Die drei ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren die
Jahrzehnte der dichtesten Kapitalverkehrsbeschränkungen
in der bisherigen Geschichte des internationalen Kapitalismus.
Sie waren zugleich die Zeiten besonders starken
Wachstums, hoher Beschäftigung, erheblicher Steigerung der
Realeinkommen und des gesellschaftlichen Fortschritts.
Jörg Huffschmid1
Beim Thema Steuern zeigt sich, dass wir uns ungefähr auf halbem Weg zwischen Feudalismus und Demokratie oder umgekehrt befinden. Während das Privateigentum speziell der Vermögenden mit vereinten Anstrengungen der öffentlichen und privaten Sicherheitskräfte geschützt wird – der Staat zeigt hier ein ausgeprägtes Engagement –, arbeiten die Finanzminister und private Steuerberater ähnlich effektiv zusammen, um die Steuerleistung derselben Vermögenden, deren Eigentum der Staat streng schützt, möglichst niedrig zu halten. Die Spitze des Eisbergs ist prominent: Klaus Zumwinkel, Uli Hoeneß, Boris Becker, Karl-Heinz Grasser, Julius Meinl, Herbert Stepic. Ein Teil der vermögendsten Privatpersonen schafft Multimillionen und Milliarden in Steuerparadiese – mithilfe von RechtsanwältInnen, WirtschaftstreuhänderInnen und NotarInnen: Ganze Heerscharen von FluchthelferInnen leisten Beihilfe zur Steuervermeidung. Zum anderen verschieben transnationale Unternehmen ihre Gewinne in Niedrigsteuerländer und Steueroasen, wodurch sie dort, wo sie realwirtschaftlich tätig sind und staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, geringe oder gar keine Steuern bezahlen. Dank des von ihren FreundInnen in den Parlamenten frei gemachten Kapitalverkehrs in Steueroasen, ineffektiven Doppelbesteuerungsabkommen und der Privatisierung des »Clearings«, des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs. Starbucks, Amazon, Apple, Google, Ikea, Accenture. Sie alle sind spektakuläre Fälle von Steuervermeidung oder -betrug. 386 Großunternehmen aus der OECD drücken ihre Steuerleistung jährlich um 106 Milliarden US-Dollar, so eine Studie der Credit Suisse.2 Google ersparte sich mithilfe der Steueroase Irland sogar 44 Milliarden Pfund an Steuern (52 Milliarden Euro; das EU-Rettungspaket für Irland belief sich auf 85 Milliarden Euro), Apple entrichtete einen Steuersatz von zwei Prozent.3 Die deutsche Bank unterhält laut Geschäftsbericht mehr als 440 Tochterfirmen in der Supersteueroase Delaware; und auf den Cayman Islands mehr als am Frankfurter Konzernsitz.4 Starbucks wies in der Schweiz 2008, 2009 und 2010 einen Gewinn von null aus. Gleich hoch lag die Steuerleistung.5 Die Gewinne von US-Unternehmen auf Bermuda belaufen sich auf 646 Prozent der Wirtschaftsleistung des kleinen Landes, auf den Cayman Islands auf 547 Prozent und auf den British Virgin Islands auf 355 Prozent des BIP.6 In den Steueroasen dieser Welt werden unermessliche Reichtümer gebunkert. Vorsichtige Schätzungen des Tax Justice Network gehen von einem privaten Geldvermögen von 21 bis 32 Billionen US-Dollar aus, die »offshore« Steuern schwänzen.7
Nicht wenige vermögende Privatpersonen und multinationale Unternehmen haben ein Problem mit Fairness. Beim Nehmen sind sie vorn dabei (staatliche Infrastruktur von Bildung und Gesundheit über Straßen und Flughäfen bis Recht und Sicherheit), beim Geben kneifen sie (Steuerleistung). Sie sind nicht bereit, die demokratischen Spielregeln einzuhalten. Sie verhöhnen rechtsstaatliche und liberale Grundprinzipien. Sie gleichen mehr einer »Räuberbande« als ehrbaren Kaufmännern und verantwortlichen StaatsbürgerInnen. Die Armen haben diese Wahl nicht: Sie haben kein Vermögen, das sie verschieben könnten; sie erzielen keine Unternehmensgewinne, die sie an einem alternativen Ort deklarieren könnten; sie haben keine nennenswerten Kapitaleinkommen, die sie vor dem Fiskus verstecken könnten. Sie beziehen niedrige oder mittlere Arbeitseinkommen, von denen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge automatisch abgezogen werden. Geben sie das wenige aus, das sie verdienen, schlägt die Mehrwertsteuer in voller Höhe zu. Vermögende und multinationale Unternehmen hingegen können ihre Reichtümer und Gewinne langfristig »offshore« parken und vermehren; sie können sich den Ort, an dem sie ihre Gewinne ausweisen, weltweit aussuchen; und sie können Kapitaleinkommen über besondere Rechtskonstruktionen in einer solchen Form einstreichen, dass das zuständige Finanzamt durch die Finger schaut. Steuervermeidung und Steuerbetrug lösen in einem demokratischen Gemeinwesen eine Teufelsspirale aus:
– Es ist ungerecht und ungleich, wenn sich ein Teil der Bevölkerung der Steuerpflicht entzieht.
– Es ist besonders ungerecht, wenn ausgerechnet diejenigen die Spielregeln brechen, die sich deren Einhalten am einfachsten leisten könnten.
– Wenn der Rechtsstaat beim Steuervollzug einseitig versagt, wird das Vertrauen in die Behörden, die Gesetzgebung und in die Gerechtigkeit geschwächt.
– Die Steuermoral aller sinkt, wenn die einen es sich richten.
– Die Steuerlast wird auf die Ehrlichen verlagert und auf jene, die weniger Möglichkeiten zur Steuervermeidung haben – weg von Kapitaleinkommen und Unternehmensgewinnen hin zu Arbeitseinkommen und privatem Verbrauch.
– Die Staatseinnahmen gehen zurück, öffentliche Leistungen müssen gekürzt und gestrichen werden.
– Dadurch sinken wiederum die Chancengleichheit und die Möglichkeit der Menschen aus unteren Schichten, sich aus eigener Kraft ein Vermögen zu erwerben und zur Gruppe der Privilegierten aufzuschließen. Je schlechter es um die öffentliche Gesundheitsversorgung, das öffentliche Bildungssystem, die öffentliche Sicherheit und die Sozialeinrichtungen steht, desto weniger Chancen haben die Ärmeren, die auf diese Leistungen angewiesen sind, weil sie sich diese nicht – so wie die Vermögenden – privat leisten können.
Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerflucht und Steuerbetrug sollten deshalb eine gleich hohe politische Aufmerksamkeit genießen wie der Eigentumsschutz. Bei Letzterem steht der Staat Gewehr bei Fuß und achtet streng auf die Einhaltung der Spielregeln. Beim Steuervollzug hingegen, der das Eigentum der Allgemeinheit schützt, scheint es eine internationale Kultur der Laschheit, Nachsicht, Amnestie und rechtsstaatlichen Lustlosigkeit zu geben – zumindest bei den dicken Fischen.
Dabei müsste der Staat ein Eigeninteresse an einer gerechten Besteuerung und einem effektiven Steuervollzug haben: Wenn ein Teil der Steuerpflichtigen seinen Beitrag verweigert oder minimiert, kann der Staat über ihm zustehende Mittel nicht verfügen, öffentliche Leistungen können nicht erbracht und öffentliches Eigentum kann nicht aufgebaut werden. Defizite im Steuervollzug stellen eine Enteignung der Allgemeinheit dar. Bezeichnend für Prädemokratien ist, dass dieselben, die auf strengen Eigentumsschutz pochen (und hier für einen starken Staat eintreten), bei der Enteignung der Allgemeinheit durch Steuerbetrug keinen Handlungsbedarf sehen, sondern im Gegenteil sogar für einen schwachen Staat und für Gesetze eintreten, welche die Fortsetzung der Enteignung erlauben: freier Kapitalverkehr in Steueroasen, »befreiende« Steuerabkommen, großzügige Gruppenbesteuerung, Bankgeheimnis …
Eine seriöse Demokratie nimmt den Steuervollzug gleich ernst wie den Eigentumsschutz. Sie achtet ohne Unterschied auf die Rechte und Pflichten der StaatsbürgerInnen. Je einseitiger die Aufmerksamkeit des Staates auf dem Eigentumsschutz liegt, desto »feudaler« oder neofeudaler ist er. Je ausgeglichener das hoheitliche Engagement hierbei, desto demokratischer ist ein Gemeinwesen. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 legte nicht zufällig prominent in Artikel 13 fest, dass eine »allgemeine Abgabe auf alle Bürger, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, gleichmäßig verteilt werden muss«. Diese Prominenz kommt daher, dass vor den bürgerlichen Revolutionen der erste und zweite Stand – Adel und Klerus – von der Steuerpflicht befreit waren, während das gemeine Volk die gesamte Steuerlast zu tragen hatte, obwohl es die schwächste Gruppe war und die geringsten »Möglichkeiten« von allen zur Steuerleistung hatte. Aus dieser historischen Ungleichheit heraus sind die beiden zentralen Grundprinzipien des Steuerrechts demokratischer Staaten erwachsen:
1. Universalität: Alle StaatsbürgerInnen sind der gleichen Steuerpflicht unterworfen.
2. Leistungsfähigkeit: Je größer jemandes wirtschaftliches »Vermögen«, also die Möglichkeit zur Steuerleistung, desto größer auch der persönliche Beitrag. Wer mehr hat, kann mehr geben – nicht nur absolut (ein gleich großes Stück vom größeren Kuchen), sondern progressiv: Je größer der jeweilige Einkommens- und Vermögenskuchen einer Person, desto größer ist auch das Kuchenstück, das an die Allgemeinheit abgetreten wird. Die Reichsten haben dann immer noch mehr als alle anderen.
Gleich wie für den staatlichen Eigentumsschutz bedarf es für den Steuervollzug gewisser Voraussetzungen: Damit bei Eigentumsverhältnissen Klarheit herrscht und diese vom Staat geschützt werden können, müssen verschiedene Daten ermittelt werden, beispielsweise die Eintragungen ins Grundbuch, ins Firmenregister oder die Anmeldung von Gläubigeransprüchen. Eine analoge Voraussetzung für den Steuervollzug ist die Transparenz von Einkommen und Vermögen gegenüber dem zuständigen Finanzamt. Bei einem Teil der Einkommen wurde diese Transparenz in den meisten demokratischen Rechtsstaaten durchgesetzt: Löhne und Gehälter werden automatisch nicht nur den Finanzämtern, sondern auch der Sozialversicherung gemeldet und entsprechend besteuert. Bei Kapitaleinkommen ist dies nicht so. Diese werden in manchen Ländern immer noch gar nicht oder nur teilweise dem Fiskus gemeldet. Zudem werden sie vielfach niedriger besteuert als Arbeitseinkommen. Das berühmteste Beispiel ist wieder einmal Warren Buffett, der vorrechnete, dass er auf sein Multimillioneneinkommen nur 17,4 Prozent Steuern zahle, während seine Angestellten durchschnittlich auf 36 Prozent kämen.8 In Deutschland beträgt der Spitzensteuersatz für Arbeitseinkommen 47,5 Prozent9, die Kapitalabschlagssteuer 25 Prozent. In einigen besonders feudalen Ländern wie Österreich und Luxemburg unterliegen Kapitaleinkommen sogar noch dem Bankgeheimnis und bleiben damit anonym. Dieser Widerspruch ist sensationell: vollautomatische Meldung von Arbeitseinkommen an die Finanzbehörden, um den Steuererfolg sicherzustellen; gesetzlicher Datenschutz bei Kapitaleinkommen, um den Steuervollzug maximal zu behindern! Die internationale Attac-Bewegung hat dieses Thema um die Jahrtausendwende aufgegriffen, wodurch in den letzten Jahren langsam Bewegung in die Sache kam und Steuerwettbewerb, Steueroasen und das Bankgeheimnis beginnen, in die Defensive zu geraten. Von der EU, der OECD und den USA gehen erste Maßnahmen aus. Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit herrschen allerdings noch lange nicht, und die sich häufenden Skandale der letzten Jahre haben hier noch zu keiner grundlegenden Änderung geführt. Die automatische Meldung aller Einkommen und Vermögen an den Fiskus ist eine noch unerledigte Aufgabe demokratischer Rechtsstaaten. Die Globalisierung ist dabei kein Hindernis. Eine Lösung könnte aus mehreren Schritten bestehen:
Schritt 1: Automatische Meldung aller Einkommen im Inland
Wie wir gesehen haben, wird ein Teil der Einkommen bereits vollautomatisch gemeldet. Die Gleichbehandlung von Arbeitseinkommen, die das Haupteinkommen von neunzig Prozent der Bevölkerung darstellen, und Kapitaleinkommen, die in nennenswertem Ausmaß vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung zugutekommen, gebietet die gleiche automatische Meldung aller Kapitaleinkommen – von Zinsen und Dividenden über Fondserträge bis hin zu Kurs- und Wettgewinnen – an die Finanzämter. Möglich wäre die Gleichstellung selbstverständlich auch in die Gegenrichtung: Das »Bankgeheimnis«, das ja eigentlich ein Kapitaleinkommensgeheimnis ist (auch hier eine Irreführung), wird auf Arbeitseinkommen ausgeweitet. Wer ein Zins-, Dividenden- und Kursgewinngeheimnis befürwortet, dessen Herz muss logischerweise auch für ein Lohn- und Gehaltsgeheimnis schlagen: gleicher »Datenschutz« für alle privaten Einkommensformen. Oder, wenn der Begriff »Bankgeheimnis« der Institution und nicht der Einkommensform gilt, für ein »Betriebsgeheimnis«, das die Arbeitseinkommen Privater vor den neugierigen Augen des Fiskus gleichermaßen schützt wie die Bank Kapitaleinkommen.
Gleichstellung in diese Richtung wäre allerdings ein steuerpolitischer Rückschritt in die Intransparenz. Im gegenständlichen Zielkonflikt Steuervollzug versus Datenschutz sticht die Steuerpflicht den Datenschutz, weil der Vorteil eines universellen und fairen Steuersystems die Nachteile, dass Papa Staat dafür die Einkommen seiner BürgerInnen erfährt, überwiegt. Oder umgekehrt ist der Vorteil des Datenschutzes – alle Einkommen geheim – geringer als der Nachteil, wenn kaum Steuern erhoben und damit weniger Schulen gebaut und öffentliche Leistungen finanziert werden können.10 Teil der Spielregeln einer neuen Geldordnung ist, dass Papa Staat den BürgerInnen das öffentliche Gut Geld zur Verfügung stellt, diese im Gegenzug aber ihre Einkommen und Vermögen offenlegen, damit der Staat diese gerecht und effektiv besteuern kann. In einem modernen Staatswesen werden alle Einkommen gleichermaßen offengelegt. Wenn Einkommen und Vermögen die virtuelle Form des Buchgeldes annehmen können, dann müssen sie genauso gemeldet werden wie der Erwerb eines Grundstückes durch Eintrag im Grundbuch, aufgrund dessen der Staat die Steuerleistung einfordert. In Zeiten neuer – elektronischer – Formen des Einkommens und Vermögens muss die Fähigkeit der Steuervollzugspraxis mitwachsen, um denselben Grundsätzen wie seit jeher Genüge zu tun: Wer ein höheres Einkommen und/oder Vermögen hat, kann absolut und relativ mehr zur Finanzierung des Staates beitragen. Voraussetzung dafür ist, dass dem Finanzamt alle Einkommen – und nicht nur ein Teil von ihnen – gemeldet werden.
