KAPITEL 13

Israels Premierminister dementiert, dass sein Land etwas mit den Bombenattentaten zu tun hat«, raunte Boynton Ellen eine halbe Stunde später ins Ohr, während sie in der Videokonferenz mit den anderen Außenministern, Geheimdienstlern und Beratern saß.

»Danke«, sagte sie, ehe sie sich an ihre Kollegen wandte und die Information an sie weitergab.

Die Unterbrechung kam genau richtig. So war sie um die Beantwortung der Frage herumgekommen, woher sie Uhrzeit, Ziel und Ort des Anschlags in Frankfurt gekannt hatte. Zumindest gewann sie etwas Zeit, um sich eine Antwort zurechtzulegen.

»Und? Glauben wir dem israelischen Premierminister?«, fragte der Franzose.

»Haben die Israelis uns jemals belogen?«, sagte der Italiener.

Das sorgte für Gelächter.

Doch obwohl Israel nicht immer hundertprozentig ehrlich war, hielten sie es für unwahrscheinlich, dass der Premierminister dem amerikanischen Präsidenten gegenüber die Unwahrheit sagte. Israel war auf die Freundschaft mit den USA angewiesen, da waren Lügen nicht hilfreich.

»Außerdem«, setzte der britische Außenminister hinzu, »ist dem Mossad zwar zuzutrauen, dass er pakistanische Atomphysiker umbringt, aber nicht auf so unschöne, brutale Art und Weise. Sie halten große Stücke auf ihre Präzision und Sauberkeit. Das hier war alles andere als sauber und präzise.«

Er schien vergessen zu haben, dass Ellen wenige Minuten zuvor praktisch dasselbe gesagt hatte.

»Madame Secretary«, meldete sich die Kanadierin zu Wort. »Sie haben unsere Frage noch nicht beantwortet. Woher wussten Sie von dem Anschlag in Frankfurt und von Dr. Bukhari?«

Vielleicht würden sie und Jocelyn Tardiff doch keine Freundinnen werden.

»Und dass die Zielpersonen in den anderen Bussen vermutlich pakistanische Nuklearwissenschaftler waren«, ergänzte der Italiener.

»Wie Sie wissen, saß mein Sohn in dem Bus in Frankfurt. Er ist Journalist und hat von einer seiner Quellen erfahren, dass es angeblich einen Komplott gibt, bei dem pakistanische Nuklearwissenschaftler eine Rolle spielen. In dem Zusammenhang fiel auch der Name Nasrin Bukhari. Er hatte sich an ihre Fersen geheftet. Es war nicht weiter schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen.«

»Wer war seine Quelle?«, wollte die Kanadierin wissen.

Diese Frau mit ihren Elchen und Bären wurde langsam anstrengend.

»Das will er mir nicht sagen.«

»Seiner eigenen Mutter?«, fragte von Baier.

»Der Außenministerin.« Ellens Tonfall unterband weitere Fragen über ihr Verhältnis zu ihrem Sohn.

»Was war das für ein Komplott? Was genau hatten sie vor?«, fragte der Franzose und beugte sich so dicht zum Monitor, dass seine Nase riesengroß erschien und man die Poren in seiner Haut sehen konnte.

»Das wusste mein Sohn nicht.«

Seine skeptische Miene sprach Bände.

»Ihr Sohn wurde vor einigen Jahren von den Pathan verschleppt«, merkte der deutsche Außenminister an.

»Stimmt«, sagte der Franzose.

»Vorsicht«, warnte die Kanadierin. Aber wann hatte Frankreich schon mal auf Kanada gehört?

»Und während andere Journalisten, darunter drei französische Staatsbürger, hingerichtet wurden, ist ihm die Flucht gelungen …«

»Clément«, zischte die Kanadierin. »Es reicht.«

Aber es reichte anscheinend noch nicht.

