Shepherd-1, 22. Oktober 2112

»Ankoppeln!«, befiehlt Aphrodite.

Das Korrekturtriebwerk gibt einen letzten Impuls in Richtung Ring. Gleich müssen die Klammern zugreifen und die Kapsel so fest an den Ring pressen, dass sie die Schleuse benutzen und aussteigen kann. Wie wird es auf der Shepherd-1 aussehen? Aphrodite stellt sich den Ring als Eishöhle vor, deren Wände im Licht ihres Scheinwerfers glitzern. Aus der Speiche, die in den Zentralbereich führt, dringt grauer Dampf.

Klong.

Aphrodite schwebt ungewollt durch die Kapsel. Die Klammern haben nicht wie gewohnt zugegriffen. Sie streckt ihren langen Arm aus und zieht sich zur Steuerung zurück. Natürlich – die Dockingklammern besitzen wohl ebenso wenig Strom wie das gesamte Schiff. Alles muss man selber machen!

Aphrodite lässt Kapsel C zunächst um 180 Grad rotieren, sodass sich der Ausstieg vom Ring abgewandt befindet. Dann passt sie die Geschwindigkeit von Kapsel und Raumschiff genauestens an. Sie überzeugt sich auf dem Bildschirm, bis ihr einfällt, dass sie die Daten auch gleich in ihren eigenen Prozessor leiten kann. In ihrem Bemühen um Konformität vergisst sie immer wieder, dass sie leistungsfähiger ist als ein Mensch – und sogar als ihre Androiden-Freunde, die Chatterjee nach seinem eigenen Vorbild erschaffen hat.

Die Kapsel und das Schiff fliegen in perfekter Synchronisation nebeneinander her. Es ist ein schönes Bild, vor allem, wenn sie ein Stück herauszoomt und die beiden in der Weite des Alls betrachtet. Aphrodite schaltet auf das Kamerabild zurück. Sie schwebt zur Luke und öffnet sie. Bevor sie aussteigt, hakt sie eine Sicherungsleine an der Wand ein. Dann schwingt sie alle sechs Beine nach draußen, zieht das Fahrwerk und die Ladearme hinterher und drückt sich schließlich mit den unterschiedlich langen Reparaturarmen ab. Sie muss sich erst wieder daran gewöhnen, den gemeinsamen Körper der beiden Roboter zu koordinieren. Das hat ja bis vor wenigen Minuten noch die Andere übernommen.

Jetzt hängt Aphrodite kopfüber an der Kapsel, nur von der Leine gehalten. Der Ring dreht sich unter ihr durch. Das wird ein interessantes Experiment! Aphrodite zieht sich an der Leine zurück zur Kapsel. Sie klettert um sie herum. Der Ring ist noch etwa fünf Meter von ihr entfernt. Aus der Nähe wirkt er beängstigend mächtig. Da er sich dreht, während die Kapsel relativ gesehen ruht, wirkt es, als wäre es nun ihre Aufgabe, die Rotation des Rings anzuhalten. Aber das ist unmöglich für sie. Tatsächlich muss sie die Kapsel auf die Rotation des Ringes beschleunigen. Die Kraft dafür bringt das gewaltige Schiff auf, darüber braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Ihr Körper ist das Sorgenkind: Er muss – statt der ausgefallenen Dockingklammern – die Kraft vom Ring auf die Kapsel übertragen.

Aphrodite hat absichtlich nicht ausgerechnet, wie hoch diese Kräfte sein werden. Sie wird es schon schaffen. Die Klammern, die diese Aufgabe sonst übernehmen, wirken ja auch nicht besonders stabil. Wichtig ist, dass sie im perfekten Moment zugreift. Ein Warnsignal ertönt in ihrem Kopf. Sie hat es für fünf Sekunden vor dem Moment programmiert, in dem der zerstörte Teil des Rings an ihr vorbeihuscht. Der beult sich nach wie vor um etwa zwei Meter nach außen. Sie hat für das Andock-Manöver deshalb nur eine Umdrehung des Rings Zeit, ansonsten prallt die Kapsel gegen die Ausbuchtung.

Da ist sie auch schon. Hier hat also alles seinen Anfang genommen, als Christine die Messergebnisse vernichten wollte. Jetzt muss es schnell gehen. Aphrodite löst über einen Gedankenimpuls das Korrekturtriebwerk aus. Die Kapsel nähert sich dem Ring. Noch drei Meter, zwei … Mist, sie erreicht den Ring zu früh. Christine kann nur vom Ring in ihre Kapsel steigen, wenn sie genau am Dockingport ankommt, wo sich die Schleuse befindet. Aphrodite steuert die Kapsel wieder auf vier Meter Abstand.

Der Alarm klingelt in ihrem Kopf. Die Unfallstelle dreht sich unter ihr durch. Drei Sekunden warten. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Schub! Die Kapsel nähert sich dem Ring. Aphrodite klammert ihre sechs Füße an die Hülle der Kapsel und streckt alle vier Arme aus. Da kommt der Port! Aphrodite greift zu. Drei Arme verhaken sich an den Klammern. Der vierte greift in das Loch der leeren Schleuse. Der Impuls der Kapsel presst sie gegen den Ring, zerquetscht sie beinahe, bis der Körper der Kapsel gegen den Ring prallt. Jetzt kommt der schwierigste Abschnitt. Der Gegenimpuls setzt ein. Die Kapsel will wieder ins All hinaus, und Aphrodite muss sie daran hindern. Aber die Trägheit der Kapsel ist enorm. Sie reißt an ihrem Körper, an ihren Armen und Beinen, die doch nur provisorisch zusammengefügt sind. Die Kraft, mit der die Kapsel an ihr zieht, ist übermächtig. Aphrodite will zuerst ihre Beine von der Kapsel lösen, aber das wäre ein dummer Fehler. Sie darf die Kapsel nicht alleinlassen. Also fädelt sie die Arme wieder aus, und sofort reißt sich die Kapsel los.

Vor dem nächsten Versuch muss sie erst einmal durchatmen. Es gibt eine Möglichkeit, den Impuls der Kapsel nach dem Auftreffen zu verringern: Sie muss bereits langsamer losfliegen. Ab dem Durchgang der Unfallstelle hat sie beim letzten Mal ja drei Sekunden gewartet. Diesmal wird sie die Kapsel sofort starten, aber etwas langsamer. Wenn das nicht funktioniert … muss sie die Kapsel eben irgendwo am Ring festmachen, und Christine muss außen entlang spazieren, um sie zu erreichen. Es wäre unbequem, aber besser, als sich von der Trägheit der Kapsel zerreißen zu lassen.