Wenn beim Finanzamt alle steuerrelevanten Daten zusammenlaufen, kann das gesamte Einkommen einer einheitlichen Einkommenssteuer unterworfen werden. Die steuerliche Trennung und Begünstigung von (leistungslosem) Kapitaleinkommen gegenüber Arbeits(leistungs)einkommen wäre zu Ende. Auch die Sozialversicherungspflicht könnte auf das gesamte persönliche Einkommen ausgeweitet werden, anstatt nur Löhne, Gehälter und Selbständigen-Einkommen zu erfassen. Das wäre kein Schräubchen im Rentensystem, sondern eine Schraube.
Schritt 2: Multilaterales Abkommen über Informationsaustausch
Nachdem im »Inland« (der demokratische Souverän ist derzeit primär innerhalb von Nationalstaaten souverän) Gleichbehandlung aller Einkommen bei der automatischen Meldung erreicht ist, kann derselbe Grundsatz auch für Einkommen, die von inländischen StaatsbürgerInnen im Ausland erzielt werden, angewandt werden – um Steuerflucht zu verhindern. Die gute Nachricht: Es gibt zu diesem Zweck bereits den Rumpf eines multilateralen Abkommens innerhalb der EU mit einigen Drittstaaten (»Zinsrichtlinie«) sowie bilaterale Abkommen der USA (»FATCA«). Diese Rümpfe könnten über die Stationen EU, OECD und UNO zu einem einheitlichen multilateralen und letztlich globalen Steuerabkommen ausgebaut werden. In dieser Schrittfolge wäre die beginnende Kernzone »EU plus« ausreichend, um andere Staaten zum Mitmachen zu bewegen; und für den Fall, dass sie unkooperativ wären, auch zu zwingen. Nach dem völlig legitimen Motto: Wir kooperieren in Form des freien Kapitalverkehrs, wenn ihr in Fragen der Steuerpolitik kooperiert. Kooperiert ihr nicht, kooperieren wir auch nicht. Bei Nicht-Kooperation würden die Steueroasen den Kürzeren ziehen – sie würden von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten – und deshalb sofort auf Kooperation umschwenken, wenn es die EU oder die OECD ernst meinen würden. Das ist derzeit das Kernproblem: Die Industriestaaten (die Sitzländer der Steuerflüchtlinge) meinen es nicht ernst. Steueroasen und der aggressive Steuerwettbewerb seitens einiger Nationalstaaten sind nicht das Problem. Steueroasen oder Steuerwettkämpfer können nur so lange existieren, wie sie von den Sitzstaaten der Minimierer, Hinterzieher und Betrüger geduldet werden. Der allentscheidende Hebel ist der freie Kapitalverkehr. Kooperieren die Fluchtstaaten nicht, indem sie steuerrelevante Daten zurückhalten, dann steht weder in der Bibel, im Koran noch in irgendeiner Verfassung der Welt (Ausnahme: EU-Lissabon-Vertrag, der jedoch keine Verfassung ist), dass dieser frei sein muss. Selbst der Internationale Währungsfonds sieht in seinen Statuten Kapitalverkehrskontrollen vor: »Members may exercise controls of capital transfers as are necessary to regulate international capital movements.«11
Der freie Kapitalverkehr ist ein Vertrauensbeweis eines Staates einem anderen gegenüber. Dieser sollte erst gewährt werden, wenn der Verkehrspartner sich dieses Vertrauen erworben hat, indem er in Fragen des Steuervollzuges und der Finanzmarktregulierung kooperiert. Tut er dies nicht, wird mit der Gewährung des freien Kapitalverkehrs zugewartet.
Das ist grundvernünftig: Wann geben Sie einer Person Ihren Wohnungsschlüssel oder Ihre Bankomatkarte: am Tag des Kennenlernens, weil Sie ein »liberaler« Mensch sind? Oder erst, wenn sich diese Person Ihr Vertrauen erworben hat und Sie sicher sind, dass die »Öffnung« nicht missbraucht wird. Klarer Fall. Warum sollte es zwischen Staaten anders sein?
Vielleicht hilft ein weiterer Vergleich: Die »liberale Globalisierung« wird gerne beschrieben als »freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr«. Das ist jedoch eine dreifache grobe Irreführung und Vernebelung:
1. Die einseitige Durchsetzung der Wirtschaftsfreiheiten – freier Kapitalverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, freier Warenverkehr – bei gleichzeitiger Nichtdurchsetzung verbindlicher Menschenrechte, Arbeitsnormen, Gesundheitsstandards, sozialer Sicherheitssysteme, Steuersätze oder Umweltgesetze ist nicht »liberal« – die gleichen Rechte und Freiheiten aller sichernd –, sondern eine radikale Bevorteilung der Größten, Mächtigsten und Skrupellosesten: illiberale Prädemokratie.
2. Der Personenverkehr ist anders als behauptet nicht frei. Menschen werden von der EU und ihren Mitgliedstaaten in drei Güteklassen diskriminiert: Menschen erster Klasse genießen vollständige Reisefreiheit wie das Kapital; Menschen zweiter Klasse müssen hohe bürokratische Anforderungen überwinden, bevor sie vorübergehend in die EU einreisen dürfen; kaum haben sie es sich ein wenig gemütlich gemacht und FreundInnen gefunden, müssen sie wieder raus – ohne Gnade. Menschen aus »unwürdigen« Ländern dürfen gar nicht einreisen, die »Festung Europa« schottet sich immer hermetischer gegen GlobalisierungsverliererInnen ab. Das Budget der Frontex-Agentur, die ausschließlich dazu eingerichtet wurde, den freien Personenverkehr zu verhindern, hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Anders als Personen genießt jedes ausländische Kapital uneingeschränkte Einreisefreiheit – völlig unabhängig von der Qualität und Herkunft.
3. Freier Kapitalverkehr und die Überwachung desselben sind noch einmal zwei Paar Schuhe. Wieder hilft der Vergleich: Selbst wenn der Personenverkehr frei ist, bedeutet das nicht, dass es keine Grenzkontrollen, Registrierung, Deklarations- und Genehmigungspflichten, Stichproben und Sanktionsmöglichkeiten gibt: Spielregeln. Desgleichen beim Warenverkehr: Grundsätzliche Reisefreiheit bedeutet mitnichten, dass es keine Zollkontrollen, Einreisebehörden, Ausweispflicht und andere Spielregeln gibt. Nur beim Kapital soll freier Kapitalverkehr plötzlich heißen, dass der Staat – Regulierung, Aufsicht, Steuerbehörden, Mitteilungssystem – verschwindet und zu existieren aufhört? Das ist der haarsträubende reale Zustand, es ist aber weder liberal noch demokratisch oder rechtsstaatlich; vernünftig ist es schon gar nicht.
Freier Kapitalverkehr ist kein Selbstzweck und schon gar nicht das Ende aller Regeln. Die EU sollte das zukünftige multilaterale Steuerkooperationsabkommen allen Drittstaaten zur Unterschrift vorlegen – und bei Nichtunterzeichnung oder Vollzugsverweigerung mit der Einschränkung des Kapitalverkehrs reagieren. Wie man am Beispiel USA – Schweiz (Foreign Account Tax Compliance Act, FATCA) gesehen hat – und hoffentlich 2014 auch in Österreich sehen wird –, zieht eine Steueroase, auch wenn sie noch so selbstbewusst blufft, immer den Kürzeren und schwenkt sofort auf Kooperation ein, wenn es das Herkunftsland der Steuerflüchtlinge wirklich ernst meint.
Ernst meinen heißt allerdings auch noch etwas Zweites, nicht nur Sanktionsbereitschaft, wenn die Kapitalverkehrspartner nicht kooperieren. Es heißt an erster Stelle: mit gutem und vollständigem Beispiel vorangehen. Die Zinsrichtlinie der EU kann es, was die Anzahl der Schlupflöcher angeht, gelassen mit »Schweizer Käse« aufnehmen: Besteuert werden nur Zinseinkommen, aber weder Dividenden noch Kursgewinne; nur natürliche Personen, aber keine juristischen; Österreich und Luxemburg machen gar nicht mit beim automatischen Austausch, sie haben eine Quellensteuer-Extrawurst ausverhandelt, um ihr Bankgeheimnis, sprich die Vermögenden zu schützen. Und als Draufgabe gibt es bisher so gut wie nirgendwo auf der Welt ein Stiftungs- oder Trustregister, in dem die EigentümerInnen oder Begünstigten namentlich aufscheinen, was die Voraussetzung für die Zuordnung von Vermögen und Einkommen zu Steuerpflichten wäre. In Summe also eine lange Liste unerledigter Hausaufgaben, die beweist, dass es die Parlamente der EU-Staaten bisher nicht ernst meinen. Sie sind ganz damit beschäftigt, den Zugriff der Finanzämter auf die Vermögenden abzuwehren oder zu untergraben. Ein Grund mehr, den Souverän die Spielregeln entscheiden zu lassen und nicht die Vertretung der A-Klasse.
Was bedeutet »den Kapitalverkehr einschränken«? Um das zu verstehen, empfiehlt es sich, einen Blick auf die heute übliche technische Abwicklung des Kapitalverkehrs zu werfen. Denn manche haben die Vorstellung, dass Steuerflucht in Koffern stattfindet, die vollgepackt mit Geldscheinen sind und persönlich oder von Schleppern durch unwegsames Gelände geschmuggelt und mit Motorbooten verfrachtet werden. Das trifft nicht zu. Manche haben die Vorstellung, dass die Hausbank per Mausklick einen hohen Millionenbetrag auf eine Bank in einer Steueroase überweist. Das trifft vordergründig zu. Hinter den Kulissen gibt es sogenannte »Clearing-Banken«, über die der Großteil des internationalen Kapitalverkehrs abgewickelt wird – aus Kostengründen. Wenn Tausende von Überweisungen gleichzeitig über eine Datenautobahn geschleust werden, kommt das schlicht billiger. Diese Clearing-Banken machen den Service, das liebe Geld von »onshore« nach »offshore« zu transferieren, natürlich nicht gratis. Jede Transaktion ist vergebührt. Wenn man so will, sind das private Zollbehörden für den Grenzübertritt des internationalen Kapitals. Würden wir den Zoll beim Warenverkehr privatisieren – inklusive der Abwicklungsgewinne? Ich denke, dass es einleuchtet, dass es sich hier um eine hoheitliche Staatsaufgabe handelt, die direkt vom Staat wahrgenommen werden sollte, zum Beispiel von der Zentralbank. Ein Teil des Clearings wird schon heute von den Zentralbanken durchgeführt (Target), es müsste also nur »konsolidiert« werden. Alternativ dazu könnte die öffentliche Hand den privaten Clearing-Banken einen konkreten Leistungsauftrag erteilen, der die Beschränkung des Kapitalverkehrs miteinschließt – das wäre allerdings wie die Privatisierung der Zollabfertigung. Für die Beschränkung des Kapitalverkehrs gibt es mindestens zwei Möglichkeiten: Der Kapitalverkehr in Steueroasen wird so hoch besteuert, dass die »Flucht« unattraktiv wird. Oder den Banken, die in deklarierten Steueroasen sitzen, wird die Teilnahme am Kapitalverkehr verweigert. Sie erhalten kein Konto bei der Clearing-Bank.
Die erste Variante hat den Vorteil der möglichen Differenzierung je nach Schwere der fiskalischen Hehlerei. Ein mögliches Einstufungsinstrument ist der »Schattenfinanzindex« des internationalen Steuergerechtigkeitsnetzwerks.12 Beispielsweise wäre es möglich, den Kapitalverkehr in Steueroasen stufenweise mit drei bis dreißig Prozent zu besteuern, je nach Ergebnis des Index. Da sich die HehlerInnen unterschiedlicher »Lockmittel« bedienen, erscheint mir dieser Vorschlag als der bessere. Zudem ist er prozessual und damit pädagogisch ausgerichtet: Nach dem Ende des Bankgeheimnisses für Zinseinkommen lässt sich die Meldepflicht auf weitere Einkommen ausdehnen, auf juristische Personen, auf das Trust-Register und weitere Lücken. Selbst innerhalb der EU wäre so ein »Anreizmechanismus« sinnvoll: Österreich und Luxemburg behielten die Freiheit, anstelle der automatischen Mitteilung von Kapitaleinkommen die Quellensteuer weiterhin anzuwenden. Es würde nur etwas mehr kosten. Jedes Land hätte in diesem »kollektiven Lernprozess« die Chance auf steuerfreien Kapitalverkehr. Der einzige Unterschied zu heute: Dieser Status würde nicht mehr gratis und bedingungslos verliehen, sondern er wäre die höchste Belohnungsstufe nach gemachten Hausaufgaben in der Steuerkooperation.
Der EU-Lissabon-Vertrag bietet bereits heute die Rechtsgrundlage für die Abwicklung des Clearings über das System der Europäischen Zentralbanken. Im Protokoll zur EZB steht: »Die EZB und die nationalen Zentralbanken können Einrichtungen zur Verfügung stellen und die EZB kann Verordnungen erlassen, um effiziente und zuverlässige Verrechnungs- und Zahlungssysteme innerhalb der Union und im Verkehr mit dritten Ländern zu gewährleisten.«13
Auch von der G20 kam Ende 2013 ein hoffnungsvolles Signal: Bei ihrem Treffen in St. Petersburg hielten die G20-Staaten in der Abschlussdeklaration fest, dass sie »den Vorschlag der OECD für ein wirklich globales Modell multi- und bilateralen automatischen Informationsaustausches zur Gänze unterstützen (…) Wir verpflichten uns zum automatischen Informationsaustausch als neuem globalen Standard und rufen alle anderen Staaten auf, sich uns so bald wie möglich anzuschließen (…) Wir hoffen, den automatischen Informationsaustausch zu Steuerangelegenheiten zwischen G20-Staaten Ende 2015 zu beginnen.«14 Ich hoffe da einmal sehr stark mit. Mehr Vertrauen hätte ich aber in demokratische Geldkonvente.
Nach der fairen und gleichen Besteuerung von Personen ist der nächste liberale Lückenschluss – im Sinne der gleichen Rechte und Pflichten aller – eine global koordinierte Besteuerung von Unternehmen. Auch hier müsste eine liberale Argumentation eigentlich ausreichen: Ab dem Zeitpunkt, ab dem über ein politisches Abkommen eine gemeinsame Handelszone in Kraft tritt, ein häufig bemühtes ebenes Spielfeld politisch eingerichtet ist, müssen auf diesem auch gleiche Spielregeln für alle gelten. Wer würde sich für die Fußballweltmeisterschaft interessieren, wenn jede Mannschaft ihre eigenen Regeln hätte? Weit hergeholt? Die Metaphorik der »Freihandelsfans« ist entlarvend: Sie sprechen pausenlos von einem »ebenen Spielfeld« (level playing field) für »globale Spieler« (global players). Doch während in der WTO mit heißem Bemühen über ebene Zölle und den Abbau anderer »Handelshindernisse« gefeilscht wird, ist die Angleichung der Rahmenbedingungen wie Arbeits-, Sozial-, Gesundheits-, Umwelt- oder eben Steuerstandards tabu. »Level playing field« hieße aber gleiche Steuerregeln (und alle anderen Standards) für alle, damit sich die unternehmerische Produktivität und Kreativität ganz auf die Entwicklung der besten Produkte und Dienstleistungen konzentrieren kann und nicht durch den Vergleich der Steuergesetze abgelenkt und durch steuermotivierte Standortentscheidungen verzerrt und fehlgelenkt werden.
