehren können.
»Das solltest du dir wirklich mal ansehen«, sagt Ilan.
Benjamin seufzt, öffnet die Augen und richtet sich auf. »Was denn?«
»Ich habe mal nach vorn geschaut. Im Infrarot ist unser Ziel schon sichtbar.«
Er dreht den Schirm so, dass Benjamin den Inhalt erkennen kann. Es ist ein Fleck, deutlich größer als der, den ihr Schiff bildet. Und er ist dunkelblau.
»Wie kalt ist es?«, fragt Benjamin.
»Maximal fünf Kelvin.«
»Mist.«
Wenn es so kalt ist, handelt es sich nicht um einen Zwergplaneten oder eine andere natürliche Struktur, und ebensowenig um ein Raumschiff, wie sie es kennen. Dann werden sie finden, was er schon befürchtet hat: einen noch weitaus größeren Klumpen aus demselben Material, aus dem auch der Parasit besteht.
»Ich würde das nicht so negativ sehen«, sagt Ilan.
»Nicht? Schon der kleine Spritzer, der unser Schiff erwischt hat, hält es im Würgegriff und hat es wahrscheinlich schon auf dem Gewissen. Was wird eine tausend Mal größere Portion davon mit uns anstellen?«
»Nun sei doch nicht so negativ. Sie kommunizieren mit uns. He, sie schenken uns sogar Superman-Gene und eine Mathematik, von der wir bisher nichts geahnt haben. Das ist doch vielversprechend!«
War Chatterjee schon immer so ein naiver Optimist? Oder hat er selbst sich verändert? Benjamin betrachtet seine Hände. Im Schatten der Kabinenbeleuchtung wirken sie alt und grau. Vielleicht ist das ja mit seinem ganzen Körper passiert.
»Du glaubst wirklich, dass wir mit ihnen ins Gespräch kommen?«, fragt er und meint es rhetorisch. »Aber wahrscheinlich hast du recht. Nur wird es nicht so passieren, wie du es dir vorstellst. Sie werden uns auflösen wie Aaron und David, und wenn irgendwer mal nach uns fragt, schicken sie unsere DNS per Funk. Natürlich in optimierter Version. Wahrscheinlich glauben sie, dass wir aus dieser Information wieder das Original herstellen können.«
Chatterjee schlägt sich gegen die Stirn, springt auf und stößt gegen die Decke.
»Wir konnten wir denn so blind sein?«, ruft er.
»Wie meinst du das?«
»Wir hätten es schon viel früher erkennen müssen. Dass der Parasit zumindest zum Teil aus einem Bose-Einstein-Kondensat besteht, darauf sind wir doch schon früh gekommen. In so einem Kondensat sind alle Teilchen ununterscheidbar. Sie haben eine gemeinsame Wellenfunktion.«
»Ja, aber das weiß doch jeder Physikstudent.«
»Natürlich. Mir geht es um die Information. Informationen können nicht verlorengehen. Sagt dir das Paradoxon Schwarzer Löcher etwas?«
Benjamin hat das Gefühl, dass Chatterjee alle möglichen Fachbegriffe aufgeschnappt hat und nun fröhlich durcheinander wirft. Ein Schwarzes Loch haben sie hier nun wirklich nicht vor sich.
»Ja, natürlich«, sagt er. »Aber was hat das mit unserem Problem zu tun?«
»Nichts. Es ist nur ein anderer Fall, wo auch keine Information verlorengeht. Wo landet sie denn nun, wenn das Helium kondensiert?«
»In der Wellenfunktion.«
Wo auch sonst? Benjamin hat immer noch keine Idee, worauf Ilan hinaus will.
»Genau! Die Wellenfunktion teilen sich alle Teilchen des Kondensats. Das ist doch … Stell dir vor, alle Menschen könnten all ihr Wissen teilen und hätten ständig Zugriff darauf. Nicht über irgendeine Datenleitung, sondern direkt als Teil ihrer physischen Existenz.«
»Ich glaube kaum, dass das irgendwer akzeptieren würde, denn dafür müssten ja alle ununterscheidbar werden.«
»Ja, okay, das war kein guter Vergleich. Trotzdem. Wir haben ja an den von Aphrodite gesammelten Proben gesehen, dass sie eben nicht immer ununterscheidbar bleiben. Es gibt auch eine Fraktion, die für die magnetische Stabilisierung sorgt, und eine andere, die … nun, interagiert. Wir haben das bloß nicht richtig verstanden. Weißt du, was deren Aufgabe ist: Sie verarbeiten Informationen! Sie denken!«
Was Ilan da erzählt, klingt ja sehr spannend, aber es ist auch extrem spekulativ. Mit den vorliegenden Daten könnten sie nichts davon beweisen.
»Und warum machst du darum so ein Fass auf?«, fragt Benjamin. »Bei jeder deiner Behauptungen gibt es ein großes Wenn und Aber.«
»Worauf ich hinauswill, ist ein grundlegendes Verständnis ihrer Motive und Absichten. Wir glauben, es handle sich um einen Parasiten. Aus ihrer Sicht ernten sie einfach nur Energie. Überschüssiges, was eben so herumliegt. So, wie Ameisen deine Essenskrümel aufsammeln.«
»Aber dabei verschlingen sie ganz nebenbei auch unsere Freunde.«
»Hast du mal gesehen, wie schnell Ameisen einen toten Schmetterling zerlegen und wegtragen? Das Tier ist hundert Mal größer als sie.«
»Wie bitte?«
Ilan schüttelt den Kopf. »Das fiel mir nur gerade so ein. Tut mir leid. Eigentlich geht es mir darum: Sie merken nicht, dass sie uns damit schaden. Sie speichern offenbar die Informationen dessen, das sie zerlegen, in ihrer gemeinsamen Wellenfunktion und sie sind vermutlich in der Lage, diese Informationen jederzeit wiederherzustellen. Das ist ihre geheime Superkraft!«
Sein Rücken tut weh. Er würde jetzt gern einen kleinen Spaziergang machen. Benjamin zieht die Beine an und setzt sich in den Schneidersitz.
