Es ist kein Zufall, wenn Faust im zweiten Teil des Dramas sein Wirtschaftsvorhaben mit dem Geldschöpfungsakt beginnt. Er hat damit den magischen Schlüssel, den Nachschlüssel in der Hand, der Zugang schafft zu allen Tresoren der Welt.
Hans Christoph Binswanger1
Die Geldschöpfungsfrage ist eine Schlüsselfrage der Geldordnung: Wer darf es schöpfen? Wer »erschafft« das Geld, das allen Mitgliedern des demokratischen Gemeinwesens als gesetzliches Zahlungsmittel dient und das von allen akzeptiert werden muss? Wer darf die in Umlauf befindliche Geldmenge steuern – sowohl die Bargeld- als auch die Buchgeldmenge?
Schon bei dieser ersten Frage gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die nüchtern betrachtet und sorgfältig diskutiert werden sollten. Wir gehen deshalb als ersten Schritt die Möglichkeiten durch, wer das Geld schöpfen könnte:
a) die Zentralbank
b) die Geschäftsbanken
c) Unternehmen
d) alle BürgerInnen
e) regionale Gebietskörperschaften: Gemeinden, Landkreise, Regionen, Länder …
Sehen wir uns die einzelnen Optionen an:
a) Die staatliche Zentralbank
Ergibt es Sinn, dass die Zentralbank gesetzliche Zahlungsmittel mit Annahmezwang für einen definierten Währungsraum schöpfen und in Umlauf bringen kann? Sowohl Bargeld wie Buchgeld? Es ergibt Sinn. Aus irgendeiner Quelle muss das Geld ja kommen. Erhält die Zentralbank das exklusive Geldschöpfungsrecht, kann sie allein die Geldmenge steuern, und über die Geldmenge wiederum die Konjunktur. Die Geldpolitik ist ein wichtiges makroökonomisches Steuerungsinstrument. Ein weiterer Vorteil der Geldschöpfung durch eine öffentliche Institution: Die Geldschöpfungsgewinne können zur Gänze der Allgemeinheit zugutekommen.
b) Geschäftsbanken
Ergibt es Sinn, dass private Banken zusätzlich zur Zentralbank Geld schöpfen? Oder gar nur sie? Ausschließlich würde das Sinn ergeben, wenn es keine Zentralbank gäbe. Mit dem Entstehen von Zentralbanken im 19. Jahrhundert wurde den Privatbanken jedoch durch Zentralbankgesetze verboten, eigenes Geld auszugeben.2 Trotz dieses Verbots und den Hinweisen vieler Verfassungen, dass die Ausgabe von Geld ein exklusives Recht des Staates sei, schöpfen sie heute ganz selbstverständlich Geld. Nur eben nicht Bargeld, sondern Buchgeld. Das ist nicht ausdrücklich verboten, aber schon gar nicht ausdrücklich erlaubt. Diese »monetäre Unschärfe« vieler Verfassungen sollte nachgeschärft werden: entweder indem den Banken das, was sie tun, erlaubt wird; oder, indem es verboten wird. Dann müsste es zu einer größeren Geldreform kommen. Der Umstand, dass es lange Zeit umstritten war, ob private Banken überhaupt Geld schöpfen, hat diese Nachschärfung verzögert. Heute ist klar: Sie tun es. Die korrekte Beschreibung ihrer Praxis ist: Sie umgehen das Geldschöpfungsmonopol der Zentralbank durch eine technische Innovation vom Münz- und Papiergeld zum elektronischen Geld.
Wenn Geschäftsbanken Geld schöpfen dürfen, hat dies mehrere Konsequenzen. Zum einen können die Zentralbanken die Geldmenge nicht mehr allein steuern, sie können dies nur noch indirekt über die Mindestreserve, welche die Banken bei der Zentralbank deponieren müssen, sowie über die Zinshöhe, die für die Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken entscheidend ist. Da die Zentralbank nicht die einzige Refinanzierungsquelle für Geschäftsbanken ist, wirkt dieser indirekte Steuerungshebel nicht verlässlich. Die Geldschöpfungspraxis der Geschäftsbanken birgt außerdem Inflationsgefahren: »Gelingt« es ihnen, bei ausreichendem Eigenkapital mehr Kredite zu vergeben, kann dies zur Aufblähung der Wertpapierpreise (Finanzinflation) und zum Anstieg der Preise der Güter des täglichen Gebrauchs (Warenpreisinflation) führen. Zudem werden die Geldschöpfungsgewinne zu privaten Profiten, das steht einem öffentlichen Gut nicht an. Ein Teil der vergleichsweise hohen Profite der Banken geht auf die Geldschöpfung zurück.
c) Unternehmen
Unternehmen machen heute oft ihr eigenes Geld, indem sie Warengutscheine, »Palmersmünzen« oder »Bonusflugmeilen« in Umlauf bringen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um gesetzliche Zahlungsmittel: Niemand, außer den betreffenden Unternehmen selbst, ist zur Annahme dieser KundInnen-Währungen verpflichtet – es besteht weder Bereicherungs- noch Inflationsgefahr. Das gesetzliche Zahlungsmittel dürfen Unternehmen nicht schöpfen und tun es auch nicht. Würden sie die offizielle Währung drucken, handelte es sich um Falschgeld. Das ist strafbar. Genauso wäre es strafbar und würde sich um Falschgeld handeln, wenn private Banken Geld drucken würden. Deshalb ist es schwer begreiflich, dass ihnen das Schöpfen von Buchgeld erlaubt ist.
d) Privatpersonen
Was würde passieren, wenn jede Person das gesetzliche Zahlungsmittel entweder drucken oder sich selbst auf ein Bankkonto buchen könnte? Alle würden sich alles kaufen können, es käme zur Hyperinflation – von daher erscheint es nicht sinnvoll, dass Privatpersonen Geld schöpfen dürfen. Es ist nicht bekannt, dass das irgendwo auf der Welt so wäre. Es widerspräche auch dem »öffentlichen Gut«, das impliziert, dass es eine zentrale Geldschöpfungsquelle gibt. Hingegen darf jeder Mensch Gutscheine ausgeben, die nur bei ihr/ihm selbst einlösbar sind: Dabei handelt es sich um keine gesetzlichen Zahlungsmittel. In Tauschkreisen und Zeitbanken-Systemen gewähren sich Menschen gegenseitig Kredit, allerdings sind diese »gedeckt« durch die deklarierte Bereitschaft oder Verpflichtung der TeilnehmerInnen zur Erbringung von Leistungen.
e) Politische Gebietskörperschaften
Wäre es sinnvoll, dass Gemeinden, Regionen, Landkreise oder Länder die offizielle Währung schöpfen dürfen? Meines Erachtens wäre das, solange es sich um die offizielle Währung handelt, nicht sinnvoll, weil es zu einer Kompetenz-Überlappung käme, die Inflationsgefahren in sich birgt. Es ergibt aber allein schon aus Effizienzgründen keinen Sinn: Die Ausgabe von Geld ist ein »natürliches Monopol«: Es ist am besten, wenn es eine Institution macht, und diese muss dafür öffentlich – und da Geld im ganzen Staat gültig ist, auch zentral – sein. Dagegen ist es durchaus überlegenswert, kleinen politischen Einheiten das Recht zuzugestehen, Komplementärwährungen auszugeben, deren Gültigkeit lokal oder regional begrenzt ist. Historisch gab es immer wieder äußerst erfolgreiche Experimente mit Lokalwährungen, zum Beispiel im Tiroler Wörgl der 1920er Jahre; das spräche für ihre rechtliche Zulassung als offizielle Währung.
So weit ein erster kurzer Überblick. Welches Ergebnis würde bei einer demokratischen Abstimmung herauskommen? Mein Tipp: Die Mehrheit der Menschen würde a) den Zentralbanken das Geldschöpfungsmonopol für das gesetzliche Zahlungsmittel zugestehen, b) Geschäftsbanken das Schöpfungsrecht entziehen und c) politischen Gebietskörperschaften das Recht auf die Ausgabe von Komplementärwährungen zugestehen. Heute ist es anders: »Die Banken haben faktisch das generelle Geldmonopol.«3 Die Zentralbanken reagieren nur und refinanzieren die Geschäftsbanken. Gemeinden ist es verboten, eigene Währungen auszugeben, und sei es auch nur mit begrenztem Geltungsbereich. Allein das wären bereits drei gravierende Änderungen der Geldordnung – schon bei der ersten Fragestellung! Aber möge doch der Souverän entscheiden.
Die »Fragen an den Geldkonvent« zu jedem der zwölf Inhaltskapitel finden sich am Ende des Buches in Kapitel VII kompakt zusammengefasst als Servicepaket für dezentrale Konvente.
Die Aufgabe von Banken besteht nicht darin, die Wirtschaft mit
der benötigten Menge an Geld zu versorgen oder ihr Geld zu entziehen.
Dies ist alleinige Aufgabe der Zentralbank als Monetative. Vielmehr ist es die Aufgabe der Banken, die Wirtschaft zu finanzieren.
Joseph Huber1
Um die Zusammenhänge zwischen privater Geldschöpfung, Ausweitung der Geldmenge und Inflation besser zu verstehen und um Alternativen dazu abstimmen zu können, bedarf es zunächst der Beschreibung, wie die Geldschöpfung durch private Geschäftsbanken heute überhaupt funktioniert und welche Folgen dies hat.
In der Vorstellung vieler Menschen halten sich hartnäckig zwei »Geldmythen«. Zum einen, dass die gesamte Geldmenge durch Gold gedeckt ist, und zum anderen, dass das gesamte in Umlauf befindliche Geld von der Zentralbank stammt. Beide Vorstellungen stimmen nur noch zu einem Bruchteil mit der Realität überein. Die Golddeckung wurde schon lange aufgegeben. Beispielsweise betragen die Reserven des gesamten Euro-Systems 10.800 Tonnen. Der Wert derselben betrug Ende 2013 rund 345 Milliarden Euro.2 Das machte gerade einmal 6,5 Prozent der Geldmenge M1 (Bargeld plus Girokontenguthaben) im Euro-System aus. Nicht wenige, die Neo-österreichische Schule oder Autor Rolf Dobelli, betrachten die Entkoppelung von Gold und Geld als »Grundübel unserer heutigen Krise« und hoffen: »Irgendwann werden wir wieder zu einem Goldstandard zurückkehren.«3 Doch heute wäre es nicht mehr sinnvoll, nur so viel Geld in Umlauf zu bringen, wie durch Gold gedeckt ist – es gibt relativ zum Wert der gesamten Waren- und Dienstleistungsmenge viel zu wenig Gold oder anders gesagt: Die Wirtschaftsleistung ist im Zuge der industriellen Revolution regelrecht explodiert und damit einer Golddeckung entwachsen. »Der geologische Goldmangel war schließlich einer der Gründe dafür, die Metallgeldzeit hinter sich zu lassen«, schreibt Joseph Huber.4 Die Golddeckung ist zu Recht Geschichte.
Zum anderen glauben immer noch viele Menschen, dass die »Notenbank« die einzige Quelle von Geld sei. Sie heißt so, weil sie Bank-Noten drucken darf. Doch erstens ist das meiste in Umlauf befindliche Geld nicht Bargeld (Banknoten und Münzen), sondern Buchgeld. Die Bargeld-Bestände im Euro-System beliefen sich Ende 2013 auf 951 Milliarden Euro oder 17,6 Prozent der Geldmenge M1.5 Zweitens wird der größere Teil der Buchgeldmenge nicht von der Zentralbank geschöpft und in Umlauf gebracht, sondern von privaten Geschäftsbanken: Das von der Zentralbank ausgegebene Buchgeld machte Ende 2013 im Euro-System 245 Milliarden Euro oder fünf Prozent von M1 aus. Demnach waren Ende 2013 rund neunzig Prozent des Buchgeldes von den privaten Banken geschöpft. Wie aber geht die Geldschöpfung bei privaten Geschäftsbanken vor sich?
In der klassischen Vorstellung einer Bank bringen »zuerst« die SparerInnen ihr bares Geld zur Bank und legen es auf der Passivseite der Bankbilanz (den Verbindlichkeiten) an, es handelt sich um eine Sichteinlage auf dem Girokonto und damit ein Girokontoguthaben. Es kann auch direkt auf ein Sparkonto oder Sparbuch eingezahlt werden. Diese Bareinlage, egal ob auf dem Giro- oder Sparkonto, wird zugleich auf der Aktivseite verbucht und erhöht dort den Kassastand. Dieser zusätzliche Bargeld-Bestand ermöglicht der Bank, einen Kredit an ein Unternehmen oder eine Privatperson oder den Staat zu verleihen: das Bargeld auf der Aktivseite in eine Forderung umzubuchen und auszuzahlen. Die Geldmenge wird dabei nicht erhöht, das Geld existierte ja bereits, es wurde »zuerst« von den SparkundInnen hereingebracht.
Etwas langsamer: Tausend Euro in bar wandern »von außen« in die Bank, werden auf der Passivseite als Girokontoguthaben oder als Sparanlage verbucht. Dadurch kann die Bank (vorbehaltlich ausreichender Eigenkapitalquote und Mindestreserve) einen Kredit in annähernd gleicher Höhe vergeben (minus Bargeld- und Mindestreserve). Dieser wird auf der Aktivseite der Bank als Forderung an die KreditnehmerIn verbucht und auf der Passivseite auf dem Girokonto der KreditnehmerIn gutgeschrieben (als Forderung gegen die Bank). Umgehend wird das Geld abgehoben oder überwiesen – der Kredit will ja »verwendet« sein – und so verlassen tausend Euro die Bank. Tausend Euro rein, tausend Euro raus, die Geldmenge bleibt konstant bei dieser Möglichkeit der passivseitigen Kreditentstehung. Das kann heute so in der Realität der Banken ablaufen, es ist nicht falsch.
Eine andere Möglichkeit, die den Standardvorgang darstellt, ist die aktivseitige Kreditvergabe durch Banken. Hier wird »zuerst« ein neuer Kredit vergeben, ohne vorherige Einzahlung oder Spareinlage, in dem »aus dem Nichts« auf der Aktivseite der Bank eine (Buchgeld-)Forderung gegen die KreditnehmerIn zusätzlich zum bisherigen Aktivvolumen verbucht wird. Diese Forderung der Aktivseite wird auf der Passivseite auf das Girokonto der KreditnehmerIn gutgeschrieben, ebenfalls als Buchgeld. Damit sind Aktiv- und Passivseite wieder im Gleichgewicht, doch in diesem Fall – oder besser in dieser Reihenfolge – wurde die Bilanz im Unterschied zu Fall 1 auf beiden Seiten »verlängert«: Die Geldmenge hat sich erhöht.
Noch nicht ganz: Der Kredit will ja auch hier, in Fall 2, »verwendet« werden, er wird auf das Konto einer (um es anschaulicher zu machen) anderen Bank überwiesen. Tausend Euro gehen in diesem Fall »zuerst« raus aus der Bank, die dieses Geld »geschöpft« hat. Im Moment der »Verwendung« des Kredites – der Überweisung – braucht es, um die Bilanz ausgeglichen zu halten, eine »Refinanzierung« (einen Ersatz des ausgehenden Geldes) auf der Passivseite. Eine Bank hat grob sortiert sechs Möglichkeiten, sich zu refinanzieren: 1. Erhöhung des Eigenkapitals aus dem Geschäftsgewinn oder über eine Kapitalerhöhung, 2. Zahlungseingang auf einem Girokonto, 3. Spareinlage, 4. Begebung einer Bankanleihe, 5. Kreditaufnahme auf dem Interbankenmarkt, 6. Kreditaufnahme bei der Zentralbank. Aus jeder dieser sechs Quellen können die tausend Euro Buchgeld, die hinausgegangen sind, auf der Passivseite ersetzt oder »refinanziert« werden. Bezüglich der Veränderung der Geldmenge und der Frage »Schöpfung oder Nichtschöpfung« von Geld kommt es darauf an, woher das Geld kommt, bei wem und in welcher »Geldsorte« sich die Bank verschuldet.
Verschuldet sie sich bei der Zentralbank, erhöht sich die Geldmenge dann, wenn die Zentralbank in einem bestimmten Zeitraum den Geschäftsbanken mehr frische Kredite gewährt, als alte Kredite getilgt werden. Die Zentralbank kann auf diese Weise die Geldmenge (mit)steuern und z.B. in Zeiten der Rezession mehr oder günstigere Kredite vergeben und in Zeiten guter Konjunktur weniger oder teurere Kredite. Das Geld, das den Kredit finanziert, ist hier »gutes« Zentralbankgeld. Der Kreditvergabeakt der Geschäftsbank ist in diesem Fall neutral in Bezug auf die (Zentralbank-)Geldmenge. Das Geld wird »zuerst« von der Geschäftsbank, schlussendlich aber doch »nachträglich« von der Zentralbank geschöpft.
Anders liegt der Fall, wenn der Kredit ersetzt wird z.B. durch eine Giroeinlage einer KreditnehmerIn B, die bei der Bank B ebenfalls einen auf der Aktivseite generierten (= geschöpften) Kredit erhalten hat und damit via Girokontoüberweisung eine Leistung bei der Kreditnehmerin A = KontoinhaberIn der Bank A bezahlt. Damit hat die Bank A die ausgegangenen tausend Euro wieder »herinnen«, sie hat sich »refinanziert«. Wenn gleichzeitig die KreditnehmerIn A ihren bei Bank A geschöpften Kredit auf ein Konto bei Bank B überweist, ist auch Bank B refinanziert – in beiden Fällen ohne Zentralbank! So funktioniert die Giralgeldschöpfung durch private Geschäftsbanken. Sie erhöht die Geldmenge, in diesem Beispiel um zweitausend Euro. (Das Beispiel hätte auch abgekürzt werden können, indem der Kredit A bei Verwendung auf ein anderes Konto derselben Bank fließt, damit hätte sich die Bank über eine andere Kredit- und Konto-KundIn refinanziert, der Geldschöpfungsakt wäre ebenso vollendet gewesen. Ich habe hier bewusst eine zweite Bank ins Spiel gebracht, um den systemischen und kollektiven Charakter der Geldschöpfung aller privaten Geschäftsbanken sichtbar zu machen.)
Das Beispiel ist nicht ganz sauber: Die Giralgeldschöpfungsfähigkeit der Geschäftsbanken ist dreifach begrenzt durch a) ihr Eigenkapital (Mindestkapitalanforderungen nach den Basel-Regeln), b) die Mindestreserve (in der Eurozone derzeit ein Prozent) und c) die Barreserve (1,4 Prozent). In Summe kann die Geldmenge dennoch beträchtlich wachsen. In den USA wuchs die Geldmenge seit der Jahrtausendwende doppelt so schnell wie die Wirtschaft, in Deutschland wuchs die Wirtschaft von 1992 bis 2008 nominal um 51 Prozent, die Geldmenge M1 hingegen um 189 Prozent.6 Mit diesen (privat geschöpften) Krediten wird Konsum finanziert und führt über steigende Nachfrage zu Inflation – entweder zu Güterpreisinflation, wenn mit den Krediten Konsumgüter gekauft werden; oder zu Finanzinflation, wenn mit den geschöpften Krediten Wertpapiere gekauft werden. Viele AutorInnen analysieren übereinstimmend, dass die Geldschöpfungspraxis der Geschäftsbanken seit den 1980er Jahren zu Wertpapierpreisinflation und zu Blasenbildung auf den Finanzmärkten geführt hat: Aktien-, Internet-, Devisen-, Rohstoff- und Immobilienblasen. So hängen private Geldschöpfung und Finanzinstabilität zusammen.
Die Geldschöpfungsgewinne der privaten Banken, die sich aus der Differenz zwischen Refinanzierungs- und Kreditzins ergeben, sind umso höher, je größer das Ausmaß ihrer Geldschöpfung ist. Für Deutschland werden die Geldschöpfungsgewinne der privaten Banken auf 15 bis 25 Milliarden Euro jährlich geschätzt, für die Schweiz auf 6 bis 12 Milliarden Franken.7 Diese Gewinne sind illegitim, weil sich private AkteurInnen an der Bereitstellung eines öffentlichen Gutes bereichern. Joseph Huber argumentiert, dass diese Bankenextragewinne als »Privatsteuer« betrachtet werden können, die »unserem heutigen Rechtsempfinden widerspricht«.8 Und auch dem ökonomischen Denken: »Ökonomen sagen gerne ›There ain’t no such thing as a free lunch‹. Das trifft für den Finanzsektor nicht zu, da spezielle Gewinne zu einem riesigen und ungerechtfertigten ›free lunch‹ führen«, mokiert sich Simon Sennrich.9 Die private Geldschöpfungspraxis erhöht das volkswirtschaftliche Kreditvolumen und damit den systemischen Verschuldungsgrad. Sie führt zu Inflation und Blasenbildung einerseits und andererseits zu systemischer Überschuldung. Derzeit ist der Gesamtverschuldungsgrad des Finanzsystems und der Volkswirtschaften so groß wie nie zuvor in der Geschichte. Laut einer Untersuchung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich verdoppelte sich in achtzehn OECD-Staaten das Gesamtverschuldungsniveau (aus den Schulden der privaten Haushalte, der privaten Unternehmen und des Staates) zwischen 1980 und 2010 von 167 auf 314 Prozent ihres BIP.10 In Führung liegt Japan mit 456 Prozent der Wirtschaftsleistung vor Portugal (366 Prozent), Belgien (356 Prozent) und Spanien (355 Prozent). Vergleichsweise gering gesamtverschuldet waren Australien (235 Prozent), Österreich (238 Prozent) und Deutschland (241 Prozent); aber auch die USA (268 Prozent). Das McKinsey Global Institute hat zu den drei klassischen Sektoren noch die Schulden des Finanzsektors addiert und kommt dadurch auf noch höhere Zahlen für 2011: Die Gesamtverschuldung aller vier Sektoren betrug demnach in Irland 663 Prozent des BIP, in Japan 511 Prozent, in Großbritannien 507 Prozent, in Spanien 363 Prozent, in den USA 279 Prozent, in Deutschland 278 Prozent und in Griechenland 267 Prozent.11 Hier gäbe es viel zu erklären, nicht nur die auf den ersten Blick unglaubliche Diskrepanz zwischen Irland und Griechenland. Um es einfach zu halten: Die Zusammensetzung ist je nach Land sehr unterschiedlich: Irland »führt« bei den Haushalten vor Australien, bei den Unternehmen vor Spanien und beim Finanzsektor vor England. Bei den Staatsschulden ist Japan einsamer Spitzenreiter.