Derzeit ist das Steuersystem von einer vierfachen Ineffektivität gekennzeichnet:
1. Unternehmen geben Unsummen für AnwältInnen, TreuhänderInnen und SteuerberaterInnen aus, um durch Tricks (interne Verrechnungspreise, Kredite einer Tochter an die andere, Lizenzgebühren an Töchter oder Holdings in Steueroasen, Aufbau intransparenter Firmengeflechte …) die Steuerleistung zu minimieren. Dieses Geld könnte besser eingesetzt werden.
2. AnwältInnen, TreuhänderInnen und SteuerberaterInnen werden ethisch korrumpiert, indem sie den mächtigsten Mitgliedern der Weltgesellschaft dabei helfen, ihren fairen und gerechten Steuerbeitrag nicht zu leisten. Systemisch ein Rückschritt hinter die bürgerlichen Revolutionen.
3. Finanzämter müssen den Unternehmen mit großem Aufwand auf die Spur kommen, was nicht nötig wäre, wenn es einheitlich konsolidierte Konzernbilanzen gäbe und der Steuersatz sich an der realen Tätigkeit des Unternehmens im jeweiligen Land bemessen würde.
4. Steuervermeidende Unternehmen nehmen dadurch einseitig staatliche Leistungen (Ausbildung der Arbeitskräfte über Infrastruktur bis öffentliche Sicherheit) in Anspruch, ohne dafür angemessen Steuern zu bezahlen.
Ergebnis ist ein multimillardenschwerer Steuerausfall in allen Ländern – weil sie sich dazu entschieden haben, Konzerne nicht angemessen, transparent und einheitlich zu besteuern.
Damit nicht genug: Infolge der Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen geraten auch alle Nicht-Steueroasen in den Steuer-Wettbewerb und senken alle zusammen die Gewinnsteuersätze, in Richtung vollkommene Steuerbefreiung von Großunternehmen. In Deutschland lag der Unternehmenssteuersatz in der Ära Kohl noch bei sechzig Prozent, heute ist es die Hälfte.15 In der OECD sanken die Unternehmenssteuersätze zwischen 1995 und 2009 von 37,7 Prozent auf 26,3 Prozent.16
Logisch und liberal wäre, dass die wichtigsten bestehenden Handelszonen – EU, WTO – auch einheitliche Steuerregeln schaffen: sowohl eine einheitliche Bemessungsgrundlage als auch einen Mindeststeuersatz: Der Steuerwettbewerb wäre Geschichte. Zur global einheitlichen Konzernbesteuerung gibt es Vorstufen, die von einem Land im Alleingang problemlos praktiziert werden können, jedenfalls von der EU.
Stufe 1: Wohnsitzlandprinzip
Das Prinzip besagt: Egal, wo ein internationales Unternehmen tätig ist, die erzielten Gewinne werden überall gleich hoch besteuert wie im Sitzland – durch Nachversteuerung der Differenz. Die zwischen Staaten üblichen Doppelbesteuerungsabkommen können nach zwei Methoden ausgestaltet werden: 1. Nach der Freistellungsmethode: Ein deutscher Konzern hat eine Tochter in Irland, in der Schweiz oder in Singapur errichtet. Die Gewinne werden nur im Ausland versteuert, auch wenn dort der Steuersatz niedriger ist als im Stammland. 2. Nach der Anrechnungsmethode: Der Gewinn wird im Ausland normal versteuert, aber sollte der Steuersatz dort niedriger sein als im Inland, wird die Differenz im Sitzland »nachversteuert«. Die erste Option, sie ist die übliche, beinhaltet natürlich einen Anreiz, eine Tochter in einer Steueroase oder einem Niedrigsteuerland zu gründen. Im zweiten Fall wäre der Anreiz, aus Steuergründen eine Tochter in einem Niedrigsteuerland zu errichten und Gewinne dorthin zu verschieben, eliminiert.
Österreich hat hier noch eine weitere Hausaufgabe dazubekommen. Seit 2005 können dank der mittlerweile schon fast berüchtigten »Gruppenbesteuerung« österreichische Unternehmen auch ihre ausländischen Verluste »zu Hause« mit dem Gewinn gegenrechnen, sprich den heimischen Gewinn damit vermindern. Für die im Ausland erzielten Gewinne gilt das allerdings nicht, diese werden nicht zu den heimischen Profiten hinzugerechnet. Die Argumentation bei all diesen Steuertricks ist die immer gleiche: Es geht nie um Werte (Gerechtigkeit), sondern um die Androhung von Nachteilen (Wettbewerb). Die Wettbewerbskeule wird seit Jahren eingesetzt gegen bessere Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Umwelt- und Klimaschutz, Transparenz für KonsumentInnen, Begrenzung der Ungleichheit, mehr Demokratie und Grundrechte. Alles Schöne, Wahre, Gute ist in einem internationalen Wettbewerbsregime leider nicht möglich, lernen wir, im Gegenteil: Unfaires Verhalten bringt Vorteile. Dieser – ethisch verfassungswidrigen – Argumentation17 im Interesse der Global Players muss ein Souverän nicht folgen. Er kann sich für Gerechtigkeit, Fairness, Gleichbehandlung und Demokratie entscheiden. Der Verlust eines österreichischen Großunternehmens in Osteuropa wird mit dem Gewinn im gleichen Land verrechnet und Letzterer entsprechend versteuert. Die Differenz zum Gewinnsteuersatz im Sitzland wird in Österreich nachversteuert. So wird dem Wettbewerb um Niederlassungen, Investitionen und Gewinne multinationaler Konzerne mithilfe der Steuersätze die Grundlage entzogen.
Stufe 2: »Unitary Taxation« oder Gesamtkonzernsteuer
Auf das Wohnsitzlandprinzip könnten Konzerne mit der Verlagerung des Rechtssitzes reagieren. Tatsächlich übersiedelte Philip Morris in die Schweiz und Accenture auf die Bermudas. Hier braucht es eine weiter gehende Alternative, und es gibt sie: »Unitary Taxation«, »globale Anteilssteuer« oder »Gesamtkonzernsteuer«.18 Bei diesem Besteuerungsansatz wird der Konzern verpflichtet, eine global konsolidierte Bilanz zu erstellen. Daraufhin wird der Anteil jedes Landes an der globalen Wertschöpfung (anhand von Faktoren wie Kapitaleinsatz, Beschäftigten und Umsatz) ermittelt. Schließlich wird der ermittelte Anteil des globalen Konzerngewinns dem gültigen Steuersatz des jeweiligen Landes unterworfen. Damit wäre nicht nur eine Sitzverlagerung in eine Steueroase nutzlos, weil beispielsweise Accenture den Großteil seiner Geschäfte in den USA erledigt und nicht auf den Bermudas. Und es wäre auch egal, wohin ein Konzern mithilfe diverser Tricks (interne Verrechnungspreise, Kredit eines Teils an den anderen, überzogene Lizenzgebühren …) seine Gewinne verschiebt, wie es zum Beispiel Ikea praktiziert. Denn was zählt, ist einzig die reale Geschäftstätigkeit. Steueroasen wären zwecklos, denn ein Eintrag im Firmenregister schafft weder Umsatz noch Beschäftigung.
Die Unitary Taxation ist keine Utopie, sie wurde bereits 1925 in den USA von mehreren Bundesstaaten angewandt, gegen den US-internen Steuerwettbewerb. Zum Beispiel wollte Kalifornien verhindern, dass Filmunternehmen ihre Gewinne nach Nevada verschoben. Doch der massive Druck der Konzerne, aber auch die Befürchtung der EU vor einer Doppelbesteuerung ließen viele Staaten wieder von der globalen Anteilssteuer abgehen. Die OECD blockierte lange Zeit jede Untersuchung über die Auswirkungen einer Unitary Tax, und eine Initiative in der UNO schlief wieder ein.
Wenn aber Souveräne entscheiden, und nicht mit den Reichen verbandelte Regierungen, könnte die Unitary Taxation rasch eingeführt werden. In Zeiten der Globalisierung ist eine einheitliche Konzernbesteuerung das logische Prinzip: »Der einheitliche Zugang beruht auf der Sichtweise, dass das Einkommen eines Konzerns von diesem als Ganzem erzielt wird; es versucht nicht zu identifizieren oder zu quantifizieren, wie viel davon von jedem seiner Teile verdient wurde«, begründet das Tax Justice Network. Hingegen behandelt »das gegenwärtige internationale Steuersystem transnationale Konzerne wie lose Firmensammlungen oder voneinander getrennte Einheiten in unterschiedlichen Ländern«.19 Die offizielle Politik marschiert leider in die Gegenrichtung: »Von der ›unitary taxation‹ als dem Herzstück einer effektiven Bekämpfung der Gewinnverschiebung scheint die EU-Kommission sogar immer mehr abzurücken«, meint die Steuerexpertin des Wiener WIFO, Margit Schratzenstaller.20
Bei alleiniger Umsetzung der Unitary Taxation wäre der »reale Standortwettbewerb« noch nicht vorbei: Unternehmen könnten ihre reale Tätigkeit in Niedrigsteuerländer verlagern. Deshalb schlägt das Global Tax Justice Network, das auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistet, die Kombination beider Alternativen vor: globale Anteilssteuer und Wohnsitzlandprinzip. Dann wären alle Schlupflöcher geschlossen und der globale Steuerwettbewerb in der Disziplin »Unternehmensgewinne« beendet.
Die in Kapitel 7 vorgeschlagene globale Steuerbehörde könnte mit der Umsetzung der Gesamtkonzernsteuer beginnen und einheitliche Regeln ausgeben für eine global konsolidierte Konzernsteuerbilanz, die nach Ländern aufgeschlüsselt ist.
Die Europäische Union könnte vorausgehen und drei Ansätze miteinander verbinden:
1. Nach der Durchsetzung einer gemeinsamen Steuerbasis für transnationale Unternehmen, die von der Kommission ausgearbeitet und vom EU-Parlament in einer Entschließung befürwortet wurde, ist der zweite, gleich nötige, Schritt die Festsetzung eines gemeinsamen Körperschaftssteuersatzes in der EU, jedenfalls eines hohen Mindeststeuersatzes, um den Steuerwettbewerb im Binnenmarkt zu befrieden.
2. Für alle in der EU tätigen – produzierenden, verkaufenden oder veranlagenden – Unternehmen wird das Prinzip der Unitary Taxation angewandt. Ikea könnte einen noch so großen Anteil seiner Gewinne in Steueroasen verschieben, die »Bemessungsgrundlage« wäre der Umsatz, der Beschäftigungs- und Kapitaleinsatz in jedem einzelnen EU-Mitgliedsland.
3. Sämtliche Doppelbesteuerungsabkommen werden umgeschrieben auf die Anrechnungsmethode. Wenn EU-Unternehmen im Ausland geringere Steuersätze zahlen, wird die Differenz in der EU nachversteuert, um Produktionsverlagerungen aus Steuergründen zu demotivieren.
Wenn der politische Wille vorhanden ist, ließe sich schon heute vollständige Steuergerechtigkeit herstellen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das die Regierungen auch die nächsten Jahre nicht wollen; und ich kann mir noch besser vorstellen, dass die Souveräne, wenn sie selbst entscheiden könnten, für ein gerechtes Steuersystem in der EU und weltweit votieren würden.
Die gerechte Verteilung von Einkommen und Ressourcen ist
eine der Grundvoraussetzungen für Vertrauen und
den Glauben an die Gemeinschaft. Damit ist soziale
Gerechtigkeit auch die Basis des Vertrauens ins Geld –
und Voraussetzung für eine krisenfeste Ökonomie, an der
auch die, denen es gut geht, Interesse haben müssten.
Christine von Braun1
Eines der größten Probleme der Gegenwart ist zweifellos die extreme Ungleichheit und die damit verbundene Machtkonzentration in Wirtschaft und Politik. Mit ihr ist eine ganze Kette weiterer Probleme verbunden: Verlust von Chancengleichheit, Armut und Ausgrenzung, Verlust politischer Teilhabemöglichkeiten, Lobbyismus und Fehlregulierung, Umweltzerstörung und Klimawandel, Finanzinstabilität … Dass der Kapitalismus in seiner heutigen Ausprägung der größte Feind der Demokratie geworden ist, wird immer mehr Menschen klar. Der renommierte Politologe Colin Crouch schreibt: »Die Konzentration ökonomischer Macht ist die eigentliche Ursache für das Dilemma, mit dem moderne Gesellschaften konfrontiert sind (…) politische Verfahren und die Regierungen entwickeln sich zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten.«2 Der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Simon Johnson, schreibt: »Alle Finanzkrisen der jüngeren Geschichte wurden dadurch ausgelöst, dass eine wirtschaftliche Elite zu viel Macht bekam.«3 Noch deutlicher wird Robert Reich, Arbeitsminister unter Bill Clinton: »Der Superkapitalismus hat die Politik erfasst und die Demokratie verschlungen.«4 Colin Crouch spricht von »Postdemokratie«, ich zukunftsgewandt von Prädemokratie. Sehen wir uns zunächst die Machtkonzentration in der heutigen Wirtschaft an:
– Die Einkommensungleichheit ist in den USA auf ein Maß gestiegen, das vielen schier unglaublich erscheint: Eine Person, die für den gesetzlichen Mindestlohn von 7,25 US-Dollar5 die durchschnittliche Vollarbeitszeit von vierzig Wochenstunden und 48 Wochen im Jahr arbeitet, verdient dafür 13.920 US-Dollar. Das höchste bekannte Jahreseinkommen bezog 2010 der Hedge-Fonds-Manager John Paulson mit unfassbaren fünf Milliarden US-Dollar: das 359.000-Fache!6
– Die Eigentumsverteilung spreizt sich immer weiter auf, nicht nur in den USA und Brasilien, sondern auch in Deutschland: Während in diesem Land fünfzig Prozent der Bevölkerung kein (!) Nettovermögen besitzen (ihr Anteil am Gesamtvermögen beträgt 0,0 Prozent), besitzen vierzig Prozent der Bevölkerung zusammen 38,9 Prozent und die reichsten zehn Prozent stolze 61,1 Prozent des gesamten Vermögens.7 In Österreich vereint nach neuesten Berechnungen der Universität Linz ein einziges Prozent der Bevölkerung sogar 37 Prozent des gesamten Vermögens oder 469 Milliarden Euro auf sich. Das ist exakt das Doppelte der Staatsschulden in der Höhe von 234 Milliarden Euro oder 17-mal so viel, wie fünfzig Prozent der Bevölkerung besitzen: nur 27,5 Milliarden oder 2,2 Prozent des Gesamtvermögens.8 Die reichsten Haushalte besitzen 33,8 Milliarden Euro in Deutschland (Familien Aldi), vierzig Milliarden in Österreich (Familie Porsche-Piëch) und 42 Milliarden Euro in Spanien (Amancio Ortega).
