Immer noch nichts?«, fragte Ellen, als sie in ihr Büro geeilt kam.
Sie wusste, wenn es Nachrichten von Gil gegeben hätte, wäre sie sofort darüber informiert worden. Trotzdem konnte sie sich die Frage nicht verkneifen.
»Nein«, sagte Boynton.
Betsy und Katherine waren nach Hause gefahren, um für Frankfurt zu packen. Ellen begab sich nach nebenan in den privaten Konferenzraum. Sie hatte sich den Fragen ihrer Amtskollegen gestellt, und nun würde sie sich mit ihrem Stabschef, den Referenten und Analysten zusammensetzen.
»Updates.«
»Die Deutschen gehen davon aus, dass dieselbe Organisation hinter allen drei Anschlägen steckt«, begann ein ranghoher Mitarbeiter. »Allerdings wissen sie nicht, welche.«
»Könnte die El Kaida gewesen sein«, meinte ein Sicherheitsexperte. »Oder der IS …«
»ISIL.«
»Das reicht.« Ellen hob die Hand. »Die Explosionen haben sich im Abstand von mehreren Stunden ereignet. Wenn es Terroranschläge gewesen wären, hätten die Täter es doch so geplant, dass sie alle gleichzeitig stattfinden, so wie am 11. September.« Sie blickte auf ihren Beraterstab. »Oder wie ist Ihre Meinung dazu?«
Achselzucken und Schweigen.
»Madame Secretary«, meldete sich schließlich ein Analyst zu Wort. »Die Wahrheit ist, dass wir schlichtweg nicht wissen, was der Zweck der Anschläge war. Ist.«
»Ist? Denken Sie, die Serie geht noch weiter?«
Sie hatte das Gefühl, hysterisch zu werden. Da war dieses überwältigende Bedürfnis, laut zu lachen. Sie wollte schreien, mit den Armen rudern und aus dem Zimmer rennen. Den Flur hinunter, zur Tür hinaus, die Straßen entlang und immer weiter, bis sie beim Flugzeug angekommen war.
Die anderen wechselten bedeutungsvolle Blicke, als wollten sie untereinander ausmachen, wer auf ihre Frage antworten musste.
»Raus mit der Sprache«, sagte sie.
Doch das Schweigen dehnte sich. Ellen wurde noch nicht recht schlau aus diesen Menschen. Sie waren darauf konditioniert, ihre wahren Gefühle und Gedanken für sich zu behalten. Zum Teil hatte das mit ihrer diplomatischen oder geheimdienstlichen Laufbahn zu tun, aber es lag auch daran, dass sie die vergangenen vier Jahre für jede Äußerung, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Faktum oder gar der Wahrheit hatte, erbarmungslos abgestraft worden waren.
»Wir glauben, dass es ein übergeordnetes Ziel gibt«, sagte schließlich eine Frau, die den Kürzeren gezogen zu haben schien. »Und dass diese Bomben nur eine erste Warnung sein sollten.«
Sie kniff die Augen zusammen und drehte sich leicht zur Seite, als mache sie sich darauf gefasst, verbal angegriffen zu werden, weil sie schlechte Nachrichten überbracht hatte.
Stattdessen ließ Ellen sich ihre Worte durch den Kopf gehen und nickte.
»Danke.« Sie blickte in die Runde. »Was für eine Warnung könnte das sein?«
»Dass etwas noch Größeres in Planung ist. Dass dies nur ein Vorgeschmack dessen war, wozu diese Leute fähig sind«, sagte einer der Sicherheitsexperten, von der Reaktion seiner Chefin ermutigt.
»Dass sie tun können, was sie wollen«, warf ein anderer ein. »Wo und wann es ihnen beliebt. Und es auch tun werden.«
»Dass sie sich nicht scheuen, unschuldige Männer, Frauen und Kinder zu töten«, ergänzte ein dritter.
»Dass wir es mit Profis zu tun haben«, sagte ein weiterer. Inzwischen bereute Ellen, zur Ehrlichkeit aufgerufen zu haben. »Das sind keine Leute mit Sprengstoff in der Unterwäsche, im Schuh oder einer Nagelbombe im Rucksack. Wer auch immer für diese Anschläge verantwortlich ist, spielt in einer ganz anderen Liga.«
»Sie wollen demonstrieren, dass sie ihr Ziel in jedem Fall erreichen werden, Madame Secretary. Worin auch immer dieses Ziel besteht.«
»War es das jetzt?«, fragte Ellen.
