»Kapsel A an Shepherd-1, bitte kommen.«
Keine Antwort. Benjamin seufzt.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt Ilan. »Vielleicht haben sie bloß einen Stromausfall.«
»Stromausfall, haha. Alle DFDs auf einmal?«
»Ganz unmöglich ist es nicht. Die elektrische Energie muss durch einen Wandler.«
»Aber dafür gibt es doch Ersatzteile, oder?«
»Das stimmt, Benjamin. Ich wollte dir ja bloß zeigen, dass alles eine natürliche Ursache haben könnte. Ich kann aber nicht hellsehen.«
»Ich mache mir eben Sorgen.«
»Das verstehe ich. Es hilft bloß niemandem. Komm, beschäftigen wir uns lieber mit unserem Ziel. Ich habe das Gefühl, dass es die Lösung all unserer Probleme liefern wird.«
»Nichts auf der Welt kann all unsere Probleme lösen, Ilan.«
»Warten wir es ab.«
* * *
»So, ich schicke die Nachricht ab«, sagt Ilan.
»Mach.«
Sie haben sich wirklich Mühe gegeben und das Niveau noch einmal erhöht. Mathematik, Physik und die Biochemie des Kosmos sind in ihrer Nachricht kodiert.
Die Antwort kommt beinahe sofort.
»Das ging ja richtig schnell«, sagt Ilan.
»Es war so schnell, dass es gar nicht die Antwort sein kann«, sagt Benjamin. »Sie müssen das erst dekodieren, dann verstehen und sich schließlich zu einer Antwort durchringen.«
»Vielleicht denken sie einfach schneller als wir.«
»Ja, aber die Abstimmung untereinander braucht doch trotzdem Zeit!«
»Lass uns einfach reinschauen, okay?«
Benjamin kommt sich langsam komisch vor. Er ist doch sonst der Optimist schlechthin. Anderenfalls hätte er diese Reise gar nicht angetreten. Aber inzwischen übertrifft ihn Ilan bei weitem.
Die erste Darstellung öffnet sich. Das hat etwa so lange gedauert, wie die Fremden für die komplette Antwort gebraucht haben. Sie müssen wirklich weit fortgeschritten sein. Benjamin erkennt eine Art Blüte. Sie ist bunt und strahlt eine gewisse Faszination aus. Er folgt den Umrissen der Blütenblätter mit den Fingern und verheddert sich dabei.
»Das ist unmöglich«, sagt er.
»Ja, das muss höhere Mathematik sein«, sagt Ilan. »Ich habe im Grundkurs aufgehört.«
»Ich dachte immer, du wärst Ingenieur?«
»Nein, ich habe keinen Abschluss, wenn du das meinst. Aber ich habe immer als Ingenieur gearbeitet. Wenn man der Chef ist, fragt einen niemand nach Abschlüssen.«
»Ich erinnere mich dunkel an meine Topologie-Vorlesungen«, sagt Benjamin. »Das ist vermutlich irgendeine fünfdimensionale Funktion im räumlichen Koordinatenraum.«
Es ist seltsam. Er hat den Mann kennengelernt, der diese Vorlesungen wirklich besucht hat, sieht sich aber immer noch selbst darin.
Ilan klopft auf den Schirm. »Diese Runde geht eindeutig an die Fremden.«
»Was hast du noch?«, fragt Benjamin.
Ilan tippt etwas. Daraufhin bildet sich auf dem Schirm eine Wabenstruktur. Sie ist nicht völlig regelmäßig.
»Diese 3D-Grafik haben sie uns geschickt. Sieht aus, als hätte jemand eine krallenbewehrte Hand in ein Stück Stoff geschlagen. Siehst du die waagerechten Fasern und die senkrechten Risse?«, fragt Ilan.
Benjamin lacht. »Stimmt. Aber es muss etwas Physikalisches sein. Keine Schulphysik, irgendwas, das man erst in einem höheren Kurs lernt.«
Ilan schüttelt den Kopf. »Falls sie sich an die von uns vorgegebene Reihenfolge halten.«
»Davon müssen wir ausgehen. Anderenfalls werden wir den Sinn nie herausfinden.«
»Mich erinnert die Struktur an den Mikrowellenhintergrund des Universums«, sagt Benjamin.
»Es könnte sich aber auch um die Beugungsstruktur eines exotischen Teilchens handeln.«
Oh, die Experimente am Doppelspalt. Die Größe des Effekts sagt etwas über die Masse des Teilchens, die zu seiner Frequenz proportional ist.
»Gibt es einen Maßstab?«, fragt er.
»Ja, im 41er-System. Wenn ich von natürlichen Maßeinheiten ausgehe, dann müsste das gebeugte Teilchen doppelt so schwer wie ein Proton sein.«
»Vielleicht ein Hexaquark«, schlägt Benjamin vor.
»Da gibt es viele, und keines ist so richtig interessant.«
»Na ja, eines hat man immerhin mal als Kandidatenteilchen für die Dunkle Materie betrachtet.«
»Das hat sich doch aber nie bestätigt, oder?«, fragt Ilan.
»Vielleicht ist das die Bestätigung.«
»Zu dumm, dass wir es nicht verstehen werden.«
Da hat Ilan recht. Dass die Fremden natürliche Einheiten benutzen, ist ja auch nur so eine Vermutung. Wenn nicht, ist das ein gebeugter Football. Vielleicht wollen sie sich ja über ihre Lieblingssportart unterhalten.
»Und der letzte Teil der Nachricht?«, fragt Benjamin.