»Wenn ich es richtig verstehe, ist Ihr Sohn kürzlich zum Islam konvertiert. Er ist jetzt Muslim.«

»Clément!«, rief die Kanadierin. »C’est assez.« Es ist genug.

Doch es war zu spät.

»Was wollen Sie damit sagen?« In Ellens Stimme schwang eine unüberhörbare Warnung mit.

Natürlich wusste sie ganz genau, was der französische Außenminister damit sagen wollte. Das, was viele andere dachten, wenngleich es ihr noch nie jemand ins Gesicht gesagt hatte.

»Gar nichts«, beschwichtigte der Italiener. »Er ist aufgewühlt. Paris hat einen schrecklichen Anschlag hinter sich. Lassen Sie es gut sein, Madame Secretary.«

Inzwischen klebte das Gesicht des französischen Kollegen praktisch am Bildschirm. »Woher wissen Sie, dass Ihr Sohn nicht Teil dieser Verschwörung ist? Woher wissen wir, dass er die Bombe nicht selbst deponiert hat?«

Das reichte.

»Wie können Sie es wagen!«, fuhr Ellen ihn an. »Wie können Sie es wagen, auch nur anzudeuten, mein Sohn hätte etwas damit zu tun? Er hat versucht, das Unglück zu verhindern. Er hat sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Er wäre bei der Explosion fast getötet worden.«

»Fast«, sagte der Deutsche mit aufreizend ruhiger Stimme. »Aber nur fast. Er hat überlebt. Genau wie er damals die Entführung überlebt hat.«

Ellen wandte sich an ihn. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

Sie sah jeden Einzelnen der Reihe nach an. Selbst die Kanadierin in ihrem albernen Elche-und-Bären-Morgenrock schien darauf zu warten, dass Ellen die Frage beantwortete.

Wie war es Gil Bahar gelungen, seinen islamistischen Entführern zu entkommen, während alle anderen Geiseln hingerichtet worden waren?

Es war eine Frage, die sie ihm auch gestellt hatte, als sie sich kurz nach seiner Flucht in Stockholm getroffen hatten. Sie hatte ihm nichts unterstellen wollen, doch genau so hatte Gil es aufgefasst. Das tat er immer.

Ihre ohnehin schon belastete Beziehung war danach noch schlechter geworden, weil diese unbeantwortete Frage zwischen ihnen stand.

Mittlerweile sprachen sie kaum noch miteinander. Ellen hatte immer wieder versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Durch Betsy, durch Katherine. Mit Anrufen und Briefen. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte. Dass sie ihm vertraute.

Und dass sie ihm die Frage nur gestellt hatte, weil sie dachte, er hätte vielleicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen.

Gils Entführung lag zugleich auch im Zentrum des Konflikts zwischen Ellen Adams und dem damaligen Senator und jetzigen Präsidenten Douglas Williams.

Auch deren Verhältnis hatte sie vergiftet.

Sie sah ihre Kollegen an. Alle waren sie zermürbt, alle voller Angst. Sie durfte ihnen noch nichts von der verschlüsselten E-Mail erzählen, die sie erhalten hatten – nicht ehe sie mehr darüber wussten. Und über Anahita Dahir.

Aber irgendetwas musste sie ihnen geben. Und sie wusste auch, was.

»Seine Quelle hat ihm aber verraten, wer dahintersteckt. Er hat es mir heute Morgen im Krankenhaus gesagt.«

Es konnte nicht schaden, es noch einmal zu betonen: Gil war nicht unbeschadet davongekommen.

»Und?«, fragte von Baier.

»Bashir Shah.«

Es war, als wäre urplötzlich ein schwarzes Loch entstanden und hätte alles Leben, alles Licht und alle Geräusche eingesogen.

Bashir Shah.

Kurz darauf begannen alle wild durcheinanderzureden. Jeder hatte eine andere Frage, auch wenn es am Ende auf eine einzige hinauslief.