Die Leute am Tisch sahen einander an, dann stießen sie einen kollektiven Seufzer aus, in dem jahrelang unterdrückter Frust mitschwang. Und eine ganze Litanei von Sorgen.
»Was wissen wir über die Mail, die Ms. Dahir erhalten hat?«
»Wir haben sie auf dem Server gefunden«, sagte einer der Nachrichtendienstler. »Keine IP-Adresse. Nichts, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, von wo sie abgeschickt wurde. Wir arbeiten daran.«
»Gut. Wo ist Ms. Dahir jetzt? Ich fliege in fünfunddreißig Minuten nach Deutschland und würde vorher gerne noch mit ihr sprechen.«
Die anderen sahen sich um, als rechneten sie damit, dass die junge Frau sich aus dem Nichts materialisierte.
»Nun?«, hakte Ellen nach.
»Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, sagte Boynton schließlich. »Wahrscheinlich sitzt sie wieder an ihrem Schreibtisch. Ich hole sie.«
Eine Minute später kam er zurück und berichtete, dass Anahita Dahir nicht an ihrem Arbeitsplatz aufzufinden sei.
Ellen spürte, wie ihr ein kalter Schauer das Rückgrat hinabrieselte. »Finden Sie sie.«
War sie aus freien Stücken gegangen? Oder hatte man sie mitgenommen?
Beide Optionen verhießen nichts Gutes.
Ellen erinnerte sich an das geflüsterte »Anahita Dahir« und den Blick, den der CIA-Direktor und Tim Beecham miteinander gewechselt hatten.
Sie kannte diesen Blick. Er war all jenen vorbehalten, die nicht Jane oder Debbie, Bill oder Ted hießen. In dem Moment hatte sie sich darüber geärgert, doch jetzt ging ihr unwillkürlich derselbe Gedanke durch den Kopf.
Anahita Dahir. Woher kam sie? Welchen Hintergrund hatte sie?
Wem fühlte sie sich verbunden?
Wo steckt sie?
Ellen hatte noch die lapidare Feststellung des Verteidigungsministers im Ohr: Trotz der Warnung waren alle drei Bomben explodiert. Weil Anahita Dahir mit der Nachricht zu spät zu ihnen gekommen war.
Ihre private Leitung klingelte. Es war Katherine.
»Er lebt!«, jubelte sie.
»Oh mein Gott«, seufzte Ellen und beugte sich vor, bis ihre Stirn den Konferenztisch berührte.
»Was ist los?«, fragte Boynton beunruhigt. »Ihr Sohn?«
Ellen sah auf und suchte seinen Blick. Im Gegensatz zum Präsidenten war die Sorge ihres Stabschefs echt. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, Charles Boynton zu lieben.
In diesem Moment liebte sie alle Menschen.
»Er ist am Leben. Wie geht es ihm?«, fragte sie ihre Tochter. »Wo ist er?«
»Er ist verletzt, aber nicht schwer. Sie sagen, er wird auf jeden Fall wieder gesund. Er liegt im Heiliggeist… irgendwas.«
»Egal«, sagte Ellen. »Wir sind ja bald bei ihm. Triff mich am Andrews-Luftwaffenstützpunkt.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, schloss Gils Mutter die Augen und atmete tief durch. Als sie die Augen öffnete, war sie wieder Außenministerin Adams, die in die Gesichter ihrer lächelnden Mitarbeiter blickte.