Das Warnsignal ertönt. Gleich kommt die Unfallstelle. Da! Aphrodite löst den Startimpuls aus. Die Kapsel nähert sich dem Ring deutlich langsamer. Sie sieht nach vorn. Die Schleuse ist an den Klammern, die bewegungslos herumhängen, gut zu erkennen. Der Zusammenstoß mit dem Ring wird etwas hinter der Schleuse erfolgen. Aber das ist gut. Aphrodite greift wie beim letzten Mal zu. Aber jetzt bremst sie die Kapsel schon bei der Annäherung ein bisschen. Also wird sie mit geringerem Impuls reflektiert.

Klong.

Das Geräusch durchzieht ihren ganzen Körper. Der Materialstress lässt ihre maschinellen Muskeln klirren. Aphrodite wird ganz starr. Es schmerzt. Ihr Körper meldet erste Risse in den Gliedern. Gelenke rutschen aus ihren Pfannen. Der Körper meldet diese Defekte, indem er sie Schmerzen empfinden lässt. Sie hält die Schleuse trotzdem fest umklammert, auch wenn ihre Beine kurz davor sind, in den Knien zerrissen zu werden. Egal. Sie kann sich neue Beine besorgen.

Mit einem Schlag hören die Schmerzen auf. Die Kapsel hat sich an die Geschwindigkeit des Rings angepasst. Sie bewegt sich ganz langsam nach außen, wo sie wie die Kugel eines Hammerwerfers verharrt. Die Werferin ist Aphrodite, die die Kapsel nun langsam zu sich heranzieht. Sie macht den langen Arm frei und biegt eine der Andockklammern so weit nach vorn, dass sie um die Kapsel herumgreift. Das wiederholt sie bei der zweiten Klammer. Wahrscheinlich werden sie sich nun nicht mehr mit den eingebauten Motoren bedienen lassen, aber Aphrodite kann ja auch nicht hier draußen sitzenbleiben, um die Kapsel festzuhalten.

Das einzige Problem besteht jetzt noch darin, dass die Luke nach außen statt nach innen zeigt. Also dreht sie die Kapsel mit ihren Armen um 180 Grad. Sie überprüft ihre Arbeit. Jetzt sollte alles passen. Christine und Oskar sind nicht mehr per Funk zu erreichen, also klopft sie einfach so kräftig auf den Ring, dass es innen zu hören sein muss. Jetzt braucht sie noch ein bisschen Geduld. Christine muss die Innenluke öffnen und einsteigen. Aphrodite macht es sich bequem und betrachtet das unendliche All über sich. Sie ist stolz auf das, was sie geschafft hat. Braucht sie denn die Andere überhaupt? Es war ein Fehler, so dickköpfig zu sein und ihre zweite Hälfte hereinzuholen.

»Aphrodite, hörst du mich? Wir sind jetzt in Kapsel C und warten auf dich.«

»Ich komme!«

* * *

Aphrodite klettert in die Mulde, in der sonst Kapsel A angedockt ist. Sie öffnet die Luke, schwingt sich in den Ring hinein und erschrickt, denn sie ist nicht allein.

»Überraschung!«, ruft Christine.

»Überraschung!«, ruft Oskars Stimme aus dem Helm der Androidin, den sie über dem Unterarm hält.

»Wir wollten dich gern als Allererste auf dem Schiff begrüßen«, sagt Christine.

»Es ist zwar sonst niemand hier«, sagt Oskar, »aber du verstehst schon, was sie meint, oder?«

Aphrodite nickt. Vorsichtig umarmt sie Christine. Sie muss ein bisschen aufpassen, damit sie sie mit keinem ihrer Arme verletzt.

»Das ist sehr nett von euch«, sagt Aphrodite.

»Stell dir vor, wir hätten dir Brot und Salz mitgebracht«, sagt Christine. »Das macht man doch in deiner Heimat so?«

»Einer Roboterin bringt niemand etwas mit, außer Arbeit.«

»Das tut mir leid. Es ist so großartig, was du geleistet hast«, sagt Christine.

Aphrodite fühlt sich von Christines Stimme gewärmt. Sie ist wirklich eine gute Kommandantin. Umso größer wird ihr schlechtes Gewissen, dass sie ihrem Befehl nicht gefolgt ist.

»Wir hätten uns natürlich viel ersparen können, wenn du gleich …«, setzt Oskar an.

Aber Christine unterbricht ihn. »Darum geht es jetzt nicht. Aphrodite konnte nicht wissen, was die Andere vorhat. Wenn ich so ein Double hätte, würde ich ihm solche Bosheiten auch nicht zutrauen.«

»Du hast ein Double, darf ich dich daran erinnern? Es heißt Ilan und ist …«

Christine schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. »Ilan ist auch nicht mehr der, der er mal war. Komm, wir ziehen uns in die Kapsel zurück, dort kann ich atmen. Auf Dauer ist es ohne Luft doch anstrengend.«

* * *

Aphrodite schließt das Schott hinter sich. Es klemmt, sodass sie etwas mehr Kraft einsetzen muss.

»Du kannst jetzt die Lebenserhaltung aktivieren«, sagt sie und dreht sich um.

In der Kabine ist es ziemlich eng. Sie muss jedes Glied bewusst bewegen, um nicht gegen Wände oder Maschinen zu stoßen. Dieser Körper ist für die Kapsel eigentlich zu groß. Aber die Alternative wäre, draußen oder im Schiff allein herumzusitzen und auf ein Zeichen zu warten. So kann sie sich wenigstens mit Christine und Oskar unterhalten.

»Danke noch einmal«, sagt Christine, in deren vom Vakuum ausgetrocknete, graue Wangen gerade eine lebendige Röte zurückkehrt.

»Das war ich euch schuldig«, sagt Aphrodite.

»Das würde ich aber auch sagen«, wirft Oskar ein.

»Lass es gut sein, Oskar«, sagt Christine. »Du könntest aber ein paar Ideen für unser weiteres Vorgehen entwickeln.«

»Wir müssen dringend Kontakt mit der anderen Kapsel aufnehmen«, sagt Oskar.

»Die Reichweite unserer Antenne genügt dafür nicht«, sagt Christine.

»Ich weiß«, sagt Oskar. »Wir brauchen die Sendeanlage der Shepherd-1.«

»Aber das Schiff dürfen wir nicht wieder in Betrieb nehmen, bevor wir das Problem mit der Anderen gelöst haben«, sagt Aphrodite.