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hält eine Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte von mehr als 85 Prozent des BIP jeweils und der Unternehmen von mehr als neunzig Prozent des BIP für gefährlich – zusammen maximal 260 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Boston Consulting Group »unterbietet« diesen Wert deutlich und empfiehlt als Verschuldungsmaximum sechzig Prozent je Sektor, in Summe 180 Prozent der Wirtschaftsleistung.12 Von beiden Werten sind die OECD-Staaten mit durchschnittlich 314 Prozent Gesamtverschuldung weit entfernt. Gesichert scheint: Gegenwärtig besteht bereits eine systemische Überschuldung. Deshalb warnen auch zahlreiche Insider, vom Börsenguru bis zum Finanzmathematiker, vor dem großen Krach: Die Volkswirtschaft bricht unter der nicht mehr bedien- und rückzahlbaren Gesamtverschuldung zusammen.13
Wie könnte die private Geldschöpfung beendet werden? Seit einiger Zeit kursiert der Vorschlag einer Vollgeld-Reform. Vollgeld steht für vollgültiges gesetzliches Zahlungsmittel. Unter diesem Titel sind verschiedene Reformansätze vereint, die dahingehend zusammengefasst werden können, dass das in vielen Verfassungen dem Staat (der staatlichen Zentralbank) zugeschriebene exklusive Recht der Geldschöpfung auf Buchgeld ausgeweitet und gleichzeitig den privaten Geschäftsbanken das gegenwärtige De-facto-Monopol14 auf Geldschöpfung entzogen wird. Die Vollgeld-ReformerInnen sind eine wachsende Bewegung im deutschen und englischen Sprachraum, sie firmieren auch unter der Bezeichnung Monetative, will heißen: Neben der legislativen, exekutiven und judikativen soll es eine unabhängige monetäre Staatsgewalt geben, welcher das exklusive Recht der Geldschöpfung und der Steuerung der Geldmenge übertragen wird. Dies sind die wichtigsten Punkte des Vorschlages:
1. Die Notenbank erhält das ausschließliche Recht der Geldschöpfung, sowohl für Bargeld als auch für Buchgeld. Alles in Umlauf befindliche Geld ist Zentralbankgeld, das diese gezielt nach vorgegebenen Regeln geschöpft hat. Den Geschäftsbanken wird das Recht auf Geldschöpfung, das ihnen nie explizit verliehen wurde, explizit entzogen.
2. Die Ausweitung oder Kontraktion der Geldmenge wird langfristig an der Ausweitung oder Kontraktion der Wirtschaftsleistung orientiert, wobei das Instrument der Geldmengensteuerung »antizyklisch« eingesetzt werden kann: Um ein »Überhitzen« der Konjunktur zu verhindern, kann die Geldmenge bei hohem Wachstum verknappt werden; um eine Depression zu verhindern, kann in Zeiten der Flaute die Geldmenge erhöht werden.
3. Das Geld, das die Zentralbank in Umlauf bringt, fließt der Staatskasse zins- und schuldenfrei zu. Damit kommt der Geldschöpfungsgewinn, die originäre Seigniorage (Differenz zwischen dem Wert des Geldes und den Produktionskosten), direkt der Allgemeinheit zugute.
4. Geld fließt somit über Ausgaben des Staates an Unternehmen und Private, die es zur Bank bringen und dort veranlagen (ähnlich wie in Fall 1, mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht Bargeld sein muss, sondern auch Buchgeld sein kann; jedoch wäre auch dieses garantiert von der Zentralbank geschöpftes Buchgeld). Über die Einlage von »Vollgeld« landet dieses auf der Aktivseite der Geschäftsbanken – entweder als Bargeld oder als Buchgeld-Forderung an die Zentralbank. Auf der Passivseite wird eine Verbindlichkeit gegenüber der EinlegerIn verbucht. Ganz so oder ähnlich, wie es heute in vielen Köpfen als »Mythos« ankert. Die Realität wird an die Fiktion angepasst. Dieses (Voll-)Geld steht nun zur Kreditvergabe zur Verfügung.
5. Damit die Banken nicht zusätzlich Geld »aus dem Nichts« schöpfen können, werden die Girokonten aus den Bankbilanzen ausgegliedert und als »Geldkonten« im Besitz der BankkundInnen angelegt, die reine Depots sind. Derzeit sind Girokonto-Guthaben ganz gleich wie Sparanlagen Forderungen der SparerInnen an die Bank und Teil der Bankbilanz. Sie befinden sich rechtlich im Besitz der Bank und sind im Falle einer Bankenpleite aus Sicht der BankkundInnen gefährdet, was ein System der Spareinlagensicherung auch für Girokontoguthaben erforderlich macht. Vor allem aber ist die gegenwärtige »Vermischung« von Girokonten und Sparkonten ein Teil des Geldschöpfungssystems, indem eine Bank einen soeben geschöpften Kredit auf der Passivseite als Sichteinlage verbucht und damit gleich wieder in eine Einlage verwandelt. Die bilanztechnische Trennung von »Einlagen« und »Anlagen« beendet die Geldschöpfung durch private Geschäftsbanken.
6. Bei der Kreditvergabe wird Vollgeld von der Aktivseite der Bankbilanz auf das Geldkonto (Depot) der Kredit-KundIn überwiesen. Aus der Sicht der Bank kommt es dabei zu einem Aktivtausch auf der linken Seite der Bankbilanz: Vollgeld, entweder Bargeld oder eine Buchgeld-Forderung gegen die Zentralbank, wird (ausbezahlt und) umgebucht in eine Forderung gegen die KreditnehmerIn. Bei diesem Vorgang verringert sich das (Vollgeld-)Guthaben der Bank bei der Zentralbank, es wird umgewandelt in eine Kreditforderung an die Kredit-KundIn (ein anderer Bilanzposten auf der gleichen Aktivseite der Bankbilanz). Bildlich wird Vollgeld von der Zentralbank über die Aktivseite der vermittelnden Geschäftsbank an das Publikum »durchgereicht«. Die Geldmenge bleibt dabei unverändert, auf der Passivseite tut sich gar nichts.15 Die einzige Veränderung ist, dass der gleiche Betrag an (Zentralbank-)Vollgeld dieser nicht mehr von der Geschäftsbank geschuldet wird, sondern direkt von der KundIn (über ihr Geldkonto). Das ist auch ein Grund, weshalb im Falle einer Bankinsolvenz das Vollgelddepot der KundIn außen vor bleibt – es handelt sich um eine Direktbeziehung zwischen KundIn und Zentralbank, die Bank dient nur als Depot oder (elektronischer) Tresor, die für die KundIn ein »Geldkonto« verwaltet, dessen Inhalt jedoch im Besitz der BankkundIn bleibt (und im Eigentum der Notenbank).
7. Erst wenn die BankkundIn eine Sparanlage tätigt, wandert Vollgeld von ihrem Geldkonto oder Depot auf die Aktivseite (!) der Bankbilanz (wo es entweder den Kassastand erhöht [bar] oder die Forderungen gegen die Zentralbank [unbar]), wo dieses für die Kreditvergabe zur Verfügung steht. Auf der Passivseite wird eine Forderung der KundIn an die Bank verbucht. Dadurch wandert das Geld rechtlich in den Besitz der Bank und ist im Falle der Insolvenz der Bank ausfallgefährdet. Die KundIn geht dieses Risiko üblicherweise ein, um einen Sparzins zu erhalten, welcher – im gegenwärtigen Paradigma – unter anderem das Risiko des Ausfalls kompensiert (neben der »Leistung« des »Konsumverzichts«). Damit handelt es sich aber um eine Investition, und jede Investition ist ausfallgefährdet, auch wenn eine Bank das Ausfallrisiko durch die »Poolung« der Kredite auf alle SparerInnen verteilt und dadurch minimiert. Für (einen Teil der) Sparanlagen bräuchte es somit auch im Vollgeld-Regime eine Sparanlagensicherung, falls diese überhaupt eine vernünftige Idee ist: Sie ist streng genommen eine Art staatlicher InvestorInnenschutz: Die Allgemeinheit nimmt den SparerInnen das Investitionsrisiko ab. Marktwirtschaft ist das nicht. Und es gibt im Vollgeld-Regime Alternativen: Wer möchte, dass ihr/sein Geld hundert Prozent sicher ist – sicherer als unter dem Kopfpolster, wo es gestohlen werden kann, und sicherer als auf dem Sparkonto, wo es im Falle einer Insolvenz der Bank und des Staates verlorengehen kann –, legt es auf das Geldkonto. Dort kann wirklich nichts passieren.
8. Geldsortenmäßig gäbe es im Vollgeldsystem nur noch Zentralbankgeld = Vollgeld: Egal, ob das Geld von SparerInnen, anderen Banken, dem Staat oder direkt der Zentralbank kommt, es handelt sich immer um Zentralbankgeld, weil die Zentralbank die einzige Instanz ist, die Geld schöpft und in Umlauf bringt. Heute wird die in Umlauf befindliche Geldmenge der Zentralbank durch privat (»giral«) geschöpftes Geld verwässert und vergrößert, so sehr, dass es umgekehrt ist: Im großen See des privat geschöpften Buchgeldes befindet sich nur noch ein sehr kleiner Zustrom von Zentralbank-Buchgeld.
9. Das Halten von »Reserven« (an Zentralbankgeld) erübrigt sich, weil alles Geld Reserve = vollwertiges Zentralbankgeld ist. Die Mindestreserve entfällt. Eine Hundert-Prozent-Reserve, wie andere sie vorschlagen, erübrigt sich aus demselben Grund. Das Bankgeschäft und die Bankbilanz werden deutlich einfacher.
So weit die Beschreibung der Funktionsweise des Vorschlages. Nun zu den Vorteilen der Vollgeld-Reform, diese wären zahlreich und relevant:
1. Effektivere Geldmengensteuerung: Die Geldmenge würde allein durch die Zentralbank gesteuert und nicht in Kombination mit den (gewinnorientierten) Geschäftsbanken. Die Hoheit über ein makroökonomisches Steuerungsinstrument ist wiederhergestellt. Die Treffsicherheit steigt. Die Inflation kann durch direkte Steuerung der Geldmenge besser unter Kontrolle gehalten werden als durch ihre indirekte Steuerung über den Leitzins – sowohl die Güterpreisinflation als auch die Finanzinflation.
2. Antizyklische Konjunktursteuerung: Wenn die Ausweitung oder Kontraktion der Geldmenge gegengleich zum Konjunkturzyklus praktiziert wird, kann die fiskalpolitische Kontrazyklik (Haushaltsüberschuss und Schuldentilgung im Boom, Defizit und Verschuldung in der Rezession) verstärkt werden: In der Rezession kann die Geldmenge dosiert ausgeweitet werden, wodurch es zu mehr Staatseinnahmen und damit höheren Ausgabemöglichkeiten ohne zusätzliche Verschuldung kommt. Erfolgt die Geldmengensteuerung indirekt über die Kreditvergabe an Geschäftsbanken, was im gegenwärtigen Geld-Regime von den Zentralbanken praktiziert wird (von »Quantitative easing« bis »Dicke Berta«), kann es sein, dass diese ausgeweitete Geldmenge gar nicht im realen Wirtschaftskreislauf ankommt, weil die Banken die Kreditvergabe aus Angst vor Ausfällen zurückfahren – oft sogar in einem stärkeren Ausmaß, als die Wirtschaft schrumpft, wodurch es zu einem prozyklischen Effekt der gegenwärtigen Form der Geldmengensteuerung durch die Zentralbank kommt. Oder die Banken spekulieren lieber mit dem billigen Geld (zum Beispiel kaufen sie Staatsanleihen), weil sie darin ein geringeres Risiko sehen oder zumindest höhere Profitchancen als im »realen« Kreditgeschäft.
3. Geld käme nicht als Kredit (mit Zins und Wachstumszwang) in Umlauf, sondern über öffentliche Ausgaben, schulden- und zinsfrei. Und ohne Wachstumszwang.
4. Die Geldschöpfungsgewinne (Seigniorage) kommen vollständig der Allgemeinheit zugute. Derzeit sahnen die Banken einen erklecklichen Teil der Geldschöpfungsgewinne ab, indem sie Geld »ex nihilo« erschaffen und die damit erzielten Zinsmargengewinne oder Kurs-/Dividendengewinne16 behalten dürfen. Im Vollgeld-Regime könnte die Zentralbank bei einem ein- bis zweiprozentigen Wirtschaftswachstum die Geldmenge im langjährigen Durchschnitt um ein halbes bis ein Prozent der Wirtschaftsleistung erhöhen (zumal die Geldmenge M1 in Deutschland und der Eurozone rund halb so groß ist wie das BIP). Das wären in Deutschland 13,5 bis 27 Milliarden Euro Budget-Zuschuss pro Jahr (das BIP liegt bei 2,7 Billionen Euro), in Österreich 1,5 bis 3 Milliarden Euro pro Jahr (BIP rund 315 Milliarden Euro) und in der Schweiz 3,8 bis 7,5 Milliarden Franken pro Jahr (BIP bei 500 Milliarden Franken, aber M1 ist größer: fast 80 Prozent vom BIP). Die Budgets und Staatsfinanzen würden spürbar entlastet.
5. Durch die Umstellung vom gegenwärtigen Giralgeld-Regime auf Vollgeld würden – bei konstanter Geldmenge M1 – hohe Umstellungsgewinne für den Staat anfallen: im Ausmaß der bisher akkumulierten Geldschöpfung durch die Privatbanken in Form von Sichtguthaben. In der Schweiz betragen die Sichtguthaben 385 Milliarden Franken, das ist fast das Doppelte der Staatsschulden (211 Milliarden Franken), der Staat wäre schuldenfrei. In Deutschland und Österreich betragen die Sichtguthaben rund achtzig Prozent der Staatsschuld.17 In der EU und den USA ist es rund die Hälfte der Staatsschulden18 – diese könnten halbiert werden, die Staatsschuldenkrise wäre massiv entschärft.
6. Die Geldmenge bliebe dabei vollkommen konstant, da die Sichteinlagen der SparkundInnen auf der Passivseite in Sichteinlagen der Zentralbanken umgewandelt würden. Forderungen der Zentralbank an die Geschäftsbanken sind aber nicht Teil der Basisgeldmenge M1, die ausgelagerten Geldkonten hingegen sehr wohl. In Bezug auf die Geldmenge M1 werden die Sichteinlagen des Publikums auf Geldkonten ausgelagert – geldmengenneutral. (Auf der Aktivseite bleiben die Forderungen der Geschäftsbanken gegenüber den SparkundInnen aufrecht – bis zur Zurückzahlung.)19 Ein solcher »Ausschleusungsvorgang« wäre nichts Neues in der Geldgeschichte: Im Zuge der Gründung von zentralen Notenbanken aus Konsortien privater Banken wurden die privaten Banknoten aus dem Geldsystem ausgeschleust. Seither sind private Banknoten illegal oder Falschgeld. Ganz analog würde in dieser zweiten »Verstaatlichungsetappe« des Geldes nun auch das privat geschöpfte Buchgeld ausgeschleust. Nach dem Übergang wäre privat geschöpftes Buchgeld ebenso illegales Falschgeld wie privat gedruckte Banknoten. Der Übergangsprozess würde schätzungsweise zwei bis vier Jahre in Anspruch nehmen.20
7. Die Zentralbank-Bilanzsumme würde durch die Umstellung um fünfzig Prozent ansteigen (Euroraum), allerdings würde das zu keinerlei Inflation führen, weil nur die bereits jetzt von den Geschäftsbanken geschöpfte Geldmenge – erstmals korrekt – in der Zentralbank-Bilanzsumme abgebildet würde. Sollte die Geldmenge M1 von der Zentralbank verringert werden, wäre der Effekt auf die Staatsschuld entsprechend geringer.
8. Im Falle einer Bankenpleite sind die Geldkonten absolut sicher. Sie befinden sich im Besitz der BankkundInnen und sind von der Insolvenz nicht betroffen. Sparanlagen wären unverändert im Falle einer Bankeninsolvenz betroffen und entsprechend gefährdet. Doch bei ihnen handelt es sich im Vollgeld-Regime um umso bewusstere private Investitionen, deren staatlicher Schutz fragwürdig ist und einen grundlegenden Bruch marktwirtschaftlicher Prinzipien darstellt – die InvestorInnen tragen das Verlustrisiko nicht zur Gänze selbst, sie teilen es mit den SteuerzahlerInnen. Eine solche Spareinlagensicherung könnte zwar ein demokratisch beschlossener Teil eines »öffentlichen Gutes Geld« sein, sollte aber umso bewusster an Bedingungen geknüpft werden; dazu in den folgenden Kapiteln mehr.
9. Durch die klare Trennung von Geldvermögen, das auf Banken lediglich deponiert, aber nicht investiert wird, und bewusst investiertem Kapital kann derjenige Teil des Finanzvermögens, der »überflüssig« ist, weil er gar nicht realwirtschaftlich investiert werden kann, bewusst »befriedet« werden. Geld würde nicht arbeiten und keinen Renditedruck ausüben. Das gesamte System würde sich an zwei Fronten entspannen: Der Druck wird herausgenommen, und die Gefahr der Spekulation verringert. Der Kredithebel wird dadurch auf den Kopf gestellt: Nicht ein Bruchteil des vergebenen Kreditvolumens (Bankbilanz) ist durch Finanzvermögen gedeckt, sondern nur ein Bruchteil des privaten Finanzvermögens wandert in die Bankbilanz und wird zu Kredit. Aufgrund des wachsenden Vermögensüberschusses (in Relation zum BIP) ist es denkbar, dass bald nur noch eine Minderheit des Finanzvermögens in die Wirtschaft investiert und die Mehrheit als »nicht arbeitende« Bankeinlage dort nur deponiert wird: Geld gibt endlich Ruhe!
10. Der Konnex zwischen Sparanlagen und Kredit-Vergaben auf den beiden Bankbilanz-Seiten würde (wieder) hergestellt. Es würde genau das erreicht, was dem landläufigen Verständnis einer Bank heute entspricht.
Manchen versierten LeserInnen ist der sogenannte »Hundert-Prozent-Banking«-Vorschlag aus den 1930er Jahren von einer Reihe von Ökonomen aus Chicago, darunter der junge Milton Friedman, bekannt. Diese schlugen vor, dass alle vergebenen Kredite durch Reserven bei der Zentralbank – zu hundert Prozent – gedeckt sein sollten. Irving Fisher entwickelte den Plan zu »100 Percent Money« weiter.21 2013 nahmen zwei Autoren des Internationalen Währungsfonds den Hundert-Prozent-Banking-Plan erneut unter die Lupe und legten die Ergebnisse unter »The Chicago-Plan revisited« vor. All diese Varianten laufen unter dem Oberbegriff Hundert-Prozent-Reserve, weil das Aktivgeschäft der Banken vollständig durch Reserven gedeckt ist, und werden fleißig miteinander verwechselt.
»Vollgeld ist technisch bzw. bankbetrieblich ein gänzlich anderes System als Hundert-Prozent-Reserve«, differenziert der wichtigste Vordenker Joseph Huber von der Universität Halle-Wittenberg.22 Aufgrund der nicht ganz unkomplizierten Materie stelle ich hier nur die Unterschiede von Hundert-Prozent-Geld und Vollgeld dar. Aus der Übersicht geht hervor, warum ich dem neueren Vorschlag für eine Vollgeld-Reform klar den Vorzug für die Diskussion im Konvent einräume. Die Hundert-Prozent-Geld-Reform hat wichtige Erkenntnisse und Impulse geliefert, sie ist aber veraltet und wurde von der Idee des Vollgeldes überholt und dabei entscheidend vereinfacht.
Hundert-Prozent-Geld | Vollgeld |
Girokonten sind Teil der Bankbilanz | Girokonten aus Bankbilanz ausgegliedert |
Geld kommt als Kredit-Schuld in Umlauf | Geld kommt als Gabe an den Staat in Umlauf |
Geld kommt verzinst in Umlauf | Geld kommt unverzinst in Umlauf |
Zins-Seigniorage (indirekt) | originäre Seigniorage (direkt) |
getrennte Buchungskreisläufe | ein Buchungskreislauf |
Zuerst wird der Kredit vergeben, dann wird bei der Zentralbank refinanziert | Zuerst fließt Zentralbankgeld auf ein Bankkonto, dann wird der Kredit vergeben |
Reserve für Kreditgeld muss gehalten werden | Reserve nicht nötig, Kreditgeld ist Reserve |
Banken müssen doppelt Zinsen zahlen: für die Spareinlagen und für die Reserven | Banken müssen nur »einmal« Zinsen für die Spareinlagen zahlen |
Belastung der Staatsfinanzen | Entlastung der Staatsfinanzen |
Rechtlich müssten in diversen Verfassungen bzw. im Lissabon-Vertrag der EU, der das Statut der EZB als Protokoll Nummer 4 enthält, nur geringfügige Änderungen vorgenommen werden, zum Beispiel: »Der EZB-Rat hat das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Banknoten und Buchgeld innerhalb der Union zu genehmigen. Die EZB und die nationalen Zentralbanken sind zur Ausgabe dieser Banknoten sowie von Buchgeld berechtigt. Die von der EZB und den nationalen Zentralbanken ausgegebenen Banknoten und Buchgelder sind die einzigen Geldformen, die in der Union als gesetzliches Zahlungsmittel gelten.«
In Deutschland müsste im Gesetz über die Deutsche Bundesbank Artikel 14 angepasst werden: »Die Deutsche Bundesbank hat unbeschadet des Artikels 128 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union das ausschließliche Recht, Banknoten und Buchgeld im Geltungsbereich dieses Gesetzes auszugeben.«
In der Schweiz würde eine geringfügige Änderung von Artikel 99 der Bundesverfassung ausreichen: »Das Geld und Währungswesen ist Sache des Bundes; diesem allein steht das Recht zur Ausgabe von Münzen, Banknoten und Buchgeld zu.«
Sollte das amerikanische Volk je privaten Banken erlauben, die Ausgabe ihrer Währung zu kontrollieren, werden die Banken und die um sie wachsenden Konzerne, erst durch Inflation, dann durch Deflation … den Leuten all ihre Habe nehmen, bis ihre Kinder eines Tages obdachlos erwachen … Das Recht der Geldausgabe sollte den Banken genommen und dem Volk zurückgegeben werden, wo es rechtmäßig hingehört.
Thomas Jefferson1
Die Zentralbank ist die mächtigste Einzelinstitution im gesamten Geldsystem. Sie schöpft Geld aus dem Nichts und steuert die Geldmenge, sie legt den Leitzins fest, an dem sich die Marktzinsen orientieren. Sie steuert mit Zins und Geldmenge Inflation und Konjunktur, sie dreht den Kredithahn für die Volkswirtschaft auf und zu, sie kann Banken mit Liquidität fluten oder verdursten lassen, sie kann auch Staaten finanzieren oder dies verweigern – sie betätigt die zentralen Stellschrauben des Geldsystems und ist damit die mächtigste Einzelinstitution der Wirtschaftspolitik.
Kein Wunder, dass bei den öffentlichen Äußerungen der Chefs von Fed und EZB jede Silbe auf die Waagschale gelegt wird, jede feinste Nuance hat Auswirkungen wie das Wort kaum einer anderen Machtfigur. Alan Greenspan wurde, zumal er mit dieser Deutung seiner Aussagen gerne spielte, als »Sphinx« bezeichnet, die »Greenspeak« produziere: »Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine.« Es geht auch direkter: Von EBZ-Chef Mario Draghi genügten am 26. Juli 2012 zwei kurze Sätze, um die Euro-Krise, die am Eskalieren war, abrupt zu entschärfen: »Innerhalb ihres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir – es wird reichen.«2 Paul Krugman bewertete den Effekt dieser Sätze, dass »ohne sie der Euro wahrscheinlich 2011 oder 2012 zusammengebrochen wäre«.3
Ob dieser Macht ist es von größter Wichtigkeit, dass Zentralbanken a) öffentliche Einrichtungen, b) so demokratisch und repräsentativ wie möglich organisiert sind, sowie c) ihr Auftrag so klar wie möglich definiert wird. Ihre Politik muss dem Gemeinwohl dienen und nicht Einzelinteressen, die sich als öffentliches Interesse tarnen, oder bestimmten ökonomischen Schulen und Weltanschauungen, die gerade in Ökonomen- oder Bankerkreisen en vogue sind.
