KAPITEL 9

Das Telefon glitt Ellen aus der Hand und fiel zu Boden.

Von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst, griff sie hinter sich, um sich festzuhalten. Sich irgendwo abzustützen.

Gerahmte Fotos, Erinnerungsstücke und eine Lampe fielen krachend um.

Dann bückte sie sich panisch, um das Telefon wieder aufzuheben.

»Gil?!«, schrie sie. »Gil?«

Doch die Leitung war tot.

»Gil?«, wisperte sie in das dröhnende Schweigen hinein.

»Mom?« Katherine machte einen Schritt auf sie zu.

»Sie ist explodiert«, murmelte sie und starrte erst ihre Tochter, dann Betsy mit weit aufgerissenen Augen an.

Im nächsten Moment brach Chaos los, als alle anfingen, wild durcheinanderzureden und Anweisungen zu rufen.

»Stopp!«

Es wurde still. Alle drehten sich um und schauten die Außenministerin an, die jetzt von Betsy und Katherine schützend flankiert wurde.

Seit der Explosion waren zehn Sekunden vergangen.

»Kennen wir den genauen Standort des Busses?«, wollte Ellen wissen.

»Ja. Der lässt sich anhand der Handyverbindung feststellen.« Boynton nahm Katherines Telefon, betätigte einige Tasten und nickte. »Hab ihn.«

»Schicken Sie ihn an die Deutschen«, wies Ellen ihn an. »Und alarmieren Sie die Notdienste in Frankfurt. Los!«

»Ja, Madame Secretary.«

Den Mitarbeitern wurde aufgetragen, sämtliche Nachrichtendienste über den jüngsten Anschlag zu informieren und Verbindung zum US-Konsulat in Frankfurt aufzunehmen, damit Leute an den Ort des Geschehens geschickt werden konnten.

»Und sagen Sie ihnen, sie sollen nach Gil suchen«, rief Ellen noch. »Gil Bahar.« Sie buchstabierte den Namen, während die Referenten bereits durch den Flur davoneilten.

Dann wandte sie sich an ihre Tochter, die ihren Bruder auf dem Handy zu erreichen versuchte. Sie schüttelte den Kopf. Beide schauten zu Anahita, die es ebenfalls probierte.

Mit weit aufgerissenen Augen hielt sie das Handy ans Ohr. Nichts.

»Ich rufe unsere Redaktion in Frankfurt an«, sagte Katherine. »Sie können schnell vor Ort sein.« Ihre Finger flogen nur so über das Display ihres Handys. »Du«, befahl sie Anahita, »versuch es weiter bei meinem Bruder.«

Ana nickte.

Telefone klingelten, Alarmsignale und Benachrichtigungstöne erklangen.

Betsy schaltete die Fernseher ein. Dr. Phil interviewte gerade eine Frau, deren Ehemann sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hatte und die nun beschlossen hatte, ein Mann zu werden.

Klick.

Judge Judy saß einem Prozess vor, bei dem jemand seinem Nachbarn wiederholt ein Geschirrtuch von der Wäscheleine gestohlen hatte.

Klick. Klick.

Noch keine Meldungen. Die Explosion war etwas mehr als eine Minute her.

Klick.

»Madame Secretary, ich habe die Bundeskanzlerin informiert und den deutschen Nachrichtendiensten sowie Polizei und Rettungsdienst die Koordinaten geschickt«, erstattete Boynton Bericht. »Sollen wir dem Präsidenten Bescheid sagen?«

»Dem Präsidenten?«, fragte Ellen.

»Der Vereinigten Staaten.«

»Ach Gott, ja. Das übernehme ich.«

Ellen ließ sich auf ihren Stuhl sinken, verbarg das Gesicht in den Händen und rieb sich die Schläfen mit den Fingern. Als sie wieder aufsah, waren ihre Augen gerötet, doch ansonsten wies nichts darauf hin, dass sie womöglich gerade mitangehört hatte, wie ihr Sohn bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war.

»Bitte, stellen Sie eine Verbindung zum Präsidenten her.«

Immer schneller trafen nun die Berichte ein, die von den Ministeriumsmitarbeitern hektisch weitergeleitet wurden.

»Mr. President, es gab eine weitere Bombenexplosion.«

»Warten Sie kurz.«

Doug Williams bedeutete seiner Stabschefin, die Besprechung mit Vertretern der Bundesbehörde zur Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen zu beenden und das Oval Office zu räumen.

