Christine erwacht vom Tod und schlägt die Augen auf. Sie sind angekommen. Sie erinnert sich sofort an die Programmierung der Shepherd-1. Bevor sie die Augen geschlossen hat, haben sie das Schiff auf Kurs gebracht. Wie lange mag das her sein? Sie wird es bald erfahren. Aber viel wichtiger ist doch: Wo sind sie?
Sie zieht sich an den Seitenwänden der sargähnlichen Kiste hoch. Es herrscht Schwerelosigkeit, das ist normal. Das Licht schaltet sich automatisch an. Sie ist allein. Die anderen werden erst in ein paar Minuten erwachen. Das hat sie sich als Kommandantin ausbedungen.
Sie schwebt zum Computer, startet ihn und gibt ihren Namen ein.
»Kennwort:«
»Cursum Perficio.«
»Fehler. Benutzername und Kennwort stimmen nicht überein.«
Sie schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. Der dämliche Hauptrechner hat doch alle sechs Tage ein neues Kennwort verlangt. Wo war sie angekommen?
»Cursum Perficio3«
»Fehler. Benutzername und Kennwort stimmen nicht überein.«
»Cursum Perficio5«
»Willkommen, Christine. Ihr Kennwort wurde seit 9999 [Memory Overflow in Buffer 3FFC5F99] Tagen nicht geändert. Wollen Sie Ihr Kennwort jetzt ändern?«
»Nein.«
»Sie können Ihr jetziges Kennwort noch drei Mal benutzen.«
Danke, Computer. Sie wechselt zur Außenkamera vorn. Das Bild ist gleißend hell. Der Computer dimmt die Aufnahme. Das ist ein Stern, sonnenähnlich. Sehr gut. Hauptsache, es ist nicht die Sonne. Sie wechselt zur Außenkamera unten. Das Bild wird grau. Sie zoomt heraus. Das Grau verwandelt sich in eine Kugel. Es ist ein Planet mit einer dichten Wolkendecke, die keinen Blick auf den Boden erlaubt. Die Wolken bestehen zum größten Teil aus Wasserdampf, zeigt das Spektrometer. Die Gleichgewichtstemperatur des Planeten liegt bei 7 Grad.
In diesem Moment schiebt sich eine zweite Sonne hinter der Scheibe des Planeten hervor. Sie ist deutlich blauer und heller als die erste. Ein Doppelsternsystem mit einem offenbar stabilen terrestrischen Planeten, etwas größer als die Erde. Sehr schön. Es ist Zeit, die anderen zu wecken.
* * *
»Komm, wir versuchen es erst einmal mit ein bisschen Mathematik«, sagt David.
Er riecht gut, genau wie Aaron. Seit die beiden frisch geduscht in der Zentrale angekommen sind, ist der Muff der vergangenen Jahrhunderte verschwunden.
»Mit Mathematik, wie bei dem Parasiten?«, fragt Christine.
David lacht. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Habe ich euch nie erzählt, wie wir mit den Ersten Kontakt aufgenommen haben?«
»Hast du nicht«, sagt Aaron.
»Wirklich nicht«, sagt David.
»Wir haben Pi kodiert«, sagt sie.
»Genau das wollte ich auch vorschlagen«, sagt David.
Er hat die ersten Funksignale der Fremden aufgefangen, also gebührt ihm auch der erste Versuch, eine Verständigung herbeizuführen. Die Bewohner dieses Planeten haben offenbar eine Zivilisationsstufe erreicht, die der der Erde bei ihrem Abflug entspricht. Sie besitzen zwar größere Städte, scheinen es aber trotzdem geschafft zu haben, ihren Planeten weitgehend ursprünglich zu erhalten. Andererseits scheint der Orbit von Alpha Centauri B leer zu sein. Prinzipiell eignet sich der Planet für die Raumfahrt, aber sie für diese Zivilisation keine Rolle zu spielen.
»So, das ist die Nachricht«, sagt David. »Es sind die ersten 5000 Stellen von Pi.«
»Gut, das dürften sie ja wohl nicht als Zeichen von Aggression auffassen«, sagt Aaron.
Christine nickt. Dass sie so nah an der Erde eine andere Zivilisation finden würden, hätte sie nicht gedacht. Es macht ihr immer noch Angst, auf Außerirdische zu stoßen. Sollten sie aggressiv und expansionistisch gestimmt sind, könnten sie sie durch ihren Besuch auf die Erde aufmerksam machen und die Menschheit in Gefahr bringen.
»Ich sende«, sagt Christine.
»Nachricht gesendet«, bestätigt die Schiffssteuerung.