Je relevanter und je monopolhafter ein Bestandteil der Infrastruktur ist, desto wichtiger ist es, dass dieser sich auch in öffentlichem Eigentum befindet. Historisch haben sich die Zentralbanken aus den größten Privatbanken gebildet und waren zunächst überwiegend in deren Eigentum, zum Teil sind sie es heute noch. Die Bank of England wurde 1694 als private Aktiengesellschaft gegründet, das Gründungskapital von 1268 Privatiers war ein Kredit an die Regierung. Erst 1830 wurden die Noten der Bank zum gesetzlichen Zahlungsmittel, und erst hundert Jahre später, 1930, wurde die letzte Privatbank, die eigene Banknoten ausgegeben hatte, von der Bank of England übernommen, die damit ein Monopol auf die Ausgabe von Banknoten erhielt – allerdings nur in England und Wales. In Schottland und Nordirland dürfen Privatbanken bis heute eigene Banknoten drucken und ausgeben, diese müssen allerdings zu hundert Prozent durch Einlagen bei der englischen Zentralbank gedeckt sein. 1946 wurde die Bank of England verstaatlicht – 250 Jahre nach ihrer Gründung.
Die US-Zentralbank Federal Reserve ist immer noch privat. Sie gehört den Zentralbanken der US-Bundesstaaten, und diese wiederum den größten regionalen Privatbanken. Zwar werden die sieben Vorstandsmitglieder vom US-Präsidenten ernannt, doch im wichtigen Offenmarktausschuss, der die geldpolitischen Entscheidungen trifft, sitzen die Präsidenten der zwölf regionalen Notenbanken, von denen fünf stimmberechtigt sind. Joseph Stiglitz kritisiert: »Die Präsidenten der regionalen Notenbanken werden in einem intransparenten, wenig demokratischen Prozess gewählt, in dem die Geschäftsbanken (die von ihnen reguliert werden) zu viel Einfluss besitzen.«4 Eine solche Eigentumsstruktur ist merkwürdig: Würden wir es zulassen, dass die Bundespolizeibehörde den Landespolizeizentralen gehörte und diese den mächtigsten regionalen Privatmilizen und Sicherheitsfirmen?
Auch in Deutschland wurde die erste Notenbank, die Reichsbank, 1876 mit privatem Kapital von mehreren tausend Personen gegründet. Allerdings war sie von Beginn an eine Anstalt öffentlichen Rechts. Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte sie Unabhängigkeit von der Regierung, die Nazis brachten sie wieder unter ihre Kontrolle. Die Alliierten gründeten 1948 zur Einführung der D-Mark die »Bank deutscher Länder«, die 1957 gemeinsam mit den Landeszentralbanken zur Deutschen Bundesbank alias »Buba« verschmolz. Die Reichsbank wurde erst 1961 liquidiert und die 20.000 Anteilshaber abgefunden.5 So gesehen wurde die Bundesbank erst in den 1960er Jahren zu einem vollständig öffentlichen Gut. Fast.
Auch in Österreich ist der Weg der Zentralbank von einem privaten zu einem öffentlichen Gut ein Prozess. Bis 2006 war die OenB, die Österreichische Nationalbank, zu fast fünfzig Prozent in Privateigentum, die Vollverstaatlichung erfolgte erst 2010.6 Über die Gründe gibt es verschiedene Vermutungen: Einerseits war das sozialpartnerschaftliche Gleichgewicht mit dem Ausscheiden der Gewerkschaftsbank BAWAG und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes 2006 verlorengegangen, weshalb auch die restlichen PrivateigentümerInnen ihre Anteile abgeben mussten. Eine andere Hypothese besagt, dass die EigentümerInnen der nationalen Zentralbanken für die in den nächsten Jahren anfallenden Verluste der Europäischen Zentralbank geradestehen werden müssen, weshalb die Privaten kein Interesse haben, hier ihre Eigentümerverantwortung wahrzunehmen. Aus Aufsichtsperspektive ist die Verstaatlichung begrüßenswert, weil die Nationalbank bis 2010 mit der Beaufsichtigung ihrer EigentümerInnen beauftragt war: ein unschöner Rollenkonflikt.
Die Schweizerische Nationalbank befindet sich heute noch zu 39,9 Prozent in Privateigentum.7 Aus meiner Sicht ist das ein Verstoß gegen das Gebot der Bundesverfassung, dass »die Ausgabe von Banknoten und Münzen allein dem Bund zusteht«. Wenn dieses Recht »allein« dem Bund zusteht, dann kann es nicht von einer Institution wahrgenommen werden, welche sich zu knapp vierzig Prozent in Privateigentum befindet, einschließlich der Stimmrechte. Obwohl rund ein Drittel der privaten MiteigentümerInnen »juristische Personen«, also Unternehmen sind, werden diese im Geschäftsbericht nicht namentlich aufgeführt. Besondere Kuriosität: 1,52 Prozent der Stimmrechte der Nationalbank befinden sich in ausländischem Eigentum. Das ist vielleicht kein entscheidender Souveränitätsverlust, aber es widerspricht doch prinzipiell einem öffentlichen Gut und »Service Public«.
In Italien herrschen noch archaische Zustände: Die Banca d’Italia gehört sechzig privaten Banken und Sparkassen. Die sechs größten davon halten die Hälfte der Stimmrechte. Allein die Intesa Sanpaolo und die UniCredit vereinen hundert der 535 Stimmrechte auf sich.8
In historischer Betrachtung bilden sich also aus den wichtigsten Privatbanken zunächst private oder teilprivate Zentralbanken, die schrittweise in öffentliches Eigentum überführt, von der Regierung unabhängig werden und nach anfänglicher Koexistenz von »privaten« und offiziellen Banknoten das ausschließliche Recht auf Geldschöpfung übertragen bekommen, wenn auch noch nicht für Buchgeld. Dieser Prozess sollte in allen Demokratien fortgesetzt und (mithilfe der Geldkonvente) abgeschlossen werden, indem alle Zentralbanken vollständiges öffentliches Eigentum werden, indem die (gesamte) Geldausgabe ein exklusives Recht der Zentralbanken wird, indem diese so demokratisch wie möglich organisiert werden und indem die Beauftragung der Zentralbank klar und direktdemokratisch erfolgt.
Aufgrund der umfassenden Auswirkungen der Zentralbank-Politik auf alle Gesellschaftsbereiche ist es wichtig, dass auch alle Sektoren der Gesellschaft den Kurs der Zentralbank mitbestimmen können. Die Einbindung der Betroffenen in die Entscheidungen ist ein demokratisches Grundprinzip. Doch in den Zentralbanken sitzen ganz vornehmlich BankerInnen und sogar InvestmentbankerInnen. Sie sind nur ein kleiner Teil und nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft. Betroffen sind außerdem: UnternehmerInnen, ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen, Arbeitslose, der öffentliche Sektor, zukünftige Generationen und die Umwelt. Es wäre ganzheitlicher, dass die Entscheidungen der Notenbanken von einem gemischten Stakeholder-Gremium getroffen werden, um die wichtigsten Interessen ausgewogen abzubilden. In der schwedischen Reichsbank entscheiden immerhin die Gewerkschaften mit. Das zeigt, dass ein höheres Maß an Diversität möglich ist.
Die »Unabhängigkeit« der EZB lässt sich diskutieren, faktisch ist sie derzeit eine doppelte Farce: Zum einen befinden sich ausschließlich NotenbankerInnen in den Gremien, die grundsätzlich die Interessen der Eliten vertreten (die manchmal auch divergieren können). Zum anderen ist der statutarische bzw. gesetzliche Auftrag so unklar, dass die Entsandten der Nationalstaaten ihre jeweiligen VertreterInnen für die Durchsetzung nationaler Interessen instrumentalisieren können. Seit dem Beginn der Euro-Krise tobt in der EZB ein solcher Richtungskampf. Einige Mittelmeerländer unter der Führung von EZB-Chef Mario Draghi befürworten die »fiskal- und konjunkturpolitische« Funktion der Zentralbank, während der »hard core« unter der Führung des deutschen Direktors Jörg Asmussen, der wiederum auf den Schultern von Buba-Chef Jens Weidmann steht, die »geld- und stabiltätspolitische« Linie verficht. Diejenigen Staaten, die sich der Pleite entgegenschlittern sehen, wollen die Zentralbank verständlicherweise als billigen »lender of last resort« anzapfen; hingegen wollen diejenigen Staaten, die sich außerhalb der Gefahr einer Staatsinsolvenz sehen und die Rolle der »Transferzahler« fürchten, die »Unabhängigkeit« der Zentralbank wahren. Beides dient bestimmten Interessen. Während die »Anzapfer« die Linderung ihrer Staatsschuldenprobleme im Auge haben, wobei ihnen eine höhere Inflation durchaus zupasskäme, schützt die »Die-EZB-ist-tabu«-Fraktion die Geldvermögen und den Finanzplatz Frankfurt wie Deutschland. Sie fürchtet Inflation wie der Teufel das Weihwasser. Die Hardliner agieren jedoch kurzsichtig: Ihre rigide Haltung zur Inflation könnte in den nächsten Jahren über die Staatsinsolvenz der Schuldnerländer zu einem fatalen Bumerang gegen die Gläubiger werden, ein aus meiner Sicht sehr wahrscheinliches Szenario. (Was wiederum nicht bedeutet, dass die Draghi-Linie die Lösung der Euro-Krise wäre.)
Die »Unabhängigkeit« der Zentralbank ist eine ähnliche Illusion wie die »Objektivität« der Wissenschaft. Jede EZB-Entscheidung folgt einem bestimmten ideologischen Paradigma und bedient bestimmte Interessen. Deshalb sollten alle großen Interessengruppen gleich transparent und demokratisch in den Leitungsorganen der Zentralbank vertreten sein. Auch ein Multi-Stakeholder-Gremium würde keine perfekten Entscheidungen treffen, aber seine Entscheidungen werden sicher weniger fehlerhaft und einseitig sein als die Entscheidungen der Zentralbanken in ihrer derzeitigen Zusammensetzung.
In jedem Fall bedarf es eines klareren Auftrags als heute. Die vertraglichen Mandate der EZB widersprechen einander. Zum einen sagt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, dass die Union »nicht für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates haftet« und nicht für diese »eintritt«.9 Zählt die Zentralbank zur »Union«, dann darf sie also weder haften noch für Staatsschulden eintreten. Hingegen »verbietet« das Protokoll des Lissabon-Vertrages über die Zentralbank nur den »unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln [von Mitgliedstaaten] durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken«.10 Heißt das, dass der »mittelbare« Erwerb erlaubt ist? Wenn ja, begrenzt oder unbegrenzt? Staatsfinanzierung verboten, Aufkauf von Staatsanleihen auf den Märkten erlaubt: Mit einer so widersprüchlichen Zielvorgabe können die Bankgremien verständlicherweise nicht vernünftig arbeiten, sondern nur begründet streiten.
Die Aufgaben und Ziele einer Zentralbank sind genauso wenig ein Naturgesetz wie die Geld- oder Wirtschaftsordnung selbst. Entsprechend braucht es auch hier ein möglichst klares demokratisches Mandat. Die Aufgabe der Geldschöpfung zweifelt niemand an. Doch bei den Zielen der Geldpolitik gehen die Schulen auseinander wie die Lichtfunken eines Feuerwerks. Wir sehen uns die drei wichtigsten Schulen etwas genauer an:
1. Modell EZB: Laut Statut der Europäischen Zentralbank hat die Geldwertstabilität, also ein möglichst geringer Wertverlust durch »Inflation«, Vorrang vor allen anderen Zielen.11 Andere Ziele wie die »Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Union« werden angeführt, haben aber expliziten Nachrang hinter dem Stabilitätsziel. Welche sind die wichtigsten Vorteile von »stabilem Geld«? Eine niedrige Inflation nützt vor allem den Privatvermögen, die vor realer Entwertung geschützt werden. Nutznießer ist damit auch der Finanzplatz, dessen »stabile« Währung eine hohe Attraktivität genießt. Je verlässlicher das Versprechen der Zentralbank, für eine niedrige Inflation zu sorgen, desto interessanter ist diese Währung als Anlagewährung für Finanzinvestoren. Das Thema Inflation betrifft die »Stabilität des Innenwerts« einer Währung. Die »Stabilität des Außenwerts« bezieht sich auf den Wechselkurs. Zwischen beiden besteht ein Zusammenhang: Je stabiler ihr Innenwert, desto attraktiver wird eine Währung und desto mehr Investitionen werden in diesen Währungsraum fließen. Der Zustrom von Kapital stärkt wiederum den Außenwert, sprich den Wechselkurs zu weniger attraktiven (inflationsgefährdeteren) Währungen und Finanzplätzen. Der Wechselkurs ergibt sich aus Angebot und Nachfrage nach einer Währung: Gibt es viel Nachfrage wegen niedriger Inflation, steigt ihr »Preis«: der Wechselkurs. Was die FinanzinvestorInnen freut, gereicht den ExporteurInnen zum Nachteil. Je höher der Außenwert/Wechselkurs, desto teurer werden ihre Produkte im Verhältnis zu den Handelspartnern. Die Interessenlage unter den Unternehmen ist also keineswegs eindeutig, man könnte sogar sagen, dass Industrie und Finanz beim Thema »äußere Stabilität« gegensätzliche Interessen haben. Es sei denn, die Industriebetriebe wandeln sich in Finanzinvestoren und erzielen nur noch einen geringen Teil ihrer Einnahmen aus der Produktion. In der Tat ist diese Entwicklung zu beobachten. Siemens wird als »große Bank mit kleiner Werkbank« beschrieben, Novartis als »Großbank mit kleiner Apotheke«. Volkswirtschaftlich ist der Unternehmenssektor vom Nettoschuldner zum Nettogläubiger mutiert12, mit anderen Worten: In Summe teilen die Unternehmen das Interesse der Finanzinvestoren und nicht dasjenige von Handwerk, Gewerbe und Industrie. Die Konsequenz: Je stärker die Zentralbank auf den Außenwert achtet, desto einseitiger bedient sie die Interessen der Banken und Großkonzerne. (Je »schwächer« der Euro, desto besser für ExporteurInnen.) Dasselbe gilt schon zuvor für den Innenwert: Ein Abbremsen der Konjunktur zur Vermeidung höherer Inflation mithilfe höherer Zinsen (das Bremsseil der Geldpolitik) führt zu einem Rückgang der realen Investitionen der Unternehmen und damit zur Schaffung von weniger Arbeitsplätzen und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit. Während sich die Präferenz für höhere Zinsen auf den finanziellen Unternehmenserfolg insgesamt nicht negativ auswirken muss, weil die Unternehmen die Option haben, auf den Finanzmärkten zu investieren und gut zu verdienen – auch wenn das ihrem Zweck widerspricht –, haben die Arbeitssuchenden keine Wahl: Sie leiden unter höherer Arbeitslosigkeit, schlechteren Arbeitsbedingungen und sinkenden Einkommen. Auch hier hat also die »Parteistellung« der Zentralbank unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft. Und desto wichtiger ist a) eine möglichst demokratische Festlegung der Ziele der Bank und b) dass in den Entscheidungsgremien alle wichtigen Sektoren der Gesellschaft vertreten sind, nicht nur Banker.
2. Modell Fed: Die US-Zentralbank Federal Reserve ist vielfältiger statuiert. Das Zentralbankgesetz sieht als Ziel der Fed »langfristiges Wachstum der monetären und Kredit-Aggregate im Gleichschritt mit dem Wachstumspotenzial der Produktion« vor, wodurch »die Ziele maximale Beschäftigung, stabile Preise und moderate langfristige Zinssätze effektiv gefördert« werden können.13 Sie ist neben der Kreditversorgung der Wirtschaft und niedrigen Zinsen zwei zentralen makroökonomischen Zielen verpflichtet: Vollbeschäftigung und Geldwertstabilität, in dieser Reihenfolge. Da beide Ziele tendenziell miteinander im Konflikt stehen, ist das ein »spannender« Auftrag. Konkret kann die Fed-Leitung eine höhere Inflation in Kauf nehmen (höheres Wirtschaftswachstum, größere Geldmenge, stärkere Flutung der Banken mit Zentralbankkrediten), um damit die Beschäftigung zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Auch die Bank of England hat Spielraum. Im Sommer 2013 kündigte sie an, sie werde die Zinsen so lange niedrig halten, bis die Arbeitslosigkeit unter sieben Prozent gefallen ist.14
Die EZB darf das nicht, sie hat sogar eine Obergrenze für Inflation von zwei Prozent einzuhalten. Das sind zwei grundverschiedene Aufträge. Wer erteilt der Zentralbank diesen Auftrag? In der EU ist der Auftraggeber der Lissabon-Vertrag, die höchstrangige Rechtsgrundlage der Gemeinschaft. Und wer setzte diesen Vertrag in Kraft? Die Bevölkerung? Der Lissabon-Vertrag wurde den Bevölkerungen von ihrer Vertretung in dem vielleicht undemokratischsten Prozess, der je in der EU stattgefunden hat, aufgezwungen. Jean Claude-Juncker meinte damals über den EU-Verfassungskonvent: »Ich habe noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent.«15 Aus meiner Sicht ist der Lissabon-Vertrag nichtig, weil a) über ihn nicht von den Souveränen abgestimmt wurde, b) drei Souveräne in drei Volksabstimmungen gegen den »in der Substanz zu 95 Prozent gewahrten«16 Vorläufervertrag, den EU-Verfassungsvertrag, gestimmt hatten und c) die Regierungen die Serie der Volksabstimmungen bewusst abgebrochen hatten, weil sie – zu Recht – befürchteten, dass weitere Souveräne gegen den Vertrag stimmen würden. Nun ist er in Kraft, und mit ihm das Mandat der EZB. Dieses wurde aus dem Maastricht-Vertrag übernommen, schon dort hatten die Regierenden bestimmt, dass die Zentralbank dem Ziel der Geldwertstabilität Vorrang geben sollte vor Vollbeschäftigung. Dieser einseitige Auftrag geht auf einen historischen Kompromiss zwischen den Nationalstaaten zurück: Die deutsche Bundesbank war berühmt für ihre Politik der »harten D-Mark« und der damit einhergehenden geringen Inflation. Diese Position war Deutschland nur bereit aufzugeben, wenn der Erhalt der Geldwertstabilität in der zentralen EU-Bank Vorrang erhielt vor allen anderen Zielen. Man könnte sagen, Deutschland zwang den anderen Euro-Mitgliedstaaten seinen Willen auf. Das ist nicht nur demokratisch fragwürdig, es ist auch ökonomisch keine sinnvolle Grundlage für einen Währungsraum mit siebzehn Mitgliedstaaten, für die eine einheitliche Zentralbankpolitik quasi zum Schicksal wird.
Ergebnis der »Stabilitätsorientierung« der EZB war – neben der Binnendifferenzierung niedriger Realzinsen in den Hochinflationsländern wie Spanien oder Griechenland und hoher Realzinsen in den Niedriginflationsländern wie Deutschland oder Österreich – lange Zeit ein im Vergleich mit den USA hohes Realzinsniveau in der EU, dadurch ein langsameres Wirtschaftswachstum und eine höhere Arbeitslosigkeit. Kritische Analysen dazu hat unter anderem Stephan Schulmeister vorgelegt.17 Dagegen könnte man einwenden, dass ein langsameres Wirtschaftswachstum ökologisch besser sei als ein höheres, und die EZB damit dem Klimaschutz mehr gedient hätte als die Fed. Doch erstens war der Klimaschutz nicht das Ziel der EZB-Politik (bestenfalls ein unbeabsichtigter Nebeneffekt), und zweitens war der primäre (vielleicht beabsichtigte) Nebeneffekt der Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armutsgefährdung und Angst. Angesichts dieser vielfältigen Zielkonflikte und Handlungsalternativen einer Zentralbank ist eine genaue Klärung ihrer Ziele und Prioritäten bei der Auftragserteilung umso wichtiger.
3. Modell Alternative: Neben den klassischen Zielen von Fed und EZB gäbe es zumindest ein weiteres Ziel, das eine Zentralbank statutarisch verfolgen könnte: begrenzte Staatsfinanzierung. Staatsfinanzierung? Kaum ein Thema ist kontroverser als dieses. Staatsfinanzierung durch die Zentralbank ist das Ende jeder Währung, fürchten die einen. Die anderen entgegnen pragmatisch, dass dies doch schon alle Notenbanken praktizierten. Tatsächlich hält die Fed rund zwölf Prozent aller US-Staatsanleihen18, die Bank of England 25 Prozent aller britischen Staatsanleihen, und selbst die EZB, die das vielleicht gar nicht darf, hält über 200 Milliarden Euro an griechischen und anderen Staatsanleihen, das sind immerhin rund zwei Prozent der Staatsschulden der Euro-Staaten.
Nicht wenige sind der Ansicht, dass die Anleihekäufe widerrechtlich seien. Die offizielle Ausrede: Die EZB interveniert erst auf dem sogenannten »Sekundärmarkt«, also nachdem die Anleihen bereits auf den »Primärmarkt« gelangt sind. Was ist der Primärmarkt, und wie gelangen die Anleihen dorthin? Im sogenannten »Tender-Verfahren« versteigert die Staatsschulden- oder Bundesfinanzierungsagentur neue Schuldscheine an ein Bieterkonsortium von vierzig Banken in Deutschland und 26 in Österreich.19 Diese haben das exklusive Recht, neu ausgegebene Staatsanleihen auf dem »Primärmarkt« zu erwerben – oder diese zu verschmähen. Ist der Zinssatz oder das Ausfallsrisiko zu hoch, bleibt die Staatsagentur auf den Papieren sitzen – der Staat verliert den »Zugang zu den Märkten«. Einmalig wäre das kein Problem, doch wenn sich die Verweigerung wiederholt und der Staat seine alten Schulden nicht »refinanzieren«, sprich mit neu aufgenommenen Schulden zurückzahlen kann, ist er insolvent. Griechenland, Portugal, Irland und Zypern wurden von den diversen EU- und Euro-Rettungsschirmen vor der Staatsinsolvenz gerettet.
Könnten denn die Staaten nicht direkt von der Zentralbank finanziert werden? Dann wären die Staaten von den Märkten unabhängig, zudem könnte die Zentralbank, die das Geld aus dem Nichts schöpft, viel günstigere Konditionen bieten. Jesusmaria, alles nur das nicht, da entstünde ja sofort Megainflation!, rufen die Anhänger der Stabilität. Sie befürchten, dass die Geldmenge unkontrolliert anschwillt, die Kreditaufnahme des Staates in die Höhe schießt und als Folge davon die Preise. Historischer Brennpunkt ihrer Angst ist die Hyperinflation im Deutschland der 1920er Jahre. Diese war unter anderem durch lockere geldpolitische Zügel der Reichsbank ausgelöst worden. Das war wiederum der Grund für die rigide Inflationsbekämpfungspolitik (»Stabilitätsorientierung«) der Buba nach dem Zweiten Weltkrieg: die Angststrategie eines gebrannten Kindes. Oder besser eine Angstneurose: Wenn Geld, das man mit beiden Händen tragen muss, nichts mehr wert ist, und ein Leiterwagen und ganze Kutschen nicht ausreichen, um die Billionen für den täglichen Einkauf heranzukarren, ist das ähnlich wie in zwangsneurotischen Träumen, in denen Menschen in riesigen Räumen winzige Fliesen zählen müssen oder Steine an einem Flussufer … Die Hyperinflation der Zwischenkriegszeit brannte sich als tiefes Trauma im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ein, weshalb die paranoide Politik der Buba nicht lachhaft ist, sondern verständlich.