– Je größer die Vermögen, desto schneller wächst auch die Ungleichheit: Die Valluga AG schreibt, dass die Vermögen der »einfachen« MillionärInnen jährlich um acht Prozent zulegen. Hingegen beträgt der jährliche Zuwachs bei den Forbes 400 im Zeitraum 1993 bis 2009 im Jahresschnitt rund zehn Prozent.9 Die erste Million ist im Unterschied zur letzten die mit Abstand schwerste und für die meisten unerreichbar.
– Die 500 weltgrößten Unternehmen beschäftigten Ende der 1990er Jahre 0,05 Prozent der Weltbevölkerung, kontrollierten jedoch siebzig Prozent des Welthandels, achtzig Prozent der Auslandsinvestitionen und 25 Prozent der Weltproduktion.10 Der gemeinsame Umsatz der Fortune-500-Unternehmen machte im Jahr 2000 72 Prozent der Wirtschaftsleistung der USA aus, 2011 waren es 78 Prozent.11 Vierzig Prozent des Unternehmenswertes von 43.000 transnationalen Konzernen werden aktuell von nur 147 Unternehmen gehalten, das ist das Ergebnis einer Studie der ETH Zürich: »Die Top-Eigentümer im inneren Kern können somit als ›Super-Einheiten‹ im globalen Netzwerk der Konzerne betrachtet werden.«12 Die schöpferische Zerstörung (Schumpeter) schafft es ganz offenbar nicht, gegen die Oligopolbildung und die Vermachtung der Märkte anzukommen. Auch nicht mithilfe von Antikartellgesetzen und staatlicher Fusionskontrolle.
Während es eine Reihe von TheoretikerInnen und ÖkonomInnen gibt, welche sich ausdrücklich für Ungleichheit aussprechen, ist mir kein prominentes Plädoyer für grenzenlose Ungleichheit bekannt. Hingegen gibt es eine lange Ahnenreihe von DenkerInnen, die sich für die Begrenzung von Ungleichheit aussprechen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Wir wollen hier die wichtigsten Argumente behandeln.
1. Liberales Argument
Das liberale Urprinzip besagt, dass alle Menschen die gleichen Freiheiten genießen und deshalb die Freiheiten einer Person dort ihre Grenze finden müssen, wo ein Mehr an Freiheit für sie die Freiheit einer anderen Person einschränken würde. Dieses Grundprinzip wird von sämtlichen liberalen Denkern bestätigt: »Die Freiheit muss beschränkt werden, um die Freiheit eines anderen zu wahren«, schreibt Milton Friedman.13 Friedrich von Hayek blies in dasselbe Horn: »Um frei von diktatorischen Einflüssen zu sein, muss Macht auch begrenzt sein.«14 Er folgerte: »Die Aufgabe einer Politik der Freiheit muss es daher sein, Zwang oder seine schädlichen Wirkungen zu verringern.«15 Der österreichische Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser erwirkte eine Reader’s-Digest-Ausgabe von Hayeks »Der Weg in die Knechtschaft«. Im Vorwort des Büchleins schrieb er: »Macht ist das Gegenteil von Freiheit.« Es sind sich offenbar alle einig, dass zu viel Macht illiberal ist. Ausständig ist von »liberaler« Seite hingegen die Zustimmung, dass dies auch für die Konzentration wirtschaftlicher Macht gilt: für die Konzentration von Privateigentum, Erbschaften und Großunternehmen. Mein Argument ist, dass die Überkonzentration von Macht überall schädlich ist, unabhängig davon, ob es sich um politische, ökonomische oder sexuelle Macht handelt. Hier wie dort gilt das Prinzip der Gewaltentrennung: In einer liberalen Demokratie sollte jede Konzentration von Macht verhindert werden: ganz gleich, ob es sich um die Begrenzung von Legislaturperioden, die Machtaufteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, um die Verhinderung von Kartellen und Monopolen auf Märkten oder die Begrenzung der Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen handelt.
Der differenzierte Gedanke ist: Es geht nicht um die Abschaffung der Eigentumsfreiheit, sondern um deren Sicherung für alle durch Begrenzung. So viel Dialektik wird erwachsenen Menschen bei fast allen anderen Freiheiten zugemutet:
– Wir dürfen andere Menschen ohne deren Zustimmung nicht berühren. Das ist weder illiberal noch ein Zärtlichkeitsverbot.
– Wir dürfen im Straßenverkehr nicht so schnell Auto fahren, wie manche gerne wollten. Das ist weder illiberal noch ein Verbot des motorisierten Individualverkehrs.
– Wir dürfen die Häuser nicht so hoch bauen, wie wir wollen, und auch nicht an jedem beliebigen Ort. Auch das ist weder illiberal noch ein allgemeines Bauverbot.
– Wir dürfen für bestimmte politische Ämter nur einmal oder wenige Male kandidieren. Auch das ist weder illiberal noch die Infragestellung der Ämter an sich, im Gegenteil.
Alle Freiheiten sind begrenzt, um die gleichen Freiheiten und Rechte für alle zu wahren. Nur ausgerechnet bei Einkommen und Vermögen versuchen sich als liberal ausgebende Verfechter der grenzenlosen Machtkonzentration zu argumentieren, dass eine Begrenzung dieser Freiheiten »gegen die Freiheit« gerichtet sei oder gar »Kommunismus«. Die Wirtschaftskammer Steiermark schreibt in einer Broschüre, die sie der Gemeinwohl-Ökonomie widmet, beispielsweise: »Wenn es um die Beschränkung von Eigentumsrechten geht, werden die Grenzen einer liberalen demokratischen Rechtsordnung überschritten (…) dies entspricht einem kommunistischen System.«16 Die Verwechslung von »kommunistisch« und liberal ist schon beachtlich. Mein Argument: Die Einkommens- und Eigentumsfreiheit muss genauso begrenzt werden wie alle anderen Freiheiten auch, um
– eine Überkonzentration von Macht zu verhindern;
– ein Übermaß an Ungleichheit zu verhüten;
– die gleichen ökonomischen und politischen Teilhabechancen für alle zu sichern;
– damit die maximale Freiheit aller zu garantieren.
Die Bush-Dynastie in den USA, Berlusconi in Italien oder Frank Stronach in Österreich zeigen sehr deutlich, auf welche Ideen Milliardäre kommen: Sie kaufen Fußballclubs, TV-Sender und, im Fall Frank Stronachs, gleich einen ganzen Parlamentsclub. Wenn politische EntscheidungsträgerInnen zu einer käuflichen Ware werden, ist es mit der Demokratie und mit der gleichen Freiheit aller vorbei. Dem sollte das »öffentliche Gut Geld« entgegenstehen. Jeder sollte so viel davon erwerben und besitzen dürfen, dass er oder sie sich ein komfortables Leben leisten kann; jedoch darf niemand so viel Macht bekommen, dass sein oder ihr politischer Einfluss die gleichen Teilhabechancen anderer annulliert. Liberal heißt »maximale Freiheit für alle (aufgrund gleicher Rechte und Chancen)«. Illiberal ist die »maximale Freiheit für wenige (aufgrund ungleicher Chancen und Rechte)«. Stronach bestätigt das sogar: »Die Welt war und ist von der goldenen Regel dominiert: Wer das Gold hat, macht die Regeln. Ich möchte von niemandem dominiert sein, aber ich möchte auch nicht die Möglichkeit haben, jemanden zu dominieren. Die Frage ist, wie können wir die Ketten des Dominierens konstruktiv lösen?«17 Indem niemand so viel Gold haben darf, dass er die Regeln machen kann.
2. Systemtheoretisches Argument
Der Systemtheorie verdanken wir die Einsicht, dass »positive Rückkoppelungen« zum Kollaps lebendiger Systeme führen. Dagegen sorgen »negative Rückkoppelungen« für die dauerhafte Stabilität und das Überleben eines Systems oder Organismus. Konkret bedeutet das: In komplexen lebendigen Systemen gibt es Entwicklungen wie Erwärmung, Wachstum oder Anstieg der Konzentration bestimmter Substanzen oder Populationen. Werden diese Tendenzen nicht aufgehoben – durch Abkühlung, Schwitzen, chemische Gegenreaktion, Vermehrung von natürlichen Feinden oder Nützlingen –, kommt es zur Überhitzung, Übersäuerung, Überpopulation und schließlich zum Kippen und Kollaps eines Ökosystems.
Der Kapitalismus ist ein positiv rückgekoppeltes System: Je vermögender, größer oder mächtiger eine Person oder ein Unternehmen ist, desto leichter wird das weitere Reicher-, Größer- und Mächtiger-Werden. Das führt zu Überkonzentration und exzessiver Ungleichheit und gefährdet die Systemstabilität. Damit eine Wirtschaftsordnung dauerhaft stabil bleibt, müsste es genau umgekehrt sein und der »Aneignungswiderstand« progressiv zunehmen: Je reicher, größer und mächtiger jemand ist, desto schwieriger sollte das weitere Reicher-, Größer und Mächtiger-Werden sein, bis zu einer absoluten Grenze des Wachstums. Dann wäre dieses Wirtschaftssystem negativ rückgekoppelt – und stabilisiert: Am Beginn des Erwerbslebens gibt es starke Anreize und Hilfeleistungen, damit sich Personen ein bescheidenes Vermögen erarbeiten können; doch je größer dieses wird, desto stärker beginnt das System zu bremsen, bis es auf materieller Ebene gar kein Vorwärtskommen mehr gibt. Ab wann dies der Fall ist, sollte demokratisch entschieden werden. Eine mögliche Obergrenze wäre die Schwelle zum »Ultra High Net Worth Individual« – dieses Prädikat wird von GeldverwalterInnen ab dreißig Millionen US-Dollar Privatvermögen verliehen. Bei Banken könnte eine Obergrenze für die Bilanzsumme eingezogen werden – vor der das vorgeschriebene Eigenkapitel progressiv ansteigt. Industriebetriebe könnten rückgekoppelt werden, indem sie ab einer bestimmten Größe progressiv demokratisiert und vergesellschaftet werden. Wenn es UnternehmenseigentümerInnen primär um Innovation und sinnvolle Produkte geht, werden sie sich an demokratischen Strukturen nicht stoßen. Geht es ihnen hingegen primär um Macht, wäre das ein starker Anreiz, klein zu bleiben. Die Entscheidung »Wachsen und Macht teilen« oder »Klein bleiben und Macht behalten« bliebe den UnternehmerInnen frei. Heute darf ein Riese den anderen einfach fressen, das ist legal und führt mitunter zu noch größerem Erfolg des Kannibalen. Nicht zuletzt dadurch werden einige Global Players so mächtig, dass ihre demokratische Kontrolle und Regulierung nicht mehr gelingt. Die Konzerne bändigen im Gegenteil die Demokratie. Manche PolitikerInnen nennen das eine »marktkonforme Demokratie«.18 Eine marktkonforme Demokratie kann es aber gar nicht geben: Ein Staatswesen, das sich nach dem Markt ausrichtet, ist eine Wirtschafts- und Finanzdiktatur.
3. Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit
»Leistung muss sich wieder lohnen«, sind sich die Parteichefs von SPD und CDU einig.19 Die »Leistungsgesellschaft« wird vielerorts beschworen und findet sich in zahlreichen Parteiprogrammen. Doch damit Leistung sich tatsächlich lohnen kann, müsste die erste Million die leichteste sein. Heute ist die erste Million für 99 Prozent der Menschen in Deutschland und Österreich unerreichbar – egal was und wie viel sie tatsächlich leisten. Die zweite Million ist schon viel leichter zu verdienen. Bei der einhundertsten Million kann die betreffende Person vermutlich gar nicht mehr sagen, welche Leistung zu dieser Million geführt hat. Und wer eintausend Millionen besitzt und jährlich acht Prozent Vermögensrente erzielt, muss täglich 220.000 Euro ausgeben, um nicht reicher zu werden – eine schöne Leistungsgesellschaft! Nach den Daten von Credit Suisse haben 38 Prozent aller MilliardärInnen in der OECD ein Großvermögen geerbt.20 Die Gewinn- oder Kapitaleinkommen, die sie auf dieses geschenkte Startkapital erzielen, sind erneut: arbeitslose Grundeinkommen. Während sich die einen abrackern für den Mindestlohn oder darunter, leisten die anderen mitunter gar nichts und »lassen ihr Geld für sich arbeiten«, was konkret bedeutet, dass andere, die tatsächlich etwas leisten, für sie arbeiten. Das sind markante Kontraindikationen einer echten »Leistungsgesellschaft«. Doch scheinen diejenigen, welche der Leistungsgesellschaft und insbesondere den »Leistungsträgern« gerne das Wort reden, davon nichts zu bemerken oder nichts davon wissen zu wollen. Wer für eine wirklich chancengleiche Leistungsgesellschaft eintritt, müsste dafür sorgen, dass:
– alle mit demselben Vermögen an den Start gehen;
– bei der Leistungsbewertung ausschließlich der persönliche Einsatz und die Anstrengung gewertet wird;
– kleine Unternehmen gleiche Chancen auf dem Markt haben wie große Unternehmen;
– neue Unternehmen gleiche Chancen haben wie bestehende Unternehmen;
– Menschen ohne vermögende und beziehungsreiche Eltern gleiche Chancen haben wie Kinder aus gutem und einflussreichem Hause;
– unverschuldete Nachteile – körperliche Schwächen, geistige Schwächen, Traumen, Krankheiten, Minderbegabung – nicht zu Einkommensnachteilen führen.
Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit bedeuten, dass Menschen, die sich unter gleichen Bedingungen gleich anstrengen, zu gleichen Einkommen und Vermögen kommen. Zur Gänze ist das nie herstellbar, aber die Chancenungleichheit und Leistungsungerechtigkeit können minimiert werden, indem die größten Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
4. Argument der Finanzstabilität
Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, gibt es einen wachsenden Überschuss an Vermögen, der nicht nur Ausdruck ungerechter Verteilung und großer Ungleichheit ist, sondern auch der Stoff, aus dem sich Blasen bilden. Ab einem gewissen Vermögen bleibt den Vermögenden keine Alternative, als ihr Vermögen in das globale Finanzcasino einzuschleusen, wo es die Blasenbildung verstärkt. Bleibt es bei ungleicher Verteilung, wachsen parallel zu den Vermögen die Schulden, bis die Blasen platzen und Vermögen vernichtet werden. Wollen die Vermögenden eine schmerzhafte Vernichtung ihres Reichtums verhindern, sollten sie ein Interesse an negativen Rückkoppelungen haben. Und hat die demokratische Gesellschaft ein Interesse an systemischer Finanzstabilität, sollte sie neben anderen Maßnahmen auch dafür sorgen, dass es nicht zu Billionenüberschüssen an Privatvermögen kommt, die dann auf »freien Finanzmärkten« zu Immobilienblasen, Rohstoffblasen, Staatsschuldenblasen, Aktienblasen oder Derivateblasen werden. In der Krise kann ein viel größerer Verlust von Vermögen eintreten als durch Steuern. Deshalb schreibt Ulrike Herrmann: »Es mag paradox wirken, aber für die Vermögenden wäre es die allerbeste Geldanlage, wenn sie mehr Steuern entrichten würden.«21 Im Falle einer krisenhaften Vernichtung des Vermögens ist dieses einfach weg. Fließt es stattdessen in Steuern, werden daraus Schulen, Spitäler, Verkehrsmittel, soziale und öffentliche Sicherheit sowie Chancen für alle, auch morgen ein Vermögen zu erwerben und ein gutes Leben zu führen.
