KAPITEL 11

Es war kurz vor Morgengrauen, als Gil Bahar langsam zu Bewusstsein kam. Seine Gliedmaßen waren schwer wie Blei, und er konnte sich nicht bewegen. Als wäre er gefesselt.

Das brachte verschwommene Erinnerungen zurück.

Panik setzte ein. Auf einmal waren die Erinnerungen nicht mehr verschwommen. Sie waren auch keine Erinnerungen mehr. Er spürte die schmutzigen Stricke, die in seine Hand- und Fußgelenke schnitten. Roch den Gestank von Kot und Urin, verdorbenem Essen und verwesendem Fleisch.

Er lag mit dem Gesicht nach unten am Boden und atmete Staub.

Durst. Dieser Durst. Und die Angst.

Er erwachte mit einem Ruck und versuchte sich aufzusetzen. Sein Herz raste.

»Schon gut«, erklang eine vertraute Stimme, und kurz darauf stieg ihm ein Duft in die Nase, der zugleich tröstend und beunruhigend war. »Du bist in Sicherheit.«

Er blinzelte, bis er endlich klar sehen konnte. »Mom?«

Was machst du hier? Haben sie dich auch entführt?

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie sanft. Ihr Gesicht schwebte über ihm. Nah, aber nicht zu nah. »Du liegst im Krankenhaus. Die Ärzte sagen, in ein paar Tagen bist du wieder auf dem Damm.«

Dann fiel es ihm wieder ein. Sein schmerzender Kopf begann zu arbeiten. Die Gedanken sprangen vorwärts, stolperten zurück. Frankfurt. Die Fußgänger. Der Bus. Die Gesichter der Fahrgäste, die ihn anstarrten. Die Kinder.

Die Frau mit der Tasche. Wie war ihr Name? Ihr Name?

»Wie heißen Sie?«, fragte ihn jemand auf Deutsch.

Ein helles Licht leuchtete ihm in die Augen. Dann spürte er eine Hand an seinem Kopf, die ihn festhielt. Finger, die seine Augenlider nach oben zogen.

»Was?« Gil begann sich zu wehren.

Die Frau, eine Ärztin, ließ ihn los. »Entschuldigung. Ihr Name. Wie heißen Sie, bitte?«

Er musste erst nachdenken. »Gil.«

»Kurz für Gilbert, ja?«

Er zögerte einen Augenblick, ehe er nickte. Unfähig, seiner Mutter dabei in die Augen zu schauen.

»Und Ihr Familienname?« Die Ärztin sprach leise, aber bestimmt auf Englisch mit einem starken deutschen Akzent.

Diesmal überlegte er länger. Wieso konnte er sich nicht mehr erinnern?

»Bukhari«, entfuhr es ihm. »Nasrin Bukhari.«

Die Ärztin sah ihn an, dann wandte sie sich an seine Mutter. Beide machten besorgte Gesichter.

»Nein, nein«, sagte er und versuchte abermals, sich aufzusetzen. »Ich heiße Gil Bahar. Aber sie heißt Dr. Nasrin Bukhari.«

»Ich bin Dr. Gerhardt.«

»Nicht Sie. Die Frau im Bus.« Er blickte an der Ärztin vorbei zu seiner Mutter. »Ich bin ihr gefolgt.«

Ellen stand ein Stück entfernt. Sie hatte die anderen gebeten, im Gang zu warten, während sie Gil besuchte. Sobald er aufgewacht war, hatte sie den Knopf gedrückt, um einen Arzt zu rufen.

Nun trat sie einen Schritt auf ihn zu. »Lass dich erst mal von der Ärztin untersuchen, danach können wir reden.« Sie sah ihn eindringlich an, um ihm klarzumachen, dass es besser wäre, gegenüber Dritten so wenig wie möglich zu sagen.

Sie hatte recht. Außerdem gab ihm das etwas Zeit, seine chaotischen Gedanken zu ordnen. Sich an Einzelheiten zu erinnern. Warum lief ihm bei dem Namen Nasrin Bukhari ein kalter Schauer über den Rücken?

Wer war sie?