»Der dritte Teil setzt allem die Krone auf. Sie benutzen unsere Anregungen aus der kosmischen Biochemie und setzen all die Alkohole, Alkane, Aminosäuren und so weiter zu einem funktionierenden Ökosystem zusammen. Wenn das mehr als reine Fantasie ist, könnte es in dichten Molekularwolken interstellares Leben geben.«
»Trotz der geringen Dichte? Es sind doch kaum mehr als 10-20 Gramm pro Kubikzentimeter.«
»Ich sagte ja, dass ich es für Fantasie halte. Sie haben einfach unsere Gedanken weitergesponnen, um uns zu zeigen, dass sie uns verstanden haben.«
»Vielleicht haben sie ja auch so etwas beobachtet«, sagt Benjamin. »Wenn sie wirklich von weither kommen, können wir das nicht ausschließen. Am besten wäre es, wir könnten direkt mit ihnen sprechen.«
»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund, und weißt du, was das Beste ist? Ich glaube, sie haben uns eingeladen.«
»Was? Wie das?«
»Die Nachricht hat noch einen vierten Teil. Er besteht aus einer Vielzahl von Bildern.«
Ilan tippt auf den Bildschirm. Die erste Grafik erscheint. Benjamin erkennt einen hellen Punkt und eine deutlich dunklere Kugel.
»Das sind die Kapsel und unser Ziel, oder?«
»Ja«, sagt Ilan. »Schau!«
Er dreht die Grafik im Raum. Die Größenverhältnisse sind gut getroffen. Es muss eine Darstellung im Infrarot sein, weil sie so hell sind.
»Aber als Einladung deute ich das noch nicht«, sagt er.
»Warte. Es gibt noch mehr dieser Bilder. Wenn man schnell hindurchblättert …«
Ilan wischt über den Schirm und setzt damit die Darstellung in Bewegung. Die Kapsel hüpft in kleinen Sprüngen durch das All, umkreist das Ziel einmal und fliegt dann direkt darauf zu. Das Daumenkino bleibt stehen. Auf dem letzten Bild ist nur noch ihr Ziel zu sehen.
»Sie zeigen nicht, wie wir wieder herauskommen«, sagt Benjamin.
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Es muss nichts bedeuten.«
»Kann aber.«
Ilan nickt. »Tja. Ohne Risiko kein Fortschritt, oder?«
Benjamin kratzt sich an der Schläfe. Das Risiko ist ihm eindeutig zu hoch. Er hat gesehen, was der Parasit mit seinen Freunden angestellt hat.
»Mich bekommen da keine zehn Pferde rein, das sage ich dir.«
»Wir müssen die Einladung ja nicht wörtlich nehmen«, sagt Ilan. »Ich vermute, dass sie die Kapsel für das Wesen halten, mit dem sie kommunizieren.«
»Das wäre gut möglich. Sie gibt ja das Funksignal ab. Und wir waren auch nicht sehr konsistent bei unseren Begegnungen. Mal waren es Androiden, dann ein Roboter …«
»Was aus ihrer Sicht vielleicht gar kein so großer Unterschied ist. Wir sind definitiv keine biologischen Wesen. Ob sie sich deshalb so leicht damit tun, uns umzubringen?«
Das ist ein interessanter Aspekt. Aber das ist ja der Parasit auch nicht. Eine Struktur aus verschiedenen Heliumphasen, die sich in einer Homöostase mit ihrer Umgebung befindet – kein irdischer Biologe würde das auch nur für möglich halten. Und doch ist der Parasit eine Realität.
»Ich glaube, sie haben kein so eingeschränktes Bild von Leben wie wir«, sagt Benjamin. »Das kann gar nicht sein.«
»Das ist eben der Vorteil, wenn man so herumkommt wie sie«, sagt Ilan.
* * *
»Kapsel A an Shepherd-1, bitte kommen.«
Keine Antwort. Benjamin hat nichts anderes erwartet, aber er musste es zumindest versuchen. Er hat längst aufgehört, sich auszumalen, welches Unglück der Shepherd-1 zugestoßen sein könnte. Ilans komplett fehlende Besorgnis ist irgendwie ansteckend.
Benjamin richtet das Teleskop in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Da ist das Schiff. Es ist weder nähergekommen noch hat es sich entfernt. Aber es existiert noch. Es ist nicht explodiert, und auch der Parasit hat es noch nicht vollständig umschlungen. Das zeigt die Abbildung im Infrarot eindeutig.
Ilan schwebt heran. Benjamin fühlt sich beobachtet und dreht sich zu ihm. Ilan verzieht das Gesicht, als hätte er gerade etwas Saures gegessen. Er rückt den BH zurecht. Die Bewegung sieht schon ganz routiniert aus. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Chatterjee an den Körper gewöhnt hat.
»Ich … Ich muss dir etwas gestehen«, sagt er.
»Du hast heimlich mit dem Parasiten Kontakt aufgenommen?«
Ilan schüttelt den Kopf, lacht aber nicht über das, was klar als Witz gemeint war. Benjamin atmet tief durch. Die Shepherd-1 existiert noch. Was immer ihm Ilan erzählen will, es kann nicht so wichtig sein.
»Ich erzähle dir das nur, weil du wegen der Shepherd-1 so angespannt bist.«
»Ah, Christine hat sich bei dir gemeldet und ausrichten lassen, dass es ihr gutgeht.«
Ilan lächelt gequält. »Ich möchte, dass diese Mission ein Erfolg wird. Dafür brauche ich dein Vertrauen und deine Zuversicht. Also erzähle ich dir etwas, was ich mir eigentlich aufsparen wollte. Aber du musst mir versprechen, nicht …«
»Raus damit«, unterbricht er Ilan. »Ich werde dich schon nicht aus der Luke werfen.«
Oder vielleicht doch, falls er Aphrodite, Oskar oder Christine etwas getan hat.