5. Gesundheits-Argument
Ein weiteres Argument gegen grenzenlose Ungleichheit ist die Tatsache, dass Gesellschaften auseinanderbrechen und weniger glücklich werden. Es ist empirisch messbar, dass sich sämtliche Lebensqualitäts- und Sozialindikatoren zurückentwickeln, wenn die Ungleichheit zu groß wird. Nicht Ungleichheit an sich wirkt sich negativ aus, sondern übermäßige Ungleichheit. Die Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett aus Großbritannien haben unzählige Studien, die den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Sozialindikatoren bestätigen, zusammengetragen und eine beeindruckende Übersicht vorgelegt: Übermäßige Ungleichheit führt zu einem Anstieg von Unsicherheit, Angst, Gewalt, Kriminalität, Gefängnispopulation, Drogenmissbrauch, Teenager-Schwangerschaften, der Schlechterstellung von Frauen und zu einem Rückgang der Lebenserwartung. Die Ergebnisse im Detail sind genauso frappierend wie eindeutig: Zum Thema Angst wurden allein in den USA 269 Studien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgewertet, mit einem kontinuierlichen Aufwärtstrend (einschließlich Depressionskrankheiten). In den späten 1980er Jahren waren die Ängste bei Kindern höher als bei Psychiatriepatienten in den 1950er Jahren. In Großbritannien traten sie in den 1990er Jahren bei Menschen Mitte zwanzig doppelt so häufig auf wie bei Menschen, die 1958 geboren wurden.22 Der deutsche Angstindex hat sich zwischen 1991 und 2010 verdoppelt.23 Spiegelverkehrt nimmt das Vertrauen unter den Menschen in dem Maße ab, je weiter die Einkommensschere in ihrem Land geöffnet ist (…) 1960 lag die Vertrauensquote in den USA noch bei sechzig Prozent, 2004 waren es weniger als vierzig Prozent.24 Wilkinson und Pickett fassen zusammen: »Würden die USA die in ihrem Land herrschenden Einkommensunterschiede auf ein Maß reduzieren, wie es in – was Gleichheit anbelangt – führenden Industrieländern Japan, Norwegen, Schweden und Finnland zu konstatieren ist, dann würde der Anteil der Amerikaner, die glauben, anderen vertrauen zu können, um 75 Prozent steigen (…) Die Raten von Menschen mit psychischen Störungen oder Übergewicht könnten um jeweils zwei Drittel zurückgehen, die Zahl der Teenager-Schwangerschaften könnte halbiert werden, die Zahl der Gefängnisinsassen um vierzig Prozent sinken, die Menschen würden länger leben und dabei jährlich um das Äquivalent von zwei Monaten weniger arbeiten.«25 Der deutsche Buchtitel lautet übrigens »Gleichheit ist Glück«, meint aber keineswegs, dass alle gleich viel verdienen und besitzen sollten, sondern dass das extreme Maß an Ungleichheit verringert werden sollte. In denjenigen Ländern, in denen die relativ geringste Ungleichheit herrscht, sind sämtliche Sozialindikatoren besser als in den Ländern mit der größten Ungleichheit. Ein Sprichwort besagt: »Zu wenig und zu viel ist des Narren Ziel.«
6. Glücksargument
Es ist schon erstaunlich: Mir ist keine Religion, Philosophie oder Geistesschule bekannt, die grenzenlosen materiellen Reichtum gutheißen oder empfehlen würde, ganz im Gegenteil: Überall ist die Mäßigung, das Maßhalten, das Gleichgewicht das Ziel, und manchmal auch Genügsamkeit, Bescheidenheit und Demut. Hingegen sind Egoismus, Gier, Habsucht, Geiz und Materialismus klar negativ konnotiert oder sogar geächtet (»Todsünden«). Der Kapitalismus widersetzt sich der Essenz aller Religionen, er ist eine Ersatzreligion. Die Beste ist nicht die, die Maß hält, teilt, anderen hilft und Glück in anderen Lebensinhalten findet als im Geld, sondern die, die am meisten hat und ihr Vermögen unendlich weiter vermehrt.
»Geld macht glücklich« ist nur unter zwei Bedingungen zutreffend: a) wenn es nicht der einzige Glücksfaktor ist und b) wenn damit grundlegende Bedürfnisse gedeckt werden können. Anders gesagt: Bis zu einer gewissen Schwelle der Deckung von Grundbedürfnissen ist Geld heute essenziell. Darüber hinaus gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass mehr Geld glücklicher macht. Im Gegenteil: Diejenigen Forschungsergebnisse, die vorliegen, deuten auf keinen oder sogar einen negativen Zusammenhang hin zwischen »noch mehr Geld« und Glück. Der Glücksforscher Richard Layard schreibt: »In den USA hat sich zwar das Realeinkommen und damit der Lebensstandard verdoppelt, aber die Menschen sind keineswegs zufriedener als in den Fünfzigern.« Weder sei die Zahl der Unglücklichen zurückgegangen noch der Anteil der Glücklichen gestiegen.26 Auch zwischen den Ländern sprechen die Zahlen eine klare Sprache: »Wenn wir die westlichen Industrieländer gegenüberstellen, stellen wir fest, dass die Reichen nicht glücklicher sind als die Armen.«27 Die höchste mir bekannte Schwelle, oberhalb der mehr Geld und mehr Glück aufhören zu korrelieren, liegt bei 290.000 US-Dollar Jahreseinkommen.28 Das wäre, auf Dollar-Basis, ungefähr das Zwanzigfache des gegenwärtigen Mindestlohnes.
Kurz: Übermäßige Ungleichheit ist illiberal, sie zerstört die gleichen Freiheiten und Chancen aller, sie untergräbt die Demokratie und die Systemstabilität, sie ist leistungsfeindlich, ungesund und zerreißt die Gesellschaft. Maßloser Reichtum macht auch nicht glücklicher … Das erste Argument, das liberale, müsste eigentlich ausreichen, doch habe ich hier etwas ausführlicher argumentiert, weil es gegen den Vorschlag der Begrenzung von Ungleichheit und Machtkonzentration heftigen und hochemotionalen Widerstand gibt. Der ehemalige Chefredakteur der österreichischen Presse Michael Fleischhacker titulierte mich für die hier vorgebrachten Gedanken in mehreren Leitartikeln als »herzjesumarxistischen Attac-Propagandisten«, »antiliberalen Enteignungseuphoriker« und »neokommunistischen Gemeinwohl-Pseudoökonomen«.29 Wer von einer erkenntnisbringenden Debatte ablenken will, werfe am besten mit deftigen Punzen um sich. In einer Demokratie sollten sich aber nicht die Lautesten durchsetzen, sondern die besten Ideen. Wie könnten die Fragen an den Konvent sinnvoll gestellt werden?
a) Begrenzung der Ungleichheit bei Einkommen
Bei der Begrenzung der Ungleichheit bei Einkommen gibt es zwei Ebenen: die innerbetriebliche Ungleichheit (betriebswirtschaftliche Ebene) und die volkswirtschaftliche Maximaldifferenz zwischen dem – gesetzlichen oder tarifvertraglichen – Mindestlohn und dem zulässigen Höchsteinkommen.
Zur Begrenzung der innerbetrieblichen Ungleichheit gibt es eine lange Diskussion. Ausgerechnet John Pierpont »J.P.« Morgan hatte Ende des 19. Jahrhunderts ein Modell eingeführt, in dem der Bestverdienende der Firma nicht mehr als das Zwanzigfache des geringsten Lohnes verdienen durfte.30 Ohne diesen Vorschlag zu kennen wiederholte ich ihn 2006 in der »Gerechtigkeitsformel 2010«.31 Im Januar 2013 ließ der Gründer des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab aufhorchen, indem er denselben Vorschlag in Davos einbrachte.32 Damit erkannte er den Nerv der Zeit. Auch George Soros warnte beim Treffen der Mächtigen vor zu groß werdender Ungleichheit. Und es tut sich bereits etwas: 2011 erstellten die ersten Pionier-Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung ihre Gemeinwohl-Bilanzen und legten Rechenschaft über die Ungleichheit bei den Einkommen ab. Ebenfalls im Januar 2013 limitierte das Kantonalparlament Aargau per Gesetz die Höchsteinkommen in öffentlichen Banken mit dem Zehnfachen der Mindesteinkommen. Eine bundesweite Schweizer Volksinitiative mit dem Vorschlag 1:12 scheiterte zwar vorerst, aber das Thema ist damit sicher nicht vom Tisch. Meine Wette: Hätten nicht die JungsozialistInnen den Faktor 12 vorgeschlagen, sondern Klaus Schwab den Faktor 20, wäre dieser schon beim ersten Anlauf durchgegangen. Der große Vorteil eines Wirtschaftskonvents ist, dass mehrere Vorschläge eingebracht werden und die einzelnen Vorschläge nicht Einzelpersonen oder -gruppen zugeordnet werden.
Ein zweiter Aspekt ist die maximale Differenz zwischen Mindestlohn und Höchsteinkommen. In der Schweiz gibt es eine Initiative für einen Mindestlohn von 4000 Franken monatlich. Gemessen an 1300 US-Dollar, dem gesetzlichen monatlichen Mindestlohn in den USA (bemessen mit vierzig Wochenstunden), ist das richtig viel. In den USA könnte die Frage lauten, ob der Mindestlohn von derzeit 7,25 auf zehn US-Dollar angehoben werden soll. Wem das ein großer Sprung erscheint: Der US-Mindestlohn betrug bereits elf US-Dollar, allerdings 1968. Natürlich nicht nominal (das waren damals 1,60 US-Dollar), aber im Kaufkraftvergleich (»in konstanten 2013-Dollar«) waren 1,60 US-Dollar 1968 so viel wert wie heute elf US-Dollar. Heute beträgt der Mindestlohn jedoch nur noch 7,25 US-Dollar – ein realer Wertverlust von einem Drittel! Den Ärmsten ein Drittel wegzunehmen, ist brutale Enteignung – sie wird jedoch nie Enteignung oder »finanzielle Repression« genannt, diese Opfer-Attribute sind dem Geldadel vorbehalten, der seine Vorrechte mit exklusiven rhetorischen und publizistischen Waffen verteidigt. Der Umstand, dass die MindestlohnbezieherInnen heute um ein Drittel weniger verdienen als 1968, ist maßgeblich für den »running gag«, dass ein »junk job« nicht mehr für einen würdigen Lebensunterhalt ausreicht, sodass immer mehr Menschen mehrere Jobs annehmen müssen und dadurch auf längere Arbeitszeiten kommen als noch vor zwanzig Jahren und den wachsenden Frust mit »junk food« in sich hineinfressen, wodurch die Fettleibigkeit in den reichsten Ländern Ausmaße annimmt wie die Unterernährung in den ärmsten Ländern. Allerdings nicht aufgrund von Überfluss, sondern von Kaufkraftmangel! Der Punkt: Der Mindestlohn sollte nicht nur zu einem würdigen Leben reichen, er sollte auch periodisch valorisiert werden, sprich der Kaufkraftverlust durch Inflation wettgemacht werden.
Sodann, wenn der Mindestlohn a) feststeht, b) zu einem würdigen Leben reicht und c) periodisch valorisiert wird, kann auch das volkswirtschaftliche Höchsteinkommen sinnvoll festgesetzt werden mit einem bestimmten Vielfachen des Mindestlohnes. Die einfachste Möglichkeit ist, dass der Beschluss des Aargauer Kantonalparlaments (Faktor 10), der Vorschlag von Klaus Schwab (Faktor 20) sowie zur Vervollständigung die Faktoren 30, 50 und 100 abgestimmt werden, neben der »Nulllösung«, der gegenwärtigen Rechtslage (keine Grenze).
b) Obergrenze für Privateigentum
Eine Diskussion über eine Obergrenze für Privateigentum ist knifflig. Denn manche argumentieren, dass das Recht auf Privateigentum ein Grundrecht und deshalb unantastbar und ohne Beschränkung sei. Doch es gibt auch andere Auslegungen dieses Grundrechts. Ist damit wirklich gemeint, dass der einmillionste Euro und der einmilliardste gleich geschützt sind wie der erste? Oder ist damit gemeint, dass dasjenige Hab und Gut, das ein Mensch zu einem Leben in Würde braucht, als unveräußerliches Grundrecht geschützt ist?
Solange die Grundrechte nicht konfligieren, ist der Fall klar: Ich habe ein uneingeschränktes Recht auf körperliche Unverletzlichkeit. Du hast dasselbe uneingeschränkte Recht auf Unverletzlichkeit deines Körpers. Wenn ich dein Recht respektiere, verringert sich dadurch mein Recht um kein bisschen, beide Rechte bleiben vollständig aufrecht. Anders ist es mit dem Eigentumsrecht: Wenn dieses unbegrenzt ist und der letzte, sprich zweihundertbillionste Dollar des einen auch dann noch grundrechtlich geschützt wird, wenn ihm bereits die ganze Welt gehört, dann ist klar, dass der Zweite sein Grundrecht auf Privateigentum (und auf ein damit bezwecktes würdiges Leben in Selbstbestimmung) gar nicht ausüben kann. Logische Konsequenz: Irgendwo muss das Recht auf Privateigentum begrenzt werden. Nach Auffassung des Autors sollte diese Grenze deutlich oberhalb der Schwelle liegen, die für ein menschenwürdiges Leben nötig ist, aber unterhalb der Schwelle, über der die Größe des Privateigentums des einen
– die gleichen wirtschaftlichen Freiheiten und Chancen anderer einschränkt;
– gleiche demokratische Mitgestaltungs- und Mitbestimmungsrechte anderer gefährdet;
– das entstehende Ausmaß der Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt und Frieden gefährdet.
Die Maßnahme, mit der dies sichergestellt werden kann, könnte eine progressive Vermögenssteuer sein. Diese könnte an der Schwelle einsetzen, oberhalb derer jemand als wohlhabend angesehen werden kann und zum Beispiel ein Eigenheim im Wert von 500.000 Euro und dazu ein Finanzvermögen von 250.000 Euro besitzt. Ab 750.000 Euro könnte ein Steuersatz von 0,5 Prozent einsetzen, der progressiv ansteigt, erst langsam, dann rascher – bis eben hundert Prozent. Der »Deckel« könnte beispielsweise bei zehn, zwanzig, dreißig oder hundert Millionen Euro aufgesetzt werden – die Obergrenze sollte eine direktdemokratische Entscheidung sein. Damit kann sich ein Mensch noch vielerlei Luxus leisten, aber eben weder einen Fußballclub noch einen Fernsehsender und vor allem keine politische Partei mit Parlamentsclub. Frank Stronach gab für den Wahlkampf 2013 stolze 10,7 Millionen Euro aus, mehr Geld als jede andere Partei, die teils seit 130 Jahren existieren und ausschließlich durch Wahl im Parlament vertreten sind.33 Läge die Obergrenze für Privateigentum bei zehn Millionen Euro, könnte er das nicht tun; wäre die Grenze beim Eintritt in den Club der Ultra High Net Worth Individuals, auch nicht: Wer dreißig Millionen hat, gibt kaum zehn davon auf einen Schlag aus. Macht hingegen das Beispiel Schule, steht in wenigen Jahren hinter jeder zweiten Parlamentspartei ein geltungsbedürftiger Milliardär.