Dr. Gerhardt schloss ihre Untersuchung ab und schien zufrieden. Sie teilte ihm mit, dass er eine Gehirnerschütterung, einen Rippenbruch sowie diverse Prellungen habe. »Und eine tiefe Schnittwunde am Oberschenkel. Sie hatten Glück. Die hätte lebensgefährlich werden können, wenn Umstehende das Bein nicht sofort abgebunden hätten. Wir haben sie genäht, aber Sie müssen sich auf jeden Fall noch ein paar Tage schonen.«

Als sie ging, kannte Gil den Grund für sein Unbehagen.

Es war nicht die Erinnerung an Dr. Bukhari, die ihm Angst machte. Es war die Person, die hinter ihr im Schatten stand.

Ellen blickte Dr. Gerhardt nach, bis die schwere Tür des Krankenzimmers hinter ihr ins Schloss fiel, dann drehte sie sich wieder zu ihrem Sohn um. Sie wollte seine Hand nehmen, doch er zog sie weg. Es war keine feindselige Geste, sondern geschah rein instinktiv.

Was es nur noch schlimmer machte.

»Es tut mir so leid«, begann sie, doch er unterbrach sie sofort, indem er sie bat, sich tiefer zu ihm herunterzubeugen. Im ersten Moment dachte sie, er wollte sie auf die Wange küssen. Stattdessen flüsterte er: »Bashir Shah.«

Sie legte den Kopf schief und starrte ihn an. Den Namen hatte sie seit Jahren nicht mehr gehört. Nicht seit den endlosen Beratungen mit den Juristen ihres Medienkonzerns, die sie davor gewarnt hatten, die Dokumentation über den pakistanischen Waffenhändler auszustrahlen.

Ihr Reporter hatte mehr als ein Jahr lang zu Shah recherchiert. Es hatte Drohungen gegen seine Familie gegeben. Mehr als eine seiner Quellen war spurlos verschwunden.

Danach war es für sie völlig ausgeschlossen gewesen, die Dokumentation nicht zu senden.

Dr. Shah hatte den Vorwurf illegalen Waffenhandels mit einem Achselzucken abgetan, auch wenn er sich bemüßigt gefühlt hatte, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, in der er die Schmutzkampagne gegen einen unbescholtenen pakistanischen Bürger verurteilte. Es seien dieselben falschen Anschuldigungen, die bereits gegen zahlreiche seiner Vorgänger und Mentoren erhoben worden seien – gegen all die mutigen und brillanten pakistanischen Nuklearwissenschaftler, die Bahnbrechendes geleistet hatten. Menschen wie der pakistanische Atomwissenschaftler Abdul Kadir Khan.

Dr. Shah hatte betont, dass Pakistan im Krieg gegen den Terror ein Verbündeter des Westens sei.

Ziel der Dokumentation war es gewesen zu beweisen, dass Shah in Wirklichkeit selbst ein Terrorist war. Und tatsächlich diente sein halbherziges Dementi in Wahrheit einem ganz anderen Zweck.

Bashir Shah wollte aller Welt mitteilen, dass er ein Händler des Todes war.

Zu ihrem Entsetzen musste Ellen Adams erkennen, dass sie, ohne es zu wollen und zum Preis zahlreicher Menschenleben, für ihn Werbung gemacht hatte. Der oscarprämierte Film ließ Terroristen wissen, wo sie ihre biologischen Kampfstoffe kaufen konnten. Ihr Chlorgas. Ihr Sarin. Ihre Handfeuerwaffen und Raketenwerfer.

Und noch Schlimmeres.

»War er im Bus?«, fragte sie ungläubig.

»Nein. Er steckt dahinter.«

»Hinter den Bomben?«

Gil schüttelte den Kopf. »Da ist noch was anderes im Gange. Wer hinter den Anschlägen steckt, weiß ich nicht.«

»Du sagtest, du seist einer Frau gefolgt. Nasrin …« Ellen versuchte sich an den Nachnamen zu erinnern.