»Gut. Dass die Shepherd-1 sich nicht meldet, liegt daran, dass ich sie übernommen habe. Sie hat den ausdrücklichen Befehl, so lange zu schweigen, bis ich das Okay gebe. Aber dem Schiff geht es gut.«
»Du spinnst doch. Du willst bloß, dass ich Ruhe gebe.«
»Nein, es ist wirklich so. Ich habe noch auf dem Schiff Kontakt zu Aphrodites zweiter Hälfte aufgenommen und sie überzeugt, mir zu helfen.«
Ilan saß in der Werkstatt und hat in den Helm gesprochen. Das muss die Gelegenheit gewesen sein, von der er spricht. Er schwindelt nicht.
»Und wie hast du das geschafft?«
»Aphrodite hat mir unabsichtlich geholfen. Sie wollte ihre andere Hälfte so gern zurück, dass sie sie hereingelassen hat. Aber sie wusste nicht, dass sie damit meinen Plan umsetzt, die Shepherd-1 wieder zu übernehmen.«
»Du hast nicht nur Aphrodite missbraucht, sondern auch die andere Seite ihres Bewusstseins.«
»Was kann ich denn dafür, dass sie sich von euch ungerecht behandelt und zurückgesetzt fühlt? Ich habe sie nur ein bisschen darin bestärkt. Am Ende hat sie Oskars Trick benutzt, den ihr gegen mich eingesetzt habt, um die Steuerung zu übernehmen.«
»Aphrodites dunkle Seite hat die Schiffssteuerung neu gebootet.«
»Ja, mit sich selbst als Systemprogramm. Tja, eure Schuld, wenn ihr nach so einer Aktion nicht ordentlich aufräumt.«
Benjamin lehnt sich zurück. Was heißt das nun für ihn? Ilan verkauft es ihm als gute Nachricht, und zum Teil stimmt das ja. Die Shepherd-1 lebt.
Wenn es stimmt und nicht eine neue Finte darstellt.
Und er hat wirklich geglaubt, Chatterjee hätte sich geändert.
»Ich glaube dir nicht«, sagt er.
Das stimmt zwar nicht. Es wird genau so abgelaufen sein. Aber er würde gern die Stimmen seiner Freunde hören. Wissen, dass es ihnen gut geht.
»Warum sollte ich dich mit so einem Geständnis belügen? Es ergibt doch keinen Sinn.«
»Wer weiß, was du damit erreichen willst. Vielleicht willst du mich einfach nur beruhigen, damit du dich in Ruhe mit unserem Ziel befassen kannst.«
»Na gut. Ich beweise es dir.«
Ilan schwebt durch die Kabine und aktiviert das Funkgerät.
»Shepherd-1, bitte kommen. Code Aufklärung. Bitte melden.«
Das Raumschiff antwortet nicht.
»Shepherd-1, bitte kommen. Code Aufklärung. Ich wiederhole: Code Aufklärung.«
Der Funkempfänger bleibt still. Benjamin muss lachen. Tja, da hat der Meisterstratege wohl kräftig ins Klo gegriffen. Aber das Lachen bleibt ihm im Hals stecken. Es heißt nicht nur, dass Ilans Plan schiefgelaufen ist. Es heißt, dass mit der Shepherd-1 tatsächlich etwas nicht stimmt.
»Danke, Ilan. Jetzt hast du mir wirklich Vertrauen und Zuversicht geschenkt. Du bist einfach der Beste.«
Der Groll in seiner Stimme könnte nicht intensiver sein. Chatterjee antwortet nicht. Es ist auch besser so. Käme er Benjamin in diesem Moment zu nahe, könnte durchaus seine Faust in Ilans Gesicht landen.
* * *
Erst nach einer Stunde meldet sich Chatterjee wieder.
»Schau mal raus. Jetzt kann man das fremde Objekt sehen.«
Er spricht ungewohnt leise. Vermutlich macht ihm der Fehlschlag zu schaffen. Benjamin gönnt es ihm.
Im selben Moment drückt ihn eine Kraft in die Gurte. Die Kapsel bremst und schlägt wohl einen Orbit um ihr Ziel ein. Sie haben nicht darüber gesprochen, aber Benjamin ist es recht. Nicht wegen des Ziels. Die seltsamen Fremden interessieren ihn gerade viel weniger als seine Freunde. Der Aufenthalt im Orbit gibt der Shepherd-1 aber Zeit zum Aufholen. In einem halben Tag müsste sie hier sein.
»Ich werde aussteigen und mir das Ding aus der Nähe ansehen«, sagt Ilan. »Kommst du mit?«
Benjamin schüttelt den Kopf. Soll der Verbrecher doch selbst sehen, wie er zurechtkommt.
»Verstehe. Du sprichst nicht mehr mit mir?«
Benjamin nickt.
»Alles klar. Dein gutes Recht, auch wenn es kindisch ist.«
Ein muffiger Geruch zieht durch die Kapsel, als Chatterjee seinen Raumanzug anlegt. Benjamin hört, wie er ächzt. Das Oberteil sauber zu verschließen, ist allein gar nicht so einfach. Aber er bietet seine Hilfe nicht an und Ilan fragt auch gar nicht erst. Es knackt und quietscht. Benjamin dreht sich nicht um, wettet aber, dass Ilan nun auf dem Bett sitzt und versucht, seine Stiefel zu verschließen. Auch das ist allein eine Kunst.