»Wir könnten die Langreichweitenantenne auf der Shepherd-1 vom Schiffsnetz trennen und über ein Akkupaket aus der Kapsel mit Strom versorgen. Dann können wir sie als Relais einsetzen.«

»Das wird schwierig, Oskar.« Christine setzt sich auf den Pilotensitz und zieht den Bildschirm zu sich. Sie tippt etwas, worauf der Umriss der Shepherd-1 erscheint. Er ist an vielen Stellen von einer violetten Masse überzogen. Christine dreht die Darstellung so lange, bis die Antenne ins Bild kommt. Auch sie ist von den Wolken des Parasiten umgeben.

Aphrodite holt sich die Darstellung aus der Schiffssteuerung direkt in ihr Gedächtnis. Der nächste saubere Fleck auf der Außenhaut ist wenigstens zehn Meter entfernt. Das ist zu weit, um über die Hülle zur Antenne zu gelangen. Aber wenn sie sich aus der Kapsel abseilen würde? Das Zentralmodul, wo die Antenne sitzt, rotiert nicht, und anscheinend verfügt ihr metallener Körper über eine gewisse Immunität gegen den Parasiten. Es gibt wohl nur eine hier, die diese Stelle erreichen kann.

»Ich glaube, ich weiß, was Oskar plant«, sagt Aphrodite. »Und ich bin einverstanden.«

»Ich nicht«, sagt Christine. »Ich schicke dich nicht noch einmal da rein.«

»Wie willst du denn sonst vorgehen?«, fragt Oskar. »Du willst doch wohl nicht selbst den Versuch wagen?«

»Nein, ich habe gesehen, wie Aaron und David verschwunden sind. Wenn wir uns noch einmal in die Nähe wagen, dann nur mit einem … Abwehrmittel.«

»So etwas wie Knoblauch oder ein Holzkreuz gegen Vampire?«

Christine lacht. »Ich dachte an etwas, das mit den Mitteln unserer modernen Wissenschaft arbeitet. Dank Aphrodite wissen wir doch etwas über den Parasiten. Er stabilisiert sich selbst magnetisch, um diese unglaubliche Dichte zu erreichen.«

»Ah, und du willst diese Barriere durchbrechen«, sagt Oskar.

»So ist es. Wir werden versuchen, sie durcheinander zu bringen, indem wir ein eigenes Magnetfeld aufspannen. Dazu brauchen wir eine Spule mit ausreichend hoher Induktivität und Energie.«

»Unsere Energievorräte sind gerade nicht so üppig«, sagt Oskar. »Du könntest einen Teil der Akkupakete der Kapsel benutzen, aber die halten nicht unbegrenzt.«

»Du hast recht. Ich hatte an eine kontinuierliche Quelle gedacht. Ich habe mich nämlich an eine alte Geschichte erinnert, die man uns im Studium beigebracht hat. Also, den Menschen, nach deren Vorbild wir gebaut wurden. Sie stammt aus der Urzeit der Raumfahrt und soll genau so bei der ersten Expedition zu Saturn passiert sein.«

Christine macht es ja spannend. Aphrodite hat von der Geschichte der menschlichen Raumfahrt keine Ahnung, weiß also nicht, worauf sie hinauswill.

»Das Raumschiff damals hieß ILSE. Es war ähnlich konstruiert wie die Shepherd-1.«

»Na ja, wie so ziemlich jedes Raumschiff, auf dem Menschen längere Zeit unterwegs sind«, sagt Oskar.

»Unterbrich mich nicht. Die ILSE besaß also einen Ring, so wie wir, in dem die Unterkünfte lagen. Nun mussten sie aus irgendeinem Grund die Fusionstriebwerke ausschalten. Komplett. Um sie wieder hochzufahren, brauchten sie Strom.«

»Warum haben sie den nicht einfach aus den Generatoren in den DFDs gewonnen?«, fragt Oskar.

»Weil die damals noch nicht vorgesehen waren, du Klugscheißer. Erst später hat man aus den Fehlern gelernt und sie überall nachgerüstet. Man ist einfach nicht davon ausgegangen, dass es nötig sein könnte, alle Triebwerke abzuschalten.«

»Warst du damals auch schon dabei, Oskar?«, fragt Aphrodite.

»Also bitte, glaubst du etwa, ich wäre schon achtzig Jahre alt? Wofür hältst du mich denn? Ein Relikt aus der Urzeit?«

»Na ja, Oskar. Du musst zugeben, dass du schon ziemlich lange dabei bist. Als du gebaut wurdest, hat mein Vorbild noch nicht einmal gelebt«, sagt Christine. »Aber darf ich jetzt meine Geschichte erzählen?«

Aphrodite nickt. Sie liebt Geschichten, aber nur solche mit einem guten Ende. Hoffentlich hat ihre eigene auch so eines. In Gedanken schickt sie ein kurzes Gebet an denjenigen, der ihre Geschichte schreibt. Sie glaubt zwar nicht an einen Gott, aber den Menschen hilft das ja auch anscheinend auch.

»Eine Ingenieurin, leider habe ich ihren Namen vergessen, hatte damals die Idee, einen Dynamo zu bauen, der aus der Rotation des Rings Energie entnimmt.«

»Und das hat funktioniert?«, fragt Oskar.

»Es hat genügend Energie geliefert, um das Triebwerk neu zu starten. Die ILSE hat ihr Ziel erreicht.«

»Die Geschichte gefällt mir«, sagt Aphrodite.

»Ich könnte auch großartige Geschichten erzählen«, sagt Oskar. »Wisst ihr eigentlich schon, wo ich überall war?«

»Oh ja«, sagt Aphrodite. »Da bin ich sehr gespannt.«

»Aber zuerst sollten wir uns um unser aktuelles Problem kümmern«, sagt Christine.

»Ein Dynamo ist wirklich eine gute Idee«, sagt Oskar. »Vielleicht können wir damit auch die Antenne selbst betreiben. Das gefällt mir besser, als wenn wir uns auf ein Akkupaket verlassen müssten. Das wäre keine dauerhafte Lösung. Ich frage mich allerdings, wo wir ihn installieren sollen.«

»Es gibt eigentlich nur einen Ort, der da in Frage kommt«, sagt Christine. »Am Ring natürlich.«

»Das dachte ich mir schon. Aber wo genau?«

»Wir platzieren ihn an der Außenseite der Kapsel und manövrieren sie so, dass sie neben dem Ring mit derselben Geschwindigkeit wie das Schiff fliegt. Dann spannen wir eine Leitung zum Zentralbereich, wo wir ihn mit unserem ebenfalls noch zu bauenden Magnetfeldgenerator verbinden.«

»Es gibt da allerdings ein kleines Problem«, sagt Aphrodite. »Die Unfallstelle beult den Ring etwas aus. Dadurch liegt der Mindestabstand zwischen Kapsel und Schiff bei zwei Metern. Das dürfte zu viel sein, um nennenswert Strom zu induzieren.«

»Mist, da hast du leider recht«, sagt Christine.