»Wie kann es Shah gewesen sein? Er befindet sich seit Jahren in Islamabad unter Hausarrest.«

Sie gab weiter, was sie zuvor mit General Whitehead besprochen hatte, und erntete betroffenes Schweigen.

»Scheiße«, fluchte von Baier auf Deutsch.

»Merde.«

»Merda.«

»Verdammte Axt«, sagte die Kanadierin.

Noch einmal überdachte Ellen ihr Urteil. Vielleicht würde sie doch eine Flasche Chardonnay mit dieser Frau trinken, wenn alles vorbei war.

»Wollen Sie damit sagen, dass wir nicht wissen, wo Shah sich derzeit aufhält?«, fragte der Franzose.

»Ja.« Sie blickte forschend in die Gesichter der anderen und kam zu dem Schluss, dass sie alle gleichermaßen ahnungslos waren. Gleichermaßen empört. Und gleichermaßen wütend.

Auf sie.

»Sie waren das?«, fragte von Baier. »Sie haben zugelassen, dass der gefährlichste Waffenhändler der Welt entkommt – nein, nicht entkommt: dass er seelenruhig und völlig unbehelligt zur Tür hinausspaziert?«

»Ich wette, er hat den Hinterausgang genommen«, sagte der Italiener. »Damit niemand sieht …«

»Welchen Ausgang er genommen hat, ist doch völlig irrelevant«, herrschte der deutsche Außenminister ihn an. »Der springende Punkt ist, dass er frei ist. Mit dem Segen der US-Regierung.«

»Aber nicht mit dem Segen dieser Regierung, und ganz sicher nicht mit meinem«, sagte Ellen. »Ich hasse Shah genauso sehr wie Sie alle, vielleicht sogar noch mehr.«

Denn sie hatte ihn im Verdacht, ihren Mann getötet zu haben. Einen Mann, den sie über alles geliebt hatte. Aus Vergeltung für die Dokumentation und einfach nur, weil er es konnte.

Und bis zum heutigen Tag provozierte er sie mit seinen Glückwunschkarten.

Nun war er auf freiem Fuß. Er konnte tun und lassen, was er wollte, geschützt von der Regierung Pakistans und mit offizieller Zustimmung eines wahnhaften US-Präsidenten und seinen fliegenden Affen im Kabinett.

Inzwischen hatte Ellen den Verdacht, dass auch Tim Beecham, der derzeitige Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, dazugehörte.

Das war der Grund, weshalb General Whitehead ihm nicht traute.

Beecham war ein Überbleibsel der Vorgängerregierung, eine der vielen Nominierungen aus den letzten Tagen von Dunns Amtszeit. Der Senat hatte ihn noch nicht gewählt, er war aber vom neuen Präsidenten kommissarisch auf seinem Posten belassen worden, bis Williams entschied, ob er ihn dauerhaft behalten wollte. Der Präsident wusste aus seiner Zeit im Senat, dass der Geheimdienstspezialist Beecham rechtskonservativ war, mehr aber auch nicht. Er musste sich einfach darauf verlassen, dass Beecham loyal war.

Das war er bestimmt. Aber wem galt seine Loyalität?

»Was hatte Shah vor?«, fragte die Kanadierin. »Drei Atomphysiker. Das kann doch nichts Gutes bedeuten.«

»Drei tote Atomphysiker«, verbesserte der Italiener. »Hat uns da vielleicht sogar jemand einen Gefallen getan?«

Wieder sah Ellen die Gesichter der Angehörigen vor sich. Die Fotos, die sie mitgebracht hatten. Die Teddybären und Luftballons und die Blumen, die auf der Straße welkten. Ein schöner Gefallen.

Dennoch hatte der Italiener nicht ganz unrecht.

»Was ich nicht verstehe«, sagte die Kanadierin, »ist, weshalb er zweitklassige Atomphysiker rekrutiert hat, wenn er sich doch erstklassige hätte leisten können.«

Das bereitete auch Ellen Kopfzerbrechen.