»Das ist eine schöne Geschichte, aber mehr auch nicht.«
»Benjamin, du bist ein igno…« Chatterjee sieht ihn an und grinst. »Ich danke dir sehr. Du bist der perfekte Sparringspartner. Um dein ungläubiges Wissenschaftlergehirn zu überzeugen, laufe ich zur Höchstform auf. Vielen Dank dafür.«
Ilan muss wirklich ein anderer Mensch geworden sein.
»Nein, ehrlich«, sagt Ilan. »Denk doch mal an die Sprachfetzen. Sie haben den Inhalt nicht verstanden, aber die Ausschläge des physischen Signals aufgezeichnet. So konnten sie es rekonstruieren, wenn auch die Reihenfolge keinen Sinn ergab. Später, nach dem Austausch über die Mathematik und unter Verwendung ihres Zahlensystems, kam es dann zu echter Kommunikation.«
»Das ist der einzige Punkt, in dem ich dir recht gebe«, sagt Benjamin. »Wir haben es geschafft, einen Kommunikationskanal zu etablieren. Hoffentlich können wir ihnen darüber beibringen, dass uns der Parasit nicht mehr angreifen soll.«
»Aber versteh doch, Benjamin. Es ist gar kein Angriff. Bloß Neugier. Sie haben Aaron, David und die halbe Aphrodite aus Neugier in sich aufgenommen.«
»So wie Karl II. sich täglich einen Brei aus menschlichen Hirnen servieren ließ?«
»Quatsch. Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass es mit den gespeicherten Informationen möglich ist, das Original wiederherzustellen. Dann schadet es doch nicht, das Original mal für eine Übergangszeit aufzulösen? Das passiert den einzelnen Fraktionen des Heliums innerhalb des Parasiten vermutlich ständig.«
»Und was ist mit der Quantenphysik und der Unschärferelation? Es ist gar nicht möglich, alle Werte exakt aufzuzeichnen.«
»Mit einem Quantensystem sehr wohl. Sie könnten jeden einzelnen Zustand per Quantenteleportation in ihr Heliumsystem überführt haben, wo er Teil der gemeinsamen Wellenfunktion wurde.«
»Dann haben Aaron und David wohl einfach Pech gehabt?«
»Möglich. Ich glaube aber, dass diese Lebensform tatsächlich die Fähigkeit hat, die ursprüngliche Form wieder herzustellen.«
Benjamin greift sich mit beiden Händen an den Kopf und massiert seine Schläfen. Was Ilan da herbeifantasiert … es macht ihm Hoffnung. Benjamin wehrt sich noch, aber das wird nicht mehr lange halten. Er will einfach nicht schon wieder enttäuscht werden.
»Du willst also sagen, Ilan, dass der Parasit David und Aaron zurückbringen könnte?«
»Und die halbe Aphrodite. Wenn er die nötigen Rohstoffe besitzt. Zur Kernfusion ist er vermutlich nicht fähig. Außerdem müssten wir es ihm in einer Sprache beibringen, die er versteht.«
»Nichts leichter als das«, sagt Benjamin.
»Also bist du dabei?«
Ilan schwebt direkt vor ihn, hält sich mit den beiden Händen an seinen Schultern fest und starrt ihm ins Gesicht. Er ist so von seiner Geschichte überzeugt, dass Benjamin es nicht schafft, wie geplant mit dem Kopf zu schütteln. Ilan interpretiert die ausbleibende Antwort anscheinend als Zustimmung, denn er schlägt ihm auf die linke Schulter.
»Großartig«, sagt er. »Du wirst sehen, es funktioniert. Wir werden deine Freunde zurückholen. Du musst mir aber eines versprechen: Danach bekomme ich endlich die Daten, für die ich die gesamte Expedition organisiert habe.«
Benjamin lacht kurz auf. Chatterjee ist unglaublich. Sie kämpfen hier um ihr Leben, aber er denkt immer noch an die Messergebnisse der Solaren Gravitationslinse.
»Ich würde dir die Daten ja geben«, sagt er. »Aber Christine hat sie. Niemand außer ihr hat sie je zu Gesicht bekommen.«
Chatterjee erstarrt. Das hat er wohl nicht erwartet.
»Na gut. Ich glaube dir. Du musst mir aber versprechen, dass du dich bei Christine für mein Anliegen einsetzen wirst. Ich will dich in dieser Frage hinter mir haben.«
Benjamin zögert. Er will nichts versprechen, was er nicht halten kann. Aber sich für Ilan einzusetzen, das sollte doch möglich sein.
»Einverstanden. Wenn du alle, die wir an den Parasiten verloren haben, zurückbringen kannst, werde ich bei Christine ein gutes Wort für dich einlegen. Versprochen.«
»Danke, Benjamin. Das bedeutet mir viel.«
Chatterjee wirkt richtig bewegt. Ist das da Feuchtigkeit in seinen Augen? Er stößt sich ab und fliegt zur Decke. Benjamins Blick folgt ihm.
»Hast du denn schon einen Plan, wie du vorgehen willst?«, fragt er.
»Erst einmal werden wir möglichst viele Gespräche führen, und wenn das alles nichts hilft, dann besuche ich unsere Freunde persönlich.«