»Er ist wohlauf. Er wird wieder gesund. Ich bin auf dem Weg zu ihm. Sie kommen mit«, wandte sie sich an ihren Stabschef. »Wissen wir sonst noch etwas?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Vermutungen?«
»Es waren auf jeden Fall koordinierte terroristische Angriffe, Madame Secretary«, sagte der dienstälteste Sicherheitsexperte im Raum. »Aber wer dafür verantwortlich ist, können wir momentan noch nicht sagen. Es kommen alle möglichen Gruppierungen infrage, angefangen bei rechtsextremen Organisationen bis hin zu neuen islamistischen Terrorzellen. Aber wenn wir der Nachricht trauen können, die Ihre Mitarbeiterin erhalten hat, war dies zum Glück wohl der letzte Vorfall.«
»Fürs Erste«, warf jemand ein. »Was ich nicht verstehe, ist, weshalb sie uns wegen der Bomben warnen wollten. Warum haben sie uns diese Mail geschickt?«
»Das haben sie nicht«, widersprach der Sicherheitsexperte. »Wer auch immer hinter den Anschlägen steckt, wollte auch, dass die Bomben hochgehen.«
»Von wem kam dann die Warnung?«, fragte Ellen. Als alle schwiegen, sagte sie: »Spekulieren Sie.«
»Von einer rivalisierenden Terrorgruppe?«, sagte der Sicherheitsexperte. »Oder vielleicht war es auch ein Maulwurf innerhalb der Organisation. Jemand, der ihre Ideologie nicht teilt und die Explosionen verhindern wollte. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte.«
»Nein, Sie machen den Fehler, nur die üblichen Verdächtigen zu betrachten«, widersprach Ellen. »Benutzen Sie Ihre Fantasie. Wer auch immer hinter den Anschlägen steckt, muss über die nötigen Leute und das Know-how verfügen. Ich will eine Liste aller möglichen Kandidaten.« Sie stand auf. »Wir müssen herausfinden, wer für die Bomben verantwortlich ist, und sie aufhalten.«
»Aber wir wissen nach wie vor nicht, warum es ausgerechnet diese Busse in diesen Städten getroffen hat, richtig?«, fragte Boynton. »Waren die Ziele willkürlich ausgewählt?«
Wieder schüttelten alle den Kopf.
Nun erhoben sich auch die anderen von ihren Plätzen.
»Ich möchte vor meiner Abreise unbedingt noch mit Ms. Dahir sprechen«, sagte Ellen. »Finden Sie sie.«
An der Tür blieb sie noch einmal stehen. Ihr ging der Blick nicht aus dem Kopf, den der CIA-Direktor und Tim Beecham gewechselt hatten.
»Und holen Sie mir den Direktor der Nationalen Nachrichtendienste an den Apparat«, wies sie Boynton an.
Kaum dass sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, klingelte das Telefon.
»Tim.«
»Madame Secretary.«
»Haben Sie meine Angestellte mitgenommen?«
»Warum sollte ich?«
»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Sie haben Geheimdienstberichte. Ich habe ganze Botschaften.«
»Also, wenn Sie es so formulieren …«
»Sagen Sie es mir einfach.«
»Ja, Madame Secretary. Sie ist bei uns.«
Anahita hätte nie im Traum daran gedacht, dass so etwas möglich wäre. Nicht in den USA. Nicht in einem zivilisierten Land.
Nicht in ihrer Heimat.
Sie saß an einem Metalltisch. Ihr gegenüber hatten zwei hochgewachsene Männer in Uniform, aber ohne Abzeichen und Namensschilder, Platz genommen. Militärischer Geheimdienst. Zwei andere, noch größer als die beiden, hielten Wache an der Tür. Für den Fall, dass sie weglaufen wollte.
Aber selbst wenn es ihr gelungen wäre, diese menschliche Wand zu durchbrechen, wohin hätte sie fliehen sollen?
Zurück dahin, wo sie herkam – das war es, was diese Männer dachten.
Dabei war sie in Cleveland geboren.
Sie hörte es daran, wie sie ihren Namen aussprachen. Anahita.
Als bedeute er etwas Hässliches. Terroristin. Ausländerin. Feindin. Bedrohung.
Anahita, sagten sie voller Verachtung. Anahita Dahir.
»Ich komme aus Cleveland«, sagte sie. »Das können Sie überprüfen.«
»Haben wir bereits«, sagte der jüngere der beiden Uniformierten. »Aber solche Dokumente lassen sich fälschen.«
»Ach ja?« Es war nicht ihre Absicht gewesen, so naiv zu klingen, zumal sie merkte, dass sie die beiden damit nur noch mehr gegen sich aufbrachte. In der Welt dieser Leute war niemand so naiv, wie er tat. Und erst recht nicht so unschuldig.