Die Verwendung des Privateigentums zum ausschließlichen eigenen Vorteil ist in Deutschland schon heute grundgesetzwidrig. In Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.« Unmissverständlicher geht es eigentlich kaum, doch stellt kein einziges Gesetz den Schutz dieses Grundsatzes sicher. Nicht in Deutschland und nicht anderswo. Die Finanzierung einer persönlichen Partei, die sogar nach dem Gründer benannt ist, aus dessen Privatvermögen – dient das dem Gemeinwohl? Wer fragte John Paulson, was er mit den fünf Milliarden US-Dollar macht, die er 2010 für das Management eines Hedge-Fonds verdiente? Wer prüft die Gemeinwohl-Performance der Familien Porsche und Piëch, die 2013 stolze 301 Millionen Euro an Dividenden kassierten, oder die Mercks, denen 295 Millionen an Kapitalzins zuflossen?34 Wo ist die grundgesetzliche Instanz, welche die Gemeinwohl-Pflicht der MilliardenerbInnen prüft – ähnlich streng, wie der deutsche Rechtsstaat kontrolliert, ob jemand seine Papiere bei sich trägt, ob jemand Marihuana zu Hause anbaut, ob jemand die Parkordnung einhält oder eine öffentliche Mauer mit Graffiti besprayt hat?
Das Grundgesetz ist kein Einzelfall. In der spanischen Verfassung heißt es: »Das gesamte Vermögen des Landes in seinen unterschiedlichen Formen und egal wem es gehört ist dem Allgemeininteresse untergeordnet« (Art. 128). Auch die spanische Verfassung verbietet keineswegs Privateigentum, sie bedingt es bloß. Im gleichen Geist formulierte Papst Paul VI. in der Sozialenzyklika »Populorum progressio« 1967: »Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unbeschränktes Recht. Das Eigentumsrecht darf niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt werden.«35 Die Zeugnisse für die Begrenzung und Bedingung des Privateigentums sind sonder Zahl, während mir keine explizite und prominente Fürsprache für die grenzenlose Ungleichheit oder bedingungsloses Privateigentum bekannt ist – sieht man vom Deutschland-Chef von Goldman Sachs ab.36 Manche Reiche könnten mit einer Obergrenze für Vermögen gut leben. So meinte Glencore-CEO Ivan Glasenberg: »Letztlich macht es keine Differenz, ob das Vermögen eine Milliarde beträgt oder sechs.«37 Gegenüber dem Ist-Zustand wäre es schon ein Fortschritt, wenn niemand mehr als eine Milliarde besitzen dürfte. Ivan Glasenberg könnte diesen Vorschlag im demokratischen Geldkonvent einbringen.
c) Erbschaften
»Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.« Tagebuch Rosa Luxemburg? Kommunistisches Manifest? Nein: bayerische Verfassung, Artikel 123, aktuell gültige Fassung. Die Verfassungen sind beim Erbrecht zum Teil noch expliziter als beim Eigentum. Der Geist, aus dem diese Formulierung floss, ist aber nicht kommunistisch (im Freistaat Bayern!), sondern liberal: Die Verfassung bewahrt die Gesellschaft vor der Überkonzentration von Eigentum und Macht, um Freiheit und Demokratie zu schützen. Neben der progressiven Vermögenssteuer ist eine progressive Erbschaftssteuer dazu ein weiterer effektiver Hebel. Ausreichend effektiv sogar: Mit einer Begrenzung a) der Höchsteinkommen und b) des Erbrechts bräuchte es gar keine Begrenzung von Privatvermögen, weil diese keine exzessive Größe erreichen könnten. In diesem Fall würden Spitzensätze bei der Vermögenssteuer von wenigen Prozent ausreichen.
Erbschaftssteuern lassen sich auch trefflich mit dem Leistungsprinzip argumentieren: Soll die eigene Leistung darüber entscheiden, ob es jemand zu einem großen Vermögen bringt, oder der Besitz der Eltern? Ist es volkswirtschaftlich vorteilhafter, dass die Kinder vermögender Eltern die größeren Unternehmen erben oder die begabtesten Kinder Verantwortung übernehmen? Selbst Milliardären wie Warren Buffett stößt die gegenwärtige Erbfolge in der Wirtschaft sauer auf, er bezeichnet sie als »Vermögensaristokratie anstelle einer Meritokratie«. Im Sport wäre das, als würde sich »das Olympiateam von 2020 aus den ältesten Söhnen der Olympiasieger von 2000 zusammensetzen«.38
Dass die USA einen anderen Zugang zum Erbrecht haben, zeigt der stufenweise Anstieg des Spitzensatzes der Erbschaftssteuer im New Deal nach der Großen Depression von zwanzig auf 45, dann auf sechzig, später auf siebzig und schließlich auf 77 Prozent!39 In Bezug auf das Erbrecht gibt es zwei fundamentale Ansätze:
1. Den feudalen Ansatz: Allein die Geburt entscheidet, wer wie viel erbt.
2. Den liberalen Ansatz: Allein die eigene Leistung entscheidet, wer es zu welchem Vermögen im Leben bringt. Dafür bräuchte es gleiche Startbedingungen für alle, unter anderem gleich hohes Startkapital.
Während der zweite Ansatz vermutlich den Werten der Gegenwartsgesellschaft näher kommt – Leistung, Chancengleichheit, Gerechtigkeit –, ist der erste Ansatz das derzeit gültige Gesetz. Der erste Ansatz sieht keinerlei Beschränkung des Erbrechts vor, der zweite schafft es konsequent ab. Gibt es eine dritte Alternative? Ein Mittelweg bestünde darin, dass kleine Vermögen, auch Landwirtschaften und Familienbetriebe, weitervererbt werden dürfen, während Großvermögen besteuert werden und an die Gemeinschaft zurückfallen. Schumpeters »schöpferische Zerstörung« würde auch die zu Lebzeiten gewachsenen Kapitalkonzentrationen treffen, diese würden mit dem Tod der Person zerfallen – wie in der Natur. Allerdings blieben dabei die geschaffenen Werte erhalten, dekomponiert würden nur die überkonzentrierten Eigentumstitel. Mit dem Erbvermögen, das über der Grenze liegt, könnten entweder Staatsausgaben finanziert werden, zum Beispiel zur Speisung eines »Generationenfonds«, der bei der Finanzierung der Renten mithilft. Oder es wird das Startkapital derer aufgestockt, die bei der Geburt »Pech« und nichts geerbt hatten – im Sinne einer »negativen Erbschaftssteuer«. Gil Ducommun nennt die Mitgabe eines Anteils des Vermögens der scheidenden Generation an die nachfolgende Generation »demokratische Mitgift«.40 Auch damit könnte keine Chancengleichheit hergestellt, aber wenigstens die eklatante und illiberale Chancenungleichheit stark verringert werden.
Lord Keynes hatte Recht … und die Welt wird es bitter
bereuen, seine Vorschläge nicht angenommen zu haben.
Geoffrey Crowther1
Das Dollar-Reserve-System wird wahrscheinlich
auslaufen, wenn es nicht schon am Auslaufen ist.
United Nations2
Das gegenwärtige internationale Währungssystem ist »übereinstimmend« mit dem gesamten Geldsystem eine Quelle massiver Spekulation, systemischer Instabilität und Ineffizienz. Das öffentliche Gut »Währungsstabilität« existiert derzeit nicht. Im Unterschied zu anderen Bereichen der Geldordnung gab es im internationalen Währungssystem jedoch den Versuch einer politischen Ordnung, der vorübergehend auch erfolgreich war: das System von Bretton Woods 1944 bis 1973. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unterzeichneten 44 Vertragsstaaten auf der Konferenz von Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire das Währungsabkommen und setzten es um. Der US-Dollar wurde zur Leitwährung erklärt und an Gold gebunden3, die Wechselkurse der anderen Teilnehmerstaaten zum Dollar fixiert und Kapitalverkehrskontrollen zur Absicherung der Systemstabilität vereinbart. Zwei globale Institutionen, die »Bretton-Woods-Zwillinge« Weltbank und Internationaler Währungsfonds, stützten das Arrangement institutionell ab. Trotz erfolgreichem Abschluss fand die Konferenz nicht im Geist echter Kooperation statt: Es lagen zwei Vorschläge auf dem Tisch, einer aus Großbritannien und einer aus den USA. Die USA boykottierten den in jeder Hinsicht überlegenen Vorschlag des Briten John Maynard Keynes, um ihr eigenes Projekt, die systemisch sehr viel nachteilhaftere »Dollarhegemonie«, durchzusetzen. Dieser Konstruktionsfehler führte Anfang der 1970er Jahre zum vorhersehbaren Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, nachdem es ein Vierteljahrhundert lang gute Dienste geleistet und für relative Stabilität gesorgt hatte.
Das fehlkonstruierte Modell, das US-Außenminister Henry Dexter White durchboxte, bestand darin, dass der US-Dollar neben seiner Rolle als nationale Währung der USA gleichzeitig zur Weltleitwährung bestimmt wurde, in der alle wichtigen Rohstoffe und globale Schulden notieren (bis heute). Das bringt einen doppelten Riesenvorteil für die USA, weil sie a) das einzige Land der Welt sind, das in der eigenen Währung Rohstoffe einkaufen kann – alle anderen Staaten müssen zuerst US-Dollar kaufen, bevor sie Öl und andere Rohstoffe kaufen können; und b) kein Land sich so sehr wie die USA in der eigenen Währung im Ausland verschulden kann. Diese Vorrechte genießen die USA immer noch, denn zerbrochen ist nur das Bretton-Woods-System; der US-Dollar als globale Leitwährung existiert auch siebzig Jahre nach der historischen Konferenz weiter, er ist die unangefochtene globale Reservewährung Nummer eins.
Der Zielkonflikt in der Dollarhegemonie war, dass die USA entweder die Finanz- und Währungsstabilität im Auge behalten konnten und dafür ihre nationalen Interessen hintanstellten; oder aber sie verfolgten konsequent ihre eigenen Interessen, dann aber auf Kosten der Systemstabilität und letztlich des ganzen Bretton-Woods-Systems. Die USA entschieden sich für Zweiteres: Um den Vietnamkrieg zu finanzieren, kurbelte die Federal Reserve Ende der 1960er Jahre die Notenpresse an, wodurch 1971 zunächst die Golddeckung der Dollarnoten verlorenging; gleichzeitig verfiel der Außenwert der Währung, als immer mehr Greenbacks in Umlauf gerieten, aber nicht mehr Pfund, D-Mark oder Francs. 1973 gaben die USA deshalb auch den Wechselkurs des Dollars frei, was das Ende des Systems von Bretton Woods besiegelte. Seither bilden sich die Wechselkurse nach Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten. Umgehend setze Spekulation ein, und eine langandauernde Ära der Währungsinstabilität begann.
Keynes hatte – möglicherweise auf den Ideen von Silvio Gesell aufbauend4 – eine bessere Alternative unterbreitet: Anstatt eine nationale Währung zusätzlich mit der Rolle der Weltleit- und Rohstoffwährung zu überfrachten und dem Land damit einen unlauteren Vorteil zu verschaffen, war sein Vorschlag, dass eine globale »Komplementärwährung« für den internationalen Handel geschaffen werden sollte – zusätzlich zu den nationalen Währungen. Keynes nannte diese internationale Verrechnungseinheit »Bancor«, der sich aus einem Korb von Mitgliedswährungen zusammensetzen sollte. Die Wechselkurse der nationalen Währungen zum Bancor sollten politisch festgelegt und periodisch an die realwirtschaftliche Entwicklung angepasst werden. So hätte Keynes’ Modell etwas erreicht, was der Euro nicht zu leisten vermag: die beiden Kernziele Stabilität und Flexibilität unter einen Hut zu bringen. (Der Euro sorgt nur für Stabilität in Form einer Einheitswährung, aber nicht für Flexibilität bei den Wechselkursen, was in der gegenwärtigen Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung die Stabilität und sogar ihren Fortbestand gefährdet.) Keynes’ Formel hätte die Währungs- und Handelsfrage gemeinsam gelöst. Dieser luzide Aspekt seines Vorschlags ist kaum bekannt, wie überhaupt die ganze Idee. Keynes hatte beobachtet, dass Handelsungleichgewichte eine wiederholte Quelle von Krisen und sogar Kriegen waren. Der Hintergrund: Die Summe aller Leistungsbilanzen der Welt ist null. Jeder Leistungsbilanz-Überschuss eines Landes ist das Defizit eines anderen Staates, jeder Exportweltmeister benötigt einen Importweltmeister. Wenn ein Land dem anderen mehr verkauft, als es ihm abkauft, verschuldet sich das Defizitland beim Überschussland, und früher oder später ist es insolvent. Das ist genau gleich wie zwischen zwei Personen: Wenn die eine der anderen stets mehr verkauft, als sie ihr abkauft, ist die zweite Person früher oder später überschuldet, zahlungsunfähig und pleite – zum Schaden beider.
Einmalig darf ein Exportüberschuss ruhig »passieren«, aber sein dauerhaftes strategisches Anstreben ist eine Untergrabung der Stabilität der Weltwirtschaft und eben der zwingende Bankrott mindestens eines Handelspartners. Keynes sah deshalb einen weiteren Mechanismus vor, um die Leistungsbilanzen im Gleichgewicht zu halten: Je stärker die Staaten von einer ausgeglichenen Handelsbilanz abwichen, desto stärker sollten sie dafür pönalisiert werden und einen Teil ihres Bancor-Konto-Überschusses zurückzahlen müssen. Das wäre ein mächtiger Anreiz gewesen, der Auf- oder Abwertung ihrer Währung zuzustimmen, um die Strafzahlung zu vermeiden. So wäre das Gesamtsystem wieder zum Gleichgewicht zurückgekehrt. Keynes war nicht nur von makroökonomischen Überlegungen getrieben, er hatte unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und vergangener Währungskonflikte vor allem eines im Sinn: den globalen Frieden. Das hielt er 1943, als er seinen überarbeiteten Vorschlag der 1930er Jahre in Bretton Woods vorlegte, nicht ohne Pathos fest. »In der Nachkriegswelt muss eine größere Bereitschaft zu übernationalen Abkommen verlangt werden. Wenn die vorgeschlagenen Vereinbarungen als Maßnahmen zur finanziellen Abrüstung bezeichnet werden können, so sind sie doch milde im Vergleich zu den Maßnahmen militärischer Abrüstung, die von der Welt vermutlich akzeptiert werden müssen (…) Der Plan macht einen Anfang auf dem Weg in eine Neuordnung der zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen in der Welt unter den Nationen und zu einem ›Gewinn des Friedens‹.«5
Im Unterschied zum missglückten Euro und der EU wäre der von Keynes angedachte Plan tatsächlich ein – globales! – Friedensprojekt. Das Euro-Projekt bleibt weit hinter Keynes zurück, weil es die Handelsfrage einfach ausblendet – ebenso die Frage der Steuerkooperation und die gemeinsame Regulierung des Finanzsystems, das fiel bei der Euro-Einführung 1999 alles unter den Tisch. Dank des von Mario Monti ausgerufenen »neuen Bewusstseins«. Diese Unterlassungen begingen die Euro-Regierungen allerdings nicht im Interesse ihrer Bevölkerungen. Im Gegenteil: Indem sie den Euro mit Steuerwettbewerb und Deregulierung der Finanzmärkte kombinierten, trafen sie Entscheidungen, die vermutlich kein Souverän bei einer demokratischen Abstimmung so getroffen hätte. Und obendrein schaufelten sie damit dem Euro bei seiner Geburt gleichzeitig auch schon das Grab. Der Euro wird bei einem Weiter-wie-bisher an seinen Konstruktionsfehlern zusammenbrechen, so wie das Bretton-Woods-System an seinem zentralen Konstruktionsfehler vorhersehbar zusammenbrach.6
Seit der Aufgabe der Golddeckung des Dollars und der Freigabe der Wechselkurse 1973 bilden sich die Wechselkurse durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten. Doch der Markt ist auch hier – gleich wie bei den Rohstoffen – eine denkbar schlechte Instanz zur Bestimmung der Wechselkurse. Die Preisbildung für Währungen auf Märkten bringt eine Reihe gravierender Nachteile mit sich:
– Instabilität: Seit dem Zusammenbruch des Fixwechselkurssystems von Bretton Woods gleicht der D-Mark-Dollar-Kurs und später der Euro-Dollar-Kurs einer Hochschaubahn. Gleiches gilt für zahlreiche andere Währungen: von den südostasiatischen Ländern über die Türkei bis Island.