Sobald er allein war, drehte Williams sich um und blickte auf den Rasen hinaus.

»Wo?«

»Frankfurt. Wieder ein Bus.«

»Scheiße.« Wenigstens nicht hier, ging ihm unwillkürlich durch den Kopf.

Er setzte sich an den Schreibtisch, schaltete das Telefon auf Lautsprecher und tippte hastig etwas in die Suchmaschine auf seinem Laptop ein. »Im Internet finde ich nichts.«

Barb Stenhauser kehrte zurück. Ihre Miene war fragend, doch statt einer Antwort wedelte der Präsident nur mit der Hand, was sie als Aufforderung deutete, die Monitore einzuschalten und die verschiedenen Nachrichtensendungen zu checken.

»Ein neuer Anschlag«, rief er ihr quer durchs Oval Office zu. »In Frankfurt.«

»Verdammt.« Irgendwann landete sie bei CNN und griff nach ihrem Telefon.

»Wann ist es passiert?«, wollte Williams von Ellen wissen.

Diese schaute auf die Uhr und stellte erstaunt fest, dass der Anschlag gerade einmal anderthalb Minuten her war. »Vor neunzig Sekunden.«

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

»Die deutsche Regierung und internationale Nachrichtendienste sind bereits informiert«, fuhr sie fort. »Über unsere sicheren Kanäle wurden Warnmeldungen ausgegeben.«

»Moment mal. Sie haben die Deutschen informiert, nicht umgekehrt? Wie haben Sie so schnell von dem Anschlag erfahren?«

Ellen zögerte. Sie hätte es ihm lieber nicht gesagt, wusste jedoch, dass ihr keine Wahl blieb.

»Mein Sohn war in dem Bus.«

Schweigen.

»Das tut mir leid«, sagte Williams nach einer Weile und klang beinahe aufrichtig dabei.

»Möglicherweise konnte er noch rechtzeitig aussteigen«, fügte sie hinzu. »Zumindest …« Sie musste sich mit aller Macht zusammenreißen »… klang es so.«

»Sie haben mit ihm gesprochen? Als die Bombe hochging?«

»Dürfte ich zu Ihnen kommen und persönlich mit Ihnen reden, Mr. President? Dann kann ich Ihnen den genauen Ablauf der Ereignisse schildern.«

»Darum möchte ich sehr bitten.«

Als Ellen im Weißen Haus ankam, weigerte sie sich, dem Secret Service ihr Telefon auszuhändigen. Sie wollte es bei sich behalten für den Fall, dass Gil sich meldete. Der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, der Chef der CIA und General Whitehead waren bereits im Oval Office versammelt.

»Heimatschutz- und Verteidigungsminister müssten auch bald hier sein«, teilte Präsident Williams ihr mit. »Aber wir warten nicht länger.«

Gil erwähnte er mit keinem Wort. Sie war sehr froh darüber, obgleich sie vermutete, dass es nicht aus Rücksichtnahme auf ihre Gefühle geschah. Wahrscheinlich war es entweder emotionale Feigheit, oder er hatte es schlichtweg vergessen.

Ellen berichtete in wenigen Worten, was sich ereignet hatte. Inzwischen wusste die ganze Welt von der Explosion. Die Bilder kamen überall in den Nachrichten, und die Moderatoren wurden fast hysterisch vor Angst oder Aufregung. Reporter waren bereits vor Ort, viel zu nahe an der Unglücksstelle, weil die sonst so effiziente deutsche Polizei Mühe hatte, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Krankenwagen und Löschzüge hatten Probleme, zum Unglücksort vorzudringen.

»Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, eine junge Mitarbeiterin von Ihnen wurde vor dem Anschlag gewarnt?«, fragte Tim Beecham, der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste. »Unser Netzwerk ist groß, wir haben Leute überall auf der Welt. Keiner unserer erfahrensten Spione, niemand hatte im Vorfeld irgendwelche Informationen zu dem Anschlag. Stattdessen hat jemand ihrer Mitarbeiterin eine Mail geschickt?«

»Ja«, bestätigte Ellen, die Sekunden zuvor genau das gesagt hatte.

»Aber wer?«, wunderte sich der Präsident.