Jedenfalls nicht, wenn man einen Namen wie Anahita Dahir hatte.
»Dahir« kam von dem arabischen Wort dabir, das »Lehrer« bedeutete.
Und »Anahita« war persisch für »Heilerin«. Für »Weisheit«.
Aber es hatte keinen Zweck, ihnen das erklären zu wollen. Spätestens bei dem Wort »persisch« hätten sie ihr nicht mehr zugehört.
»Persisch« war für diese Leute dasselbe wie »iranisch«. Und der Iran war der Feind.
Nein, am besten, sie schwieg. Obwohl sich Anahita insgeheim fragte, ob die beiden Männer nicht vielleicht recht hatten. Vielleicht standen sie wirklich nicht auf derselben Seite. Ihr jedenfalls fiel es schwer zu glauben, dass sie mit solchen Menschen etwas gemeinsam hatte.
»Welchen ethnischen Hintergrund haben Sie?«, fragte der jüngere.
»Meine Eltern stammen aus dem Libanon. Beirut. Sie sind während des Bürgerkriegs in die USA gekommen. Ich bin hier geboren.«
»Muslima?«
»Christin.«
»Ihre Eltern?«
»Mein Vater ist Muslim, meine Mutter Christin. Das war einer der Gründe, weshalb sie fliehen mussten. Christen wurden verfolgt.«
»Wer hat Ihnen die verschlüsselte Mail geschickt?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Sagen Sie es uns.«
»Ich weiß es wirklich nicht. Sobald sie reinkam, habe ich sie meinem Vorgesetzten gezeigt. Sie können ihn gerne fragen.«
»Sagen Sie uns nicht, wie wir unsere Arbeit machen sollen. Beantworten Sie einfach unsere Fragen.«
»Das versu…«
»Haben Sie Ihrem Vorgesetzten gesagt, was die Nachricht bedeutet?«
»Nein, habe ich nicht …«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht …«
»Stattdessen haben Sie gewartet, bis zwei der Bomben hochgegangen sind und es zu spät war, um die dritte Explosion noch zu verhindern.«
»Nein, nein!« Ihre Verwirrung wurde immer größer, und sie bemühte sich verzweifelt, die Fassung wiederzuerlangen.
»Und dann haben Sie sie gelöscht.«
»Weil ich sie für Spam gehalten habe.«
»Spam?«, fragte der ranghöhere der beiden. Sein Ton war ruhiger als der seines Kollegen. Und weitaus beängstigender. »Erklären Sie uns das, bitte.«
»Das passiert manchmal. Bots gehen verschiedene Mailadressen durch und schicken dann wahllos irgendwelche Nachrichten. Das haben wir doch alle schon mal erlebt. Die meisten werden von der Firewall des Ministeriums blockiert, aber einige rutschen eben durch …« Kaum hatte sie dies gesagt, bereute sie ihre Wortwahl. Doch sie redete entschlossen weiter. »Das passiert so ungefähr einmal die Woche.« Sie können meine Kollegen fragen, wollte sie hinzufügen, doch sie biss sich auf die Zunge. Sie lernte dazu. »Wenn solche Nachrichten bei uns ankommen, sind sie manchmal nur noch unverständliches Kauderwelsch. So wie diese Mail. Wenn ich nicht weiß, wie ich damit verfahren soll, frage ich immer nach.«
»Geben Sie die Schuld etwa Ihrem Vorgesetzten?«, sagte der jüngere Mann.
»Nein, natürlich nicht. Ich beantworte lediglich Ihre Fragen«, gab sie ungehalten zurück.
Inzwischen war ihr Zorn stärker als ihre Angst. Sie wandte sich an den älteren. »Wenn wir wissen, dass es Junkmail ist, können wir sie entweder löschen oder sie unserem Vorgesetzten zeigen, damit er oder sie eine Einschätzung dazu abgibt. Genau das habe ich gemacht.«
Der Mann stutzte, dann lehnte er sich über den Tisch. »Das war aber nicht alles. Sie haben sich die Zahlen vorher aufgeschrieben. Warum?«
Anahita schwieg. Stocksteif saß sie auf ihrem Stuhl.
Wie sollte sie ihnen das begreiflich machen?