»Bukhari. Ein Informant hat mir gesagt, Shah hätte drei pakistanische Atomphysiker rekrutiert. Dr. Bukhari war eine von ihnen. Ich wollte wissen, wo sie hinfährt. Was Shah vorhat. Oder wenigstens, wo er sich aufhält.«

»Aber wir wissen doch, wo er sich aufhält. Er steht in Islamabad unter Hausarrest. Seit Jahren schon.«

Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatte man auch seinen Zugang zum Internet eingeschränkt. Im Gegensatz zu anderen Waffenhändlern war Bashir Shah nicht nur Geschäftsmann, sondern vertrat auch eine Ideologie. Mittlerweile jenseits der fünfzig, war er in Islamabad geboren und in England aufgewachsen. Er hatte sich während seines Physikstudiums in Cambridge unter dem Einfluss dschihadistischer Websites radikalisiert.

Er bewunderte die Vorgängergeneration pakistanischer Nuklearwissenschaftler, war jedoch irgendwann zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht weit genug gegangen waren. Er würde dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten.

Es gab keine Grenze, die er nicht zu überschreiten bereit war.

»Die Pakistaner haben ihn letztes Jahr freigelassen«, sagte Gil.

»Das würden sie niemals tun.« Ellen war unwillkürlich lauter geworden, senkte auf einen warnenden Blick ihres Sohnes hin jedoch die Stimme. »Das kann nicht sein«, flüsterte sie so leise, dass es beinahe wie ein Zischen klang. »Davon hätten wir doch erfahren. Sie würden niemals hinter unserem Rücken handeln. Es waren US-amerikanische Agenten, die ihn überhaupt erst aufgespürt haben.«

»Sie haben es ja auch gar nicht hinter unserem Rücken gemacht. Die ehemalige Regierung hat die Freilassung abgesegnet.«

Ellen zuckte zurück und sah ihren Sohn entgeistert an. Sie hatte sich gefragt, weshalb sie eigentlich flüsterten. Nun wusste sie es.

Wenn es stimmte, was ihr Sohn sagte …

Sie ließ den Blick durch Gils Zimmer schweifen, als fürchtete sie, Bashir Shah könnte in einer Ecke stehen und sie beobachten.

Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie versuchte, die Einzelteile zusammenzufügen und die Lücken zu füllen.

Aus ihren Briefings wusste sie, dass es viele Schurken auf der Welt gab. Männer und Frauen, die für das Erreichen ihrer Ziele über Leichen gingen.

Assad in Syrien. Al-Kuraschi vom Islamischen Staat. Kim Jong-un in Nordkorea.

Und obwohl die Regeln der Diplomatie ihr verboten, es laut auszusprechen, zählte Ellen auch den russischen Staatschef Iwanow dazu.

Aber niemand war vergleichbar mit Bashir Shah. Er war nicht nur kriminell oder »verdorben«, wie ihre Großmutter es ausgedrückt hätte. Bashir Shah war abgrundtief böse. Entschlossen, die Hölle auf Erden zu entfesseln.

»Woher weißt du das mit Shah und den Wissenschaftlern?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Du musst.«

»Quellenschutz. Es geht nicht.« Er schwieg und ignorierte ihren verärgerten Blick. »Wie viele?«

Ellen wusste, was er meinte. »Es gibt noch keine endgültigen Zahlen. Bisher sieht es nach dreiundzwanzig Toten im Bus und fünf weiteren unter den Passanten aus.«

Gils dunkle Augen füllten sich mit Tränen, als er an ihre Gesichter dachte. Er fragte sich, ob er mehr hätte tun können. Vielleicht hätte er wenigstens der Mutter ihr kleines Kind entreißen sollen oder …

»Du hast es versucht«, sagte seine Mutter.

Aber war das gut genug? Oder war dieser tröstliche Gedanke lediglich ein Pflasterstein auf dem Weg zur Hölle?

Katherine nahm den Platz ihrer Mutter an Gils Bett ein und saß bei ihrem Halbbruder, während er schlief, zwischendurch kurz aufwachte und dann erneut wegdämmerte.

Anahita war ebenfalls ins Zimmer gekommen, um ihm Hallo zu sagen. Er lächelte sie an und streckte ihr die Hand entgegen.