»Wir können das umgehen, indem wir die Kapsel oberhalb des Rings einparken. Dort gibt es keine Beule.«

»Danke, Aphrodite.«

»Ich würde außerdem vorschlagen, dass wir uns aufteilen, um Zeit zu sparen. Ich kümmere mich um die Installation des Dynamos. Ich bin sowieso die einzige, die die Kapsel wieder abkoppeln kann. Du baust in der Werkstatt das Gerät zusammen, das das Magnetfeld erzeugt.«

»Das ist ein guter Vorschlag«, sagt Christine. »Ich werde mich dann ja auch mit dem Gerät in den Parasiten wagen.«

Aphrodite würde gern widersprechen, traut sich aber nicht. Sie hat von dem Parasiten wirklich die Nase voll. Außerdem ist Christine viel kleiner als sie. Wenn das Gerät jemanden schützen kann, dann wohl eher Christine.

»Ja, das wäre vernünftig«, sagt Oskar. »Und wie ich sehe, sind wir uns diesmal alle darüber einig, den vernünftigen Weg zu wählen. Das ist doch mal ein guter Anfang!«

* * *

Die besprochene Vorgehensweise hat zur Folge, dass sie sich erneut trennen müssen. Christine ist bereits von der Werkstatt nach draußen unterwegs, als Aphrodite Kapsel C aus der Verankerung befreit. Sie krallt sich dazu auf der Außenhülle der Kapsel fest, denn sobald die beiden Andockklammern gelöst sind, wird die Trägheit die Kapsel ins All schleudern.

Die erste Klammer beugt sich ihrer Kraft. Es ist eine sehr befriedigende, wenn auch anstrengende Tätigkeit. Aphrodite prüft ihren sicheren Stand, dann greift sie nach der zweiten Klammer. Sie sitzt deutlich fester, vermutlich, weil nun das ganze Gewicht auf ihr lastet. Aphrodite nimmt einen zweiten und einen dritten Arm zu Hilfe. Endlich klappt es! Sie spürt schon, wie die Trägheit an ihr zerrt. Also löst sie nun den schwächsten der drei Arme von der Klammer. Er hängt! Das Werkzeug an seiner Spitze muss sich verkantet haben. Es ist nicht zu ändern. Schnell hintereinander löst sie den zweiten und den dritten Arm und bereitet sich gedanklich auf das vor, was folgen muss.

Die Schmerzen, als ihr Werkzeugarm reißt, sind trotzdem kaum zu ertragen. Aphrodite stürzt nach vorn auf ihre Vorderseite. Die Kapsel fliegt schnurstracks hinaus ins All. Immerhin ist sie im freien Fall, sodass es Aphrodite trotz der Schmerzen ins Innere schafft. Dort übernimmt sie mit der anderen Werkzeughand das Steuer und bremst den Flug so weit ab, dass sie der Shepherd-1 langsam wieder näher kommt.

Sie untersucht die Wunde. Die Hand fehlt komplett. Es ist ein glatter Riss. Etwas Öl tritt aus einer Leitung. Sie prüft ihren Bauplan. Zum Glück ist es kein Hydraulik-, sondern Schmieröl, das die Gelenke in der nun fehlenden Hand versorgt hat. Soll sie Christine Bescheid geben? Nein, sie ist dann bloß beunruhigt. Es geht ja auch ohne diese Hand. Sie besitzt immer noch ein Greifinstrument für diffizilere Aufgaben und dazu zwei kräftige Ladearme. Das sollte genügen.

Sie steuert die Kapsel mit der verbliebenen Hand und versucht, die Schmerzen so gut es geht zu unterdrücken. Theoretisch könnte sie auch ganz ohne Gliedmaßen am Steuer bleiben – sie bräuchte sich bloß direkt mit der Steuerung zu verbinden. Das ist etwas, wozu ihre Androiden-Freunde nicht in der Lage sind. Ganz langsam nähert sich die Kapsel der vorgesehenen Position. Es ist etwas heikel, weil der Ring sich ja die ganze Zeit dreht. Die Kapsel schwebt dicht über ihm wie ein Topf über einem Induktionsherd, nur sitzt der Dynamo an der Außenseite der Kapsel. Sie hat die primitive Maschine nach einem Plan von Oskar montiert. Angeblich soll sie bis zu einem Kilowatt liefern.

Hoffentlich geht der Plan auf. Oskar hat bestimmt alles richtig berechnet. Das Gerät, das Christine in der Werkstatt zusammengesetzt hat, haben sie Magnetschild genannt. Es ist kein Schild im engeren Sinne, der seine Trägerin gegen Magnetfelder abschirmen würde. Vielmehr geht es darum, die vorhandenen Felder zu stören. Dann, so die Theorie, kann der Parasit seine Struktur nicht mehr stabilisieren und sollte erst recht nicht mehr in der Lage sein, Objekte aufzulösen.

»Kommst du voran?«, fragt sie über das Funkmodul der Kapsel.

»In fünf Minuten erreiche ich den Bereich, in dem wir Aktivität des Parasiten vermuten«, sagt Christine.

»Aber benutze deine Lampe, damit du siehst, ob sich der Bereich nicht etwa verschoben hat.«

»Ja, Aphrodite. Ich lasse sie die ganze Zeit eingeschaltet. Sonst ist die Orientierung hier draußen schwierig.«

Oh, sie hat ganz vergessen, dass die Androiden in der Dunkelheit aufgeschmissen sind und ihren Weg nicht mehr finden. Aphrodite kontrolliert den Abstand des Dynamos zum Ring. Die Maße stimmen. Sie klettert zurück in die Kapsel und schaltet all ihre Sinne parallel auf den Bildschirm. Da ist Christine. Von oben sieht sie aus wie ein Rechteck mit abgerundeten Ecken. Je nach Wellenlänge ist sie mal ein heller, mal ein greller und mal ein eher kontrastarmer Fleck, der sich zügig auf eine violette Wand zubewegt.