Doch Angst allein ist ein schlechter Ratgeber. Ganz nüchtern vorangetastet: Führt jede Staatsfinanzierung durch die Zentralbank sofort zu Inflation? Wie sehr würde sich die Bilanzsumme der EZB vergrößern, wenn die Euro-Mitgliedstaaten zwanzig, vierzig oder sechzig Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Form von zinsfreien Krediten der Zentralbank aufnehmen würden? Das BIP der Eurozone belief sich 2013 auf 9,6 Billionen Euro, die Bilanzsumme der EZB erreichte ihren bisherigen Höchststand bei 3,1 Billionen Euro, das sind 32 Prozent des Euro-BIP. Von daher würde sich die Bilanzsumme der EZB nicht wesentlich verändern, wenn die Mitgliedstaaten einen Teil der Schulden, die sie bei Geschäftsbanken haben, durch zinsfreie Kredite bei der EZB ersetzen würden.
Das hätte auch andere Vorteile: Der Staat würde dieses Geld viel verlässlicher in Umlauf bringen als die Geschäftsbanken. Denn die Geschäftsbanken geben, wie inzwischen auch so manches Kind weiß, nur einen (schrumpfenden) Teil der »Liquidität«, die sie bei der Zentralbank erhalten, an die Unternehmen in Form von Krediten weiter. Ein (wachsender) Teil wandert direkt ins globale Finanzcasino, wo es Blasen bildet (lat. »inflare« = aufblasen). Das heißt, wenn die Zentralbank den Geschäftsbanken Liquidität zur Verfügung stellt (und dabei die Geldmenge erhöht), kommt es gegenwärtig mit Sicherheit zu Inflation, wenn auch nicht dort, wo diese im Regelfall befürchtet wird: bei Lebensmitteln, Energie, Wasser und Gütern des täglichen Bedarfs, sondern bei Wertpapieren und Finanzanlagen wie Aktien, Immobilien, Rohstoffen, Währungen und Derivaten. Diese Inflation ist nicht ungefährlich, sie ist anders gefährlich: Sie führt nicht unmittelbar dazu, dass die Dinge des täglichen Lebens teuer oder gar nicht mehr leistbar werden, sondern zu systemischer Instabilität: zu Immobilienblasen, Aktienbubbles, schwankenden Wechselkursen und spekulativen Attacken auf Währungen. Die Zentralbank befeuert »Finanzinflation« und Finanzturbulenz, wenn sie den Geschäftsbanken via »Dicke Berta« Geld zur Verfügung stellt, und diese damit machen dürfen, was sie wollen. Ähnlich effektiv wäre es, Kindern ohne jede Begleitmaßnahme das Taschengeld zu erhöhen, in der Hoffnung, dass sie sich damit Gemüse und Obst kaufen …
Wie sehr bei den Zentralbanken genau das passiert, was auch passieren würde, wenn sie Staaten (in begrenztem Ausmaß) direkt finanzierten, zeigen die Zahlen: Die Bilanzsumme von drei Dutzend Zentralbanken aus Industrie- und Schwellenländern hat sich zwischen 2007 und 2012 von zehn auf zwanzig Billionen US-Dollar verdoppelt. Die EZB erhöhte von 875 Milliarden auf 3,1 Billionen, reduzierte dann aber bis Ende 2013 durch die Rückzahlungen von Geschäftsbanken wieder auf 2,3 Billionen. Die Fed erhöhte von 0,8 auf vier Billionen US-Dollar.20 Die Schweiz verfünffachte von knapp hundert Milliarden Schweizer Franken auf 550 Milliarden. Die japanische Notenbank will die Bilanzsumme auf sechzig Prozent des BIP ausweiten.21 (Gemessen am BIP hatte die US-Fed unter den »Big Four« Mitte 2013 mit 24,5 Prozent die kleinste Bilanzsumme. EZB: 25 Prozent, Bank of England: 25,3 Prozent, Bank of Japan: 44,4 Prozent.)
Das ist bemerkenswert: Die günstige Finanzierung von Staaten wird mit dem Argument zurückgewiesen, dass die einhergehende Ausweitung der Geldmenge Inflation auslösen würde, doch gleichzeitig finanzieren die Zentralbanken supergünstig die Geschäftsbanken, bei denen sich dann die Staaten sündteuer verschulden müssen. Geht es noch (ein wenig ineffizienter und ungerechter)? Der Vorwurf, dass es hier gar nicht um »sound«-Geldpolitik, sondern um Vorteilsverschaffung zugunsten der Geschäftsbanken geht, weil deren Einfluss auf die Zentralbank (immer noch) groß genug ist, ist bei so haarsträubender Faktenlage schwer zu entkräften.
Der Kreisverkehr ist noch um zwei Stufen absurder: Die Geschäftsbanken verlangen von den Staaten saftige »Risikoprämien«. Gleichzeitig haften die Staaten für die Geschäftsbanken, wenn diese sich verspekulieren. Die Geschäftsbanken wiederum halten Versicherungen für den Ausfall von Staatsanleihen. Doch wenn sie sich damit verspekulieren, müssen sie von den Staaten, die sie eigentlich versichern sollten, gerettet werden.
Um aus dieser widersinnigen Wechselbeziehung, bei der die Allgemeinheit verliert und die Geschäftsbanken gewinnen, auszusteigen, folgt hier ein Alternativvorschlag, der im nächsten Kapitel im Detail ausgeführt wird. Zunächst geht es nur um die prinzipielle Beauftragung der Zentralbank mit der – begrenzten – Finanzierung von Staaten. Wenn die Euro-Staaten beispielsweise zwanzig, vierzig oder sechzig Prozent ihrer Wirtschaftsleistung als Kredit direkt bei der Zentralbank aufnähmen, wären das 2,2 Billionen Euro, 4,4 Billionen Euro oder 6,6 Billionen Euro – also tatsächlich eine Ausweitung der Bilanzsumme der EZB, aber keine allzu dramatische. Der Unterschied wäre:
a) die Staaten könnten sich nahezu kostenlos verschulden;
b) die Bilanzsummen der Banken würden schrumpfen;
c) die Geldmenge bliebe gleich.
Und was ist mit der Inflationsgefahr? Ich sehe sie nicht: Die Staatsausgaben würden ja nicht hochschnellen, die Staaten würden sich nur günstiger finanzieren. Dadurch ergäben sich Einsparungen beim Schuldendienst, die wiederum dafür verwendet werden könnten, die inhumanen Sparprogramme und Kürzungen zu stoppen. Damit wird nicht Inflation generiert, sondern die seit Krisenausbruch lauernde und derzeit gefährlichere Deflation gebannt.
4. Monetative: Um »reinen Tisch« bei den Beziehungen zwischen Geschäftsbanken, Staat und Zentralbank zu machen, schlagen die Mitglieder des Vereins »Monetäre Modernisierung« eine »Monetative« als vierte Staatsgewalt vor: eine unabhängige öffentliche Zentralbank mit einem klaren demokratischen Auftrag. Die Monetative steht »für einen eigenständigen Bereich öffentlich-rechtlicher Organe, denen es obliegt, die staatliche Geld- und Währungshoheit auszuüben, unabhängig von den anderen Staatsgewalten und verantwortlich für die Bereitstellung der gesetzlichen Zahlungsmittel, die Kontrolle ihres Mengenumlaufs, das nationale Devisenmanagement sowie gegebenenfalls auch Aspekte der Bankenaufsicht (…) Ein souveräner Staat sollte in Ergänzung seiner legislativen, administrativen und judikativen Souveränität auch monetäre Souveränität genießen und nicht vom Wohl und Wehe kommerzieller Kredit- und Investmentbanken abhängig sein.«22
Der Sinn dahinter ist eine weitere Ausdifferenzierung der Gewaltentrennung: »Die Aufgabe der Parlamente [und des Souveräns, Anm. d. Autors] besteht darin, eine Rechtsordnung für das Geldsystem, die Banken und die Finanzmärkte vorzugeben, nicht jedoch, selbst Geldschöpfung oder Bankengeschäfte zu betreiben«, schreibt Joseph Huber. Und auch nicht, Erstere an private Banken zu übertragen, wie im Fall der USA, ergänze ich. Aus diesem Grund hält Huber eine »Monetative als eine in der Verfassung verankerte vierte Gewalt« für das »ordnungspolitisch Richtigere«.23
Die BefürworterInnen der Monetative bestätigen mit ihrem Vorschlag die Idee der Unabhängigkeit der Zentralbank und verstärken sie noch: »Wichtig ist, dass die Zentralbanker, einmal im Amt, niemandem weisungsgebunden sind. Ihre Unabhängigkeit ist ein funktionales Erfordernis.«24 Das verhalte sich gleich wie mit der Unabhängigkeit der Justiz. Auch hier käme es – und kommt es – zu Interessenkonflikten: Es müsse »unbedingt gewährleistet sein, dass die Regierung nicht selbst bestimmt, wie viel Geld geschöpft wird«.25
Aufgrund der Öffnung der Finanzmärkte stehen Staaten als Schuldner
mit anderen Staaten, aber auch mit privaten
Schuldnern im Wettbewerb um die weltweiten Ersparnisse.
Rolf-E. Breuer1
Durch die Vollgeld-Reform könnte also, wie schon gezeigt wurde, die Staatsschuldenlast in den USA um die Hälfte reduziert werden, in Deutschland und Österreich um gut drei Viertel, und in der Schweiz könnte sie zur Gänze getilgt werden. Außerdem wurde andiskutiert, dass die Zentralbanken einen Beitrag zur Staatsfinanzierung leisten könnten, indem sie den Staaten – in begrenztem Ausmaß – zinsfreie Kredite zur Verfügung stellen. Diese Ankündigung wird hier zu einem konkreten Vorschlag ausgebaut, wie das Staatsschuldenproblem ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden kann, zumindest in der EU und der industrialisierten Welt.
Warum verschulden sich denn Staaten überhaupt? Manche Menschen sind der Ansicht, dass Staaten sich überhaupt nicht verschulden sollten, das steht auch im Grundgesetz: »Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.«2 Der Gedanke dahinter: Jede Generation soll für die Leistungen bezahlen, die sie konsumiert. Genau das ist allerdings ein Argument für Staatsschulden. Denn ein Teil der Investitionen kommt mehreren Generationen zugute, zum Beispiel Krankenhäuser, Straßen oder Bahnhöfe. Nach dem Generationengerechtigkeitsprinzip müsste es Staaten erlaubt sein, sich in dem Maße zu verschulden, wie der Nutzen gegenwärtiger Investitionen künftigen Generationen anteilsmäßig zugutekommt. Das ließe sich mit einfachen Formeln berechnen.
Staatliche Leistungen an die gegenwärtige Generation, von Verwaltung und Infrastruktur über soziale und öffentliche Sicherheit bis zum Gesundheits- und Bildungssystem, sollten über Steuern finanziert – oder aufgeschoben werden. Werden die Kosten des Konsums der gegenwärtigen Generation künftigen Generationen aufgebürdet, ist der Verteilungskonflikt zwischen denjenigen, welche die Leistung in Anspruch nehmen, und denjenigen, welche sie bezahlen, nicht gelöst, sondern nur verschoben: Die GläubigerInnen des Staates werden von den SteuerzahlerInnen von morgen bedient anstatt von denjenigen SteuerzahlerInnen, welche diese Leistungen konsumieren. So wird die Lösung eines Problems einer Generation angelastet, die keinerlei Mitsprachemöglichkeit bei dessen Schaffung hatte. Das ist nicht gerecht. Die Schlüsselfrage ist, welchen Anteil eines laufenden Haushaltes »Zukunftsinvestitionen« ausmachen, und auf wie viele Jahre diese verteilt werden. Daraus ergibt sich die höchstzulässige Staatsschuldenquote.
Neben den Zukunftsinvestitionen gibt es noch einen zweiten guten Grund, weshalb sich ein Staat verschulden dürfen sollte: um Konjunkturschwankungen auszugleichen und insbesondere Rezessionen abzufedern. Dann würde die berühmte »antizyklische Budgetpolitik« nach John Maynard Keynes zur Anwendung kommen: Der Staat nimmt in der Rezession Schulden auf, um den Abschwung abzufangen und die Wirtschaft ins Gleichgewicht zurückzubringen. In der Hausse hingegen spart er und zahlt die in der Flaute aufgenommenen Schulden zurück. Falls der »gesamte« Vorschlag von Keynes praktiziert wird, ist dessen mittelfristige, über den Konjunkturzyklus reichende Auswirkung auf die Staatsschuldenquote neutral, diese nimmt weder zu noch ab. Allerdings praktizieren Regierungen gerne nur den ersten Teil – Schuldenaufnahme in der Rezession –, aber nicht den zweiten: die Rückzahlung der Schulden bei wiederangesprungener Konjunktur. Zudem kann es sein, dass just dann eine Rezession eintritt, wenn ein Staat sein Schuldenmaximum erreicht hat – dann würde eine Schuldenaufnahme dazu führen, dass das Verschuldungslimit überschritten wird. Das spricht dafür, dass antizyklische Budgetpolitik zwar erlaubt sein soll, und damit die Finanzierung von aktuellen öffentlichen Leistungen in den Folgejahren, jedoch führt diese Handlungsoption von Regierung und Parlament nicht zu einer Erhöhung des Schuldenlimits (außer allenfalls eines kleinen Puffers), sie müssen daher eine mögliche Rezession stets einplanen – oder die im Folgenden vorgeschlagenen Konsequenzen ziehen.
1. Staaten dürfen sich bis zu einer festgelegten Grenze ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) zinsfrei bei der Zentralbank verschulden, z.B. 25 Prozent, fünfzig Prozent oder 75 Prozent.
2. Das Verschuldungsrecht des Parlaments ist mit diesem Limit begrenzt und zudem bedingt: Die Kredite dürfen nur aufgenommen werden, wenn a) damit öffentliche Leistungen finanziert werden, die zukünftigen Generationen zugutekommen; oder b) ein Konjunktureinbruch antizyklisch abgefedert wird.
3. Um zu entscheiden, ob und in welchem Maße der Verschuldungsmechanismus in Anspruch genommen werden darf, wird eigens ein »Zukunftskomitee« gewählt – zusammengesetzt aus VertreterInnen der Unternehmen, der Gewerkschaften, des Umweltsektors, der Sozialverbände und anderer Interessengruppen –, das die Anfragen des Budgetausschusses des Parlaments im Rahmen des verfassungsmäßigen Verschuldungslimits genehmigt, modifiziert oder ablehnt.
4. Auf diese Weise können die Staatsschulden durch die unmittelbare Budgetpolitik nicht aus dem Ruder laufen, weil das Schuldenkomitee zugleich dazu verpflichtet ist, auf die Einhaltung des Verschuldungsrahmens zu achten. Anfragen des Parlaments, welche die Verschuldungsgrenze übersteigen, werden abgelehnt – es sei denn, die Bevölkerung stimmt in einer Volksabstimmung einer Anhebung der verfassungsmäßigen Verschuldungsgrenze zu.
5. Wird aufgrund der Nichterfüllung des Budgetplans – geringere Staatseinnahmen, höhere Staatsausgaben, instabile Konjunktur, korrupte Regierung – die Verschuldungsobergrenze überschritten, treten automatische Stabilisatoren in Kraft: eine Schuldenbremse. Im Unterschied zu einer ausgabenseitigen Schuldenbremse (Kürzung der Staatsausgaben) plädiere ich jedoch für eine einnahmenseitige Schuldenbremse (Erhöhung der Staatseinnahmen), um den Fehler zu vermeiden, dass wertvolle öffentliche Leistungen gekürzt oder gestrichen werden, was sich speziell in Zeiten der Rezession kontraproduktiv auswirkt (siehe Griechenland, Portugal und Spanien). Eine ausgabenseitige Schuldenbremse vertieft die Rezession und führt zur Notwendigkeit einer noch härteren Schuldenbremse, welche die Rezession weiter vertieft … »In der Makroökonomie schrumpft man sich immer krank, nie gesund«, bringt es Stephan Schulmeister auf den Punkt.3
6. Die höheren Steuern sollen dabei »konjunkturneutral« sein, also solche, die weder den Konsum noch die Arbeitsbereitschaft dämpfen. Dafür kommen am ehesten Erbschafts- und Vermögenssteuern auf Großvermögen in Frage, weil sie weder den Konsum beeinträchtigen noch die Leistungsbereitschaft zügeln, sondern vielmehr die Spekulation. Die Privatvermögen sind im Durchschnitt der Eurozone rund fünfmal so hoch wie die Staatsschulden, und rund zwei Drittel des Gesamtvermögens werden von zehn Prozent der Bevölkerung gehalten. Die »automatischen Stabilisatoren« würden auf diese Weise weder die Unter- noch die Mittelschicht treffen, sondern die Wohlhabendsten, die ein so großes Vermögen haben, dass sie es weder verkonsumieren noch real investieren (können), sondern auf den Finanzmärkten veranlagen (müssen) und von Kapitalrenten leben.
7. Die automatischen Stabilisatoren treten nur in einer außergewöhnlichen Situation in Kraft: wenn das geplante Budget, das sich innerhalb der verfassungsmäßigen Verschuldungsgrenze bewegen muss, aus dem Ruder läuft, was im Grunde nur bei einer plötzlichen Rezession passieren kann. Bei »normalem« Wetter müsste die Regierung äußerst inkompetent agieren und der Budgeterfolg deutlich hinter der Planung zurückbleiben. Dann war es aber schlussendlich die Entscheidung des Souveräns, diese inkompetente Regierung zu wählen und damit die Konsequenzen mit in Kauf zu nehmen. Als »Preis« für die schlechte Wahl werden – vorübergehend – die Steuern erhöht. Der größte Vorteil: Die Staatsschulden bleiben unabhängig von der Kompetenz der Regierung im (Verfassungs-)Rahmen – und die Kosten für die Staatsschulden bei null. Das wäre der entscheidende Gewinn gegenüber heute: Die WählerInnen müssen nicht mehr ohnmächtig zusehen, wie die Regierungen die Staatsschulden ungebremst in die Höhe treiben. Oder aber wie sie mit ausgabenseitigen »Schuldenbremsen« das Gegenteil bewirken: das weitere Ansteigen der Schulden, weil das Kürzen von Staatsausgaben in der Rezession diese verlängert und das Defizit erhöht.
8. Das häufigste Argument gegen die direkte – auch begrenzte – Finanzierung von Staaten durch die Zentralbank ist, dass dadurch die Geldmenge erhöht und Inflation ausgelöst würde. Doch wie bereits im vorigen Kapitel argumentiert, sehe ich bei diesem Vorschlag keine Inflationsgefahr, denn die einzige systemische Änderung besteht darin, dass sich Staaten direkt bei der Zentralbank verschulden anstatt bei den Geschäftsbanken, die sich ihrerseits über die Zentralbank finanzieren (ein unnötiger und teurer Umweg) oder über Geldschöpfung (die Ausweitung der Geldmenge führt sicher zu Inflation!). Das Volumen der Staatsschulden würde nicht steigen, sondern im Gegenteil sogar sinken, und damit die Inflationsgefahr. Das, was die Bilanzsumme der Zentralbank zunähme, gäben die Bilanzsummen der Geschäftsbanken zum Teil oder zur Gänze ab – ein Nullsummenspiel. Die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank pendelt gegenwärtig zwischen drei und vier Billionen Euro. Fünfzig Prozent der Wirtschaftsleistung der Eurozone, das mögliche Schuldenmaximum, waren 2013 4,8 Billionen Euro: nicht einmal im Grenzfall eine gravierende Änderung. Wird die Euro-Krise hingegen weiterhin so gemanagt wie bisher, wird die Bilanzsumme der EZB mit Sicherheit auf weit über fünf Billionen Euro anwachsen, möglicherweise sogar in Richtung hundert Prozent des BIP, mit dem Unterschied, dass hier kaum ein Hahn kräht – vielleicht, weil die Geschäftsbanken davon profitieren.
9. Falls es kein Nullsummenspiel wäre – nicht alle Staatsanleihen werden von Geschäftsbanken gehalten, und nicht alle von Geschäftsbanken gehaltenen Staatsanleihen sind aus dem eigenen Währungsraum – und wider alle Erwartungen Inflation drohen sollte, bleiben der Zentralbank immer noch diverse Instrumente, um im Fall des Falles die Geldmenge und die Inflation zu zügeln: Sie kann zum Beispiel privates Finanzvermögen »absaugen«, indem sie eine eigene Einlagenfazilität dafür schafft. Damit ließen sich Geldmenge und Inflationsgefahr verringern.
10. Der wichtigste Punkt: Den Geschäftsbanken müsste das Recht genommen werden, selbst die Geldmenge zu erhöhen und damit Inflation zu verursachen, wenn auch unmittelbar »nur« auf den Finanzmärkten, was im gegenwärtigen Sinnlossystem der Fall ist. Die Frage der Inflationsbekämpfung ist aus meiner Sicht mehr eine Frage der Bankenregulierung – Stichwort VollgeldReform plus Kreditregulierung – und weniger eine Frage der Bilanzsumme der Zentralbank, wenn deren moderate Ausweitung der begrenzten und bedingten Staatsfinanzierung dient.
Die Staatsschuldenfinanzierung über die eigene Zentralbank hätte erhebliche Vorteile für die Allgemeinheit:
– Zinsersparnis/Gerechtigkeit: Deutschland gab 2012 je nach Berechnung 65 oder 69 Milliarden Euro für den gesamtstaatlichen Schuldendienst aus: eine genauso unnötige wie ungerechte Staatsausgabe.4 Das Steuergeld wäre besser in Schulen, Spitäler, soziale Sicherheit, kommunale Infrastruktur und in den ökologischen Umbau der Wirtschaft investiert. In Österreich werden es 2014 nach Budgetplan 8,1 Milliarden Euro oder 2,75 Prozent der Wirtschaftsleistung sein. In Spanien prognostiziert die Regierung für 2015 unfassbare 45 Milliarden Euro an Zinsen für die Staatsschuld. Und das bei über fünfzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit.5 45 Milliarden sind beinahe das Doppelte des von der Troika oktroyierten Sparpakets. Spanien wird zu schmerzhaftem Sparen genötigt, nicht einmal um Schulden zu tilgen, sondern nur um die Zinsen zu zahlen! Bei Betrachtung der Alternativen wird klarer, in wessen Interessen die »Destroika« Politik macht – und warum kaum jemand auf die Idee kommt, Staaten könnten sich über zinsfreie Kredite bei der eigenen Hausbank refinanzieren.
– Souveränität: Eigentlich ist es absurd, dass sich freie Staaten selbst verbieten, sich ihrer eigenen – kostenlosen – Geldquelle zu bedienen, und sich lieber in die Abhängigkeit der »Märkte« begeben, obwohl diese über keinerlei ethische Mechanismen verfügen, im Gegenteil: Den MarktakteurInnen geht es an erster Stelle um Profit, egal, ob dieser durch Wucher, Austerizid, spekulative Attacken oder den Handel mit Versicherungen gegen den Staatsbankrott, über die man denselben mit herbeiführen kann, zustande kommt. Die Entscheidung, Staaten über die Märkte zu finanzieren, ist aus demokratischer Sicht eine beschämende Selbstaufgabe der Souveränität. Oder, aus anderer Perspektive, ein Putsch der Parlamente, die all diese Entscheidungen verantworten, gegen die Souveräne.
– Stabilität: Im globalen Finanzcasino würde einer der großen Spieltische geschlossen: der Spieltisch der Staatsanleihen – inklusive der Versicherungen gegen ihren Ausfall und mit dazu ein zweifelhaftes Arbeitsfeld der Rating-Agenturen: das der Beurteilung souveräner Staaten. Damit wären einige Instabilitätsfaktoren aus dem Gesamtgefüge entfernt. Da die Spieltische miteinander verbunden sind, würde auch auf dem benachbarten Spieltisch der Währungsspekulation Ruhe und mehr Stabilität einkehren, denn spekulative Attacken auf Währungen sind viel verlockender, wenn Staaten bankrottgehen können. Mit der Umsetzung des Vorschlags wäre dies extrem unwahrscheinlich: Noch eine Party im Finanzcasino wäre zu Ende. Der Vorschlag würde somit gleich mehrere Beiträge zu systemischer finanzieller Stabilität leisten. Nicht zuletzt wäre die Euro-Krise zu Ende.