Jetzt müssen sie warten. Christine rechnet mit Tagen, wenn nicht Wochen. Erst kommen die Mathematiker. Sie werden Pi ganz schnell erkennen. Aber dann kommt die Politik. Sollten irdische Verhältnisse auf die hiesige Zivilisation übertragbar sein, gibt es mehrere Machtblöcke, die sich erst einigen müssen. Auf der Erde würde das vermutlich Monate dauern. Es sei denn, die fremden Besucher würden nach kurzer Zeit zu schießen anfangen, aber zu dieser Art von Besuchern gehören sie ja nicht.
»Ein eingehender Ruf«, sagt die Schiffssteuerung.
»Eine Nachricht, meinst du?«, fragt Christine.
»Nein, ein Ruf auf einer der älteren Standardfrequenzen. Jemand möchte mit uns sprechen.«
»Wie, sprechen?«, fragt sie.
David legt ihr die Hand auf die Schulter. »Dann lass ihn oder sie nicht zu lange warten.«
»Hoffentlich ist das kein Trick«, sagt Aaron. »Bevor du etwas Falsches sagst, sag lieber gar nichts.«
»Darf ich jetzt durchstellen?«, fragt die Schiffssteuerung.
»Ja, bitte.«
Ein missgestalteter Frosch erscheint auf dem Schirm. Christine weicht zurück. Das Wesen hat einen großen, runden Bauch, einen winzigen Kopf, aus dem sie ein Auge ansieht, kräftige Sprungbeine, zwei kräftige Arme in Nabelhöhe und zwei weitere, sehr dünne, fast elegante Arme in Schulterhöhe.
»Ich begrüße Sie auf unserem Heimatplaneten Zweisonne«, sagt der Frosch in erstaunlich klarem – Russisch, jedenfalls soweit sie das beurteilen kann.
Christine fällt nicht einmal sofort auf, dass er Russisch spricht. Sie hat diese Sprache sofort im Kopf, als hätte sie sie einst fließend gesprochen. Vermutlich ein spätes Geschenk von Chatterjee, denn sie erinnert sich nicht, sie je gelernt zu haben.
»Sie hatten eine lange Reise, nehme ich an, deshalb will ich Sie nicht zu lange aufhalten.«
Wie bitte? Der Frosch begrüßt sie, als wären sie alltägliche Besucher.
»Ich bin Admiralin Soknaka und für die Orbitalverteidigung zuständig, zumindest in Abwesenheit der Majestätischen Dracht.«
»Das wird wohl ihre Königin sein«, flüstert David auf Englisch.
Die Admiralin bricht in Lachen aus. »Königin? So etwas besitzen wir nicht. Machen Sie sich doch selbst ein Bild. Bringen Sie Ihr Schiff in einen Orbit. Wir schicken Ihnen ein Shuttle. Es wäre uns eine Ehre, Sie bei uns begrüßen zu dürfen.«
Soknaka dreht sich zur Seite. Das Auge, das Christine die ganze Zeit beobachtet hat, dreht sich mit. Dafür kommt ein neues Auge ins Bild. Wenn diese Wesen rotationssymmetrisch sind, müssen sie vier Augen besitzen.
»Habe ich noch etwas vergessen?«, fragt die Admiralin, diesmal auf Englisch.
Ein junger Mann kommt ins Bild. Er ist etwa 1,80 Meter groß, schlank, braungebrannt und hat kurze, dunkle Haare. Ein Mensch. Er sagt etwas, aber da ist wohl kein Mikrofon, das mitschneidet. Christine stößt David an. Sie sind nicht die ersten Menschen hier. Wie kann das sein?
»Gut, Adam sagt, ich soll Sie noch nach Ihrer Reise fragen. Hatten Sie eine gute Reise von der Erde?«
Christine nickt.
»Woher wussten Sie, dass wir kommen würden?«
»Vor etwa fünfzig Jahren haben wir eine Nachricht von der Majestätischen Dracht erhalten, die wohl auf dem Weg zur Erde Ihrem Schiff begegnet ist.«
»Ein Schiff ist unterwegs zur Erde?«
Die Invasion ist längst unterwegs. Deshalb empfängt man sie hier so freundlich und entspannt. Sie haben längst keine Heimat mehr. Christine bekommt Kopfschmerzen.
»Sie sehen nicht gut aus«, sagt die Admiralin. »Ich kenne diesen Gesichtsausdruck von unseren Freunden. Sie bekommen Migräne, oder? Wir haben dagegen ein sehr gutes Mittel entwickelt, das ich Ihnen gern anbieten möchte. Das Shuttle ist schon auf dem Weg.«
»Danke, das ist sehr freundlich. Wir ergeben uns.«
»Haha, Sie sind ja richtig witzig, Kommandantin. Wir sind auch sehr gespannt, was unsere Forscher bei dem Besuch in Ihrem System herausfinden werden. Ich wünsche uns eine gute Zusammenarbeit!«
Die Admiralin dreht sich wieder zu dem Menschen. »Kannst du das von hier an übernehmen, Adam? Ich muss mich noch um die Vorbereitungen zur diesjährigen Dracht kümmern.«
»Natürlich, Admiralin.«