»Du hast mir das Leben gerettet, wie ich höre.«

»Ich wünschte, ich hätte noch mehr Leben retten können.«

Sie schüttelte seine Hand. Das Gefühl war ihr noch ganz vertraut. Eine Hand, die ihren Körper vielleicht besser kannte als sie selbst.

Sie unterhielten sich eine Weile, doch als seine Lider schwer wurden, stand sie auf. Fast hätte sie sich zu ihm hinabgebeugt und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben, doch sie hielt sich zurück. Nicht nur weil Katherine ihnen zusah, sondern weil es einfach nicht angemessen gewesen wäre.

Das zwischen ihnen war vorbei.

Draußen auf dem Gang winkte Boynton sie zu sich. »Sie kommen mit uns.«

»Bringen Sie uns bitte zum Ort des Anschlags«, wies Außenministerin Adams den Fahrer vom diplomatischen Sicherheitsdienst an, als sie, Boynton, Anahita und Betsy die Limousine bestiegen hatten. »Und danach zum amerikanischen Konsulat.«

Ein zweiter Wagen mit Mitarbeitern und Beratern folgte ihnen, alle umringt von einer Eskorte der deutschen Polizei.

»Ich habe dem Konsul gesagt, dass Sie in einer Stunde bei ihm eintreffen«, teilte Boynton ihr mit. »Bis dahin tragen er und seine Leute alle Informationen zusammen. Sie haben zunächst eine Unterredung mit ihm, dann mit hochrangigen Nachrichtendienstlern aus den USA und Deutschland und im Anschluss noch eine Videokonferenz mit Ihren Amtskollegen. Hier ist die Liste der Teilnehmer, die die Franzosen vorgeschlagen haben.«

Ellen überflog die Länder und Namen. Ein paar strich sie durch, einen fügte sie hinzu. Sie wollte den Kreis möglichst klein halten.

Dann gab sie Boynton die Liste zurück. »Ist das Fahrzeug sicher?«

»Sicher?«

»Wurde es durchsucht?«

»Durchsucht?«

»Bitte, hören Sie auf, alles zu wiederholen, was ich sage, und geben Sie mir eine klare Antwort.«

»Es ist sicher, Madame Secretary«, sagte Steve Kowalski, der Leiter ihres Personenschutzteams, der auf dem Beifahrersitz saß.

Boynton sah sie scharf an. »Wieso?«

»Was können Sie mir über Bashir Shah sagen?« Trotz Kowalskis Beteuerung senkte sie die Stimme.

»Shah?«, fragte Betsy.

Als Ellens Medienkonzern immer weiter gewachsen war, hatte sie Betsy gebeten, ihre Stelle als Lehrerin zu kündigen und stattdessen für sie zu arbeiten. In der testosterongeschwängerten Medienwelt brauchte sie eine enge Verbündete und Vertraute an ihrer Seite. Dass Betsys Intelligenz genauso stark ausgeprägt war wie ihr Sinn für Loyalität, war dabei nicht von Nachteil.

Auch an der Dokumentation über den pakistanischen Waffenhändler hatte sie entscheidend mitgearbeitet.

»Er steckt doch nicht hinter dem Ganzen?«, fragte sie. »Sag mir, dass das nicht stimmt.«

Betsy sah nicht nur perplex aus, sondern ungläubig.

Doch dann, während Frankfurt draußen vorbeiglitt, veränderte sich ihre Miene von zweifelnd zu besorgt und zeigte schließlich Angst.

»Wer?«, fragte Charles Boynton.

»Bashir Shah«, wiederholte Ellen. »Was wissen Sie über ihn?«

»Nichts. Ich höre den Namen zum ersten Mal.«

Er schaute zu Ellen, dann zu Betsy, dann wieder zu Ellen. Anahita Dahir würdigte er keines Blickes. Ganz im Gegensatz zur Außenministerin.

Die junge Frau wirkte ähnlich erschüttert wie Betsy, doch eine Kleinigkeit war anders. In Anahita schien der Name Bashir Shah nicht nur Furcht, sondern regelrecht Todesangst ausgelöst zu haben.