»Sie kamen mir einfach seltsam vor.«
Die Aussage schien in dem kleinen, engen Raum widerzuhallen. Der jüngere Uniformierte schüttelte den Kopf und ließ sich gegen die Lehne seines Stuhls sinken. Der ältere fuhr fort, sie aufmerksam zu mustern.
»Ich weiß, das ist keine besonders gute Erklärung. Aber es ist die Wahrheit.« Inzwischen sprach sie nur noch mit dem älteren. »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, wieso ich es getan habe.«
Das klang noch schlimmer. Sie erkannte es daran, dass der Mann überhaupt nicht darauf reagierte. Er zeigte keinerlei Regung. Anahita konnte nicht einmal erkennen, ob er noch atmete.
Im nächsten Moment hörten sie Lärm von der Tür her.
Nicht einmal das verleitete den Mann zu einer Reaktion. Er vertraute darauf, dass die Wachen ihre Arbeit machten, während er seine erledigte. Die schien nunmehr darin zu bestehen, Anahita wortlos anzustarren.
»Treten Sie beiseite.«
Erst jetzt schaute er zur Tür, und Anahita tat es ihm nach. Sie hatte die Stimme wiedererkannt. Einen Augenblick später betrat Charles Boynton den Raum, gefolgt von der amerikanischen Außenministerin.
Die beiden Befrager sprangen von ihren Stühlen auf, auch wenn der ältere sich dabei etwas mehr Zeit ließ.
»Madame Secretary«, grüßte er sie.
Anahita wollte etwas zu Ellen sagen, doch er brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.
»Sie haben meine Mitarbeiterin.« Ellen musterte Anahita flüchtig, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts fehlte.
Die junge Frau wirkte verängstigt, schien aber ansonsten unversehrt.
»Ja. Wir haben ein paar Fragen an sie.«
»Genau wie ich. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.«
Er zögerte einen winzigen Moment. »Jeffrey Rosen. Colonel bei der Defense Intelligence Agency.«
Ellen streckte ihm die Hand hin. »Ellen Adams. Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika.«
Colonel Rosen ergriff ihre Hand und lächelte ein wenig.
»Können wir uns kurz unterhalten, Colonel? Unter vier Augen, wenn es geht.«
Er nickte seinem jüngeren Kollegen zu, der Anahita aus dem Raum führte. »Madame Secretary«, gelang es ihr noch zu fragen. »Gil? Ist er …«
»Im Krankenhaus. Er wird wieder gesund.«
Anahita nickte unmerklich, und ihre Schultern sackten herab, als die Anspannung der letzten Stunden von ihr abfiel. »Sie wissen doch, dass ich … dass ich nichts mit der Sache zu tun habe.«
Ellen ignorierte ihr Flehen und bedeutete den anderen mit einer Kopfbewegung, sie und den Colonel allein zu lassen. Einzig Charles Boynton blieb und bezog Stellung an der Tür.
»Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Nur das, was Sie wahrscheinlich schon wissen.« Er schilderte ihr die Ereignisse vom Eingang der Mail bis zur Detonation der Bombe. »Was wir nicht wissen, ist …«
»Weshalb sie sich die Zahlen aufgeschrieben hat«, beendete Ellen seinen Satz.
Sie versuchte sein verblüfftes Gesicht nicht als Beleidigung aufzufassen. Ellen Adams war daran gewöhnt, unterschätzt zu werden. Erfolgreiche Frauen mittleren Alters wurden von unsicheren Männern oft mit Herablassung behandelt – obwohl sie nicht glaubte, dass Colonel Rosen unter fehlendem Selbstbewusstsein litt. Er wäre bestimmt genauso erstaunt gewesen, hätte General Whitehead so schnell mit einer Antwort aufgewartet.
»Und?«, fragte sie.