Ideen, Kunst, Wissen, Gastfreundschaft und Reisen sollten international sein. Dagegen sollten Waren lokal erzeugt werden, wo immer dies vernünftig möglich ist; vor allem aber die Finanzen sollten weitgehend im nationalen Kontext verbleiben.
John Maynard Keynes
In einer demokratischen Geldordnung ist es nicht nur von grundlegender Bedeutung, a) wer das Geld schöpft, b) auf welchem Weg das Geld zu den Kreditinstituten kommt (ex nihilo von der Bank erschaffen, als Zentralbankkredit oder über Staatsausgaben als Spareinlage des Publikums), c) welche Ziele Kreditinstituten vorgegeben sind (nächstes Kapitel), sondern auch, damit ganz eng in Zusammenhang stehend, d) für welche Verwendungszwecke Kredite vergeben werden dürfen.
Die Frage, wohin Geld fließt oder hin(ein)gegossen (lat. »in-vertere« = hineingießen) wird, ist entscheidend für eine menschliche Gesellschaft. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob eine Biobäuerin einen Kredit erhält oder eine Agrarfabrik mit 100.000 Masttieren im Stall. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ein Konsumkredit in ein Solarmobil, eine Bahncard 1. Klasse oder ein SUV fließt. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ein aufgenommener Kredit zur Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze führt oder ob riskante Finanzpapiere auf Pump gekauft werden. Es macht einen Unterschied, ob …
Mit Kredit kann zu viel Schaden angerichtet werden – und wurde bereits angerichtet, als dass dieser gänzlich dem (nur scheinbar wertfreien) Spiel der Märkte überlassen werden könnte. Präziser: Mit Kredit wird so viel Schaden angerichtet, weil Märkten die Bewertung überlassen wird, ob ein Kredit »gut« (ausreichende »Bonität«) oder »schlecht«, der Finanzierung »würdig« oder »unwürdig« ist. Märkte sind nicht wertfrei, sondern über alle Maßen »wertend«: Auf dem Markt wird der Wert aller Produkte und Leistungen in Geld ausgedrückt, in vielen Fällen ganz unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Wert und Nutzen. In nicht wenigen Fällen steht der Preis (Tauschwert) in radikalem Widerspruch zum Wert (Nutzen). Oftmals haben die gesellschaftlich wertvollsten Leistungen, die am meisten zum Wohl der Allgemeinheit beitragen, und von daher die wirtschaftlich wertvollsten Leistungen mit dem höchsten Tauschwert sein müssten, gar keinen Tauschwert oder einen sehr geringen. Hingegen erzielen »Leistungen«, welche die Umwelt zerstören oder Beziehungen zerrütten, den höchsten Tauschwert (Marktpreis), weil das System der ökonomischen Bewertung und Erfolgsmessung derzeit nicht auf die Ziele des Wirtschaftens abgestimmt ist, sondern auf die Bedürfnisse des Kapitals (Kapitalismus). Tätigkeiten und Produkte, welche zur Vermehrung des Kapitals führen, erzielen einen hohen Marktpreis und erhalten am leichtesten Kredit, vollkommen losgelöst von ihrem ethischen Gehalt und ihrem Beitrag zum Ziel des Wirtschaftens. Was ist das Ziel des Wirtschaftens? »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl«, steht in der bayerischen Verfassung.1 Die italienische Verfassung verlangt, dass »die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet werden«.2 Im Grundgesetz steht, dass »Eigentum verpflichtet« und sein Gebrauch »zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« soll.3 Die spanische Verfassung sieht vor, dass »das gesamte Vermögen des Landes (…) dem Allgemeininteresse untergeordnet ist«.4 Der Geist der Verfassungen ist klar und einstimmig. Wenn aber das Gemeinwohl das Ziel des Wirtschaftens ist, dann ist es doch mehr als merkwürdig, dass Kredite heute in keiner Weise auf ihren Beitrag zu diesem Verfassungsziel hin geprüft werden, oder nicht? Das ist widersprüchlich und ineffektiv. Alles, was der Kapitalmehrung dient, wird finanziert und kreditiert; doch ob es dem Leben, der Befriedigung von Bedürfnissen, den Beziehungen und dem Gemeinwohl dient, ist kein Thema. Wenn alle wirtschaftliche Tätigkeit dem Gemeinwohl zu dienen hat oder wenigstens zugleich (Grundgesetz), dann ist purer Kapitalismus, dann sind Geld-aus-Geld-Geschäfte verfassungswidrig: Wenn Eigentum zugleich der Allgemeinheit dienen muss, dann muss dieser Gemeinnutzen geprüft werden, bevor ein Kredit fließt. Wenn gilt, dass »Kapitalbildung kein Selbstzweck ist, sondern Mittel zur Entfaltung der Volkswirtschaft«, wie es in der bayerischen Verfassung steht (Art. 157), dann muss der Zweck überprüft werden, bevor das Mittel gewährt wird. »Geld und Kredit als öffentliches Gut« könnte bedeuten, dass a) Kredite dem verfassungsmäßigen Ziel des Wirtschaftens dienen müssen, b) bei der Kreditvergabe ihr Beitrag zum Ziel geprüft werden muss, und c) die Verfassung entsprechende Richtlinien vorgeben muss, wozu Kredite verwendet werden dürfen und wozu nicht.
Kredit ist etwas anderes als Geld, und während die Verwendung des Geldes im Besitz von Privatpersonen relativ frei sein kann, hat Kredit einen öffentlicheren Charakter, ist eine Stufe »weniger privat«. Man könnte sagen: Über unseren unmittelbaren Geldbesitz haben wir eine größere Verfügungsfreiheit (obwohl auch hier die Gemeinwohl-Pflicht gilt, siehe deutsches Grundgesetz) als bei der »zusätzlichen« Inanspruchnahme des öffentlichen Gutes »Kredit«. Für dessen Bereitstellung trägt der Staat Verantwortung, indem er private und öffentliche Banken beauftragt, das Kreditgeschäft wahrzunehmen – unter der Vorgabe verfassungsmäßiger Richtlinien, um das Gemeinwohl zu schützen. Dieser Geist ist bereits heute ansatzweise in der Schweizer Verfassung enthalten: »Der Bund kann im Kreditwesen nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen.«5 Dass die vollkommene Zurückhaltung des Staates bei der Kreditsteuerung enormen und vermeidbaren individuellen (z.B. Zwangsdelogierung, Privatinsolvenz) und gesamtgesellschaftlichen (systemische Instabilität mit Massenarbeitslosigkeit, Hunger durch Lebensmittelspekulation …) Schaden verursacht hat, sollte als Begründung ausreichen, um hier einen sanften Regulierungsansatz – öffentliche Aufgabe, private Ausführung, verfassungsmäßige Richtlinien – zu wählen. Auch Joseph Huber argumentiert in diese Richtung: »Sowohl das umlaufende Geld als auch die erteilten Kredite können (…) als öffentliches Gut verstanden werden, ähnlich wie die Gesundheit oder die Mobilität unserer Gesellschaft.«6
Der Kredit ist schon heute nicht »frei«. Die Basel-Regeln und die Umsetzung auf EU- und Mitgliedstaatenebene schreiben sogar recht genau vor, unter welchen Bedingungen ein Kredit vergeben werden darf und welche Sicherheiten hinterlegt werden müssen. Es geht also bloß darum, neben der finanziellen Bonitätsprüfung, die heute bereits rechtlich vorgegeben ist, auch eine ethische Kreditprüfung zu entwickeln und ebenso rechtsverbindlich zu machen.
Der vollkommene Regulierungsverzicht bei der ethischen Kreditprüfung steht in auffallendem Kontrast zur rigiden Regulierung bei der finanziellen Bonitätsprüfung jedes Investitionsvorhabens durch die Basler Regeln, unter denen Banken ächzen und bisweilen sogar anführen, dass mit diesen Regeln gar kein rentables Bankgeschäft mehr möglich ist. Der Gesetzgeber mischt bei der finanziellen Risikofeststellung bis in kleinste Details mit, eine ethische Kredit-Prüfung existiert dagegen erst gar nicht. Die Verfassungswerte – Menschenwürde, Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Demokratie – sind aber wertlos und nichtig, wenn Kredite ausschließlich aufgrund finanzieller Performance-Kennzahlen vergeben werden. Heute ist beinahe alles erlaubt, was sich finanziell rentiert – völlig unabhängig davon, wie sinnvoll, nachhaltig, ethisch oder sozial ein Projekt ist. Hierbei handelt es sich um eine extreme Verstümmelung der Kreditbewertung. »Heilung« (= Ganzwerdung) ist der Auftrag für die kommenden Jahre. Für die BankerInnen wird es ein Gewinn sein, wenn sie neben betriebswirtschaftlichen und mathematischen Kompetenzen auch Ethikunterricht nehmen müssen. Einer von ihnen, GLS-Bank-Vorstand Thomas Jorberg, sieht das heute schon so: »Ich sehe das Hauptproblem in unserer Entscheidungsmatrix bei Investitionen und in der Geldanlage. Bei gleichem Risiko und gleicher Laufzeit entscheidet immer die Höhe des Zinssatzes, was mit dem Geld passiert. Völlig außer Acht lassen wir dabei, was mit dem Geld finanziert wird. Dies sehe ich als den Kern des Problems an.«7
Auch bei der finanziellen Bonitätsprüfung gibt es Schwachstellen im gegenwärtigen Kreditregime. Die finanzielle Bonitätsprüfung evaluiert heute ausschließlich das jeweilige Kreditprojekt selbst, um die Wahrscheinlichkeit des Ausfalls des Kredits (1. Gefahrenebene) und damit die Gefahr einer Insolvenz des Kreditinstituts (2. Gefahrenebene) zu minimieren. Ob die Verwendung des Kredits jedoch die systemische Stabilität des Finanzsystems gefährdet (3. Gefahrenebene), ist nicht Gegenstand der finanziellen Bonitätsprüfung. An Basel II wurde (zu Recht) kritisiert, dass es die systemische Instabilität doppelt verstärkt: zum einen, weil Banken in der Rezession aufgrund der starren Kreditvergabe-Regeln den Unternehmen die Kredite verweigern müssen – in der Rezession sinkt die Bonität der Unternehmen generell, und ein Teil ihrer Sicherheiten verliert an Wert, weshalb gleiche Unternehmen und gleiche Sicherheiten in der Rezession weniger Kredite erhalten; zum anderen, weil riskante und hochriskante (Hebel-)Kredite uneingeschränkt zulässig sind und auch mit Basel III weiterhin bleiben. Eine Prüfung der Gefährdung der Systemstabilität ist nicht vorgesehen. Beispielsweise werden Hedge-Fonds auch in Zukunft nicht reguliert, sondern nur ihre Manager registriert (siehe Kapitel 7). Eine Prüfung der Wirkung von Krediten auf die Verteilungsgerechtigkeit findet schon gar nicht statt, obwohl die Verteilung äußerst relevante systemische Auswirkungen hat: Je stärker sich der Reichtum in wenigen Händen konzentriert, desto mehr »Spielgeld« steht diesen zur Verfügung, das wiederum riskant eingesetzt, sprich hebelverstärkt werden kann. Basel III ist auch auf dem »Verteilungsauge« blind.
Geld fließt heute dorthin, wo der größte Return on Investment erwartet wird – vollkommen losgelöst von Sinn-, Ethik- und Zielfragen. Volkswirtschaftlich betrachtet wird der äußerst wirkungsvolle und sensible Steuerungshebel »Kredit« in Bezug auf die Verfassungsziele und -werte überhaupt nicht eingesetzt. Dadurch kann er auch nicht wirken. Im demokratischen Design der Geldordnung fehlt ein entscheidendes Element: das der Kreditsteuerung.
Wir könnten uns an die Frage der Kreditsteuerung mit drei Grundsatzfragen annähern:
1. Soll der Beitrag eines Kredits zum Ziel des Wirtschaftens gemessen werden? Sollen Banken Kreditvorhaben neben einer finanziellen Bonitätsprüfung auch einer ethischen Bonitätsprüfung unterziehen müssen?
2. Sollen Kredite auch für »spekulative« Finanzinvestitionen oder ausschließlich für (produktive) Realinvestitionen vergeben werden dürfen?
3. Sollen Kredite vorrangig in der Region vergeben werden, in der die BankkundInnen ihre Finanzvermögen einlegen?
1. Ethische Bonitätsprüfung
Die erste Frage ist der Kern der Kreditregulierungs- oder -steuerungsfrage: In die Produktion welcher Werte soll Geld fließen? In welche Sinnrichtung? Ist die Generation von Finanzwerten ausreichend? Oder ist es nicht gleich wichtig – oder sogar noch wichtiger –, dass Nutzwerte geschaffen werden, um damit Bedürfnisse zu befriedigen, um das Gemeinwohl zu mehren; und dass dabei Verfassungswerte geachtet werden wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit und Demokratie? Was ist das volkswirtschaftliche Ziel von Investitionen und Krediten? Wenn das Oberziel »der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit« das Gemeinwohl ist, dann müssen die Mittel des Wirtschaftens, wie beispielsweise die Kreditvergabe, diesem Ziel dienen. Streng logisch bräuchte es somit eine Gemeinwohl-Prüfung jedes einzelnen Kredits. In der bayerischen Verfassung steht über die Ziele des Geld- und Kreditwesens: »Das Geld- und Kreditwesen dient der Werteschaffung und der Befriedigung der Bedürfnisse aller Bewohner.«8 Wenn die Kreditvergabe der »Bedarfsdeckung« der Bevölkerung dienen muss, heißt das im Umkehrschluss, dass Kredite, die nicht »der Befriedigung der Bedürfnisse der Bewohner« dienen, gemäß der bayerischen Verfassung verfassungswidrig sind? Und welche Werte sind mit »Werteschaffung« gemeint? Nutzwerte oder Tauschwerte? Wird der Bedarf der Bevölkerung, werden menschliche Bedürfnisse mit Tauschwerten (Geld) oder Nutzwerten (Essen) gedeckt? Streng logisch können nur Nutzwerte gemeint sein, weil sie allein »Bedarf decken« können. Heißt das wiederum, dass Kredite, die aufgenommen werden, um Geld zu vermehren, ohne Nutzwerte zu schaffen und ohne Bedarf zu decken, verfassungswidrig sind? Was bedeutet es konkret, dass der Bund im Kreditwesen von der Wirtschaftsfreiheit abweichen darf? Die demokratischen Geldkonvente müssen nicht bei null beginnen, sie können auf einem überraschend konkreten Fundament aufbauen. Es braucht aber im Verfassungstext mehr Präzision als bisher: Welche Werte sind gemeint? Welche Konsequenzen hat dies? Was ist mit Krediten, die zwar realen Bedarf decken, dabei aber menschliche und ökologische Werte zerstören, zum Beispiel mit Sweatshops oder dem Stall mit 100.000 Mastschweinen? Was mit Krediten, welche die finanzielle Bonitätsprüfung bestehen, aber keinen Bedarf decken wie z.B. Kredithebel für feindliche Übernahmen oder Casino-Derivate?
Es gibt international bereits eine Reihe von Ethikbanken, die Kredite ausschließlich für Projekte vergeben, die einen hohen sozialen und ökologischen Mehrwert schaffen. Um das zu messen, haben sie ethische Kriterien entwickelt, nach denen sie entscheiden, ob ein Kredit gewährt wird oder nicht. In Österreich entsteht gerade die »Bank für Gemeinwohl«. Sie wird alle Kreditansuchen auch einer Gemeinwohl-Prüfung unterziehen. Bei der Entwicklung des Prüfinstruments kann sie nicht nur auf die entwickelten Instrumente der bestehenden Ethikbanken zurückgreifen, sondern auch auf die Gemeinwohl-Bilanz, welche in der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung seit 2010 entwickelt und 2014 bereits im vierten Jahr angewandt wird. Die Gemeinwohl-Prüfung wird die Investitionsvorhaben ethisch prüfen: Befriedigt das Produkt oder die Dienstleistung, dem die Finanzierung gilt, menschliche Bedürfnisse? Ist es vereinbar mit der Menschenwürde? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Welche ökologischen Auswirkungen sind zu erwarten und welche Verteilungswirkungen? Wie ist das Verhältnis zur Demokratie?
Die Kreditkonditionen werden sich auch am Prüfungsergebnis orientieren. So wie die Zinsen heute je nach dem Risiko des Investments »auseinanderspreizen«, wird – ganz analog – der Kredit je nach Gemeinwohl-Prüfungsergebnis teurer oder kostengünstiger. Das finanzielle Risiko wird deshalb nicht außer Acht gelassen – es ist nur nicht länger das allein ausschlaggebende Kriterium. Ein Kredit-Projekt muss beide Prüfungen bestehen. Fällt es bei nur einer durch, gibt es keinen Kredit. Das ist heute die leidvolle Erfahrung zahlloser UnternehmerInnen bei der finanziellen Bonitätsprüfung. In Zukunft wird das Unternehmen auch die »ethische Bonität« der Investition nachweisen müssen, um an den Kredit zu kommen. Gemeinwohlbilanzierende Unternehmen haben keinen Mehraufwand, sie »checken« ohnehin das gesamte Unternehmen auf die entsprechenden Ziele und Werte. Für die ethischsten Unternehmen wird es sogar leichter: Sie erhalten günstigere Kredite – genau umgekehrt zu heute: Heute erhält ein industrieller Agrarmastbetrieb mit 100.000 Schweinen den günstigsten Kredit, die Biobäuerin einen vergleichsweise teureren, wenn überhaupt. In einem ethischen Kreditregime würden Kredite nur bis zu einer Tierbestandsobergrenze verliehen werden, dort wären sie am teuersten, und je biologischer und artgerechter die Tiere gehalten werden, desto günstiger werden die Kredite, bis hin zu einem Zinssatz von null oder dem vollständigen Entfall der Kreditgebühr. Das wären dann »ethische Juwelen«, welche der Gesellschaft einen so großen Nutzen bringen, dass sie von den weniger Ethischen »querfinanziert« werden, indem diese relativ höhere Kreditkosten haben werden.
Um den Geist und Willen der Verfassungen auszuführen, bedarf es also einer Gemeinwohl-Prüfung aller Investitionen – um zu verhindern, dass Investitionen das Allgemeinwohl verletzen. Die Nichtvergabe von Krediten, wenn damit keine umfassenden Werte geschaffen werden, ist ganz im Einklang mit dem Geist der Verfassungen. Um einen Kredit zu erhalten, muss das Gemeinwohl zwar nicht gemehrt werden, es darf aber auch nicht verringert werden. Stellt sich aber bei der ethischen Prüfung ein negativer Beitrag zum Gemeinwohl heraus, ein »ethischer Minderwert«, dann werden ja in Summe Werte zerstört, und dafür soll auch kein Kredit fließen. Das Kreditwesen dient der Wertschaffung, nicht der Wertezerstörung.
2. Spekulative Finanzkredite?
Ein zweites großes Thema bei der volkswirtschaftlichen Kreditsteuerung ist die Spekulation und ihre Finanzierung auf Kredit (»Hebelverstärkung«). Dazu braucht es zunächst Definitionen: Was bedeutet Spekulation im Unterschied zu Investition? Was ist ein Finanzkredit im Unterschied zu einem Realkredit? In der Wortbedeutung ist jede »Investition« zugleich »Spekulation«: Ich »gieße Geld« in die ungewisse Zukunft in der Hoffnung, dass ich den Kreditbetrag plus dessen Kosten plus ein Einkommen erwirtschaften werde. Spekulation kommt vom lat. »speculare« = in die Zukunft schauen, spähen. Im Folgenden versuche ich eine Differenzierung zwischen abgestuften Formen nötiger/gemeinwohldienlicher und unnötiger/gemeinwohlschädlicher »Spekulation« = »Investition«.
a) Realinvestition: Eine TischlerIn, die einen Hobel anschafft; ein Gewerbe- oder Industriebetrieb, der eine neue Maschine kauft, rechnet damit (hofft darauf), dass er/sie damit so viele Möbel/Industrieprodukte wird erzeugen und verkaufen können, dass sie/er nicht nur ihre/seine Arbeitszeit damit entlohnen kann, sondern auch die Anschaffungskosten für das Werkzeug/die Maschine. Sie/Er hofft darauf, dass sich das »Hineingegossene« (Investition) »rentiert« (zurückkommt). Das ist die Stufe eins von »Spekulation«, die aber den »realen Boden« einer Geldwirtschaft darstellt. An diesem Vorgang gibt es kaum Kritik, das Gewissen blinkt nicht Alarm.
b) Kreditfinanzierte Realinvestition: Zur Finanzierung dieser realen Investition (in Produktionsmittel) nimmt die UnternehmerIn einen Bankkredit auf – so wird die Rückzahlung der Anschaffungskosten auf viele Jahre verteilt und gestreckt. Auch dagegen sind kaum Einwände bekannt. Zwar steigt das systemische Risiko, weil im Falle eines Fehlinvestments (eines »Verspekulierens«) nicht nur das kreditnehmende Unternehmen gefährdet ist, sondern auch die kreditgebende Bank. Doch wird die finanzielle Bonität der KreditnehmerIn genau geprüft, um die Wahrscheinlichkeit des Ausfalls des Kredits und damit der Insolvenz des Kreditinstituts zu minimieren: Das Risiko hält sich in Grenzen, es ist Teil der »Spielanordnung« einer freien Marktwirtschaft, in der niemand für den Erfolg eines privaten Unternehmens garantiert.
c) Finanzinvestition: In diesem Fall erwirbt jemand ein Wertpapier, zum Beispiel eine Staatsanleihe oder eine Unternehmensaktie, in der Hoffnung (Spekulation) darauf, dass das Investment eine finanzielle Rendite (Return on Investment) abwirft oder besser ein Vielfaches davon. Im Falle einer Staatsanleihe ist das der Zins, im Falle einer Aktie die Dividende. Aus der Sicht von Privatpersonen mag dies eine rationale Entscheidung sein. Wenn ein Unternehmen so handelt, könnte man dies bereits als Fehlallokation von Ressourcen werten. Stephan Schulmeister hat zum US-Aktien-Boom in den 1990er Jahren geforscht und kam zum Schluss, dass Unternehmen ihre Gewinne, anstatt in reale Investitionen und Arbeitsplätze zu investieren, lieber in Wertpapier-Akquisitionen, insbesondere Aktien, gelenkt haben. Dieser Trend war so massiv, dass der gesamte Unternehmenssektor, vor allem aber Groß-Unternehmen dadurch von Netto-Schuldnern zu Netto-Gläubigern wurden. Die Gewinne flossen von der Realwirtschaft in die Finanzwirtschaft und trugen so zu systemischer Überschuldung und Instabilität bei und infolge des gegengleichen Rückgangs der Realinvestitionen zum Anstieg der Arbeitslosigkeit.