»Das wissen wir nicht. Sie hat die Nachricht gelöscht.«

»Gelöscht?«

»So sieht es das Protokoll vor. Sie hat die Mail für Spam gehalten.«

»Kam sie von einem nigerianischen Prinzen?«, fragte der inzwischen eingetroffene Heimatschutzminister. Niemand lachte.

»Warum sie?«, fragte der Präsident. »Diese Ana …«

»Anahita Dahir. Ich weiß es nicht …«

»Anahita Dahir«, murmelte der CIA-Direktor mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen Beecham.

»Ich hatte keine Zeit, sie danach zu fragen«, fügte Ellen hinzu. »Ich bin einfach nur froh, dass sie reagiert hat.«

»Zu spät«, gab der Verteidigungsminister zu bedenken. »Alle Bomben sind explodiert.«

Ellen schwieg. Er hatte recht.

Tim Beecham entschuldigte sich und verließ den Raum. Eine Minute später war er wieder da.

General Whitehead nahm dies mit leicht zur Seite geneigtem Kopf zur Kenntnis. Er suchte Ellens Blick und schenkte ihr ein kleines Lächeln, das vermutlich aufmunternd sein sollte, jedoch genau den gegenteiligen Effekt hatte.

Jetzt beäugte auch sie den Direktor der Nationalen Nachrichtendienste.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Doug Williams.

»Ja, Mr. President«, antwortete Beecham. »Ich musste nur meine Leute anrufen.«

Ellen Adams fragte sich, warum Beechams kurze Abwesenheit den General so beunruhigte. Sie glaubte die Antwort zu kennen.

Beecham hätte nicht den Raum verlassen müssen, um einen Anruf zu tätigen. Das ließ nur einen Schluss zu: Er hatte nicht gewollt, dass die anderen mithörten.

Aber warum?

Erneut schaute sie zu General Whitehead, doch der war mit seiner Aufmerksamkeit wieder ganz beim Präsidenten.

Außenministerin Adams beantwortete die Fragen der Runde, während Gils Mutter den Fernsehbildschirmen den Rücken zukehrte. Sie wagte nicht hinzuschauen, für den Fall, dass …

»Ihr Sohn?«, erkundigte sich Williams.

»Noch keine Nachricht.« Ellens Stimme klang hart und brüchig. Mit ihren Blicken flehte sie ihn an, nicht weiter nachzufragen.

Er nickte wortlos.

»Und es hat sich nach wie vor niemand zu den Anschlägen bekannt?«, fragte er weiter.

»Nein. Aber es war sicher kein einsamer Wolf, Sir«, sagte der Verteidigungsminister. »Das muss schon ein ganzes Rudel sein.«

»Ich brauche Antworten, keine Klischees.« Präsident Williams blickte in die ausdruckslosen Mienen seiner Berater.

Das Schweigen dehnte sich.

»Nichts?«, rief er. »Rein gar nichts? Wollen Sie mich verarschen? Wir sind die mächtigste Nation der Welt. Wir besitzen die beste Überwachungstechnik, die besten Nachrichtendienste, und Sie haben nichts vorzuweisen?«

»Bei allem Respekt, Mr. President …«, begann der Direktor der CIA.

»Lassen Sie dieses dumme Geschwätz. Sagen Sie es einfach frei heraus.« Williams funkelte ihn an.

Der Direktor der CIA sah sich um Unterstützung heischend im Raum um. Schließlich blieb sein Blick auf Ellen hängen. Sie seufzte.

Da der Präsident sie ohnehin nicht leiden konnte, hatte sie von allen Anwesenden am wenigsten zu verlieren. Außerdem scherte sie sich nicht länger um solche politischen Psychospielchen.

»Sie leben vier Jahre in der Vergangenheit, Doug.«

Sie hatte ihn ganz unwillkürlich mit seinem Vornamen angesprochen.