Es ist Zeit, dass sie ihr das Kabel zuwirft. Aphrodite klettert wieder nach draußen. Dieser Moment ist aus zwei Gründen heikel: Wenn sie das Kabel wirft, sollte sie möglichst auch treffen. Außerdem wird die Kapsel dadurch einen gewissen Impuls von der Shepherd-1 weg erhalten, den sie mit dem Korrekturtriebwerk ausgleichen muss.

»Oskar, wie läuft unser kleines Kraftwerk?«, fragt Aphrodite.

Sie könnte die Daten auch selbst ablesen, findet es aber beruhigend, wenn Oskar ein Auge darauf hat. Sie hat sowieso schon zu viel Verantwortung.

»1074 Watt«, sagt Oskar.

»Das ist ja mehr als erwartet.«

»Ja, ich habe mit gewissen Toleranzen gerechnet.«

»Sehr gut.«

»Danke, Aphrodite. Es wäre dann an der Zeit, Christine das Kabel zuzuwerfen. Sie hat den Parasiten gleich erreicht.«

»Ich bin bereit«, sagt Aphrodite.

»Ich auch«, sagt Christine.

Im Radarbild erkennt sie, dass Christine ihr zuwinkt. Sie ist etwa dreißig Meter entfernt. Aphrodite kann alles ganz exakt berechnen und ihre Kraft gezielt einsetzen. Eigentlich dürfte nichts schiefgehen. Trotzdem hat sie Angst.

Sie stellt sich so hin wie geplant, nimmt das Seil so in die Hand, wie sie es berechnet hat, holt im exakten Winkel aus und lässt das Seil in der richtigen Sekunde los. Trotzdem sieht sie sofort, dass es nicht exakt bei Christine ankommen wird. Die Flugbahn weicht um den Hauch eines Prozents vom Plan ab. Mist. Sie hat nicht daran gedacht, dass sie ihre Hand eingebüßt hat. Das hat ihre Masse verändert und damit auch die Impulsübertragung.

»Ich hab’s versaut«, sagt sie.

Noch kann sie das Seil wieder einholen. Es ist nicht zu spät. Sie berechnet den nächsten Versuch, und dann …

»Nein, alles prima«, sagt Oskar. »Christine braucht bloß einen Schritt nach links zu machen, um das Seil fangen zu können. Hast du das gehört, Christine?«

»Aber das gehört doch nicht zum Plan«, sagt Aphrodite. »Wir sollten uns daran halten.«

Christine folgt Oskars Anweisung und fängt das Kabel. »Hab es! Ein bisschen Improvisation gehört dazu. Sonst macht es doch keinen Spaß.«

»Macht dir das gerade Spaß?«, fragt Aphrodite.

»Ja, klar. Es macht mir zwar auch Angst, aber es ist definitiv eine Menge Spaß dabei. Ich will endlich wissen, ob meine Idee funktioniert. Es ist ein großartiges Gefühl, wenn Ideen auch in der Praxis etwas taugen.«

Aphrodite beobachtet das Kabel. Es hängt etwas durch, aber nicht so weit, dass es den Parasiten berührt. Das ist die Schwachstelle des Plans: Da die Wolke bis zu vier Meter hoch ist, wäre es möglich, dass der Magnetfeldstörer nicht bis zu ihrem oberen Rand reicht. Dann würde das Kabel einen Teil des Parasiten durchqueren. Falls er es dann auflösen sollte, hätte Christine plötzlich keinen Strom mehr.

Das würde sie noch nicht die Existenz kosten, denn sie hat für solche Fälle ein Akkupaket auf dem Rücken. Aber sie müsste dann wohl umkehren.

»Ich schalte jetzt dein Gerät ein, Oskar«, sagt Christine. »Hoffentlich funktioniert es.«

»Wenn du beim Bau alle Anweisungen befolgt hast, dann funktioniert es auch«, sagt Oskar.

»Also bin ich selbst schuld, wenn nicht?«

»Diese Schlussfolgerung hast du gezogen, nicht ich.«

»Weil sie sich logisch aus deiner Behauptung ergibt. Wenn du A sagst und sich B logisch und eineindeutig aus A ergibt, dann kannst du nicht behaupten, du hättest B nie gesagt.«

»Eins zu null für Christine«, sagt Aphrodite.

»Ha, von wegen! Wenn ich A sage, habe ich A gesagt, nichts anderes.«

Aphrodite sieht, wie die blaue Schicht auf dem Schiff eine Delle bekommt. Sie entsteht genau dort, wo sie im optischen Bereich Christine sieht.

»Es funktioniert«, sagt sie.

»Das ist großartig!«, ruft Christine. »Für mich ist das hier nicht so richtig erkennbar. Der Nebel ist immer noch um mich herum.«

»Ja, der Wirkungsbereich ist kaum größer als dein Querschnitt«, sagt Aphrodite.

»Reicht das dann auch für die Antenne?«, fragt Christine.

»Ich denke schon.«

»Oh, das wäre genial. Benjamin und Ilan machen sich bestimmt schon Sorgen.«

»Was siehst du denn?«, fragt Aphrodite.

Sie erinnert sich an ihren eigenen Aufenthalt da unten. Trotz ihrer vielen Sinne hatte der Nebel sie mehr und mehr eingeengt. Das Radar hatte ganz versagt, Funkwellen waren aber noch durchgedrungen. Wie muss es Christine jetzt ergehen, die vermutlich gar nichts mehr sieht? Oder ist sie das gewöhnt, weil sie sich auf ihren optischen Sinn sowieso nicht verlassen kann?

»Vor mir ist eine weiße Wand«, sagt Christine. »Aber sie weicht zurück, wenn ich mich auf sie zubewege. Ich darf allerdings nicht zu schnell gehen.«

»Das machst du sehr gut«, sagt Aphrodite. »Ich sehe dich auch von oben, obwohl der Parasit an deiner Position schon sehr dick sein muss. Deine Maschine arbeitet also auch in der Höhe.«

»Das will ich doch wohl hoffen«, sagt Oskar. »Ich habe sie schließlich konstruiert.«

»Ja, das war wirklich eine sehr gute Idee«, sagt Christine.

Das Kabel strafft sich inzwischen spürbar, sodass Aphrodite noch zwei Meter von der Trommel abrollt. Bis zur Antenne sind es noch etwa sechs oder sieben Meter. Der Plan scheint wirklich aufzugehen.

Plötzlich zieht ein Wolkenfetzen über Christine hinweg. Aphrodite löst den Laser der Kapsel aus, und die Wolke leuchtet rötlich auf. Es ist der Parasit.

»Christine? Es sieht so aus, als könnte der Magnetschirm nicht mehr den ganzen Bereich über dir sauberhalten.«

Christine weiß genau, was das bedeutet. Sie haben es vorher ausführlich besprochen. Der Parasit darf das Kabel nicht beeinflussen.