»Uff«, sagt Ilan und schüttelt klappernd seine Glieder aus.
Jetzt erst fällt Benjamin ein, dass er ebenfalls seinen Anzug brauchen wird, sonst kann Ilan gar nicht aussteigen. Auf die Schmerzen bei dem Gefühl, zu ersticken, würde er gern verzichten. Also springt er auf und versucht, aufzuholen. Chatterjee ist natürlich vor ihm fertig und beobachtet ihn mit geschlossenem Helm vom Ausstieg aus. Kurz bevor auch Benjamin so weit ist, öffnet er erst den Verschlussriegel und dann die Luke selbst. Für einen Moment hofft Benjamin, dass Christine und Aphrodite die Köpfe hereinstecken und sich herausstellt, dass alles nur ein Scherz war und sie nie vom Schiff losgeflogen sind.
Benjamin schüttelt den Kopf, und Ilan missversteht die Geste und zieht die Luke wieder zu. Die Lebenserhaltung springt an und will die Kapsel neu befüllen.
»Geh ruhig«, sagt Benjamin und schließt den Helm.
»Du kannst ja doch noch sprechen«, sagt Ilan. »Mach’s gut.«
Chatterjee wartet nicht auf eine Antwort, die er doch nicht bekommt, zieht die Luke auf und klettert nach draußen. Dort wartet er ein paar Sekunden und stößt sich dann ab.
Benjamin schließt die Klappe wieder und nimmt den Helm ab. Er setzt sich auf den Pilotensitz. Auf dem Bildschirm verfolgt er Ilans Weg. Moment mal. Er hat doch gar keinen Safer, keinen Düsenrucksack? Wie will er da die seltsame Struktur erreichen, die sich vor ihnen im All dreht? Benjamin wechselt zum Radar, weil es die beste Darstellung liefert. Wenn es nach ihr geht, besteht das Objekt aus mehreren, halb transparenten Schichten, die sich in unterschiedlichem Abstand um den Mittelpunkt drehen.
Das Radar reicht aber höchstens einen Kilometer tief, während der gesamte Radius bei knapp 25 Kilometern liegt. Das Objekt hat dabei eine erstaunlich hohe Masse. Sie ist zwar weit von jeglicher entarteter Materie – wie in Neutronen- oder Quarksternen – entfernt, aber doch so hoch, dass das Helium im Zentrum eine gewaltige Dichte annehmen muss. Im Kern der Gasplaneten des Sonnensystems wird eine derartige Dichte nicht erreicht. Die Vermutung, dass sie den Kern eines Gasriesen vor sich haben, ist also unzutreffend.
Im Infrarot bekommt die an den Polen leicht abgeplattete Kugel Flecken. Sie sind relativ stabil und deutlich heller als die Umgebung. An ihrer Rotationsgeschwindigkeit lässt sich ablesen, in welcher Tiefe sie sich befinden. Dabei ist nur der Hauch eines Systems erkennbar: Innen sind die Flecken wärmer als außen. »Warm« ist dabei allerdings relativ – es sind vielleicht 25, weiter innen dann 40 Kelvin, nicht Grad Celsius.
»Es geht mir übrigens gut«, sagt Ilan. »Falls es jemanden interessiert.«
Benjamin schweigt konsequent, beobachtet den Flug seines Kollegen aber doch neugierig. Davon bekommt Chatterjee ja nichts mit. Die Bahn hat sich inzwischen zur Spirale geformt. Das Objekt verfügt über eine signifikante Gravitation, und da die Luftreibung entfällt, gibt es keine terminale Geschwindigkeit. Hoffentlich hat Ilan das einberechnet.
Vielleicht rechnet er ja doch mit einer gewissen Reibung. Außen ist das Helium auf jeden Fall noch gasförmig. Die Dichte nimmt recht schnell zu, aber Benjamin hat keinen der nötigen Koeffizienten im Kopf, um ausrechnen zu können, ob Ilan sanft, hart oder gar nicht abgebremst wird. Dazu bräuchte er Oskar. Die Verbindung zu ihm ist allerdings wegen Chatterjee ausgefallen. Das hat er nun davon.
* * *
Jetzt wird es spannend. Die Telemetriedaten von Chatterjees Anzug verraten, dass das Helium um ihn herum bereits so dicht ist wie innerhalb des Parasiten. Der Anzug bestätigt auch die dort gemessenen Temperaturen. Es sieht wirklich so aus, als handle es sich bei dem Parasiten um einen Teil dieser Kugel. Die Frage ist nur, ob er eine Waffe darstellt, eine zufällige Abspaltung oder etwas ganz anderes, das er sich nicht vorstellen kann.
Vermutlich Letzteres. Darum hängen Benjamins Augen auch so am Bildschirm. Gerade, weil ihm die Person da draußen so gar nicht sympathisch ist, will er ihr Ende nicht verpassen.
