Shepherd-1, 24. Oktober 2112

Ilan Chatterjee wirkt jung und frisch, als wäre er nicht gestern in einer Notoperation repariert worden. Er hat vor allem eine Freundlichkeit gewonnen, die Christine von ihm gar nicht kennt. Der Ausflug scheint ihn verändert zu haben. Er hat noch nicht einmal die Chance genutzt, sie nach den Daten des Gravitationslinsen-Teleskops zu fragen.

Sie stehen um Benjamins Bett herum. Christine und er haben sechs Stunden gebraucht, um die Sheep-Sonden so im All zu verteilen, wie Oskar es ausgerechnet hat. Aphrodite hat es sich zu Benjamins Füßen bequem gemacht. Sie sieht aus wie ein riesiger Hund. Ein Höllenhund zwar, aber ein netter. Beide sind mit dem Speicher verbunden, in dem Oskar bereits auf den Transfer wartet.

Christine ist die Kommandantin. Eigentlich sollte sie ein paar nette Worte finden. Aber sie hat bloß einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Sie weiß nicht, ob es die Trauer über den Abschied oder die Ungewissheit sind, ob Aaron und David wirklich zurückkehren werden.

»Na ja«, sagt sie schließlich.

Kein sehr poetischer Anfang. Aber sie will ja gar nicht in die Geschichte eingehen.

»Es war großartig, dass ihr gekommen seid, um uns zu helfen. Alle drei. Alle vier. Ich freue mich für euch, dass ich euch zur Erde zurückschicken darf. Für mich selbst freue ich mich nicht. Ich bin traurig, denn ich mag euch. Vielleicht treffen wir uns irgendwann wieder, auch wenn ich keine Vorstellung habe, wo das sein könnte. Ich wünsche euch eine gute Reise.«

Sie umarmt Benjamin auf seiner Liege und tätschelt Aphrodites langen Arm. Der Roboterkörper selbst wird hierbleiben, aber sie wird ihn wohl nie ansehen können, ohne Aphrodite darin zu erblicken.

»Danke, Christine. Du bist eine großartige Kommandantin«, sagt Benjamin.

»Ich wünsche euch alles Gute«, sagt Aphrodite. »Wir sehen uns auf der Erde!«

»Es war mir eine Freude, euch mit meinem umfassenden Erfahrungsschatz behilflich sein zu können«, sagt Oskar. »Ich starte jetzt den Transfer.«

* * *

Acht Stunden später, gerade wird Aphrodites Bewusstsein übertragen, schleppt Christine mit Ilan zusammen den leblosen Androidenkörper, in dem bis vor kurzem noch Benjamin steckte, zur Kapsel in der Hauptschleuse. Ilan wird ihn mitnehmen, um ihr David und Aaron zurückbringen zu können. Christine kann es gar nicht fassen. Sie wird wohl ein paar Wochen brauchen, um sich daran zu gewöhnen.

»Pass auf, sonst stößt er sich den Kopf«, sagt Ilan, der gerade eine kleine Leiter zum Einstieg in die Kapsel hochklettert.

Sie sieht direkt in das Gesicht des Androiden. Es ist seltsam. Mit der Datenübertragung scheint der alte Erik immer mehr durch. Obwohl Benjamin die ganze Zeit Eriks Gesicht hatte, war er ihr doch wie ihr guter Freund Benjamin vorgekommen. Das ändert sich gerade.

»Ich hab ihn«, sagt Ilan.

Er steht oben an der Treppe und winkt ihr.

»Ich habe es nicht so mit Verabschiedungen«, sagt er. »Deshalb steige ich jetzt ein, du verlässt die Schleuse und öffnest das Außenschott, und dann …«

Er lässt offen, was dann passiert. Wenn etwas passiert. Gerade fühlt sich Christine ein wenig betrogen. Ilan setzt seine Ankündigung um. Es ist an der Zeit, die Hauptschleuse zu verlassen. Sie schließt das Schott hinter sich und verankert sich an der Wand. Ihr Herz klopft laut. Das Außenschott rattert. Die Kapsel muss sich unhörbar ins All bewegt haben, denn das Außenschott schließt sich wieder.

Christine ist jetzt ganz allein. So allein war sie noch nie. Aber das stimmt nicht. So hat sie sich gefühlt, als sie erst Aaron und dann David verloren hat. Vielleicht war alles nur ein Traum, und in Wirklichkeit klemmt sie noch draußen, weil das verdammte Schiff sie nicht mehr hereinlassen will? Sie weint.

* * *

Sie weint, bis die neutrale Stimme der Schiffssteuerung die Annäherung einer Kapsel meldet. Christine stürzt in die Zentrale und aktiviert den Funk.

»Kapsel A hier«, meldet sich Aaron. »In einer Viertelstunde sind wir wieder bei der Shepherd-1.«

Christine weint noch stärker als zuvor, aber sie ist glücklich.

»Hallo, Christine«, sagt David. »Ich habe übrigens herausgefunden, was es mit diesem Parasiten auf sich hat.«

»Shepherd-1 an Kapsel A«, meldet sich Christine und putzt sich die Nase. »Ich bereite den direkten Einflug in die Hauptschleuse vor. Willkommen zu Hause, Jungs!«