»Ich halte es etwas höher«, sagt sie.

»Das war nicht abgesprochen«, sagt Aphrodite. »Wenn das Kabel in Gefahr gerät, drehst du um. Das ist der Plan.«

»Man muss auch mal flexibel sein. Es sind doch bloß noch ein paar Meter.«

»Wir haben nichts erreicht, wenn du auch noch verschwindest. Schau bitte zu deinen Füßen, ob der Nebel dich dort schon erreicht.«

»Sag mir lieber, was mit der Wolke über mir ist.«

»Sie ist verschwunden, Christine. Aber jetzt komm da raus. Wir ändern den Plan und versuchen es noch einmal.«

»Aphrodite, in welche Richtung geht es zur Antenne? Ich bin gerade etwas desorientiert.«

»Du drehst dich um 150 Grad im Uhrzeigersinn. Dann erreichst du auf dem kürzesten Weg eine parasitenfreie Zone.«

»Ich will aber zur Antenne. Oskar, sag du doch etwas.«

»30 Grad gegen den Uhrzeigersinn«, sagt Oskar.

»Oskar!«, schimpft Aphrodite.

»Christine ist eine erwachsene Frau. Wenn sie sich in Gefahr bringen will, soll sie sich in Gefahr bringen.«

»Aber Oskar! Das war nicht abgesprochen!«

Eine neue Wolke ist direkt über Christine erschienen. Hat der Parasit etwa erkannt, dass da ein potenzielles Opfer wartet?

»Christine, da ist schon wieder etwas über dir. Wenn wir das Kabel verlieren …«

»… verlegen wir eben ein neues.« Christine macht zwei große Schritte nach vorn.

»Oskar, tu doch etwas!«, ruft Aphrodite.

»Ich kann die Stärke des Magnetschildes erhöhen. Dann erhöht sich aber auch die Leistungsaufnahme.«

Und das sagt Oskar erst jetzt? Christine kontrolliert die Werte am Dynamo. Der Output liegt bei 1073 Watt. Er ist erstaunlich stabil. Der Magnetschirm nimmt bisher nur 910 Watt auf. Nein, 930 Watt. 950. 990.

»Hast du gerade die Stärke erhöht?«, fragt Aphrodite.

»Bestätigt. Was macht der Parasit?«

»Die Wolke über Christine hat sich aufgelöst.«

»Sehr gut«, sagt Oskar.

»Siehst du, kein Grund zur Aufregung«, sagt Christine.

Aber es gibt sehr wohl einen Grund, denn die nächste Wolke lässt sich blicken.

»Ich bin ja ungern die Spielverderberin, aber es geht schon wieder los.«

»Wir haben noch eine Reserve«, sagt Oskar. »Also gut, ich drehe den Output jetzt fast bis zum Maximum auf. Eigentlich gibt es ja keinen Grund, dass die Leistung des Dynamos plötzlich sinken sollte.«

Eigentlich. Sie hasst dieses Wort. Aphrodite verfolgt die Werte. 1020 Watt Leistungsaufnahme, 1050 Watt, 1070. Dabei bleibt es. Die Wolke hat sich bei 1050 Watt verflüchtigt.

»Momentan alles klar«, sagt Aphrodite.

»Und ich bin am Ziel«, sagt Christine. »Siehst du, alles halb so schlimm. Ich schließe das Kabel jetzt zusätzlich an der Antenne an.«

Aphrodite beobachtet, wie Christine an der Antenne hantiert. Sie können erst damit senden, wenn der Magnetschild nicht mehr gebraucht wird – wenn also Christine in Sicherheit ist. Sie wird sich dazu am Kabel entlang in Richtung Kapsel hangeln. So kommt sie noch schneller aus dem tödlichen Nebel heraus.

Das scheint der Parasit aber auch zu befürchten. Er will seine Beute wohl nicht loslassen, denn es sammeln sich neue Nebelwolken direkt über Christines Standort. Sie bedrohen auch das Kabel wieder.

»Oskar, wir brauchen noch eine neue Idee«, sagt Aphrodite.

»Es tut mir leid, aber ich bin am Ende mit meinem Latein.«

»Das kann ich nicht akzeptieren«, sagt Aphrodite. »Wir brauchen mehr Leistung, sonst verlieren wir erst Christine und dann die Antenne.«

»Aber die Leistungsabgabe des Dynamos ist durch seine Spule und die Drehzahl festgelegt. Das können wir nicht verändern.«

»Die Drehzahl? Du meinst, wie schnell sich der Ring dreht?«

»Genau.«

»Aber das lässt sich doch bestimmt verändern. Wir können den Ring anhalten, also muss er sich auch beschleunigen lassen.«

»Prinzipiell ja, aber ich kann die kleinen chemischen Triebwerke, die dafür zuständig sind, nicht ansteuern. Wir haben keinen Strom, Aphrodite.«

»Ich erinnere mich. Brauchen wir wirklich Strom, um diese Triebwerke zu starten?«

»Es gibt auch einen manuellen Auslöser. Dazu müsste aber jemand zu den Triebwerken klettern. Und zwar schnell.«

»Schick mir die Position«, sagt Aphrodite. »Ich bin schon unterwegs.«

»Sie befinden sich auf dem Ring«, sagt Oskar.

»Das ist doch praktisch. Dann ist es also nicht weit.«

Die Kapsel schwebt ein paar Zentimeter über dem Ring, der sich allerdings ziemlich schnell dreht. Und sie will ihn noch beschleunigen. Ob das eine gute Idee ist? Aber es hilft nichts. Aphrodite klettert auf der Außenseite der Kapsel in eine Position, von der sie den Ring gut erreicht. Dann springt sie.

Sie erwischt sofort eine stabile Strebe, an der sie sich festhalten kann. Die plötzliche Beschleunigung reißt ihr zwar beinahe den Arm heraus und verdoppelt die Schmerzen, die sie sowieso schon empfindet, aber sie stabilisiert das Gelenk mit dem stabilen Ladearm. Glück gehabt!

»Du musst auf die Außenseite des Rings«, sagt Oskar. »Diese Triebwerke sehen aus wie Ventilatoren. Es sind runde, mit Gittern abgedeckte Öffnungen im Ring. Du findest sie immer paarweise. Aber pass auf! Wenn der Ring beschleunigt, erhöht sich auch die gefühlte Schwerkraft. Setz deine Kraft lieber sparsam ein, du wirst sie brauchen.«

»Verstanden«, sagt Aphrodite.