»He, falls wir uns nicht mehr sehen sollten …«, sagt Chatterjee, »Ich hab es nicht so gemeint. Ich weiß selbst, das ist eine lahme Begründung, aber es ging nie gegen euch, sondern immer für das ultimative Wissen, die Antwort, die Wahrheit, wie du es auch nennen magst. Wahrscheinlich gehe ich auch dafür drauf, und man braucht kein Prophet zu sein, um mein Ende in ein paar Minuten vorherzusehen. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Ich würde gern sagen, es wäre mir egal, wie ihr mich im Gedächtnis behaltet, aber das stimmt nicht, und im letzten Moment soll ein ehrlicher Mensch wie ich ja nicht zu lügen anfangen, also behaltet mich am liebsten im Gedächtnis als ein Arschloch auf einer wichtigen Mission. Aufzeichnung beenden.«
Wie von Chatterjee befohlen, stoppt die Aufzeichnung. Die Verbindung bleibt erhalten. Keine schlechte Rede für den Schluss. Benjamin antwortet trotzdem nicht. Er wünscht Chatterjee, dass er das Gefühl hat, allein zu sterben, obwohl er weiß, dass ihm jemand zusieht.
»Benjamin, Ben, jetzt kann ich es ja endlich sagen. Ich weiß, dass du mir zusiehst und zuhörst. Es tut mir leid, dass ich deinen Freunden und dir so mitgespielt habe, ob du es glaubst oder nicht. Das Kennwort für den Admin-Zugang ist PiranhaPudel99!, mit großem Binnen-P und Ausrufezeichen am Ende. Damit kannst du die Schiffssteuerung überschreiben. Sie müsste irgendwann versuchen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Das ist dann dein Einsatz. Bitte schalte diese Verbindung ab, sobald du mich schreien hörst. Ich will mich nicht zurückhalten müssen, nur um dich nicht zu belasten. Wenn es also wehtut, aufgelöst zu werden, dann werde ich den Schmerz rausschreien. Wenn ich es mir recht überlege, will ich eigentlich auch gar nicht sterben. Es wäre also nett, wenn dieses Ding hier mich lebendig aufnehmen könnte, so, wie es seine Einladung versprochen hat.«
Der Punkt auf dem Schirm, der Ilan darstellt, bewegt sich plötzlich in die andere Richtung, entfernt sich wieder von dem Objekt. Benjamin simuliert die Bahn. Diese Bewegung ist nur möglich, wenn Ilan abgeprallt ist.
»Mist, das hat aber wehgetan!«, ruft er. »Hört mich jemand?«
Benjamin schweigt stoisch. Soll Ilan doch sehen, wie es ist, allein zu sein. Laut seiner Simulation bewegt sich die Bahnkurve bereits wieder in Richtung Objekt. Benjamin zoomt hinein. Er markiert die Höhe, in der der Körper abgeprallt ist. Bald hat Chatterjee sie wieder erreicht. Er kommt in einem Winkel von etwa zwanzig Grad herein, jetzt prallt er ab und wird wieder nach draußen geschossen.
»So ein Mist!«, ruft Ilan. »Das Ding will mich nicht!«
Nicht einmal das Objekt will ihn aufnehmen. Benjamin schmunzelt und bekommt ein schlechtes Gewissen. Der nächste Versuch. Dasselbe Ergebnis. Er holt das Daumenkino der Fremden auf den Schirm. Es zeigt, wie sich die Kapsel nähert. Von einem Androiden im Raumanzug ist darauf nichts zu sehen. Benjamin stellt sich vor, wie ihre alte CapCom Rachel zum Besuch einlädt, und dann steht der glatzköpfige Charles vor der Tür. Ob er noch lebt? Er würde ihn auch nicht reinlassen.
Er muss etwas tun. Ilan hat die Einladung eindeutig zu fantasievoll interpretiert. Nun kann er ihn doch nicht einfach da unten lassen? Er würde für lange Zeit immer wieder abprallen.
Benjamin seufzt. Vielleicht kann die Shepherd-1 helfen?
»Kapsel A an Shepherd-1. Passwort PiranhaPudel99! – bitte melden.«
Keine Antwort. Er seufzt noch einmal und übernimmt dann von der Automatik das Steuer.
* * *
Ilan ist von einer Schicht in 22,3 Kilometern Höhe abgeprallt. Dort ungefähr muss er ihn erwischen. Sein Orbit ist im Vergleich zu dem der Kapsel allerdings leicht versetzt.
Benjamin ist nicht so gut in Orbitalmechanik, um ein Manöver berechnen zu können, das die Differenz mit nur einer Korrektur aufholt. Zunächst dreht er deshalb die Bahn der Kapsel. Ein Impuls aus dem Korrekturtriebwerk, abwarten, noch ein Impuls, bremsen. Sehr gut. Jetzt fliegt er genau über Chatterjee. Er bremst die Kapsel und verringert damit damit das Perigäum. Aber es reicht noch nicht, wie er bei der nächsten Umkreisung merkt. Noch ein Bremsstoß. Der Orbit hat sich bereits zu einer Ellipse verzerrt. Das Perigäum, der objektnächste Punkt, liegt nun bei 25,2 Kilometern. Das ist knapp über der Wolkenschicht und damit immer noch zu hoch. Aber noch tiefer will er erst im letzten Moment gehen. Dann wird er nämlich in die Wolkenschicht tauchen, die ihn sicher unkalkulierbar bremsen wird. Er kennt weder die genauen Dichteunterschiede noch den Betrag der Geschwindigkeit an jedem Punkt der neuen Bahn.
Er muss einfach spontan entscheiden. Also wartet er auf eine Gelegenheit. Ilan sagt mittlerweile nichts mehr. Er weiß nicht, dass Benjamin ihn retten will. Vermutlich überlegt er, wie er möglichst schnell sterben kann. Das wäre es jedenfalls, worüber Benjamin nachdenken würde. Tausende Jahre dieses Objekt zu umkreisen und immer wieder schmerzhaft daran abzuprallen, wäre jedenfalls für ihn keine Option.