Charles Boynton hingegen bemerkte nur den Gesichtsausdruck seiner Chefin. Noch nie war sie ihm gegenüber so aufgebracht gewesen, auch wenn er sie zugegebenermaßen erst seit kurzer Zeit kannte.

»Sie lügen.«

»Wie bitte?« Er traute seinen Ohren nicht.

»Sie müssen ihn doch kennen«, fuhr Betsy ihn an. »Er ist …«

Doch Ellen legte ihr eine Hand aufs Knie, um sie am Weiterreden zu hindern. »Nein. Sag es lieber nicht.«

»Das ist ein Unding!«, empörte sich Boynton, ehe er hastig hinzufügte: »Madame Secretary, ich weiß wirklich nicht, von wem Sie reden. Auch ich bin neu im Außenministerium.«

Das stimmte. Barbara Stenhauser hatte ihn mit Zustimmung des Präsidenten zu ihrem Stabschef gemacht.

Das war für sie beide eine Überraschung gewesen. Statt Ellen zu erlauben, sich selbst einen geeigneten Kandidaten auszusuchen, hatten sie einen von Williams’ Topberatern aus dem Wahlkampf im wichtigsten administrativen Posten des Ministeriums installiert.

Ellen hegte den Verdacht, dass diese Personalie ein Teil von Präsident Williams’ Plan war, sie zu unterminieren. Nun fragte sie sich, ob womöglich ein noch finstereres Motiv dahintersteckte. Konnte Charles Boynton wirklich so ahnungslos sein? Wie war es möglich, dass er Bashir Shah nicht kannte? Zugegeben, Shah führte ein Schattenleben. Aber war es nicht ihre Aufgabe, diese Schatten zu beobachten?

»Wir wären jetzt da, Madame Secretary«, verkündete Kowalski vom Beifahrersitz.

Hunderte Schaulustige hatten sich am Ort der Detonation versammelt, zurückgehalten durch hölzerne Barrieren. Als sie ausstieg, drehten sie sich zu ihr um. Eine gespenstische Stille trat ein, lediglich unterbrochen vom sanften Geräusch der zufallenden Autotür.

Sie wurde vom Einsatzleiter der Polizei und dem CIA-Chef in Deutschland, Scott Cargill, begrüßt.

»Wir dürfen nicht zu nah ran«, sagte Cargill.

Die Explosion lag mittlerweile fast zwölf Stunden zurück, und die Sonne ging gerade auf. Es war ein feuchtkalter, grauer Märzmorgen. Trübe und abweisend. Die Industriestadt Frankfurt präsentierte sich von ihrer hässlichsten Seite. Und sie sah selbst an guten Tagen nicht gerade einladend aus.

Ein Großteil des historischen Stadtkerns war während des Zweiten Weltkriegs durch Bombenangriffe zerstört worden. Dass die Metropole zu den Alphaweltstädten zählte, hatte in erster Linie mit ihrem Stellenwert als internationales Finanzzentrum zu tun. Ihr fehlten sowohl der Charme vieler kleinerer Städte als auch die Lebendigkeit und jugendliche Energie einer Stadt wie Berlin.

Ellen blickte hinter sich auf die schweigenden Menschen hinter der Absperrung.

»Größtenteils Angehörige«, klärte der deutsche Einsatzleiter sie auf. Ein Teppich aus Blumen, Teddybären und Luftballons bedeckte den Gehsteig. Als könnten die Gaben den Verstorbenen Trost spenden.

Aber was wusste Ellen schon von solchen Dingen? Vielleicht war es ja wirklich so.

Sie ließ den Blick über die Detonationsstelle schweifen. Die verbogenen Metallteile. Steine und Glas. Die vielen roten Decken auf der Erde, unter denen sich vereinzelt flache Umrisse abzeichneten.

Sie wusste, dass die Presse sie beobachtete und Aufnahmen von ihr machte.

Trotzdem starrte sie weiter auf das Meer roter Decken. Sie lagen so weit verstreut. Die Ecken flatterten leicht in der Brise. Es war ein beinahe hübscher Anblick. Irgendwie friedlich.