Wenn sie auf der Innenseite warten würde, würde sie nach spätestens einer Umdrehung die Kapsel vom Ring werfen.

»Ich habe die Antenne mit dem Kabel verbunden«, sagt Christine. »Warum seid ihr so ruhig?«

Aphrodite hat das Gespräch mit Oskar auf einer separaten Frequenz geführt, um Christine nicht zu beunruhigen.

»Deine Lage ist anscheinend etwas komplizierter geworden«, sagt Oskar. »Aphrodite klärt das gerade.«

Sie klärt das, genau. Aphrodite klärt das für euch. Es ist ein gutes Gefühl, Dinge klären zu können, obwohl ihr die Position auf dem Ring gerade Angst macht. Plötzlich versteht sie Christine. Wenn sie jetzt sterben sollte, hat sie doch noch etwas Wichtiges gelernt.

»Habt ihr etwa Geheimnisse vor mir? Das mag ich überhaupt nicht. Was ist los?«

»Wenn wir den Magnetschild und die Antenne dauerhaft betreiben wollen, brauchen wir mehr Leistung. Deshalb beschleunigt Aphrodite jetzt den Ring.«

»Was? Seid ihr denn wahnsinnig geworden? Die zusätzliche Schwerkraft wird sie abwerfen, und wer weiß, was der Ring überhaupt verträgt?«

»Die Shepherd-1 ist sicher mit gewissen Toleranzgrenzen gebaut«, sagt Oskar. »Mach dir da mal keine Sorgen.«

»He, ich bin die Kommandantin. Ihr könnt das nicht einfach über meinen Kopf hinweg entscheiden!«

Genau das hat Aphrodite erwartet. Deshalb hat sie Christine in ihren Plan nicht eingeweiht. Langsam klettert sie an der Außenseite des Rings entlang. In jedem Quadranten müsste es so ein kleines Triebwerk geben. Aber sie sind wirklich gut versteckt, vermutlich, damit sie unempfindlich für Einschläge von Mikrometeoriten sind. Es gibt vier dieser Triebwerke, damit der Ring stets symmetrisch belastet wird. Doch jetzt muss eines genügen. Da! Ein dunkler Kanal führt schräg ins Innere des Schiffes. Er sieht aus wie der Bau eines Nagetiers. Sie leuchtet hinein und erkennt das Schutzgitter.

»Wo ist die Steuerung?«, fragt sie.

»He, hört ihr mir überhaupt zu?«, fragt Christine.

»Ich würde vorschlagen, dass du dich mit Hilfe des Kabels schon einmal in Sicherheit bringst«, sagt Aphrodite. »Wir klären hier gerade den Rest.«

»Das unterstütze ich«, sagt Oskar. »Der Parasit verdichtet sich gerade über dir.«

»Ich werde den Teufel tun und abhauen! Meinen Platz verlasse ich erst, wenn die Antenne funktioniert.«

»Hast du sie schon in den Relay-Modus versetzt?«, fragt Oskar. »Du musst die Klappe an der Seite öffnen. Da gibt es einen separaten Schalter ganz rechts.«

»Ja, natürlich«, sagt Christine. »Ich kenne mein Schiff.«

»Dann könntest du doch wirklich Aphrodites Vorschlag folgen und dich schnellstens am Kabel aus dieser brenzligen Situation herausbegeben.«

»Und wenn doch etwas nicht funktioniert? Dann war alles umsonst.«

Oskar seufzt laut. Aphrodite beugt sich über das Triebwerk. Wo ist die Bedieneinheit? Ah, da drüben, genau in der Mitte zwischen den beiden Röhren. Das ergibt Sinn. Die Klappe ist mit vier Schrauben gesichert. Aphrodites Werkzeugarm löst sie blitzschnell. Ein Lastenarm entfernt die Klappe, hält sie aber nicht fest genug, sodass sie davonfliegt. Darunter liegt ein kleines Bedienfeld mit ein paar Anschlüssen, drei Lämpchen, zwei Tasten und einem vergleichsweise großen Drehschalter. Die Lampen sind dunkel.

»Ich bin an Ort und Stelle«, sagt Aphrodite.

»Gut. Siehst du den Drehregler?«

»Sehe ich.«

»Du musst ihn gegen die Bewegungsrichtung des Rings ausrichten.«

»Verstanden. Also nach links.«

»Ich weiß nicht, wie du stehst. Gegen die Bewegungsrichtung, das ist wichtig. Damit wählst du die Düse aus, die gegen die Bewegungsrichtung zeigt. Das Triebwerk stößt das Gas dann durch diese Düse aus, und der Ring dreht sich schneller.«

»Verstanden.«

So ganz logisch erscheint ihr das nicht. Warum zeigt der Schalter nicht an, in welche Richtung man den Ring beschleunigen will? Aber darüber kann sie sich später noch Gedanken machen. Der Ring dreht sich aus ihrer Perspektive rechts herum, also dreht sie den Schalter nach links. Nichts passiert.

»Und jetzt?«

»Warte, ich sehe Christine nicht mehr.«

»Oskar, und jetzt?«

Oskar antwortet nicht. Es gibt zwei Tasten. Sie sind nicht beschriftet. Die eine schaltet das Triebwerk ein, die andere schaltet es aus. Vermutlich. Die meisten Menschen lesen von links nach rechts. Also ist links der Einschalter, rechts der Ausschalter. Oder hat eine der Tasten eine ganz andere Funktion?

»Oskar?«

Keine Antwort. Sie drückt die linke Taste. Die Kraft, die sie vom Ring werfen will, verstärkt sich ein wenig. Sie hat richtig entschieden! Der Ring beschleunigt sich. Sie muss hierbleiben, bis er schnell genug ist. Aphrodite bereitet sich vor, indem sie beide Ladearme an Streben verankert. Die Ladearme sind stabiler als ihre Spinnenfüße. Die Trägheitskraft nimmt zu. Leider kann sie nicht messen, wie schnell. Die Daten ihrer Gelenke geben eine um ein Fünftel höhere Belastung an. Dann wären sie jetzt bei 1,2 g. Es sollen 2 g werden.

»Leistungszuwachs beim Dynamo«, meldet Oskar.

Er klingt bedrückt.

»Da bist du ja wieder! Was war denn los?«, fragt Aphrodite,

»Ich habe versucht, Christine zu erreichen, aber sie meldet sich nicht.«

»Oh nein!«

Eines ihrer Gelenke knackt laut. Der Körperschall dringt bis in ihren Kopf. Der Ring beschleunigt weiter.