d) Kreditfinanzierte Finanzinvestition: Am Höhepunkt des »Booms« wurden die Wertpapiere zusätzlich auf Kredit gekauft. Das machen »Finanzinvestoren« natürlich nur dann, wenn der erhoffte Ertrag aus den Wertpapieren (Dividende) höher ist als die Kosten des Kredits (Zinsen). Die Aufnahme von Krediten zur Steigerung der Eigenkapitalrendite gehört zu einer zentralen Strategie von Investmentbanken, institutionellen Investoren aller Art (Hedge-Fonds, Private-Equity-Fonds …), aber auch risikofreudigerer Family Offices oder der Investmentfirma von Warren Buffett. Selbst konservative Pensionsfonds pflegen ihre mauen Renditen mit der Beimischung »alternativer Investments« zumindest ein wenig aufzufetten. Hier stellt sich die Grundsatzfrage: Ist es volkswirtschaftlich sinnvoll und der Systemstabilität zuträglich, dass natürliche oder juristische Personen Kredite aufzunehmen, um mehr Wertpapiere zu kaufen, als sie sich aus ihrem »realen« Finanzvermögen leisten können?
e) Finanzspekulation: Hier erwirbt die InvestorIn die Aktie oder Anleihe oder Kreditausfallsversicherung nicht, um am Ertrag des Unternehmens beteiligt zu werden oder den Zins zu kassieren oder die Versicherungsprämie, sondern um das Wertpapier nach einem erhofften Kursanstieg mit Gewinn wiederzuverkaufen. Oder sie geht mit spezifischen Derivaten eine Wette auf einen Kursverfall ein, um bei dessen Eintritt den Wettgewinn einzustreichen. Hier sind wir bereits vollkommen von jeder realwirtschaftlichen Bindung gelöst, die InvestorIn hat keinerlei reales Interesse am Unternehmen und dessen Produkten oder Dienstleistungen. Ziel ist nur noch, aus Geld mehr Geld zu machen, egal mit welchen Mitteln (Produkten, Unternehmen, Finanzinstrumenten). Systemisch ist »Geld aus Geld machen« jedoch unmöglich: Ohne eigene Arbeit und Leistung kann Geld nicht mehr werden. »Aus nix wird nix.«9 Geld kann immer nur durch die Arbeitsleistung anderer Menschen vermehrt werden. Die Summe der Finanzwerte kann nur in zwei Ausnahmefällen schneller wachsen als das BIP: 1. Wenn sich eine spekulative Blase bildet, die aber früher oder später platzt mit der einhergehenden Vernichtung von Finanzwerten; 2. Ausbeutung: Die einen bereichern sich auf Kosten anderer, die dabei relativ verarmen: eine Verletzung der Menschenwürde und des Gerechtigkeitsprinzips: Verfassungsbruch.
f) Hebelverstärkte Finanzspekulation: Finanzspekulation auf Kredit ist die »höchste« Stufe der Spekulation und der »finanziellen Alchemie«. Auch diese Strategie ergibt nur Sinn, wenn der erhoffte Spekulationsgewinn höher ausfällt als die Kosten der dafür aufgenommenen Kredite. Geht es schief, kann das gesamte Kartenhaus zusammenbrechen: In Gefahr sind dann nicht nur die SpekulantIn und die ihr anvertrauten KundInnen-Gelder (z.B. Fonds geht pleite) oder die Bank, für die die SpekulantInnen »arbeiten« (z.B. Barings Bank), sondern überhaupt die Stabilität des Weltfinanzsystems. Das war bereits mehrfach der Fall. Der »berühmteste« Fall im doppelten Sinn war der Hedge-Fonds LTCM (Long-Term Capital Management). Zwei Professoren für Risikomathematik, die für ihre Forschungsergebnisse den Nobelpreis gewonnen hatten, setzten einen Hedge-Fonds auf und sammelten fünf Milliarden US-Dollar von Personen ein, die so vermögend waren, dass sie mit ihrem vielen Geld nichts Besseres zu tun wussten, als es den preisgekrönten Alchimisten anzuvertrauen, damit diese das systemisch mathematisch Unmögliche für sie erledigten: aus Geld mehr Geld zu machen, ohne einen Finger dafür zu rühren und ohne ein reales und sinnvolles Produkt herzustellen oder eine reale Leistung zu erbringen. Die Spitzenmathematiker »hebelten« das »Eigenkapital« ihres Zauberfonds zunächst mithilfe von Bankkrediten auf 125 Milliarden Dollar: ein Hebel-Faktor 25. Sodann gingen sie Derivate-Positionen im Wert von 1,25 Billionen US-Dollar ein. Dann versagte die Hexenkraft der Alchimisten, sie setzten das kolossale Investment in den Sand. Da nicht nur die Milliarden ihrer betuchten KundInnen in Gefahr waren, sondern auch die Banken, die bei dem Deal via Kredite kräftig mitschneiden wollten, und eine globale Kettenreaktion drohte, sprang unter der Regie der US-Zentralbank eine Reihe von privaten Banken ein, um einen Kollaps des Weltfinanzsystems zu verhindern. (Wäre die Wette aufgegangen, was wäre ihr volkswirtschaftlicher Nutzen gewesen, welcher der Kollateralgewinn für das Gemeinwohl?)
Der LTCM ist kein Einzelfall: Wir erinnern uns, dass das McKinsey Global Institute eine weit höhere volkswirtschaftliche Gesamtverschuldung errechnet hat als die »BIZ«, weil sie auch die Schulden des Finanzsektors ermittelt hat. In Irland machen allein diese 259 Prozent des BIP aus, in Großbritannien 219 Prozent und in Japan 130 Prozent des BIP.10
Während die ersten drei Formen von Investition/Spekulation – Realinvestition, kreditfinanzierte Realinvestition, Finanzinvestition – als sinnvoll eingestuft werden können, steht für mich die Verfassungskonformität, wichtiger aber noch: die gesamtwirtschaftliche und ethische Sinnhaftigkeit der letzten drei – kreditfinanzierte Finanzinvestition, Finanzspekulation, hebelverstärkte Finanzspekulation – mehr als in Frage. Sie könnten durch die neue Geldordnung untersagt werden.
Geld und Kredit als öffentliches Gut bedeuten, dass die Verwendung von Krediten in groben Richtlinien geregelt ist. Für ein öffentliches Gut gelten andere Regeln als für Privateigentum. Illiberal ist das mitnichten: Kredite und Finanzinvestitionen bleiben ja grundsätzlich erlaubt. Nur die gefährlichen Exzesse und Zielabweichungen werden weggefiltert. Auch andere denken in diese Richtung. Der Ökonom Richard Werner von der Universität Southampton schlägt vor, »man verbietet einfach Kredite für nicht zum BIP beitragende Transaktionen. Es gibt dann weiter Spekulation, aber ohne Kredithebel.«11
3. Vorrang für die Region
Eine Genossenschaftsbank in Österreich hat Einlagen von 320 Millionen Euro. Das Volumen der vergebenen Kredite beläuft sich auf 140 Millionen Euro. Logische Folge: 180 Millionen Euro regionales Spar- und Finanzvermögen fließen aus der Region hinaus – schlimmstenfalls ins globale Finanzcasino. Manchmal beträgt die Kreditverwertungsquote regionaler österreichischer Sparkassen und Genossenschaftsbanken (»Primärbanken«) nur noch fünfzig bis sechzig Prozent. Mit anderen Worten: Bis zur Hälfte des Finanzvermögens findet keine Verwendung mehr in der realen Wirtschaft. Sie wird an die größeren Geschäftsbanken, die eigenen Zentralbanken oder direkt an das internationale Finanzcasino weitergereicht.
Das Missverhältnis zwischen Finanzvermögen und Kreditnachfrage ergibt sich daraus, dass das private Finanzvermögen schneller wächst als die reale Wirtschaft (BIP): In Deutschland betrug das von der Bundesbank jährlich erhobene private Geldvermögen 1970 rund siebzig Prozent der damaligen Wirtschaftsleistung. 2013 waren es im ersten Halbjahr 189 Prozent des gegenwärtigen BIP oder knapp fünf Billionen Euro.12 Die Krise konnte das Wachstum der Finanzvermögen nur ein einziges Jahr – 2008 – von der Überholspur ziehen. Schon 2009 ließen die Sparvermögen das BIP wieder deutlich hinter sich. Obwohl mit wachsenden Einkommen und BIP die Sparquote, der Anteil des Volkseinkommens/BIP, das zur Seite gelegt und angespart wird, logischerweise immer weiter steigen müsste – je höher das Einkommen, desto größer der Anteil, den die Menschen nicht für den Konsum benötigen –, ist ein dauerhaft höheres Wachstum des Finanzvermögens als das des BIP mathematisch unmöglich. Genauer: Die Veranlagung und Verzinsung eines immer größeren Finanzvermögens ist unmöglich, weil die reale Wirtschaft nicht ein Vielfaches des Volkseinkommens an Investitionen absorbieren kann, diese schlicht nicht benötigt.
Anders gesagt: Es gibt einen strukturellen Mangel an Anlagemöglichkeiten für das immer reichlicher vorhandene Finanzkapital. Wenn die Mehrung des Kapitals das Ziel des Wirtschaftens ist, ist das das größte vorstellbare Problem. Deshalb werden im Kapitalismus strategische Auswege gesucht, damit das Kapital, obwohl ein immer größerer Teil davon im wahrsten Sinne des Wortes »überflüssig« wird, weiterhin vollständig »verwertet«, das heißt veranlagt und mit einer Rendite vermehrt werden kann. Seit das Kapital in den 1970er Jahren, nach Abflauen des Nachkriegs-Wirtschaftswunders, in eine Verwertungskrise eingetreten ist, wurden drei »Auswege« gefunden: a) Privatisierung, b) Globalisierung, c) Spekulation. Alle drei Strategien sind jedoch nur vorübergehend gangbar und somit keine echten Auswege aus der Sicht des Kapitalbedürfnisses nach Vermehrung. Aus der Sicht der Gesellschaft sind sie brandgefährlich:
– Privatisierung. Eine repräsentative Untersuchung von Privatisierungen zeigt, dass diese nur im Ausnahmefall selektive Verbesserungen für einige gesellschaftliche Gruppen bringen, aber niemals für alle, und in der großen Mehrzahl der Fälle Verschlechterungen für die Allgemeinheit. Hingegen sind die neuen privaten Eigentümer im Regelfall die Gewinner.13 Keinesfalls sollten Privatisierungen dadurch motiviert sein, dass privates Finanzvermögen unter Anlageknappheit leidet und neue Renditeoptionen sucht.
– Globalisierung. Das Ausweichen in andere Länder birgt Chancen und Risiken, erwähnt seien die zahlreichen Finanzkrisen, die durch anlagesuchendes ausländisches Kapital ausgelöst wurden (Asien, Russland, Mexiko …). Das Wichtigste aber: Selbst wenn diejenigen recht hätten, die nur Chancen erkennen und für Kapitalexport eintreten, weil dieser Entwicklung auslöst, könnte dieser gerade dann nur vorübergehend funktionieren – weil dann die Rechnung aufgeht und die armen Länder zu den reichen aufschließen und ihrerseits Kapital exportieren wollen – bloß wohin?
– Spekulation bringt keine Lösung, sondern schafft noch größere Probleme.
Tatsache bleibt, dass es in »reifen« Volkswirtschaften zu viel Kapital gibt, das nach Verwertung strebt. Die Kommerzbank hat 2,9 Milliarden Euro oder fünf Prozent ihrer Bilanzsumme an rund neunzig US-Kommunen als Kredit vergeben.14 Ich frage mich: Gibt es in den USA keine Banken, bei denen die Menschen Spareinlagen haben und die dieses Geld an die Kommunen ausleihen können? Sind die USA ein Land mit zu geringen Finanzvermögen? Mitnichten. Aber die US-Finanzvermögen fließen offenbar in das globale Finanzcasino anstatt an die Kommunen, in denen die Menschen, welche dieses Finanzvermögen besitzen, leben. Die österreichische Raiffeisen-Zentralbank verlor einen Kredit in Island von 150 Millionen Euro. Erste Frage: Gibt es in Österreich keine Verwendung für das viele Geld? Gibt es zu viel Geld in Österreich? Offenbar ja. Zweite Frage: Gibt es in Island zu wenig Geld? Wie bekannt ist, hatten die isländischen Banken Bilanz-Summen vom Zehnfachen des BIP: Größenwahn-Rekord, der nur von Zypern und Luxemburg geteilt wird. Der Bilanz-Wahnsinn der isländischen Banken wurde mit österreichischen Finanzvermögen, die in Österreich keine reale Verwendung finden, finanziert: Der Raiffeisen-Kredit ging an die Straumur-Bank. Diese wurde verstaatlicht und am 27. März 2009 von der isländischen Finanzaufsichtsbehörde geschlossen.15
Folgende Regelungen für die Kreditvergabe könnten hier Abhilfe schaffen:
a) Banken sollten zum einen verpflichtet werden, die Sparvermögen aus der Region auch in der Region als Kredite zu vergeben. In den USA gibt es bereits den »Community Reinvestment Act«, der Banken zur regionalen Finanzierung anreizt.
b) Mit steigender Finanzvermögen-BIP-Relation sollten Banken einen wachsenden Teil der Einlagen »stilllegen«, sprich als »Einlagen« belassen und nicht in »Anlagen« umwandeln. Dieser Überschuss könnte auf die im zweiten Kapitel beschriebenen »Geldkonten«, die aus der Bankbilanz ausgelagerten Girokonten der SparkundInnen, deponiert werden und nicht »arbeiten«, sondern ruhen (Bank als »Deponie« oder Depositenbank). Das wäre von immensem Vorteil, weil damit der unerträgliche Anlagedruck eines immer größeren Finanzvermögens, das die Wirtschaft immer mehr erdrückt und schröpft, enden würde. Die Auswege Privatisierung, Globalisierung und Spekulation aus dem konservativen Banking wären nicht mehr systemnotwendig. Gleichzeitig wäre der – strukturell wachsende – Überschuss an Finanzvermögen im Falle einer Bankenpleite vollkommen sicher, weil sich die Geldkonten im Besitz der KundInnen befänden und nicht im Besitz der Bank.
Ein streng regulierter, kleinteiliger Finanzsektor mit
festgelegten Zinssätzen könnte das jetzige System ersetzen
und an Westdeutschland in den 60er Jahren erinnern, als es
noch den Spareckzins gab und kein Börsen-Fernsehen.
Lucas Zeise1
Der Ruf der Banken ist im Moment nicht der beste. Das ist nicht ganz neu: »Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«, fragte bereits Bertolt Brecht in der »Dreigroschenoper«. Was ist das Ziel einer Bank? Aus Geld mehr Geld zu machen (Gewinnorientierung)? Oder sinnvolle Investitionen so kostengünstig und risikoarm wie möglich zu finanzieren und damit dem Gemeinwohl zu dienen? Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten: Die meisten Bankentypen waren bei ihrer Gründung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gewinn-, sondern gemeinwohlorientiert. Das trifft zum einen auf die Genossenschaftsbanken wie Raiffeisen-, Volks- und Sparda-Banken zu. Friedrich Wilhelm Raiffeisen bezeichnete sein Bankgründungsprojekt als ein Werk der Nächstenliebe: »Unser oberster Direktor heißt Jesus Christus.«2 Die Grundwerte »christliche Solidarität, Subsidiarität und Regionalität« bilden heute noch das offizielle Werte-Fundament des Raiffeisenverbandes.3 Zeitgenosse Hermann Schultze-Delitzsch, seines Zeichens Vater der »Volksbanken«, ging es ebenfalls nicht um Gewinne, sondern um das Aufblühen des Handwerks. Die im 20. Jahrhundert gegründeten Sparda-Banken verfolgten das Ziel, notleidenden Eisenbahnerfamilien Konsumkredite zu gewähren, damit diese ihren täglichen Bedarf decken konnten.4 Und bei den Sparkassen, die zum Teil als Vereine begannen, steht die Gemeinwohl-Orientierung unverändert in zahlreichen Sparkassengesetzen.5 Die Banken, über die wir täglich in den Zeitungen lesen (müssen), sind nicht repräsentativ für die gesamte Bankenlandschaft. Allein in Deutschland gibt es mehr als 1900 Kreditinstitute. Die wenigsten haben den Bekanntheitsgrad der Branchenleader, die an der Frankfurter Börse notieren und beinahe täglich von den Medien (übermäßig) Aufmerksamkeit erhalten.
Zwar gibt es die gewinnstrebenden Geschäftsbanken schon sieben Jahrhunderte länger als Genossenschaften und Sparkassen, aber zahlenmäßig sind sie in der Minderheit. Das größte Problem waren stets die Flaggschiffe. Beispielsweise ging die zweite Etappe der Großen Depression von der Insolvenz der riesigen Wiener Creditanstalt aus, deren Bilanzsumme zwei Drittel der Bilanzsumme aller anderen österreichischen Kreditinstitute ausmachte. Der erste Rettungsbetrag entsprach fünfzig Prozent des Staatshaushaltes.6 Die Bank war »by far too big to fail«.
Nach dem Zweiten Weltkrieg griffen einige Regulierungen so gut, dass für einige Jahrzehnte relative Stabilität einkehrte und sich kaum Finanz-, Währungs- und Bankenkrisen ereigneten. In den USA wurde nicht nur das berühmte Trennbankengesetz verabschiedet (das 1999 durch intensives Lobbying wieder ausgehebelt wurde), auf internationaler Ebene trat das Abkommen von Bretton Woods in Kraft, das rund drei Jahrzehnte weitgehend für Währungsstabilität sorgte (siehe Kapitel 12). Was sich viele Menschen in Deutschland heute kaum vorstellen können: Die Sparzinsen waren in Deutschland bis 1967 reguliert, mit dem sogenannten Spareckzins.7 Dieses »planwirtschaftliche« Element konnte das Wirtschaftswunder nicht abwürgen, im Gegenteil: Die Wachstumsraten waren damals die höchsten, die es je in der Geschichte gab.8
Doch das Zeitalter der regulierten Finanzmärkte, der sozialen Marktwirtschaft und des »rheinischen Kapitalismus« ging mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher in Großbritannien 1979 und Ronald Reagan 1980 in den USA zu Ende. Kürzung öffentlicher Leistungen, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierung, Marktöffnung und Globalisierung kletterten an die Spitze der politischen Agenda – wo sie sich heute noch befinden, wie das dräuende Handels- und Deregulierungsabkommen zwischen den USA und der EU, das TTIP, beweist.9 Die Uruguay-Runde des GATT, die 1986 eingeläutet wurde, mündete 1995 in die Welthandelsorganisation WTO, und der europäische Integrationsprozess schwenkte von einer vorwiegend politischen Annäherung (Friedensprojekt, Kooperation zwischen Nationalstaaten) auf die Errichtung einer Freihandelszone mit primär ökonomischen Zielen (internationale Wettbewerbsfähigkeit, monetäre Stabilität).
1999 wurden zwei ehrgeizige Vertiefungsprojekte des EU-Binnenmarktes in Angriff genommen: die gemeinsame Währung Euro und der Finanzbinnenmarkt. Das zweite Projekt versprach einen großen »freien« Markt, war jedoch in seiner Wirkung das genaue Gegenteil. Der Finanzbinnenmarkt war ein perfektes Treibhaus für systemrelevante Banken. Systemrelevante Banken sind aber das Ende eines freien Marktes. Den Architekten unter dem damaligen Binnenmarkt-Kommissar Mario Monti gelang ein historisches Manöver gegen die Logik, gegen die Marktwirtschaft und gegen die Demokratie. Sie eröffneten einen grenzenlosen Markt für Banken und Finanzdienstleistungen:
– Ohne Größengrenze für Banken. So konnten sich die Kolosse unbehelligt auswachsen. Die Banken wurden offen eingeladen, »international wettbewerbsfähig zu werden«, was gleichbedeutend ist mit: systemrelevant. Aus den Erfahrungen früherer Krisen, z.B. der hypertrophen Creditanstalt, hätte der Gesetzgeber einen Deckel für die Bilanzsumme von Kreditinstituten einziehen müssen, damit es nie wieder zur Rettung von Banken käme. Getan wurde das Gegenteil, die Geschichte wiederholt sich.
– Ohne Aufsicht über diesen Markt. Das gab und gibt es nicht einmal bei der Gemüseschranne in Salzburg. Wie sollen die Kolosse ohne gemeinsame Aufsicht das Gemeinwohl mehren?
– Ohne jede Produktregulierung. Dadurch kamen Finanzderivate, von Warren Buffett als »finanzielle Massenvernichtungswaffen« bezeichnet, vollkommen ungeprüft in Umlauf. Auch das gibt es sonst nirgendwo: Medikamente und Chemikalien werden vor der Zulassung geprüft, jedes Auto muss regelmäßig zum TÜV; die Polizei kontrolliert selbst am Sonntag unbescholtene GrenzgängerInnen zwischen Salzburg und Bayern. Nur systemrelevante Investmentbanken dürfen »finanzielle Massenvernichtungswaffen« frei in Umlauf bringen und den Zusammenbruch der Märkte damit herbeiführen. Logisch wäre, dass eine schlagkräftige EU-Finanzaufsicht neue Produkte auf ihr Gefährdungspotenzial für die Systemstabilität hin überprüft und nur bei bestandener Prüfung zulässt.
– Freier Kapitalverkehr in unregulierte Finanzmärkte. Erst seit 1994, durch eine Abänderung des Vertrages von Maastricht10, die nirgendwo einer Volksabstimmung unterzogen wurde, ist der Kapitalverkehr zwischen der EU und Drittstaaten frei und die EU damit ungeschützt vor einer Ansteckung mit einer Finanzkrise von außen. So konnte der »finanzielle Giftmüll« aus der Immobilienblase völlig ungehindert in die EU importiert werden. Die EU-Selbstknebelung hatte klare Gewinner: die internationale Finanzindustrie, die frei handeln und spekulieren, die Profite maximieren, Krisen verursachen und die Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen kann.
– Freier Kapitalverkehr auch in sämtliche Steueroasen der Welt. Damit ermunterte die EU Großkonzerne und die wohlhabenden EuropäerInnen, Gewinne und Privatvermögen in Länder zu transferieren, die keine oder keine nennenswerten Steuern einheben. Wer den Fluchtweg ebnet, darf sich nicht wundern, dass dieser auch genutzt wird.
Wie können solche Vorgänge erklärt werden? Der langen Analysen kurzer Schluss: »There is no such thing as democracy.« Die gegenwärtige Form der Demokratie ist nicht in der Lage, Märkte effektiv zu regulieren oder wirtschaftliche Macht zu dekonzentrieren. Es funktioniert umgekehrt: Die Regulierer werden reguliert – von den Global Players, den systemrelevanten Banken und ihren Verbänden. Nicht der Souverän bestimmt die Finanz- und Geldordnung, sondern mächtige Minderheiten machen Gesetze, die dann für die Allgemeinheit gelten, die auch die Kosten zu tragen hat. Für eine alternative Wirtschafts- und Geldordnung bedarf es eines neuen Demokratiemodells.
Noch sind wir aber im Finanzdiktatur-Modus. Dieselben Fehler, die bei der Einrichtung des »Marktes« und der Züchtung der Riesenbanken gemacht wurden, wiederholen die EU-Eliten seit dem Ausbruch der Krise bis in die Gegenwart, mit makabren Konsequenzen:
– Die Banken wurden nicht verstaatlicht, zerkleinert oder abgewickelt, sondern mit dem Geld der SteuerzahlerInnen gerettet. Markwirtschaft wäre, dass die EigentümerInnen für den Schaden aufkommen. Die Politik zog es vor, die EigentümerInnen zu schützen – bei der Einrichtung des Finanzbinnenmarktes vor einer EU-Finanzaufsicht; und jetzt, nach dem großen Crash, vor der Übernahme der Verantwortung und der Verluste. Das ist Bankenrettungssozialismus oder staatlich subventionierter Oligopolkapitalismus – Marktwirtschaft ist es keine, und kurioserweise sind so gut wie alle, die uns den Finanzbinnenmarkt und die Globalisierung als »freien Markt« verkauft haben, auffallend still zum Thema. In der Rhetorik der Eliten handelt es sich vielmehr immer noch um Markt und Marktwirtschaft, nicht selten sogar um »soziale Marktwirtschaft«. Das ideologische Täuschungsmanöver wird fortgesetzt.