Wieder entfernt sich der Punkt, bis er von der Schwerkraft des Objekts eingefangen wird. Ob Ilan sich abgeschaltet hat? Das wäre ungünstig. Die Kapsel hat zwar einen Manipulatorarm, aber es wäre schon gut, wenn Ilan an seiner Rettung mitwirken könnte. Vielleicht sollte er ihn doch anfunken. Benjamin verfolgt die seltsam oszillierende Bahn, die Ilans Körper fliegt. In anderthalb Umläufen könnten sie und die Bahn der Kapsel in erstaunliche Nähe zueinander gelangen. Dafür müsste er nur auf 23,1 Kilometer abtauchen. Dort sind die Wolken noch nicht sehr dicht.
Das ist seine Chance. Ein weiterer Bremsimpuls bringt die Kapsel auf die vorgesehene Bahn. Das Haupttriebwerk reagiert präzise und schnell.
»Ilan, hörst du mich?«, fragt er.
»Nein, ich träume gerade etwas Schönes. Stör mich nicht.«
»Jetzt mach keine Faxen. Ich komme runter und hole dich.«
»Was? Das ist doch … Du bringst dich selbst in Gefahr!«
Das stimmt. Die Wolken … Wie wird die Kapsel auf sie reagieren? Aber es gibt keine Alternative, mit der er leben könnte.
»Ich kann dich da nicht hängenlassen. Das geht einfach nicht. Schwer verletzten Pferden gibt man auch den Gnadenschuss.«
»Ich weiß, du bist aufgeregt, aber das ist ein seltsamer Vergleich, Benjamin.«
»Ich meine, ach, egal. In so einer Situation wie deiner lässt man niemanden zurück.«
»Aber ich warne dich! Ich habe es nicht verdient. Ich bin ein Arschloch und werde eins bleiben. Du kannst mich damit nicht zu einem neuen Menschen machen.«
»Stimmt, du bist und bleibst ein Androide.«
Er erwartet nicht, dass Ilan sich über die Rettung so freut, dass er nur noch Gutes tut. Nein, Benjamin macht es für sich. Damit er noch in den Spiegel sehen kann.
Ilan stöhnt. Er muss gerade wieder abgeprallt sein.
»Sag mir, was du siehst«, sagt Benjamin.
»Es ist alles weiß, klinikweiß. Aber es wird langsam dunkler.«
»Du steigst auf.«
»Scheint so. Ich spüre die Bewegung nicht. Für mich fühlt es sich an, als läge ich in einer Isolationskammer, die sich umfärbt. Unter mir ist es jetzt grau, über mir schwarz. Da blinkt etwas. Bist du das?«
»Ich bin eigentlich hinter dir. Also nein. Pass auf. Du sinkst gleich wieder. Wenn du das nächste Mal aus dieser Suppe auftauchst, werde ich über dir sein. Es ist Mist, dass du keinen Düsenrucksack mitgenommen hast, aber du solltest zumindest zugreifen, wenn du den Manipulatorarm bemerkst.«
»Verstanden.«
Ilan sinkt wieder. Der Bildschirm zeigt es klar und deutlich. Das Radar funktioniert bis hin zur Abprallschicht. Sogar weiter in die Tiefe. Warum ist die Schicht selbst nirgends zu sehen? Magnetfelder! Er hat das Objekt noch gar nicht mit dem Magnetometer abgetastet. Wahnsinn. Eine derart komplexe, starke Struktur hat er noch nie gesehen. Wirbel über Wirbel, und am stärksten sind sie dort, wo er im Infrarot die hellen Flecken bemerkt hat. Ein Pulsar ist gar nichts dagegen. Woher kommt die Energie? Ein Pulsar rotiert schnell, aber das hier bewegt sich eher gemütlich.
Jetzt verschwindet Ilan in den Wolken. Benjamin hat einen Timer programmiert, der gerade die zehn unterschreitet. Drei, zwei, eins, Feuer! Das letzte Bremsmanöver, das ihn bis knapp über die Wolkenschicht bringen muss. Es gelingt. Der Bordcomputer schätzt das Perigäum auf 23.100 Meter. Gerade prallt Ilan wieder ab. Er befindet sich auf einer tieferen Ebene, zwar deutlich vor der Kapsel, aber sie fliegt schneller. Benjamin setzt den Helm wieder auf und schließt ihn. Später wird er dafür keine Zeit mehr haben.
»Ich hole dich ein. Pickup in 43 Sekunden«, sagt er.
Das ist die Schätzung des Bordrechners. Sie verlängert sich etwa alle zehn Sekunden um eine Sekunde. Offenbar bremst das in der aktuellen Höhe völlig unsichtbare Gas bereits signifikant. Es ist kein wirkliches Problem. Die Höhe bleibt bei 23100.
»Noch 25 Sekunden.«
Ilan reagiert nicht.
»Noch 16 Sekunden«, sagt Benjamin weitere zehn Sekunden später. »Sorry, bin etwas spät dran.«
»Lass mich bloß nicht sitzen. Ich freue mich so auf unser Date«, sagt Ilan.
»Wenn du da bist, komme ich auch. Noch sieben, sechs, fünf …«
Er wechselt zur Steuerung des Manipulatorarms. Plötzlich zischt Ilan vor dem Bug der Kapsel vorbei. Er ist ein dunkler Schatten.
»Du bist zu schnell!«, ruft Benjamin.