»Was soll das heißen?«

»Das wissen Sie genau«, knurrte sie, ehe sie seine Stabschefin Barb Stenhauser fixierte. »Und Sie auch. Wir haben keine Zeit zu verlieren, also hier nur die Stichpunkte: Die ehemalige Regierung hat alles, was sie angefasst hat, vergeigt. Sie haben unsere Beziehungen zu anderen Staaten vergiftet. Die Führer der freien Welt sind wir allenfalls noch dem Namen nach. Das effektive Netzwerk an Nachrichtendiensten, auf das Sie so stolz sind, existiert nicht länger. Unsere Bündnispartner misstrauen uns. Diejenigen, die uns schaden wollen, kreisen wie Geier über unseren Köpfen. Wir haben es ihnen leicht gemacht. Russland. Die Chinesen. Der Wahnsinnige in Nordkorea. Ganz zu schweigen von unserem eigenen Regierungsapparat. Was ist mit den Mitarbeitern in einflussreichen Positionen oder selbst auf den unteren Hierarchieebenen? Können wir uns wirklich darauf verlassen, dass sie alle gute Arbeit machen?«

»Deep State«, sagte Beecham.

Ellen fuhr zu ihm herum. »Es ist nicht die Tiefe, um die wir uns Sorgen machen müssen, sondern die Breite. Das Problem lauert überall. Vier Jahre lang wurden nur Leute eingestellt, befördert und belohnt, die alles zu tun und zu sagen bereit waren, um die Macht eines psychisch labilen Präsidenten zu stützen. Das hat uns angreifbar gemacht.« Sie warf einen Blick auf ihr Telefon. Noch immer keine Nachricht von Gil. »Nicht jeder hier ist inkompetent, und diejenigen, die es sind, führen dabei vermutlich nichts Böses im Schilde. Sie wollen uns nicht sabotieren, sie haben nur schlichtweg keine Ahnung, wie sie ihren Job anständig erledigen sollen. Glauben Sie mir. Ich komme aus der Privatwirtschaft, ich sehe genau, ob Menschen motiviert sind oder nicht. Wir haben Tausende von Mitarbeitern geerbt, die vier Jahre lang in Angst gelebt haben und in erster Linie versuchen, nur ja nicht aufzufallen. Das schließt mein Ministerium mit ein. Und auch …« abermals warf sie Barb Stenhauser einen Blick zu … »das Weiße Haus.«

»Schließt es auch mich mit ein?«, fragte General Whitehead. »Ich habe auch unter der Vorgängerregierung gedient.«

»Soweit ich weiß, waren Sie die meiste Zeit damit beschäftigt, Brände zu löschen«, sagte Ellen. »Sie haben alles versucht, um die aberwitzigsten der militärischen und strategischen Entscheidungen zu verhindern oder wenigstens die Auswirkungen abzumildern.«

»Nicht immer erfolgreich«, räumte der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs ein. »Ich habe den Präsidenten und seine Gefolgsleute angefleht, keine weitere nukleare Aufrüstung zu provozieren. Wissen Sie, was er darauf geantwortet hat?«

Ellen schwieg. Sie wagte es nicht zu fragen.

»Er sagte: ›Wozu hat man Atombomben, wenn man sie nicht benutzt?‹« Whitehead war bei diesen Worten sichtbar blasser geworden. »Wenn ich nur energischer gewesen wäre …«

»Wenigstens haben Sie sich bemüht«, sagte Ellen.

Whitehead gab ein leises Brummen von sich. »Das wird später mal auf meinem Grabstein stehen. ›Er hat sich bemüht‹.«

»Das ist wichtig«, beharrte Ellen. »Die meisten haben nämlich nicht einmal das getan. Es tut mir leid, Mr. President, ich muss jetzt zurück ins Ministerium. Obwohl – eigentlich muss ich nach Deutschland. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein, Ellen.« Williams zögerte. »Der Flug nach Deutschland – handelt es sich dabei um eine private Reise?«

Fassungslos starrte sie ihn an. Sie konnte kaum glauben, was er gerade gesagt hatte. Und was er damit andeuten wollte.

General Whitehead klinkte sich in das Gespräch ein. »Ich kann Sie in einem der Militärtransporter unterbringen, die in der nächsten Stunde von Andrews abfliegen.«

»Nein«, sagte Williams. »Das wird nicht nötig sein. Selbst wenn es keine offizielle Reise ist, können Sie Ihre Dienstmaschine nehmen. Ich bin mir sicher, die deutsche Bundeskanzlerin hat Verständnis für die Kurzfristigkeit Ihres Besuchs und wird darin keinen Protokollbruch sehen.«

»Sie ist ein Mensch.« Ellen sah Williams erbost an. »Das sollten Sie bei Gelegenheit auch mal ausprobieren.«