– Bis heute wurde keine einzige Großbank der EU abgewickelt11, obwohl es breiten Konsens gibt, dass systemrelevante Banken das Kernproblem schlechthin sind: Systemrelevante Banken verschlingen Multimilliarden an Steuergeld, sie lösen eine Krise der Staatsfinanzen aus, sie befördern »moral hazard« (eine Mischung aus Fahrlässigkeit und Skrupellosigkeit), zumal sie auf die Rettung des Staates vertrauen (mit der Bankenunion nunmehr gesetzlich festgezurrt), sie genießen aufgrund dieser impliziten Staatsgarantie günstigere Refinanzierungskonditionen und einen unfairen Wettbewerbsvorteil gegenüber systemirrelevanten Kleinbanken, sie senken dadurch die Effizienz des Gesamtsystems und untergraben den Glauben an Marktwirtschaft und Demokratie. (Unfassbar, dass so etwas gegenüber Parlamenten und Regierungen überhaupt argumentiert werden muss.)
– Die geretteten System-Elefanten dürfen weiterhin Geschäfte mit und in Steueroasen machen und genießen uneingeschränkt freien Kapitalverkehr in alle Welt. Sie dürfen hemmungslos weiterspekulieren mit Rohstoffen, Aktien, Krediten, Währungen und Derivaten. Der Moment wäre günstig, von diesen Banken Gemeinwohl-Orientierung als Gegenleistung für die Stützung mit Steuergeld zu verlangen. Die einzigen winzigen Einschränkungen schaffte das EU-Parlament beim spekulativen Handel mit ungedeckten Ausfallsversicherungen für Staatsanleihen und bei ungedeckten Leerverkäufen. Ein mikroskopischer Regulierungserfolg im ansonsten weiterhin sperrangelweit geöffneten globalen Finanzcasino.
– Sechs Jahre (!) nach dem großen Crash 2008 nimmt die »EU-Bankenunion« langsam Kontur an: 124 Megainstitute mit einer Bilanzsumme über dreißig Milliarden Euro sollen von der EU beaufsichtigt werden. Das ist der nächste Systemfehler: Banken mit einer Bilanzsumme über dreißig Milliarden Euro sollten nicht beaufsichtigt, sondern zerkleinert werden. In Deutschland würde das beispielsweise von den 413 Sparkassen nur eine einzige betreffen: Die Hamburger Sparkasse hat eine Bilanzsumme von 39,5 Milliarden Euro. Die Bilanzsummen aller anderen Sparkassen liegen unter dreißig Milliarden Euro.12
– Eine Diskussion über Sinn und Ziel von Banken, Geld oder Kredit findet gar nicht statt. Die Regierenden sind so tief in der Ideologie der Profiteure der Krise gefangen, dass es nicht einmal zu einer Alternativen-Diskussion kommt. Im medialen Mainstream herrscht ein Tabu, die Spielregeln zu ändern. Inmitten der Krise!
Schlimmer noch als die ökonomische Systemrelevanz weniger Banken ist ihre politische Systemrelevanz (»too big to jail«). Die Finanzriesen sind nicht nur zu groß, um in die Insolvenz geschickt werden zu können, sie sind auch zu mächtig, als dass der Gesetzgeber sie demokratisch regulieren, zerteilen oder auch nur besteuern könnte. Alle bisherigen Strafen sind Peanuts. Desgleichen das Töpfchen, in das Banken einzahlen, um ihre Abwicklung zu finanzieren. Zwischen 2016 und 2025 sollen läppische 55 Milliarden eingezahlt werden und alle 124 systemrelevanten EU-Banken absichern. In der ersten Krisenphase sind 1,6 Billionen Euro Steuergeld in die Banken geflossen, angesichts solcher Witzzahlen bleibt selbst den Hühnern das Lachen im Hals stecken.
Ökonomische Systemrelevanz könnte »technisch« rasch behoben werden. Die politische Systemrelevanz blockiert jedoch jede Änderung und die Lösung der Probleme. Politisch systemrelevante Banken konstituieren eine Finanzdiktatur. Sie diktieren buchstäblich den politischen Kurs. Sie setzten den EU-Finanzbinnenmarkt durch, sie bestimmten den undemokratischen und antimarktwirtschaftlichen Rettungsmodus, sie verfassen ihr Testament selbst, und sie sind die Architekten der Bankenunion. »So schön das klingt, so bleibt es doch pervers. Denn die neue Solidarität zwischen den Euro-Ländern bezieht sich ausgerechnet auf die Banken. Es ist ein Bankenrettungsplan, der den Zweck hat, das Finanzvermögen auch in den ökonomisch schwächeren Ländern zu schützen«, schreibt Lucas Zeise.13 Plötzlich, inmitten der Hochblüte der Wettbewerbsrhetorik, da die EU-Staaten sich gegenseitig die Steuerbasis abgraben, gemeinsame Schuldentitel verweigern (Eurobonds nach dem Modell der USA) und nichts mehr scheuen wie eine europäische Sozial- oder auch nur Arbeitslosenversicherung, entdecken sie die Solidarität der Allgemeinheit – für die teils hochkriminellen Systembanken. Die Menschen sollen einander bekriegen und sie dürfen durch die Maschen der sozialen Sicherungsnetze fallen, für die Banken halten alle zusammen.
Die Verhinderung der Zulassung zu großer Banken wäre eigentlich das erste Gebot einer funktionierenden Marktwirtschaft; doch geht es ganz offenbar denselben, die sich Marktwirtschaft stets plakativ auf die Fahnen geheftet haben, genauso wenig um Marktwirtschaft wie um Demokratie. Sonst würde ja die Bevölkerung zum Euro-Rettungsmodus, zur Bankenunion oder zu TTIP befragt. Dass die Banken zu groß sind, wird auch zum Teil von SpitzenbankerInnen öffentlich geäußert. So meinte der Präsident des deutschen Sparkassenverbandes, Georg Fahrenschon: »Die Deutsche Bank ist sicher wichtig, aber für die deutsche Volkswirtschaft zu groß.«14 Der betroffene CEO der Deutschen Bank, Jürgen Fitschen, verteidigt sich mit Vergleichen zu Stärke und Speed: Man solle nicht dauernd über »too big to fail« reden, sondern auch über »too strong to fail« (…) »Wenn Sie ein Auto bauen, das zwanzig Kilometer in der Stunde fährt, haben Sie wahrscheinlich ein sicheres Auto – aber versuchen Sie mal, das zu verkaufen.«15 Heißt das, dass alle nichtsystemrelevanten Banken wie Autos sind, die langsamer fahren als zwanzig Kilometer pro Stunde? Was will uns Fitschen damit sagen? Die Wissenschaft ist gespalten: Max Otte von der Fachhochschule Worms tritt für eine »Größengrenze für Finanzdienstleister« ein.16 Der Züricher Bankenprofessor Urs Birchler bremst: »Wir müssten die Großbanken in mindestens je zwanzig kleinere Banken aufteilen. Ob diese dann das kleinere Systemrisiko darstellten, bezweifle ich.«17 Die Zweifel sind berechtigt, doch sie treffen nicht den Punkt. Systemriesen müssten gleichzeitig zerkleinert und entgiftet werden. Das wäre das Gebot der Stunde gleich nach dem Crash von Lehman Brothers gewesen: Der »finanzielle Giftmüll« hätte in Bad Banks ausgelagert, die gesunden Teile in kleine Einheiten aufgespalten und die Bad Banks den EigentümerInnen mit ausschließlichem Genussrecht umgehängt werden müssen.
Um die Bankenlandschaft marktwirtschaftlich »aufzuräumen« (und den Kapitalismus langsam aus dem Finanzsystem zu ziehen), könnte zunächst ein Zwischenschritt gesetzt werden, der den Vorteil hätte, allgemeinverständlich und vermutlich breit mehrheitsfähig zu sein. Der Vorschlag lautet: Alle Banken werden vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie schwenken auf Gemeinwohl-Orientierung um und unterwerfen sich einer verbindlichen Gemeinwohl-Charta oder sie werden in den »freien Markt« entlassen. Freier Markt bedeutet, dass ihnen sämtliche staatlichen Unterstützungsleistungen entzogen werden, die gegenwärtig den systemrelevanten Spekulationstankern zugutekommen:
– Sie erhalten keinen Zugang zur Zentralbank. Derzeit erhalten Geschäftsbanken ihren »Rohstoff« Geld unterhalb der Marktpreise von der Staatsbank.
– Der Staat macht auf all seinen Ebenen – Kommunen, Regionen, Länder, Nationalstaat, EU, UNO – keinerlei Geschäfte mehr mit gewinnorientierten Banken. Dazu zählt selbstverständlich auch das Geschäft mit den Staatsschulden (siehe Kapitel 4).
– Die staatliche Einlagensicherung entfällt, und damit das Fundament des Vertrauens der PrivatkundInnen in Geschäftsbanken. Die Profitbanken müssen sich das Vertrauen ihrer KundInnen ohne Rückendeckung von Papa Staat erwerben. (Bei Umsetzung der Vollgeld-Reform wären die Geldkonto-Bestände sicher, nicht aber die Sparanlagen – diese benötigten weiterhin eine Einlagensicherung.)
– Der wichtigste Punkt: Wenn die Bank pleitegeht, gibt es keine Rettung durch die SteuerzahlerInnen. Die Freiheit, ein Unternehmen zu gründen, und die Verantwortung, für den Schaden aufzukommen, wenn es schiefgeht, müssen wieder miteinander vermählt werden.
– Ich plädiere hier für eine echte liberale und ethische Marktwirtschaft anstelle der gegenwärtigen unethischen Machtwirtschaft. In dieser ist immer mehr Kapitalismus und immer weniger Marktwirtschaft drin. Umgekehrt müsste es sein: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, vollethisch und tatsächlich liberal statt rhetorisch. Liberal meint die gleichen Freiheiten und Rechte für alle, das impliziert die Begrenzung aller Freiheiten, um Machtkonzentration zu verhüten und die tatsächlich gleichen Freiheiten und Chancen für alle zu sichern. Der Finanzkapitalismus hat uns Marktwirtschaft und Demokratie gemeinsam genommen, und damit die Freiheit. Diese gilt es wiederherzustellen.
Nun zum wichtigsten Teil: Welche Kriterien könnten eine Bank zu einem gemeinwohlorientierten Kreditinstitut machen (wodurch dieses in den Genuss staatlicher Unterstützungsleistungen kommt)? Hier werden sechs vorgeschlagen:
a) Zielsetzung Gemeinwohl und Gemeinwohl-Bilanz-Erstellung
Die Bank versteht sich prinzipiell als gemeinwohlorientiert und schreibt dieses oberste Geschäftsziel auch in ihrem Unternehmensstatut verbindlich fest. Es könnte eine eigene Rechtsform »Gemeinwohl-Bank« geschaffen werden, deren Mustersatzung verpflichtende Charakteristika vorsieht. Das Geschäftsmodell muss mit diesem Ziel kohärent sein, die Erreichung aller strategischen Ziele wird mittels einer (bankspezifischen) Gemeinwohl-Bilanz gemessen.
b) Konservatives Geschäftsmodell (Trennbankensystem)
Die Bank beteiligt sich nicht am globalen Finanzcasino, sie hält Abstand von Derivaten, Fonds und Wertpapierhandel. Sie beschränkt sich auf die »Bankenkernleistungen«: Giro- oder (nach der Vollgeld-Reform) Geldkonten mit Zahlungsverkehr, Geldanlagen (Sparkonten und -bücher) sowie die – möglichst regionale – Kreditvergabe. Dass Banken untersagt werden könnte, mit Derivaten zu handeln und zu spekulieren, überlegen auch andere: Joseph Stiglitz schreibt beispielsweise, dass Banken, die mit staatlichen Garantien gestützt werden, »die Finger von außerbörslichen Derivaten lassen sollten«.18 Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert »endlich ein Zulassungsverfahren für alle Arten von Wertpapieren und Finanzgeschäften (…) Was nicht ausdrücklich zugelassen ist, bleibt verboten.«19 Die NGO »Finance Watch« setzt sich für die vollständige Trennung des Wertpapier- und Derivate- vom Kredit- und Einlagengeschäft ein, weil sonst die Abwicklung gemischter Universalbanken nicht glaubwürdig sei.20
c) Gewinne werden nicht an die EigentümerInnen ausgeschüttet
Der Zweck einer Bank ist nicht, Gewinne zu generieren, um diese auszuschütten, so wusste es Raiffeisen, so steht es in Sparkassengesetzen, so wollen es die Verfassungen. Gewinnstreben als Ziel verleitet zu riskanter Spekulation, zu ungerechter Verteilung, insgesamt zu einem unethischen Geschäftsmodell. Warum sollte für eine Bank recht sein, was bei anderen Infrastrukturbetrieben billig ist: Bei einer Schule, einem Spital oder einem Theater wäre es absurd, einen Finanzgewinn anzustreben, um einen Teil davon an die EigentümerInnen auszuschütten. Banken gehören genauso zur Daseinsvorsorge einer Gesellschaft und zur Grundinfrastruktur der Wirtschaft wie die Bildungs-, Gesundheits-, Pflege-, Sozial- und kommunalen Versorgungseinrichtungen. Das Zusammenspiel von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen mit privaten Unternehmen macht die Wirtschaft stabiler und demokratischer. An die Stelle einer finanziellen Dividende tritt in diesem unmittelbar gemeinnützigen Wirtschaftssektor der Nutzwert in Kombination mit Ethik und Mitbestimmung, falls der Souverän entscheidet, die Steuerung der Versorgungseinrichtungen selbst in die Hand zu nehmen. Der Energieversorger von San Diego SMUD wird beispielsweise von der Bevölkerung kontrolliert, Vorstand und Aufsichtsrat werden direkt gewählt. Das Unternehmen macht seine Sache sehr gut und genießt höchste Popularität.21 Gleiches kann auch im Finanzsektor gelingen. Beim Projekt Bank für Gemeinwohl stehen Tausende GenossenschafterInnen Schlange, denen es nicht um Finanzrendite geht (es gibt keine), sondern um Sinn und Gemeinwohl.
d) Ausstieg aus dem Zinssystem
Das Zinssystem ist ein Musterbeispiel, wie sich angeblich aufgeklärte und gebildete »Wissensgesellschaften« dauerhaft kollektiv täuschen können. Neunzig Prozent aller Beteiligten verlieren am gegenwärtigen Zinssystem – und verteidigen es trotzdem. Systemisch üben Zinsen einen unnötigen Wachstumsdruck auf die Wirtschaft aus und sind langfristig eine mathematische Unmöglichkeit – dennoch beharren so gut wie alle wohlhabenden Gesellschaften auf diesem system error.
Was fehlt, sind die entscheidenden Informationen über die systemische Wirkung des Zinses und über mögliche Alternativen. Das vielleicht größte Problem am Zinssystem ist seine Verteilungswirkung. Neunzig Prozent der Bevölkerung alimentieren über Zinsen eine schmale Gewinnerschicht von vielleicht zehn Prozent. Das wissen sie allerdings nicht, weil nur die Sparzinsen, die wir empfangen, auf dem Papier ausgewiesen sind. Die Kreditzinsen, die alle KonsumentInnen bezahlen, über die Produkte und Dienstleistungen des täglichen Einkaufs, bleiben unsichtbar, sie werden nirgendwo ausgewiesen. Deshalb stellt kaum jemand die naheliegende Rechnung an, ob sie/er unterm Strich mehr Zinsen bezahlt oder kassiert. Nur wenn wir das täten, wüssten wir, ob wir zu den NettozinsempfängerInnen oder NettozinszahlerInnen zählen. Im Internet gibt es Währungsrechner, Steuerrechner, Nettolohnrechner, Sparzinsrechner, aber den »Nettozinsrechner« gibt es nicht – der müsste uns eigentlich von den Banken zum Weltspartag geschenkt werden. Wenn die Banken uns nicht aufklären, dann sollte es wenigstens die Nationalbank tun – als »Service Public« an die StaatsbürgerInnen. Und wenn es die Nationalbank auch nicht tut, dann könnten wenigstens die Universitäten und Wirtschaftsforschungsinstitute die Bevölkerung über so basale Systemzusammenhänge aufklären. Seit Jahren liegt aber praktisch nur die Berechnung von Helmut Creutz vor, die von der akademischen Wissenschaft ignoriert wird.22
Die Unternehmen, welche über die Kreditzinsen die Sparzinsen finanzieren, rechnen diese (Fremd-)Kapitalkosten vollständig in die Produkt- und Dienstleistungspreise ein (wie alle anderen Kosten auch), und die KonsumentInnen bezahlen diese Kosten vollständig. Wenn alle Menschen gleich viel konsumieren und gleich viel sparen würden, wäre das Zinssystem ein verteilungsneutraler Kreisverkehr. Doch – Überraschung! – dem ist nicht so. Denn ein Großteil der Bevölkerung verdient so wenig, dass die Menschen fast ihr gesamtes Einkommen ausgeben müssen (wir nehmen der Einfachheit halber an, sie haben eine Konsumquote von 95 Prozent und eine Sparquote von fünf Prozent ihres verfügbaren Einkommens), während ein anderer Teil so hohe Einkommen (Arbeits- und Kapitaleinkommen) genießt, dass er den Großteil davon ansparen kann (wir nehmen der Einfachheit halber eine Konsumquote von fünf Prozent und eine Sparquote von 95 Prozent an).
Derjenige Teil der Bevölkerung, der den Großteil des Einkommens ausgibt oder ausgeben muss, kann kein oder nur ein sehr geringes Vermögen bilden und damit keine (nennenswerten) Vermögenseinkommen lukrieren. Es kommt noch dicker: 95 Prozent des bereits hoch versteuerten Arbeitseinkommens werden, da sie verkonsumiert werden, gleich nochmal mit rund zwanzig Prozent Mehrwertsteuer belastet: eine echte Doppelbesteuerung echter Leistungseinkommen.
Hingegen werden diejenigen, die so hohe Einkommen genießen, dass sie den Großteil ihres Geldes gar nicht ausgeben können, systemisch zweifach belohnt: Ihre Vermögen werden über Zinsen und andere Kapitalrenditen ohne weitere Leistung vermehrt. Obendrein bleiben sie von der Doppelbesteuerung verschont, denn die Mehrwertsteuer trifft nur fünf Prozent ihres Einkommens, 95 Prozent bleiben steuerfrei. Die Kapitalertragssteuer betrifft wiederum nicht das angesparte (nicht verkonsumierte) Einkommen – die 95 Prozent –, sondern nur das zusätzliche, auf das gebildete Vermögen obendrauf erzielte Kapitaleinkommen (keine Doppelbesteuerung). Die Reichen gewinnen immer.
Über diese doppelte Asymmetrie – höchst unterschiedliche Konsum- und Sparquoten – wird aus dem Zins, über den sich so viele Menschen auch in kleinsten Mengen freuen, ein äußerst effektiver Umverteilungsmechanismus von rund neunzig Prozent zu rund zehn Prozent der Bevölkerung, eine unausgewiesene »private Kapitalsteuer«, die nicht über den Staat an die Reichen umverteilt wird, sondern über den Markt.
Der Vorschlag hier: Der Sparzins soll gänzlich auslaufen – er stellt eine unnötige Umverteilung und einen finanziellen Nachteil für neunzig Prozent der Bevölkerung dar. An die Stelle des Kreditzinses könnte eine Kredit- oder Bankgebühr treten, über die Banken ihren Betrieb finanzieren inklusive der Kosten für Kreditausfälle und Investitionen in das Unternehmen. Beim Entfall von Sparzinsen, Ausschüttungen und Boni wären Kreditgebühren – im Durchschnitt – nur noch in dem Ausmaß nötig, dass die Bank ihre Betriebskosten und Kreditverluste decken kann. Bei mittlerer Größe könnte dies mit durchschnittlichen Kreditkosten von 2,5 Prozent erreicht werden. Das würde den Zins als Wachstumstreiber maßgeblich entschärfen oder sogar neutralisieren: Für jedes einzelne entliehene Geld muss weiterhin mehr Geld zurückgezahlt werden, doch wenn
– die Kreditsumme zum Beispiel 200 Prozent des BIP ausmacht23
– der durchschnittliche Kreditzins 2,5 Prozent ausmacht
– 1,5 Prozent der Kredite ausfallen
– zwei Prozent Inflation stattfindet
wäre das Kreditsystem wachstumsneutral; vom Zinssystem geht dann kein systemischer Wachstumszwang mehr aus.
e) Gemeinwohl-Prüfung aller Kreditvorhaben
Im vorangehenden Kapitel wurde argumentiert, warum in einer ethischen Marktwirtschaft alle Kreditansuchen nicht nur auf ihre finanzielle Bonität hin geprüft werden sollten, sondern gleichermaßen auf ihre ethische Bonität, ihren umfassenden Mehr-Wert und ihren Beitrag zu den Zielen des Wirtschaftens. Die heute einzige Bewährungsprobe von Kreditprojekten innerhalb der Tauschwertlogik des Systems soll ausgeweitet werden auf eine umfassende Nutzwertlogik, die alle Werte miteinschließt: Sinn, Würde, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Demokratie sowie das Generalziel des Wirtschaftens: Bedürfnisbefriedigung und Gemeinwohl. Eine entsprechende Gemeinwohl-Prüfung könnte Teil der obligatorischen Kreditprüfung werden. Einige Alternativ- und Ethikbanken haben bereits erste Ansätze einer solchen Gemeinwohl-Prüfung entwickelt, diese gilt es zu einer gesetzlichen Grundlage zu vervollständigen und zu verfeinern. Bei Betrachtung beyond ideology ist die finanzielle Bonitätsprüfung auch eine »ethische« Prüfung: Der »Wert«, der hier geprüft wird und über die Vergabe oder Verweigerung des Kredites entscheidet, ist die monetäre und betriebswirtschaftliche Rentabilität. Hinter diesem scheinbar »objektiven« oder »mathematischen« Kriterium verbirgt sich jedoch eine geballte Ladung von Werten, deren Umsetzung zum monetär-betriebswirtschaftlichen Ziel führt oder nicht – vom menschlichen und sozialen Umgang über den Respekt von Gesetzen und die Steuermoral bis zu kurz- und langfristigen ökologischen Auswirkungen. Von daher ist es unvollständig, intransparent und dysfunktional, die ethische Bewertung bei der Kreditvergabe hinter der finanziellen Bonitätsprüfung zu verstecken. Im Idealfall sind Kredite mit bester finanzieller Bonität ethisch makellos. Doch es gibt auch Fälle, wo die Investition gleichzeitig hochrentabel und ökologisch oder sozial destruktiv ist. Deshalb sollten alle Investitionsvorhaben zwei Prüfungen durchlaufen müssen, und nur wenn beide bestanden sind, fließt das Geld, wird der Kredit genehmigt. Dies hätte drei positive Effekte:
– Es werden keine Kredite vergeben, die ein zu hohes finanzielles Risiko darstellen.
– Es werden keine Investitionsvorhaben finanziert, die bei der Ethik-Prüfung durchfallen.