»Warte, ich …«
Das Radar piepst. Annäherungsalarm. Es ist Ilan! Wieso ist er plötzlich langsamer? Er holt ihn ein. Benjamin sieht, wie Chatterjee sich unaufhörlich dreht. Etwas fliegt davon. Was ist das? Hoffentlich kein Körperteil.
»Drehimpuls … Zu schnell …«
Jetzt muss er sich konzentrieren. Gleich ist er in Reichweite. Jetzt! Er lässt den Manipulatorarm zuschnappen.
»Ich hab dich!«
»Scheiße, ja! Ich habe meinen Anzug vollgekotzt.«
»Ich hole dich rein.«
Benjamin steuert den Arm so, dass er seine Last zur Luke transportiert. Dann öffnet er sie von innen und zieht Ilans Körper hinein.
»Oh Mann«, sagt Ilan.
Als wieder genug Luft in der Kabine ist, öffnet er ihm den Helm. Dann nimmt er seinen eigenen ab. Es stinkt säuerlich. Benjamin ist drauf und dran, seinen Helm wieder zu schließen, hängt ihn aber doch über die Seitenlehne.
»Oh Mann«, sagt auch er.
Ilan wischt sich Erbrochenes von den Wangen. Etwas platscht auf den Boden.
»Uff, mach das bitte da hinten, sonst gibt es mir den Rest«, sagt Benjamin und schwebt zum Pilotensitz.
»Danke! Du hast mir das Leben gerettet.«
»Jaja.«
Der Geruch ist wirklich unangenehm. Der Helm lockt. Aber er hat schon schlimmeren Gestank ertragen. Wenigstens ist es nicht sein eigener. Das ist am schlimmsten, weil man ihm nicht aus dem Weg gehen kann.
Moment. Das ist nicht seine Erinnerung, sie gehört dem echten Benjamin. Er ist ein Androide. Aber Ilan auch. Da stimmt etwas nicht. Benjamin steht wieder auf und dreht sich um. Ilan hat sich gerade obenherum freigemacht, hebt eine Brust und wischt darunter mit einem feuchten Tuch herum.
»He, Privatsphäre bitte!«
»Ilan, das kann kein Erbrochenes sein.«
»Es sieht aber so aus, hat diese Konsistenz und riecht auch so.«
»Habt ihr das etwa auch simuliert?«
»Ich … Du hast recht, nein, das ist nicht vorgesehen«, sagt Chatterjee. »Dann muss es ein Defekt sein. Irgendeine Kühlflüssigkeit oder so etwas. Dieses ständige Aufprallen … So richtig ging es erst los, als ich mich mit der Sauerstoffflasche ins Trudeln gebracht habe. Und dann habe ich Dödel sie auch noch losgelassen, statt sie zur Stabilisierung zu benutzen.«
Das war also das Objekt, das davongeflogen ist.
»Du hast die Flasche als Triebwerk benutzt«, stellt Benjamin fest.
So hat er also den Abstand zur Kapsel überwunden. Sehr schlau!
»Ja, aber der Impuls, den ich ausgelöst habe, verlief nicht zentral gegen meinen Schwerpunkt. Also habe ich mich überschlagen.«
»Immerhin hat es genügt, dich so nah an die Kapsel heranzubringen, dass der Manipulatorarm dich einfangen konnte.«
»Danke, Benjamin. Das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut. Ich meine … also, dass du es kannst, war mir klar, aber dass du mich retten willst …«
»Ich konnte nicht anders. Bild dir nichts darauf ein.«
Es hat sich gut angefühlt, aber das muss Chatterjee nicht wissen. Er würde es sogar wiederholen. Andere erfolgreich zu retten, macht Spaß. Wer hätte das gedacht?
Die Steuerung piepst. Wieso bemerkt er das erst jetzt? Er prüft ihren Orbit. Mist. In den zwei oder drei Minuten, die jetzt vergangen sind, hat sich die Bahn der Kapsel drastisch verändert.
»Ilan?«
»Privatsphäre!«
»Wir stürzen ab!«
Das war – hoffentlich – übertrieben, aber es erfüllt seinen Zweck. Halbnackt kommt Chatterjee angeflogen und starrt auf den Bildschirm.
»Mist, du hast recht! Der Kurs …«
»Achtung, ich drehe die Kapsel«, sagt Benjamin. »Festhalten!«
Er muss das Haupttriebwerk, mit dem er bisher gebremst hat, wieder in Flugrichtung bringen, damit sie beschleunigen können, und zwar möglichst schnell.
»Autsch«, sagt Ilan, den die Trägheit gegen die Decke gedrückt hat.
»Komm runter und schnall dich an«, sagt Benjamin.
»So, wie ich bin?«
»Ja, lieber halbnackt überleben als angezogen sterben, oder?«
Der Gurt klickt. Benjamin sieht nicht zur Seite. Er gibt Schub. Kräftig. Aber er hat den objektnächsten Punkt bereits deutlich verpasst. Der Schub war also weniger effektiv. Ob das reicht? Der Bordcomputer zeichnet die Bahn auf den Schirm.
»Was ist das da für ein Ring bei 22.300?«, fragt Ilan.
»Das ist die Schicht, an der du abgeprallt bist.«
»Wir fliegen direkt darauf zu! Willst du uns umbringen? Gib Gas! Alles, was wir haben!«
»Dann rutschen wir noch enger an dem Ding vorbei, bevor wir wieder ins All hinausschießen.«
»Dann brems!«
»Wenn wir zu langsam werden, stürzen wir ab. Aber mach dir keine Sorgen. Siehst du den Aufprallwinkel? Er liegt bloß bei zehn Grad. Bei dir waren es um die zwanzig. Wir prallen kurz auf und werden dann gleich reflektiert. Es wird weniger Impuls übertragen als bei dir.«
»Meinst du?«
Na ja. Benjamin kann schon immer überzeugend Dinge behaupten, von denen er bloß hofft, dass sie wahr werden könnten.