»Madame Secretary«, sagte Scott Cargill, doch Ellen reagierte nicht.

Unter einer dieser Decken hätte Gil liegen können.

Unter jeder Decke lag ein Kind, eine Mutter, ein Vater, ein Ehemann oder eine Ehefrau. Ein Freund.

Es war ganz still, man hörte kaum ein Geräusch. Nur das vertraute Klicken der Auslöser. Sämtliche Kameras waren auf sie gerichtet.

Gestern noch da, heute dahin, dachte sie, als ihr das berühmte Kriegsgedicht einfiel. Sahn Tage kommen und verglühn/Wir lebten, liebten …

Ellen blickte hinter sich auf die Angehörigen der Toten, die sie beobachteten. Dann wieder zu den Decken, so rot wie ein Feld aus Mohnblumen.

»Ellen?«, sagte Betsy leise und trat zwischen sie und die Reporter, um ihre Freundin wenigstens einen Moment lang abzuschirmen.

Ellen begegnete ihrem Blick und nickte. Sie schluckte die Galle hinunter, die ihr die Kehle hinaufgestiegen war, und verdrängte das aufkeimende Entsetzen. Außenministerin Adams wandelte ihre Abscheu in Entschlossenheit um.

»Was können Sie mir berichten?«, wandte sie sich an den deutschen Einsatzleiter.

»Nur sehr wenig. Es war eine schwere Explosion, wie Sie sehen können. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, wollte sichergehen, dass sie ihren Zweck erfüllt.«

»Und worin bestand dieser Zweck?«

Er schüttelte den Kopf. Der Mann musste seit annähernd vierundzwanzig Stunden im Dienst sein. Er war nicht nur müde, sondern vollkommen entkräftet.

»Ich denke mal, es war derselbe wie bei den vorherigen Anschlägen in London und Paris.« Sein Blick flackerte kurz umher, ehe er zu ihr zurückkehrte. »Falls Sie Informationen haben, bitte teilen Sie sie mir mit.«

Er musterte sie, und als sie schwieg, fuhr er fort: »Bisherigen Erkenntnissen zufolge gibt es hier im näheren Umkreis nichts, was eine Terrororganisation als strategisch relevantes Ziel betrachten könnte.«

Ellen holte tief Luft und bedankte sich bei dem Mann.

Sie hatte die Frage bezüglich des Zwecks des Anschlags stellen müssen, selbst wenn sie die Antwort zum Teil bereits kannte. Aber sie konnte ihm nichts von Dr. Nasrin Bukhari sagen, der pakistanischen Nuklearwissenschaftlerin, die im Bus gesessen hatte. Noch nicht. Nicht, ehe sie selbst mehr wusste.

Und sie wollte auch die Verbindung zu Bashir Shah für sich behalten, wenigstens bis sie mit ihren europäischen Amtskollegen gesprochen hatte.

Bevor sie zum Wagen zurückkehrten, warf Ellen noch einen letzten langen Blick auf die Szene. War all das geschehen, nur um eine einzelne Person zu töten?

Wie der deutsche Einsatzleiter so prägnant gesagt hatte: Der Zweck des Anschlags war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit derselbe gewesen wie in London und Paris. Das bedeutete …

»Wir müssen weiter ins Konsulat«, sagte sie, an Boynton gewandt.

Doch an der Absperrung hielt sie noch einmal inne, um mit den Angehörigen zu sprechen und sich die Fotos anzuschauen, die sie in den Händen hielten. Von ihren Söhnen und Töchtern, Müttern, Vätern oder Ehepartnern. Die nun tot waren.

Und brecht die Treu ihr uns dennoch/Dann ruhn wir nicht …

Ellen Adams hatte nicht die Absicht, ihnen die Treue zu brechen. Doch als sie in der Limousine saß, während diese durch das frühmorgendliche Frankfurt fuhr, betrachtete sie Charles Boynton und Anahita Dahir und fragte sich, ob sie es unbeabsichtigt nicht vielleicht längst getan hatte.