– Investitionen, die ethisch besonders wertvoll sind – eine Zukunftstechnologie, eine soziale Innovation, ein öffentliches oder Gemeinschaftsgut – und knapp unter der monetären Rentabilitätsgrenze liegen, können über verschiedene Förderinstrumente verwirklicht werden: ökosoziales Risikokapital, ethische Unternehmens- oder Start-up-Finanzierung, strukturpolitische Investitionsförderung, (zins-)vergünstigte Kredite aus dem Sondervermögen der Banken und andere.
f) Gemeinwohlorientierte Gewinnverwendung
Das Rad muss hier nicht neu erfunden werden: Die typische Sparkasse schüttet ihre Gewinne nicht an Privatpersonen aus, sondern an soziale und kulturelle Projekte in der Gemeinde, in der sie wirkt. Auch viele Genossenschaftsbanken zahlen aus Prinzip keine Dividende, weil andere Ziele wichtiger sind, zum Beispiel: 1. die Aufstockung des Eigenkapitals; 2. die Bezuschussung von Krediten für Investitionen mit vorbildlichem ethischen Mehrwert; 3. die Förderung des regionalen Gemeinwohls in Gestalt von Sozial-, Sport-, Kultur- und Bildungseinrichtungen; 4. ethische Start-up-Förderung in regionalen Gemeinwohl-Hubs; 5. die direkte Beteiligung an Unternehmen über regionale Gemeinwohl-Börsen. Es gibt so viele sinnvolle Verwendungen des Finanzgewinns, dass für die EigentümerInnen schlicht nichts übrig bleibt außer Sinn, Nutzen, Werte, Glück und Mitbestimmung …
Diese sechs Kriterien und andere könnten von den Banken, die weiterhin in den Genuss öffentlicher Infrastrukturen, Refinanzierung, Garantien und Aufträge kommen wollen, als Gegenleistung gefordert werden. Wenn der Staat oder eine demokratische Gesellschaft die Banken umfassend »hält«, müssen diese auch zur Gesellschaft halten. Im Rahmen des »Service Public« »Versorgung mit Finanzdienstleistungen« kann der Staat die Durchführung Privaten überlassen – allerdings gegen die Erfüllung eines ethischen Pflichtenhefts oder Leistungskatalogs: einer »Gemeinwohl-Charta«.
Diese Gedanken sind nicht utopisch: Seit vierzig Jahren entstehen weltweit Ethikbanken, die dem Gemeinwohl dienen, anstatt Gewinne zu maximieren. In Holland ist die Triodos-Bank entstanden, in Deutschland die GLS, die Ethik-Bank und die Umwelt-Bank, in der Schweiz die Alternativbank Schweiz und die Schweizer Gemeinschaftsbank, in Italien die Banca Ética, in Spanien das Kreditprojekt Fiare. In Österreich rief die globalisierungskritische Bewegung Attac zur Gründung einer »Demokratischen Bank« auf.24 Die daraus hervorgehende und von Attac mittlerweile unabhängige »Bank für Gemeinwohl« wird voraussichtlich 2015 den Betrieb aufnehmen.25 Viele alternative und Ethik-Banken sind zusammengeschlossen in der Global Alliance for Banking on Values.26 Die Europäische Union könnte in Kooperation mit diesem Verband den Kriterienkatalog für gemeinwohlorientierte Banken ausarbeiten, welche in den Genuss staatlicher Unterstützung kommen. Ein Schritt weiter wäre die Gründung eines eigenen EU-weiten Bankenverbandes von gemeinwohlorientierten Banken, welche dann nicht mehr auf die herkömmlichen Bankenverbände angewiesen sind. (Derzeit müssen sich Neugründungsprojekte in bestehende Revisions- und Einlagensicherungsverbände eingliedern.) Dieser Verband könnte allen Banken offenstehen, welche die Gemeinwohl-Charta unterzeichnen und nachweislich erfüllen – mit den damit verbundenen rechtlichen Vorteilen.
In Deutschland und Österreich haben zudem die ersten Banken – die Sparda München und die Raika Lech am Arlberg – damit begonnen, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen, die seit 2010 von der wachsenden Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entwickelt wird.27 Ihnen geht es um einen neuen Kurs und eine neue Identität – oder auch um »back to the roots«, was die Gründungswerte des genossenschaftlichen Bankensektors betrifft. Die Gemeinwohl-Bilanz wäre ein wichtiger Teil der Gemeinwohl-Charta für Banken, vielleicht der erste Schritt dorthin.
Ein zentrales Problem der gegenwärtigen Geldordnung wurde bereits mehrfach angeschnitten, es wird nun an dieser Stelle genauer ausgeführt: Die privaten Finanzvermögen wachsen schneller als die Wirtschaftsleistung. Bis ungefähr 1980 waren die privaten Finanzvermögen kleiner als die jeweiligen BIP der wichtigen Industrieländer. Seither ziehen sie ihnen davon. Untersuchungen verschiedener Beratungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen zufolge beträgt das globale Finanzvermögen privater Haushalte ein Vielfaches der Weltwirtschaftsleistung. Der Global Wealth Report 2013 der Boston Consulting Group kommt auf 135 Billionen US-Dollar oder 190 Prozent der Weltwirtschaftsleistung.28 Laut der Datenbasis von McKinsey hat das globale Finanzvermögen 2012 sogar 225 Billionen US-Dollar oder 312 Prozent des Welt-BIP erreicht.29 Die Credit Suisse errechnet für 2012 ein Bruttogesamtvermögen der Privathaushalte von 264 Billionen US-Dollar30, das wäre das 3,7-Fache der Weltwirtschaftsleistung von 72 Billionen US-Dollar. Beim Finanzvermögen der Privathaushalte kommt die BCG auf dasselbe Ergebnis wie McKinsey: das 1,9-Fache des Welt-BIP. Das Problem am wachsenden Finanzvermögen: Eine Volkswirtschaft kann, wie bereits argumentiert, nicht ein immer größeres Vielfaches ihrer selbst an realen Krediten aufnehmen – dafür gibt es schlicht keine Nachfrage, keine Investitionsmöglichkeiten und schon gar keine Tilgungskapazitäten mit Zinszuschlag. Zudem wächst ab einem bestimmten Gesamtverschuldungsgrad die Insolvenzgefahr akut. Wie ebenfalls schon gezeigt, siedelt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich diese Schwelle bei 260 Prozent des BIP an und die Boston Consulting Group bei 180 Prozent der Wirtschaftsleistung: Kredite im Ausmaß von je sechzig Prozent des BIP an den Unternehmenssektor, an die Privathaushalte und an den Staat.31 Würde nun eine dieser Zahlen, 180 oder 260 Prozent, zu einer politischen Zielgröße, wäre dies einigermaßen willkürlich und nur schwach argumentierbar mit historischen Insolvenzwellen bei Unternehmen und Haushalten oder Staatsinsolvenzen. Doch die Sechzig-Prozent-Obergrenze der Staatsverschuldung, die im Maastricht- und im EU-Lissabon-Vertrag zu Gesetz geworden und bei Übertretung mit Pönalen abgesichert ist, ist eine genauso willkürlich gezogene Grenze. Die Befürchtung dahinter ist, dass Staaten, die diese Schwelle überschreiten, in Rückzahlungsschwierigkeiten kommen und ihren Schuldendienst nicht mehr leisten könnten. Die Tatsache, dass die Eurozone 2014 auf eine durchschnittliche Staatsschuldenquote von hundert Prozent der Wirtschaftsleistung zusteuert, also vierzig Prozentpunkte über dem vertraglich zulässigen Maximum, verrät nicht nur, dass die Staaten stark überschuldet sind, sondern auch, dass viel zu viel Privatvermögen vorhanden ist, das einerseits nach Veranlagung sucht und andererseits politische Einflussnahme darauf nimmt, dass die Schulden weiter steigen! Würden die Schulden gestrichen oder auch nur gebremst, wären die Veranlagungsmöglichkeiten und die Kapitalrenditen dahin. In einer Volks- und Weltwirtschaft, in der die realen Veranlagungsmöglichkeiten in Relation zum Veranlagung und Rendite suchenden Vermögen immer geringer werden, ist das eine immer fatalere und verdrehtere Situation. Es braucht Schulden, damit Vermögen veranlagt werden können. Auch hier hat sich der Systemspieß förmlich umgedreht. Suchten in den Nachkriegsjahrzehnten die SchuldnerInnen bisweilen verzweifelt nach GläubigerInnen, so suchen heute die GläubigerInnen immer verzweifelter nach SchuldnerInnen (von daher die Strategien Privatisierung, Globalisierung und Spekulation). Die Euro-Staaten springen hier für die Vermögenden in die Bresche und stellen sich im System als brave SchuldnerInnen zur Verfügung. Das geht natürlich aus zwei mathematischen Gründen nicht lange gut:
1. Ab einer bestimmten Schwelle, vielleicht noch nicht bei 180 und auch nicht bei 260 Prozent, aber vermutlich spätestens bei 300 bis 450 Prozent (100 bis 150 Prozent je Sektor), sind Volkswirtschaften so überschuldet, dass es zur Insolvenz in einem oder mehreren Sektoren, zum Schuldenschnitt und damit zum Vermögensverlust der GläubigerInnen kommt. Das Vermögen wird dann jedenfalls vernichtet. Daher wäre es – auch für die Vermögenden – besser, die Finanzvermögen werden gezielt durch Steuern gebremst und redimensioniert, bevor es zur krisenbedingten unkontrollierten Vernichtung kommt. Wer von einer »Schuldenbremse« spricht, sollte der Redlichkeit halber immer auch die Zwillingsschwester Vermögensbremse mitdiskutieren.
2. Wenn die Finanzvermögen gleich groß sind wie das BIP, bedeutet eine Vermögensrendite von zehn Prozent, dass ein Zehntel des Volkseinkommens als »private Kapitalsteuer« an die VermögensbesitzerInnen fließt. Machen die Finanzvermögen wie heute das 3,1-Fache des BIP aus, wäre es schon fast ein Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Wächst das Finanzvermögen auf das Zehnfache der Wirtschaftsleistung, dann müsste der gesamte volkswirtschaftliche Kuchen, der in einem Jahr gebacken wird, als private Kapitalsteuer an die FinanzvermögensbesitzerInnen zugeteilt werden. Alle anderen gingen leer aus.
Je größer das Finanzvermögen in Relation zur Volkswirtschaft, desto schwieriger wird es, eine hohe Verzinsung aufrechtzuerhalten und auch nur den Wertverlust infolge von Inflation auszugleichen. Beim Hundertfachen wäre nicht einmal eine einprozentige Verzinsung möglich, weil damit bereits das gesamte Volkseinkommen für den Kapitaldienst draufginge – alle arbeitenden Menschen blieben einkommenslos. Absurderweise wird in der Diskussion der letzten Jahre genau dieser Umstand, dass der Kapitalzins unterhalb der Inflationsrate liegt, häufig als »finanzielle Repression« bezeichnet.32 Der Täter-Opfer-Spieß wird um 180 Grad gewendet: Nicht die Enteignung der Allgemeinheit durch den Renditehunger der EigentümerInnen von Finanzvermögen, legitimiert durch eine Rentiers-Ideologie, die Kapitalbesitz mit Leistung gleichsetzt, wird als »finanzielle Repression« bezeichnet, sondern die Tatsache, dass die Alimentierung der KapitalbesitzerInnen geringer ausfällt als die Geldentwertung. Bei der Lektüre der Tageszeitungen entsteht der Eindruck, dass die Verzinsung des Kapitals wenigstens im Ausmaß der Inflation als Grundrecht betrachtet wird, das von unbrauchbaren PolitikerInnen und NotenbankerInnen verletzt wird. Gleichzeitig erklärt niemand, wer denn dieses Grundrecht – ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Wohlhabenden – erwirtschaften soll! Aus nichts entsteht nichts. Jedes Einkommen muss erarbeitet werden, wenn nicht von den EinkommensbezieherInnen selbst, dann von anderen, deren Leistung teilweise abgeschöpft wird und den KapitalbesitzerInnen zufließt. Wir erinnern uns: Schon bei einem Finanzvermögen, das fünfmal so groß ist wie die Wirtschaftsleistung, würde eine dreiprozentige Verzinsung ein »Grundeinkommen« für die VermögensbesitzerInnen im Ausmaß von fünfzehn Prozent der Wirtschaftsleistung ergeben. Wer ein Grundeinkommen im Ausmaß von fünfzehn Prozent der Wirtschaftsleistung für diejenigen, die es wirklich benötigen, vorschlägt, wird als UtopistIn, Pseudo-ÖkonomIn oder KommunistIn diffamiert. »Kapital-Kommunismus« ist faktisch das, was derzeit real existiert: Alle gemeinsam für das Kapital.
Ein Ausweg wäre, dass die Kapitalrenditen schrumpfen, in Richtung ein Prozent und später null. Bei kleinen oder kurzfristigen Sparguthaben ist dieser Trend bereits zu beobachten (wenn auch eher aufgrund der Politik des billigen Geldes der Zentralbanken als aufgrund der Kapitalschwemme der SparerInnen). Bei Großvermögen geht es jedoch immer noch in die Gegenrichtung: Von 1993 bis 2009 wuchsen die Vermögen der Forbes 400 im Schnitt pro Jahr um zehn Prozent.33 Zehn Prozent! Wie kommt es zu diesen Wucherrenditen, die langfristig und volkswirtschaftlich unmöglich sind? Es gibt zwei Mechanismen: aggressive Umverteilung und professionelle Spekulation. Dank der professionellen Vermögensverwaltung und dem skrupellosen Auftreten von institutionellen Investoren gegenüber den Vorständen von Aktiengesellschaften fließen den AktionärInnen Wertschöpfungsgewinne zu, welche andere Menschen generiert haben. Gleichzeitig verstehen es die Profis im Vermögensverwaltungsgeschäft (Fonds, Kapitalanlagegesellschaften, Family Offices), Informationen so gut zu nützen, dass sie auf zweistellige Renditen kommen. Die »KleinanlegerInnen« werden von den Finanzhaien gerne als »Plankton« bezeichnet. Ergebnis beider Strategien: Die Ungleichheit wächst.
Eine Lösung für das immer ungünstigere Verhältnis von Finanzvermögen zu Realwirtschaft wäre die Stilllegung der »überflüssigen« Vermögen, sodass ihnen keine Schulden mehr gegenüberstehen und keine Finanzrenditen anfallen. Das könnte so aussehen: Finanzvermögen werden zur Bank getragen, wo sie auf den bereits beschriebenen Geldkonten »deponiert« werden, die im Besitz der SparerInnen verbleiben und keine Forderungen gegenüber der Bank darstellen. Es handelt sich wörtlich um Einlagen. Erst wenn die SparerIn ihre Einlage bewusst einem Kreditprojekt zur Verfügung stellt (durch direkten oder automatisierten Auftrag), wandelt sich die Geld-Einlage zur Sparanlage und geht in die Bankbilanz ein.34
In diesem Szenario wäre es nicht das geringste Problem, dass die Finanzvermögen fünfmal so groß sind wie die Wirtschaftsleistung: Dann könnten zum Beispiel Vermögen in der Höhe von 300 Prozent des BIP auf den Girokonten »arbeitslos« herumliegen, wo sie keinen Anlage- und Renditedruck ausüben und keine Schulden generieren, während zwei Fünftel des Vermögens in der Höhe von 200 Prozent des BIP in die Bankbilanzen eingehen und Investitions- oder Konsumkredite finanzieren.
Natürlich nagt dann die Inflation ungebremst an den Einlagen (»finanzielle Repression«) und etwas abgeschwächt auch an den Anlagen, die in der Übergangsphase gering verzinst würden. Doch die geringfügige Entwertung ihres Vermögens ist für die DurchschnittsbürgerIn ein vergleichsweise geringerer Verlust als der entstehende Gewinn in Form eines sichereren Arbeitsplatzes, Tendenz zu Vollbeschäftigung, hoher sozialer Sicherheit und eines für ein gutes Leben ausreichenden Arbeitseinkommens. Der system error besteht darin, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung ideologisch mit den Kapitalrentiers identifiziert und deren Interessen teilt – gegen das eigene materielle Interesse. Das »gute Leben« für viele und für eine breite Mittelschicht wird erst dadurch möglich, dass eben nicht ein relevanter Teil des volkswirtschaftlichen Einkommens an eine Minderheit von VermögensbesitzerInnen als private Kapitalsteuer abgeführt wird wie heute. Wir haben vorhin gesehen, dass für neunzig Prozent der Bevölkerung jeder Zehntelprozentpunkt Zins ein Verlustgeschäft ist. Die große Mehrheit kommt besser weg, wenn es gar keine Sparzinsen gibt – ganz unabhängig davon, ob es Inflation gibt und wie hoch diese ist. Das ist für manche vielleicht schwer zu glauben, aber – wie wir gesehen haben – einfach nachzurechnen.
Neunzig Prozent der Bevölkerung würden gewinnen, wenn es kein umverteilendes Zinssystem gäbe. Dass zehn Prozent der Bevölkerung für das Zinssystem kämpfen und dieses mit verschiedenen Argumenten (Risikoprämie, Konsumverzicht, Leihgebühr) verteidigen, ist aus ihrer materiellen Interessenlage (»NettozinsgewinnerInnen«) erklärbar. Schwer erklärlich ist, dass ein viel größerer Teil der Bevölkerung Zinsen für gerechtfertigt und gerecht hält, obwohl sie ihnen schaden und sie ärmer machen. (Sie wissen nicht, dass sie »NettozinszahlerInnen« sind und damit zu den VerliererInnen des Zinssystems zählen.)
Wenn »nur« 200 Prozent der Wirtschaftsleistung als Kredite vergeben werden (an Unternehmen und Haushalte) und diese Sparanlagen nur gering verzinst wären, würde die Große Umverteilung zwar unverändert fortdauern, aber das Ausmaß würde sich in Grenzen halten. Zum Beispiel könnten die Sparzinsen mit einem halben oder höchstens einem Prozent gedeckelt werden, wie es in Westdeutschland bis 1967 in Form des Spareckzinses gesetzlich geregelt war. Dann gingen »nur« ein bis zwei Prozent des Volkseinkommens an die VermögensbesitzerInnen – immer noch eine Umverteilung von der Allgemeinheit zu einer Minderheit, aber eine geringere und weniger radikale als heute. Um zu verdeutlichen, dass das immer noch schreiend ungerecht wäre, eine kleine Beispielrechnung: Wenn jemand ein Finanzvermögen von 50.000 Euro besitzt, dann erhielte diese Person bei einem Sparzins von einem Prozent ein jährliches Zinseinkommen von 500 Euro. Wer hundert Millionen Euro besitzt, erhielte ein arbeitsloses Jahreseinkommen von einer Million Euro. Wer zehn Milliarden auf der Bank hat (die vermögendsten Personen und Familien in Europa besitzen dreißig bis fünfzig Milliarden Euro), dem fließen jährlich 200 Millionen Euro zu. Der Zins »leistet« auch bei niedrigsten Sätzen eine gigantische Umverteilung, weil die Vermögensungleichheit so enorm ist.
Andererseits ließe sich argumentieren: Wenn Sparanlagen wenigstens mit einem halben oder einem Prozent verzinst würden, wäre das ein Anreiz, Einlagen vom Geldkonto außerhalb der Bankbilanz in bilanzwirksame Sparanlagen umzuwandeln: das Geld zu investieren. Der Zins könnte als Risikoprämie argumentiert werden für den Teil des Finanzvermögens, der im Falle einer Insolvenz der Bank zur Insolvenzmasse wird und teilweise in Gefahr gerät – im Unterschied zu den Geldkonten, die wie beschrieben im Falle einer Insolvenz vollständig erhalten blieben, weil sie ja nie in den Besitz der Bank wechseln. Während EinlegerInnen Geld-BesitzerInnen bleiben, werden AnlegerInnen zu GläubigerInnen der Banken. Doch das Argument »Risikoprämie« geht, wie nun mehrfach begründet, für neunzig Prozent der »Prämierten« ins Leere, weil sie über den täglichen Einkauf nicht nur die eigene Risikoprämie selbst bezahlen, sondern zusätzlich noch die Risikoprämie jener, welche eine geringere Konsumquote und vor allem ein größeres Sparvermögen haben als sie. Die Argumentation pro Zinsen hält einer logischen Analyse nicht stand. Für neunzig Prozent der Bevölkerung ist die Risikoprämie alias Sparzins unterm Strich kein Einkommen, sondern eine Kapitalsteuer.
Was noch gegen einen Sparzins als Risikoprämie spricht: Das Risiko eines Verlustes der Sparanlage ist in einem gemeinwohlorientierten Bankensystem infolge a) der staatlichen Einlagensicherung, b) des konservativen Geschäftsmodells gemeinwohlorientierter Banken und c) erhöhter Eigenkapitalanforderungen (siehe nächstes Kapitel) nahe null. Für null Risiko braucht es auch keine Risikoprämie (in der »alten« Logik).
Der gegen null strebende Sparzins ist auch gerechtfertigt durch die immer schärfere »Konkurrenz« der Finanzvermögen um das »Angebot« an Sparanlagen. Wenn nur noch jeder zweite, dritte oder fünfte Euro zum Zug kommt, weil nur ein immer geringerer Bruchteil des Finanzvermögens für die Kreditfinanzierung benötigt wird, ist ein Totalverfall der Finanzrendite vollkommen marktkonform. Es gibt einen »Trost«: Die Sparanlage hat, auch wenn sie nicht verzinst wird, andere große Vorteile für die SparerIn, die heute vielleicht noch nicht von allen in ihrer Tiefe und Reichweite erfasst werden: Sie nützt anderen und ermöglicht Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen, was volkswirtschaftlich allen nützt. An die Stelle der Finanzrendite treten ein Systemnutzen und eine Sinnrendite. Diese Überlegungen klingen für einige vielleicht ein bisschen nach Zukunftsmusik, doch sind sie Bestandteil eines Paradigmenwechsels, der im folgenden Kapitel anhand der »Triple Skyline« genauer beschrieben und dadurch vielleicht plausibler wird als in diesen ersten Andeutungen.
Zum Abschluss: Manche könnten noch fragen, was denn der Anreiz wäre, Bargeld bei der Bank als Einlage zu deponieren gegenüber der Hortung im Kopfpolster oder im Schlafzimmer-Safe. Abgesehen von der physischen Unmöglichkeit, zehn Millionen Euro in den Kopfpolster zu stopfen oder eine Milliarde in den Kellersafe zu pressen: Volkswirtschaftlich wäre es zunächst egal, wo die privaten Bargeld-Deponien sind: in den Eigenheimen oder in den Banken. Der einzige Unterschied wäre, dass bei zunehmender Heim-Hortung die ausgegebene Bargeld-Menge erhöht werden müsste. Dem könnte mit einem Hortungsverbot für Bargeld begegnet werden – das war in der Geschichte zumeist der Fall (zumal es nur Bargeld gab und kein Buchgeld).35 Teil des »öffentlichen Gutes« Geld ist, dass es ab einer bestimmten Menge entweder für den Konsum verwendet oder auf der Bank deponiert werden muss, damit das in Umlauf gebrachte Bargeld – ein »unreines« öffentliches Gut – effizient genutzt werden kann: von jenen, die es jetzt gerade tatsächlich benötigen. (Die Bargeld-Menge in der Eurozone beträgt, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, 950 Milliarden Euro oder nur rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung.) Die Parkbank steht auch nicht jenen zur Verfügung, die sie jetzt gerade nicht benützen. Nur das »Besitzen« der Bank ist privat möglich, nicht aber deren Eigentum. So könnte auch der private Besitz respektive die Nutzung des öffentlichen Eigentums »Banknote« und »bare Münze« geregelt werden.