»Die Kapsel hat auf jeden Fall eine geeignetere Form als dein Körper im Raumanzug«, sagt er. »Das macht mir Hoffnung.«
»Ich vertraue dir, mein Retter.«
»Tu mir einen Gefallen und frag noch einmal bei der Shepherd-1 an. Wenn sie antwortet, übergib das Kommando an Christine. Wir werden vielleicht jemanden brauchen, der uns Schiffbrüchige rettet.«
»Du Optimist. Aber klar. Shepherd-1, bitte kommen. Kennwort PiranhaPudel99! Shepherd-1, hört ihr mich?«
Es knackt und rauscht in der Leitung, aber das Schiff antwortet nicht.
»Shepherd-1. Ilan hier. Meldet euch. Wir stecken in Schwierigkeiten.«
Benjamin schlägt auf die Lehne. Es wäre auch zu schön gewesen! Wo ist der Zufall, wenn man ihn mal braucht? Vermutlich arbeitet er gerade gegen ihn. Die Shepherd-1 wird sich erst melden, wenn sie an der 22.300-Barriere zerschellt sind.
Es wird ruhig im Schiff. Vier Augen beobachten gespannt die Höhenanzeige.
23.500.
23.000.
22.500
Benjamin ruckelt am Gurt und krampft die Hand um die Lehne.
»Es war …«, sagt Ilan.
Der große Knall bleibt aus. Die Höhenanzeige springt für einen Moment auf 22.000, als fände sie es eben logisch, als Nächstes diesen Wert zu wählen. Dann färbt sich die Zahl rot.
-1.000.
-5.
-5000.
-1.250.
-1.600.000
»Mist! Das Messgerät ist kaputt«, sagt Benjamin.
Ilan löst das Gurtschloss und schwebt nach hinten. Benjamin hört Schranktüren, die sich quietschend öffnen und wieder zuknallen. Ilan scheint es eilig zu haben.
»Was hast du vor?«, fragt Benjamin. »Wir haben hier ein Problem, und ich könnte wirklich jede Hilfe gebrauchen.«
»Ich ziehe mir etwas an. Wir werden gleich Besuch bekommen. Wieso hat Aaron seine T-Shirts nicht gebügelt?«
»Hä?«
Der Defekt in Ilans Innerem muss schlimmer sein als gedacht.
»Es ist doch ganz klar, was passiert ist!«, ruft er. »Siehst du das nicht? Sie haben die Kapsel eingeladen, und als sie gekommen ist, haben sie uns die Tür aufgemacht. Das heißt, sie erwarten uns. Also, nicht uns, aber immerhin die Kapsel.«
Natürlich. Benjamin schlägt sich gegen die Stirn. Sie sind nicht aufgeprallt, weil sie eingeladen waren. Das Radar gibt einen Annäherungsalarm. Benjamin versucht, das Korrekturtriebwerk zu starten, aber es funktioniert nicht.
»Ich glaube, jetzt kommen sie«, sagt er.
»Ja, glaubst du wirklich? Das wäre ja großartig. Ich freue …«
Ilan gibt ein Geräusch von sich, das Benjamin noch nie gehört hat. Es klingt, als würden stählerne Kiefer aufeinander reiben. Er dreht sich zu ihm. Ilan kommt herangeschwebt, aber sein Körper ist starr. Den Kopf hat er auf die Brust gedrückt. Aus dem Mund tropft eine saure Flüssigkeit. Sie hat bereits das frische T-Shirt beschmutzt. Benjamin zieht Chatterjee heran, dreht ihn auf den Rücken und schnallt ihn an.
Was nun? Der Kopf presst sich immer noch gegen die Brust. Er versucht, ihn nach hinten zu drücken, doch die Muskeln halten zu stark dagegen, und er will nicht noch mehr kaputtmachen. Wäre Ilan ein Roboter, wäre alles einfacher. Androiden jedoch besitzen kein Servicemenü. Solange sie aktiv sind, können sie ihren Status selbst beschreiben. Einen beschädigten Androiden hat Benjamin nur zweimal gesehen. Es war jedes Mal Christine gewesen. Der Robodoc hatte sie reparieren können. Aber der ist auf der Shepherd-1.
Ruhig bleiben. Ilan sieht nicht gut aus, aber daran stirbt er nicht. Sein Bewusstsein liegt in einem Speicher mit separater Energieversorgung. Alles andere kann man reparieren. Wie geht es der Kapsel? Der Bildschirm verrät nicht, wo sie sich befinden. Benjamin schaltet alle Sensoren durch, aber keiner liefert sinnvolle Werte. Sie stecken wohl mitten in der Kugel.
Es klopft. Benjamin schüttelt den Kopf. Das kann gar nicht sein. Aber das Geräusch wiederholt sich. Also steht er auf und schwebt zur Tür. Er öffnet den Riegel und klappt sie auf, macht sich dabei auf Atemnot und Kälte gefasst, weil er den Helm vergessen hat. Doch die Luft dringt nicht nach draußen. Direkt hinter der Tür ist ein schwarzer Spiegel. Ein Kopf und eine Hand dringen heraus. Ihnen folgt ein ganzer Körper. Es ist … David. Er hat die Hand ausgestreckt und grinst.
»Willkommen bei den Ersten.«