– Irrationalität: Nicht immer stieg der US-Dollar dann, wenn die US-Wirtschaft schneller wuchs, gegenüber D-Mark oder Euro, mitunter war es umgekehrt oder es kam zu heftigen Übertreibungen.7 Viele andere Währungen kämpfen mit Wechselkursbewegungen, die nichts mit der realwirtschaftlichen Entwicklung zu tun haben.
– Ineffizienz: Instabilität kostet. Alle realen WirtschaftsakteurInnen – ExporteurInnen, ImporteurInnen, InvestorInnen – müssen sich gegen die Kursschwankungen absichern. Das tun sie mithilfe von Derivaten, mit denen wiederum neue Spekulationsmöglichkeiten entstehen. In den Wirtschaftslehrbüchern werden Derivate in der Regel mit zwei Beispielen »gerechtfertigt«: mit schwankenden Rohstoffpreisen und mit schwankenden Wechselkursen. Die Möglichkeit, dass Rohstoffpreise und Wechselkurse auch stabil sein könnten, kommt dort ungefähr so prominent vor wie gewaltfreie Kommunikation in der militärischen Grundausbildung. Teure Absicherungsgeschäfte mit Devisenderivaten wurden erst notwendig, weil Währungen auf Märkten gehandelt werden.
– Einladung zur Spekulation: Die Möglichkeit, dass Wechselkurse schwanken, lädt zur Finanzwette auf Kursänderungen ein. Skrupellose AkteurInnen versuchen, Kurse gezielt zu beeinflussen und zu destabilisieren, um Gewinne zu machen. In den Großbanken gibt es heute Devisenhandelsabteilungen, in denen auf kleinste Kursänderungen spekuliert wird, um billige Profite zu erzielen. Wenn ein Devisenhändler für zehn Millionen Euro US-Dollar kauft, genügt eine Kursänderung von einem Tausendstel (0,1 Prozent), um beim Rücktausch einen Gewinn von 10.000 Euro zu erzielen. Gelingt dies dreimal pro Stunde, ergibt das einen Stundenlohn von 30.000 Euro. Je stärker die Kurse schwanken, desto größer sind die Gewinnchancen. Die Devisenspekulationsindustrie hat ein genuines Interesse an Instabilität. Sie nimmt dabei verschiedene Mittel zu Hilfe: Computerprogramme (»Arbitragespekulation«), Mediengerüchte und konzertierte Angriffe auf Währungen (»spekulative Attacken«) durch illegale Absprachen. Das berühmteste, aber nicht das einzige Beispiel ist der kollektive Angriff auf das britische Pfund unter der »Anführung« des Finanzinvestors George Soros 1992: Die Attacke war »erfolgreich« in dem Sinne, dass die britische Notenbank die Verteidigung (mittels Pfund-Ankäufen) aufgab und das Pfund abwertete. Soros strich einen Gewinn von einer Milliarde US-Dollar ein. Was war seine »Leistung«? Was »Philantropie«? Bei Devisenspekulation handelt es sich um reine Geld-aus-Geld-Geschäfte. Sie sollten verboten sein. Die Abtrennung der Geldgeschäfte von der Realwirtschaft und vom Leben erzeugt »kriminelle Energie«. Der Chef der Devisenhandelsabteilung von Citigroup London wurde suspendiert, nachdem die Finanzbehörden Ermittlungen gegen eine Reihe von Großbanken wegen Devisenkursmanipulation aufgenommen haben. Bei Redaktionsschluss dieses Buches hieß es in den Medien, der jüngste Skandal könnte »größere Ausmaße annehmen als der Libor-Skandal«.8
– Makroökonomisches Ungleichgewicht I (Wechselkurs und Schulden): Wenn die Währung eines Landes, das eine hohe Außenschuld hat, stark fällt oder durch Spekulation nach unten getrieben wird, verteuert sich die Auslandsschuld in inländischer Währung bis zur Gefahr des Staatsbankrotts (nicht jedes Land kann sich in eigener Währung im Ausland verschulden und die Schulden refinanzieren wie die USA), wie es zum Beispiel im Jahr 2000 in Argentinien der Fall war oder 2010 in Island. Möglicherweise ist als Nächstes die gesamte Eurozone dran. Das systemische Risiko ist meines Erachtens derzeit bereits so hoch, dass selbst Eurobonds »von den Finanzmärkten«, sprich von einer relevanten Anzahl von FinanzinvestorInnen, als »junk bonds« betrachtet werden und deshalb zum finalen Halali auf den Euro geblasen werden könnte.9
– Makroökonomisches Ungleichgewicht II (Zinsen und Wechselkurse): Wenn es keine Weltzentralbank gibt, die Schulden in einer neutralen Währung ausgibt, dann müssen sich so gut wie alle Länder in der Leitwährung verschulden und dabei ein bisweilen tödliches Zinsrisiko eingehen. Zumal der US-Dollar die Weltleitwährung ist, verursachte das Anheben der Leitzinsen der Federal Reserve Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre einen letalen Zinsschock bei den in – bis kurz davor billigen – US-Dollar verschuldeten Entwicklungsländern. Viele von ihnen sind bis heute nicht aus dem Schuldenjoch der 1980er Jahre herausgekommen. Sie haben dafür einen hohen Preis bezahlt inklusive zahlreicher Menschenleben.
– Makroökonomisches Ungleichgewicht III (Handelsbilanzen): Währungs- und Handelspolitik sind nicht voneinander zu trennen. Ob ein Land eine ausgewogene oder vom Gleichgewicht abweichende Handelsbilanz hat, hängt unter anderem auch vom Wechselkurs ab. Wird dieser durch Spekulation nach oben oder unten getrieben, hat dies massive Auswirkungen auf die Handelsbilanz. Der freie Markt erlaubt sowohl Dumping und unfairen Handel, was zu Ungleichgewichten im Handelssystem führt, als auch Währungsspekulation und das Wetten auf Staatsbankrotte, was es in Summe unmöglich macht, das oft in Verfassungen verankerte »makroökonomische Gleichgewicht«10 einzuhalten. Auch ohne Spekulation ist das Handelsgleichgewicht gefährdet, wie das Beispiel USA (Importweltmeister) und China (Exportvizeweltmeister) zeigt oder die Paarung Deutschland (Überschuss) und Mittelmeer-Euro-Staaten (Defizite).
– Makroökonomisches Ungleichgewicht IV (Devisenreserven): Nicht nur Handelsüberschüsse führen zur Auftürmung von Devisenreserven. Selbst Defizitländer müssen sich mit Fremdwährungsreserven als »Munition« gegen spekulative Attacken ausrüsten, um im Angriffsfall die eigene Währung durch Ankäufe (und Devisenverkäufe) stützen zu können. Je freier die Finanzmärkte, desto größer die Gefahr eines Angriffs, desto größer der Munitionsbedarf. 2012 betrugen die globalen Devisenreserven 15,2 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Fünfzehn Jahre davor waren es noch 5,6 Prozent.11 Da der US-Dollar die Reservewährung Nummer eins ist (zwei Drittel aller Devisenreserven), kommt es auf diese Weise nicht nur zu einer Sinnlos-Brache wertvoller Ressourcen, sondern auch zur billigen Finanzierung der USA durch die armen Länder. Insgesamt liehen die armen den reichen Ländern 2007 3,7 Billionen US-Dollar – zu supergünstigen Konditionen. Der »Aufpreis«, den arme Länder zahlen, wenn sie sich Geld von den reichen Ländern leihen, ist größer als die gesamten Entwicklungshilfezahlungen, die sie erhalten.12
In Summe ist das gegenwärtige Währungssystem genauso multipel dysfunktional wie das ganze Geldsystem. Es ist »instabil, unvereinbar mit globaler Vollbeschäftigung und verstärkt Ungleichheit«, so der UN-Report der Stiglitz-Kommission.13
Eine öffentliche Diskussion über eine alternative Währungsordnung im Sinne von Keynes fand vor der Krise kaum statt. Zwar schwelt die Debatte, ob der US-Dollar die Rolle der Weltleitwährung behalten wird oder ob es hier zu einer Ablöse durch den Euro oder den Yuan oder zu einer »tripolaren Konstellation« kommen wird, seit längerer Zeit im Untergrund. Doch der geniale Vorschlag von Keynes, der nicht bloß die Frage der Weltleitwährung stellt, sondern eine gerechte globale Lösung für die internationale Staatengemeinschaft vorschlägt, war bis zum Ausbruch der Krise 2008 so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten.14 Ich publizierte ihn erstmals 2006 und musste mir von prominenten Ökonomen in öffentlichen Diskussionen anhören, dies seien »planwirtschaftliche« Phantasien.15 Doch die Krise verhalf der Idee zu einer raschen Renaissance. Im März 2009 schrieb der Gouverneur der chinesischen Zentralbank Zhou Xiaochuan in einem Brief an die Weltöffentlichkeit anlässlich des G20-Gipfels in London: »Die Schaffung einer internationalen Verrechnungseinheit nach dem Vorschlag von Keynes ist eine kühne Initiative, die außergewöhnliche politische Vision und Mut erfordert (…) Bedauerlicherweise wurde der Vorschlag nicht angenommen.«16 Im September veröffentlichte die ExpertInnenkommission rund um Joseph Stiglitz einen Bericht an die UN-Generalversammlung, wie die Stabilität der globalen Finanzmärkte wiederhergestellt werden könnte. Der 140 Seiten starke Maßnahmenkatalog widmet dem Vorschlag von Keynes mehr als zwölf Seiten, er wird als »Idee, deren Zeit gekommen ist«, gewürdigt. Der internationalen Staatengemeinschaft wird die Ausgabe einer »globalen Reservewährung« durch eine »globale Reservebank« im Rahmen einer »globalen Reserveunion« empfohlen. Die Welthandelswährung könnte sich aus einem »Korb der Währungen aller Mitgliedstaaten zusammensetzen«.17 Damit knüpfen sie auch an die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds an, die bereits in den 1960er Jahren geschaffen wurden und ein Währungskorb aus US-Dollar, Pfund, D-Mark und Yen sind. Diese »Special Drawing Rights« (SDR) stellen seit 45 Jahren eine globale Komplementärwährung dar, sie erlangten jedoch bisher keine größere Bedeutung. Bis zum Ausbruch der Krise betrug der Wert aller ausgegebenen Ziehungsrechte weniger als 35 Milliarden US-Dollar, das sind 0,2 Prozent des Welthandelsvolumens (22 Billionen US-Dollar). 2009 beschloss die G20 im Zuge der Aufstockung der Mittel des Internationalen Währungsfonds auch eine weitere SDR-Tranche von 250 Milliarden US-Dollar.18 Die Richtung stimmt. Stephan Schulmeister schlägt als »ersten Schritt« die »Festsetzung von Bandbreiten« für die Wechselkurse zwischen Dollar, Euro, Renminbi und Yen vor. Langfristig könne daraus »eine echte Weltwährung« entstehen, »die als Numéraire für weltwirtschaftliche Stocks und Flows fungiert und aus einem Bündel der wichtigsten nationalen Währungen besteht. Die übrigen Länder könnten ihre Währungen dann in einem im Prinzip festen, aber in Notfällen änderbaren Verhältnis zum ›Globo‹ stabilisieren (oder auch am freien Markt bestimmen lassen – doch werden sie das in ihrem eigenen Interesse kaum tun).« Schulmeister hat zum Thema geforscht: »Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass Perioden der Prosperität stets Perioden fester Wechselkurse waren.«19 Jetzt warte ich nur noch darauf, dass sich auch der IWF in die Diskussion einschaltet. Mein persönlicher Tipp: »The Bancor Plan revisited.«
Hier ist nun der von mir leicht abgewandelte Vorschlag von Keynes im Detail:
– Die Mitgliedstaaten der UNO, deren Souveräne für diese Option plädieren, beschließen ein UN-Abkommen über eine globale Währungskooperation: die Terra-Union.
– Diese errichtet eine globale »Clearing Bank« (Keynes), »Global Reserve Bank« (Stiglitz-Kommission) oder eine Terra-Bank, welche den Welthandel und andere grenzüberschreitenden Kapitalflüsse zwischen den Mitgliedstaaten in der Einheit »Terra« verrechnet. Jedes Mitgliedsland erhält ein Konto bei dieser Verrechnungsbank. Sie ähnelt den heute schon existierenden Clearing-Banken, welche den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr abwickeln.
– Die Währungen der Mitgliedstaaten sind frei konvertierbar in den Terra. Die Wechselkurse werden fixiert – in Kaufkraftparität zueinander. Mein Vorschlag, wie das geschehen könnte: Ein Konsumkorb aus 25 Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs wäre im internationalen Handel konstant hundert Terra wert, das ist der stabile Referenzwert für alle teilnehmenden Währungen. Kostet derselbe Warenkorb in Großbritannien real fünfzig Pfund, wäre der Wechselkurs von Pfund zu Terra 1:2. Kostet der Korb in Deutschland hundert Mark, wäre der Wechselkurs von D-Mark zu Terra 1:1. Kostet der österreichische Korb 200 Schilling, erhält man für zwei Schilling einen Terra – und entsprechend wären die Wertverhältnisse aller Währungen (= Wechselkurse) zueinander.
– Führt die unterschiedliche Entwicklung makroökonomischer Indikatoren (Produktivität, Löhne, Inflation …) zu einem Verlust der ausgeglichenen Handelsbilanz eines Mitgliedstaates, wird sein Wechselkurs mit dem Ziel der Wiederherstellung des Gleichgewichts angepasst. Ein Überschussland wie China oder Deutschland müsste aufwerten, ein Defizitland wie die USA oder Griechenland abwerten. Weigern sich die »Abweichler« nach oben oder unten, müssten sie Strafe zahlen, umso höher, je weiter und länger andauernd die Abweichung ist: ein wirksamer Anreiz, den Wechselkurs doch anzupassen.
– Alle wichtigen Rohstoffe notieren im Terra: Ende der Dollarhegemonie I.