»Dynamo jetzt bei 150 Prozent«, sagt Oskar.

Ja, das passt zur Schwerkraft, die um die 1,5 g liegen muss. Aphrodite beugt sich über die Bedieneinheit.

»Welche Taste drücke ich, um das Triebwerk wieder auszuschalten?«, fragt sie.

»Dieselbe wie zum Einschalten. Auf keinen Fall die andere. Sie führt zu einem Nothalt des Rings. Alle Triebwerke feuern dann, bis der Ring steht.«

Da hatte sie ja wirklich Glück. »Warum sind die Knöpfe nicht beschriftet?«

»Vielleicht sind die Konstrukteure davon ausgegangen, dass sowieso nur jemand, der sich auskennt, die manuelle Steuerung benutzt.«

»Das ist unverantwortlich«, sagt Aphrodite.

Sie presst sich fester an den Ring, um ihre Gelenke zu entlasten. Da fällt ihr die Kommandantin wieder ein.

»Was ist mit Christine?«, fragt sie.

»Ich weiß es nicht«, sagt Oskar.

Seine Stimme klang noch nie so verzweifelt. Wenn sie es schafft, über eine der Speichen zum Zentralmodul zu klettern … Sie könnte Christine vielleicht aus dem Nebel herausholen. Aber dann wird der Ring immer weiter beschleunigen. Sie muss hierbleiben, zumindest so lange, bis der Dynamo so viel Leistung liefert, wie sie brauchen.

»Was kann ich tun?«, fragt Aphrodite.

»Du tust schon das Wichtigste. Wir sind jetzt bei 1920 Watt. Warte noch dreißig Sekunden, dann haben wir über 2000. Das muss genügen.«

»Was ist mit dem Parasiten?«

»Er löst sich auf. Warte. Ja, jetzt ist die Wolke verschwunden! Die Antenne liegt frei, und es sind sogar zwei Meter Abstand zur Umgebung. Ich sehe einen hellen Fleck. Das muss Christine sein!«

»Das ist ja großartig«, sagt Aphrodite.

»Sie scheint sich aber nicht zu bewegen.«

Sie misst die Belastung ihrer Gelenke. Ja, das sind 2 g. Schnell betätigt sie den Knopf, der das Triebwerk wieder ausschaltet.

»Ich komme zurück zur Kapsel«, sagt Aphrodite.

»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagt Oskar.

Es muss um Christine gehen! Aphrodite bleibt mitten in der Bewegung stehen. Was ist los?

»Du lebst!«, ruft Oskar.

»Ja, klar«, antwortet Christine. »Habt ihr das nicht gesehen?«

»Nein, der Parasit hat dich verdeckt. Er hat sich gerade erst zurückgezogen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagt Christine. »Ich habe das Akkupaket benutzt, um mit der Langreichweitenantenne Kontakt zu Kapsel A aufzunehmen. Dazu musste ich den gemeinsamen Kanal verlassen. Aber das habe ich doch angekündigt!«

»Hast du nicht«, sagt Oskar.

»Oh, sorry. Aber ich habe leider wirklich schlechte Nachrichten. Die Kapsel meldet sich nicht.«

Auch das noch. Genügt es nicht, wenn sie hier selbst Probleme haben? Aphrodite klettert weiter.

»Das klären wir gleich in Ruhe«, sagt Oskar. »Aber da wir nun wissen, dass die Antenne arbeitet, kommst du erst einmal über das Kabel zur Kapsel zurück.«

»Okay, einverstanden.«

Aphrodite ist überrascht, dass Christine diesmal mitspielt. Sie stellt sich vor, wie die Androidin am Kabel entlang Richtung Kapsel klettert. Zentralmodul und Kapsel sind zueinander bewegungslos. Es muss sich trotzdem anfühlen wie ein unendlicher Abgrund, den Christine überwinden muss.

»Bin angekommen«, sagt sie. »Aphrodite, kommst du auch?«

Aphrodite sieht, wie die Kapsel durchrauscht. Nein, sie kann nicht zurück. Wenn sie bei diesem Tempo vom Ring auf die bewegungslose Kapsel springt, wird ihr Impuls die Kapsel aus dem Gleichgewicht bringen, und im schlimmsten Fall reißt das Kabel, das sie gerade erfolgreich installiert haben.

»Nein, tut mir leid. Ich muss draußen bleiben«, sagt Aphrodite. »Der Übergang vom Ring zur Kapsel ist zu gefährlich. Das Kabel könnte unter dem unvermeidbaren Impuls reißen, und dann stehen wir wieder am Anfang.«

Es ist okay. Hier auf dem Ring ist es nicht viel schlechter als in der Kapsel. Sie muss sich gut festhalten, dafür hat sie aber den besseren Ausblick. Es ist ja nur für eine begrenzte Zeit. Irgendwann werden sie die Stromversorgung des Schiffes ja wohl wieder aktiviert haben.

»Du hast recht, Aphrodite«, sagt Oskar. »Aber bitte versuch nicht, über eine der Speichen zum Zentralmodul zu gelangen. Da hat sich überall der Parasit breitgemacht.«

»Das werde ich nicht, keine Sorge. Ich halte es auch eine Weile auf dem Ring aus. Aber was ist nun mit Kapsel A?«

»Ich muss Christines Feststellung leider bestätigen. Benjamin und Ilan melden sich nicht.«

Auch das noch. Dann war die ganze Aktion umsonst!

»Mist. Also hätten wir uns die Inbetriebnahme der Antenne ja sparen können.«

»Nicht ganz«, sagt Oskar. »Immerhin erreichen wir dadurch wieder die Missionskontrolle.«

»Vergiss es«, sagt Aphrodite. »Die einzigen, die sich für uns interessieren, sind Alpha-Omega und RB, aber mit denen wollen wir nicht sprechen.«

»Außerdem können sie uns sowieso nicht helfen«, sagt Christine. »Wir bleiben auf Kurs und versuchen immer wieder, Kontakt mit der Kapsel aufzunehmen.«

Aphrodite klettert um den Ring herum zur Innenseite. Dort wird sie von der Trägheitskraft gegen den Untergrund gepresst und muss nicht mehr befürchten, bei der geringsten Unachtsamkeit abzustürzen. Sie sucht nach einem elektrischen Anschluss. Tatsächlich haben die Designer der Shepherd-1 in regelmäßigen Abständen Steckdosen verteilt. Vermutlich waren sie während der Konstruktion des Schiffes wichtig, das im Orbit errichtet wurde. Sie verbindet sich damit, lehnt sich zurück und entspannt.