»Sie hatte keine Erklärung dafür.«
»Colonel, denken Sie nicht, sie hätte eine, wenn sie eine ausländische Agentin wäre und in der Sache mit drinstecken würde?«
Dieses Argument gab ihm zu denken. »Sie kommt so unschuldig daher.«
»Und deshalb muss sie schuldig sein? Sie hätten sich gut bei den Hexenprozessen gemacht.« Ellen ging zur Tür. »Ich fliege nach Deutschland.«
Er folgte ihr. »Ich hoffe, Sie bekommen dort Antworten, Madame Secretary. Das mit Ihrem Sohn freut mich. Er ist ein tapferer Mann.«
Das ließ Ellen innehalten. Sie betrachtete den Colonel und fragte sich, ob er wusste, wie tapfer ihr Sohn wirklich gewesen war. Nicht nur heute, sondern vor allem in jenen schrecklichen Tagen in Afghanistan.
Doch Rosens Miene gab nichts preis. »Wir arbeiten derweil hier weiter. Anahita Dahir weiß etwas.«
»Falls dem so ist, hoffe ich, es aus ihr herauszubekommen, ehe wir in Frankfurt landen.«
Ellen wusste, dass es vermutlich falsch war, so viel Schadenfreude zu empfinden, als sie sein Gesicht sah. Aber sie konnte einfach nicht anders.
»Es wäre ein Fehler, sie mitzunehmen.« Diesmal sparte er sich das »Madame Secretary«. »Ms. Dahir ist in die Sache verwickelt. Ich weiß nicht genau, wie, aber so ist es. Selbst Sie müssen das doch erkennen.«
»Selbst ich?« Ellens Blick war so hart wie ihr Tonfall. »Ich bin Ihre Außenministerin. Mag sein, dass Sie meine Meinung nicht teilen, damit habe ich kein Problem. Aber respektieren Sie gefälligst mein Amt.«
»Ich bitte um Verzeihung.« Er zögerte kurz, gab jedoch nicht klein bei. »Nichtsdestotrotz bin ich der Ansicht, dass Sie einen Fehler machen, Madame Secretary.«
Ellen musterte ihn lange. Er hatte ihr gesagt, was er dachte. Das, was er für die Wahrheit hielt. Das war mehr, als viele andere im Vakuum der oberen Regierungsebenen von sich behaupten konnten.
»Und lassen Sie mich auch noch etwas anderes sagen, Madame Secretary. Man kann dieser Anahita Dahir nicht trauen.«
»Ja, das haben Sie bereits deutlich gemacht, Colonel. Und glauben Sie mir, ich nehme Ihre Worte ernst. Ms. Dahir wird trotzdem mitkommen.«
Der Colonel hatte nicht den Gesichtsausdruck der jungen Frau gesehen, als sie versucht hatte, Ellen davon zu überzeugen, dass ein dritter Bombenanschlag unmittelbar bevorstand.
Sie war in heller Panik gewesen. Sie hatte die Explosion um jeden Preis verhindern wollen.
Außerdem wäre ihr Sohn ohne Anahita nicht mehr am Leben. Sie schuldete ihr also etwas. Aber vertraute sie ihr auch?
Nicht vorbehaltlos. Ihre Angst, als sie Ellen angefleht hatte, ihr zu glauben und etwas zu unternehmen, hätte auch gespielt sein können. Ein Trick, um in den inneren Kreis vorzudringen und sie zu manipulieren, während ein noch viel verheerenderer Anschlag geplant wurde.
Ellen wusste, dass Colonel Rosen sie für weitaus naiver hielt, als sie war. Doch für den Moment, bis sie Freund von Feind unterscheiden konnte, war ihr das nur recht.
Außerdem: Falls Anahita Dahir wirklich in die Sache verwickelt war, wollte Ellen sie lieber in ihrer Nähe haben. So konnte sie sie im Auge behalten und sie in Sicherheit wiegen, damit sie vielleicht einen Fehler machte.
Es sei denn, dachte Ellen, als sie den anderen voran zu der wartenden Limousine ging, die sie zum Andrews-Luftwaffenstützpunkt bringen sollte, diejenige, die einen Fehler macht, bin ich.
Während des Fluges versuchte Anahita vergeblich, zu Ellen Adams vorzudringen, um sich bei ihr für die Rettung zu bedanken. Dafür, dass sie ihr Vertrauen schenkte und sie mit nach Deutschland nahm, wo sie Gil wiedersehen würde.
Sie wollte ihr erklären, dass sie nichts wusste und nichts zu verbergen hatte.
Auch wenn das eine Lüge gewesen wäre.