– Die Weltbank begibt zinsfreie Entwicklungskredite im Terra: Ende der Dollarhegemonie II.
Einer der schlagenden Vorteile an Keynes’ Vorschlag ist: Er brächte sowohl Stabilität (fixe Wechselkurse – Spekulation kaum möglich, Versicherung gegen Kursschwankungen unnötig) als auch Flexibilität: Wenn sich eine Volkswirtschaft anders entwickelt als der Referenzkorb, zum Beispiel aufgrund geringerer Produktivitätsfortschritte oder höherer Inflation, würde der Wechselkurs ihrer Währung an die realen Verhältnisse angepasst, das Gesamtsystem bliebe im Gleichgewicht.
Eine Alternative »light« zur globalen Reserveunion schlägt der bekennende Keynesianer und UNCTAD-Chefökonom Heiner Flassbeck vor. Er plädiert für ein »System realer effektiver Wechselkurse« (Real Effectiv Exchange Rates: REER). Die UNCTAD ist der Ansicht, dass es ausreichen würde, die Wechselkurse regelmäßig an die realen Kaufkraftparitäten anzupassen, damit die Handelsbilanzen von selbst ins Gleichgewicht zurückkehrten.20
Dazu ein (reales) Beispiel: In Griechenland und Deutschland steigt die Produktivität in einem Jahr um je zwei Prozent. In einer Arbeitsstunde werden von einem Industriegut nicht hundert Stück hergestellt, sondern 102. Griechenland hebt die Löhne parallel zur gestiegenen Leistung um zwei Prozent an – die Lohnstückkosten bleiben konstant (weil zwar mehr Stück je Stunde produziert werden, aber auch um denselben Betrag je Stunde mehr verdient wird). Deutschland reagiert anders: Es lässt die Löhne gleich. Dadurch sinken die Lohnstückkosten um zwei Prozent. 102 Stück werden zum selben Lohn/Arbeitspreis hergestellt wie im Vorjahr hundert Stück. Die Folge: Deutschlands Produkte werden in Relation zu Griechenlands Produkten billiger, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit steigt um zwei Prozent. Allerdings nicht, weil die Produktivität – also die Leistung – in Deutschland schneller gestiegen wäre als in Griechenland, sondern weil ungerechter verteilt wird. Im Euro hat Griechenland keine Chance, die aggressive Lohnpolitik Deutschlands durch die Abwertung der Landeswährung um zwei Prozent zu neutralisieren. Deshalb verliert Griechenland den innereuropäischen Handelswettbewerb gegen Deutschland. In den ersten zehn Jahren nach der Euro-Einführung (und dem Verlust der Möglichkeit der Wechselkursanpassung) summierte sich der Preis- und Wettbewerbsvorteil Deutschlands gegenüber den Mittelmeerländern auf rund 25 Prozent.21 Die von der Troika durchgesetzte »Lösung« besteht allerdings nicht in der – gerechten – »realen« Aufwertung Deutschlands, indem die Löhne dort um 25 Prozent angehoben werden (was die Renten sichern würde), sondern in der brutalen Abwertung der Mittelmeerländer, wo die Reallöhne dramatisch sinken: Bestraft werden die Gerechten. (Zudem werden die Renten in Deutschland gefährdet.) Sinkende Reallöhne und Kaufkraft bei Importen in Griechenland haben denselben Effekt wie steigende Reallöhne und Kaufkraft bei Importen in Deutschland: Griechenlands Leistungsbilanzdefizit rasselte von 18 Prozent 2008 auf prognostizierte 1,9 Prozent 2014.22
Der Alternativvorschlag der UNCTAD wäre folgender: Die Zentralbanken zweier Handelspartner mit eigenen Währungen legen zunächst einen Wechselkurs fest, der die reale Kaufkraftparität wiedergibt. Wenn zum Beispiel jemand mit einem Pfund in Großbritannien gleich viel einkaufen kann wie jemand mit zwei US-Dollar in den USA, ergäbe das einen »kaufkraftparitätischen« Wechselkurs von 1:2 oder zwei US-Dollar je Pfund. Verändert sich diese Relation zum Beispiel in die Richtung, dass das Pfund an Kaufkraft verliert und mit einem Pfund in Großbritannien nur noch so viel gekauft werden kann wie mit 1,95 US-Dollar in den USA, würden die Zentralbanken beider Länder – falls nötig – durch konzertierte Dollarankäufe den nominellen Wechselkurs an den realen anpassen: auf 1,95 US-Dollar je Pfund.
Dieser Vorschlag könnte von einer Ländergruppe erprobt werden. So wie die UN-Autoren schreibt auch die UNCTAD: »Ein regelbasiertes Wechselkursmanagement kann als unilaterale Wechselkursstrategie praktiziert werden oder, mit bedeutend größerem Spielraum für Notenbank-Interventionen, über bilaterale Abkommen oder als Kernelement einer regionalen Kooperation. Der größte Gewinn für internationale Finanzstabilität würde sich allerdings ergeben, wenn diese Regeln multilateral angewandt würden, als Teil einer globalen Finanzregulierung.«23 Einen Versuch wäre es wert. Klappt es nicht, könnte ja der »zweite Gang«, die von Keynes vorgeschlagenen Sanktionen für Abweichler von ausgeglichenen Handelsbilanzen, zugeschaltet werden.
Eine mögliche Kompromissvariante zwischen dem UNO-Keynes-Stiglitz-Modell (oberstes Ziel: ausgeglichene Handelsbilanzen) und dem UNCTAD-Flassbeck-Modell (oberstes Ziel: Kaufkraftparität) könnte darin bestehen, dass der Terra (wie oben beschrieben) eingeführt wird, dass jedoch die Wechselkursanpassungen die Beibehaltung der Kaufkraftparität zum Ziel haben und nicht das Gleichgewicht der Handelsbilanzen (das sich in der Perspektive Flassbecks als Folge von selbst einstellen würde). Ein Beispiel: Kostet der konstante Terra-Warenkorb in Großbritannien eines Tages 55 Pfund, sinkt der Pfundkurs automatisch auf 0,55 Pfund je Terra. England würde durch diese Anpassung gegenüber einem Handelspartner, dessen Preisniveau unverändert bleibt, nicht an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das System bliebe auch in dieser Variante stabil und flexibel. Und auch in dieser Variante ließen sich die Pönalen für Abweichungen vom Gleichgewicht dazuschalten.
Der unmittelbare Vorteil des UNCTAD-Vorschlages ist, dass es keine neue Organisation, keine globale Komplementärwährung und keinen Sanktionsmechanismen braucht; deshalb das Prädikat »light«. Sein klarer Nachteil hingegen wäre, dass er »nur« das Währungs- und Handelsproblem lösen würde, jedoch weder das Problem der Rohstoffwährung noch das der Schuldenwährung. Sollte das weiterhin der US-Dollar sein? Das Bestechende an Keynes’ Vorschlag ist, dass er a) das Währungsproblem, b) die Handelsfrage, c) die Frage der Rohstoffwährung und d) das internationale Schuldenmanagement in einem lösen würde, weshalb ich es präferiere.
Für einige LeserInnen mag vielleicht der Unterschied zwischen beiden Alternativen zu technisch anmuten, zu detailliert oder gar irrelevant. Doch welch Fortschritt für die internationalen Beziehungen, die Gestaltung der Weltwirtschaft und die Selbstbestimmung der nationalstaatlichen Souveräne, wenn wir, anstatt ohnmächtig in der ungerechten und instabilen Dollarhegemonie gefangen zu bleiben, den Luxus genössen, zwischen einem Bretton Woods II mit Fokus auf Kaufkraftparität und einem Bretton Woods II mit Fokus auf ausgeglichenen Handelsbilanzen entscheiden zu dürfen! Welch Gewinn für die Demokratie! In Kürze würden zahllose Menschen die beiden Vorschläge kennen und heiß diskutieren, wissend, dass sie selbst diese Entscheidung von globaler Tragweite treffen können, falls ihre Regierungen weiterhin untätig bleiben!
Die Schweiz und China sind zwei Beispiele für »Planwirtschaft« im Sinne der politischen Festlegung des Wechselkurses – was zeigt, dass es möglich ist. In China wird der Wechselkurs politisch festgelegt – und basta. Allerdings einseitig und damit genauso dem nationalen Eigeninteresse folgend wie die USA in der Dollarhegemonie: Vergangenheit (oder in der Fachsprache: Neo-Merkantilismus).
Die Schweiz »deckelt« den Wechselkurs des Franken, der sich infolge der Instabilität in der Eurozone und der wachsenden Schuldentürme in den USA und Japan immer größerer Beliebtheit erfreut – was aber den Kurs in schwindelerregende Höhen treibt und den Schweizer Export ruiniert. Deshalb interveniert die Notenbank, indem sie Unsummen von Franken ver- und Devisen ankauft, um den Kurs zu deckeln. Der Devisenbestand explodierte von 45 Milliarden Schweizer Franken 2008 auf 450 Milliarden Franken Mitte 2013. Die Fremdwährungsbestände machen neunzig Prozent der Bilanzsumme der Schweizer Nationalbank aus.24 Die Schweizerische Nationalbank kauft sogar australische Dollar: »Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas sehe. Eine anti-inflationäre konservative Institution [wie die SNB] hält unsere Währung als Reserve«, kommentiert der australische Zentralbanker Glenn Stevens.25 Das hat zur Folge, dass sich die Bilanzsumme der Schweizer Notenbank schneller aufgebläht hat als die der Fed, der Bank of England oder der EZB (um 500 Prozent). Effektiver wäre es, den Kurs einfach festzulegen, aber das ist offenbar ein ideologisches Tabu. Lieber Multimilliarden in die Märkte pumpen, um die Marktkräfte auszuschalten, als den Wechselkurs politisch festzulegen.
Was würde heute passieren, wenn die USA die Rolle der Weltleitwährung verlieren würden – ohne dass die hier vorgestellten institutionellen Vorschläge umgesetzt würden? Konkret, wenn die wichtigsten Rohstoffe plötzlich in Euro oder einer anderen Währung notieren würden?
– Die Nachfrage nach dem US-Dollar würde abstürzen und mit ihr der Wechselkurs. Öl und alle anderen Rohstoffe würden sich für die USA, den Ressourcengiganten, prohibitiv verteuern, die Wirtschaft würde in eine Rezession verfallen, die wiederum die Staatsschulden explodieren ließe. Rating-Agenturen würden den USA den Todesstoß versetzen, das Land wäre in kurzer Zeit bankrott. Die USA sind bereit, Kriege zu führen, um dieses Szenario zu verhindern.
– Wem diese kurze Kette zu einfach erscheint, der möge sich vor Augen führen, dass die USA aufgrund ihrer politökonomischen Monopolstellung das einzige Land der Welt sind, bei dem der Internationale Währungsfonds nicht interveniert, obwohl es ein – imposantes – »Zwillingsdefizit« aufweist: im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz. Bei allen anderen IWF-Mitgliedern hätte längst die Alarmsirene geheult, und die »Finanzfeuerwehr« aus Washington wäre mit Folgetonhorn angerückt und hätte dem »Krisenland« harte Strukturanpassungsprogramme verschrieben, damit es seinen Auslandsschuldendienst weiter bedienen kann. Der Währungsfonds misst mit zweierlei Maß, aber er ist auch keine demokratische oder gar egalitäre internationale Organisation, sondern eine Aktiengesellschaft im Mehrheitseigentum der mächtigsten Industriestaaten. Das einzige Land, das über eine Veto-Macht verfügt, sind wiederum die USA. Der Kreis schließt sich.
– Die Aussicht auf Krieg ist für die USA vielleicht ein hinnehmbares Szenario, die auf Verlust der Leitwährung an den Euro oder Renminbi sicher nicht. Dieser schlimmstmöglichen aller narzisstischen Kränkungen zu entgehen, könnte in den USA einer »pragmatischen« Fraktion Auftrieb geben, die sich für eine neutrale Währungsordnung einsetzt, um die Ablöse des US-Dollars durch den Euro oder eine andere Weltleitwährung zu verhindern.
Was würde passieren, wenn der Keynes-Vorschlag umgesetzt würde?
– Die Rohstoffe inklusive Öl würden in Terra notieren. Dadurch würde die Nachfrage nach US-Dollar rapide abfallen. Dies hätte jedoch – im Unterschied zu einem System freier Wechselkurse – weniger dramatische Auswirkungen, weil die Wechselkurse politisch bestimmt würden nach Kaufkraftparität – der US-Dollar bliebe annähernd stabil.
– Hingegen könnten die USA ein Problem mit der Außenverschuldung bekommen. Da der US-Dollar nicht mehr als Reservewährung nötig wäre – diese Rolle übernimmt der Terra, könnten die USA zumindest keine weiteren Schuldtitel im Ausland loswerden. Aufgrund der miserablen makroökonomischen Kennzahlen würde sich das Rating rasch verschlechtern, US-Anleihen würden Richtung Junk tendieren. Die USA müssten sich im Inland verschulden (Modell Japan) anstatt weltweit. Das kann gutgehen, es kann auch schiefgehen. Im Notfall könnten immer die Vermögenssteuern jäh angehoben werden, das könnte jedes Industrieland problemlos vor dem Staatsbankrott bewahren.
– Eines ist hingegen sicher: Das Handelsungleichgewicht zwischen den USA und China hätte in einem Bretton-Woods-II-System nicht entstehen können. Denn beide Staaten wären zur Anpassung ihrer Wechselkurse – das Defizitland USA zur Abwertung und das Überschussland China zur Aufwertung – oder alternativ zur Zahlung von Strafen gezwungen worden. Somit hätten sich keine großen Handelsungleichgewichte aufbauen können.
Solange die Weltwährungsordnung und das Geld- und Finanzsystem insgesamt so instabil bleiben, wie sie gegenwärtig sind, halte ich lokale und regionale Komplementärwährungen für eine sehr gute Sache. Sie federn viele Nachteile ab, welche die Finanzdiktatur erzeugt. Die Werte Regionalität, Resilienz, Nachhaltigkeit und Demokratie sprechen klar für diese Initiativen. Das Bewusstsein über die Geldordnung, das durch den Chiemgauer, den Sterntaler, die Vorarlberger Talente und andere lokale Komplementärwährungen geschaffen wird, ist von großem Wert. Es wäre sogar naheliegend, dass der erste »demokratische Geldkonvent« in einer Gemeinde stattfindet, die bereits mit Regiogeld oder einer anderen Komplementärwährung arbeitet. In Kapitel 1 habe ich zur Unterstützung dieser Experimente die Frage an die Geldkonvente vorgeschlagen, ob regionale und lokale politische Gebietskörperschaften das Recht erhalten sollen, eine »offizielle« Komplementärwährung auszugeben. Diese könnte ohne Annahmezwang auf freiwilliger Basis oder auch mit Annahmezwang als regional begrenzt gültiges, gesetzliches Zahlungsmittel ausgestaltet werden – die Souveräne entscheiden. Zu Regionalwährungen gibt es schon viel und spezielle Literatur, weshalb ich die Diskussion der möglichen Inhalte mit einem Verweis auf die Arbeiten von Bernard Lietaer26, Margrit Kennedy27, Tobias Plettenbacher und Charles Eisenstein28 sowie auf die erfolgreichen Langenegger Talente29, den Chiemgauer30 und den Sterntaler31 beschließe.