»Sie müssen Druck auf Ihren Sohn ausüben, Madame Secretary«, sagte der Italiener. »Er muss seine Quelle preisgeben. Wir müssen wissen, was Shah plant.«

Auf Ellens Bitte hin flog Betsy zurück nach DC.

Sobald sie ihren Fensterplatz in der Linienmaschine von Frankfurt nach Washington eingenommen hatte, öffnete sie den Brief, den Ellen ihr beim Abschied zugesteckt hatte und der in ihrer typischen Krakelschrift geschrieben war.

Obwohl Ellen ihn ihr persönlich zwischen den Seiten eines People Magazine überreicht hatte und die Handschrift unverwechselbar war, begann er mit dem Satz: Kommt eine Katachrese in eine Bar …

Die Anschnallzeichen leuchteten auf, und die Passagiere wurden gebeten, ihre Telefone in den Flugmodus zu schalten. Was Betsy auch tat, nachdem sie Ellen noch schnell eine Antwort gesendet hatte.

… und denkt sich: Hoffentlich kann mir hier jemand reinen Tisch einschenken.

Dann machte sie es sich bequem und überflog den Rest der kurzen Nachricht, während sich ein Stück rechts hinter ihr in der Mitte der Businessclass ein unscheinbarer junger Mann in seine Zeitung vertiefte.

Wahrscheinlich dachte er, sie hätte ihn nicht bemerkt.

Nachdem Betsy den Brief zu Ende gelesen hatte, steckte sie ihn in die Tasche ihres Hosenanzugs. Die Handtasche konnte ihr gestohlen werden, aber die Hose würde ein Dieb ihr höchstwahrscheinlich nicht unbemerkt vom Leib reißen.

Der Brief wäre sicher verwahrt.

Während andere Passagiere aßen oder in ihren zurückgeklappten Sesseln schliefen, schaute Betsy Jameson aus dem Fenster und überlegte, wie sie das, worum Ellen sie gebeten hatte, bewerkstelligen sollte.

»Ich habe jetzt Zeit für sie«, sagte Ellen.

Sie saß in einem Büro, das ihr der amerikanische Generalkonsul zur Verfügung gestellt hatte, und beobachtete, wie Charles Boynton den Raum verließ und kurz darauf mit Anahita Dahir zurückkam.

»Vielen Dank, Charles. Sie können jetzt gehen.«

An der Tür zögerte er. »Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu essen oder zu trinken bringen, Madame Secretary?«

»Nein, danke. Für Sie, Ms. Dahir?«

Obwohl Anahita kurz vor dem Verhungern war, schüttelte sie den Kopf. Sie würde in Anwesenheit der Außenministerin bestimmt kein Butterbrot essen.

Boynton wandte sich mit sorgenvoller Miene zum Gehen. Er wurde ausgeschlossen und musste einen Weg finden, die Gunst seiner Chefin zurückzuerlangen.

Ellen wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann bedeutete sie Anahita, im Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen.

»Wer sind Sie?«

»Entschuldigung, Madame Secretary?«

»Sie haben mich schon verstanden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Menschen sind ums Leben gekommen, und es gibt guten Grund zu der Annahme, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Und Sie hängen da irgendwie mit drin. Also antworten Sie mir: Wer sind Sie?«

Anahita sah, wie Ellen ihre gespreizte Hand auf eine Aktenmappe in ihrem Schoß legte. Sie wusste, was diese Mappe enthielt: ein Dossier über sie, so ähnlich wie das, was die beiden Geheimdienstleute bei ihrer Vernehmung im Keller des Außenministeriums dabeigehabt hatten.

Sie hob den Blick und sah Ellen an.

»Ich bin Anahita Dahir, Mitarbeiterin im Auswärtigen Amt. Da können Sie jeden fragen. Katherine kennt mich. Gil kennt mich. Ich bin genau die, die ich zu sein vorgebe.«

»Na ja, das stimmt nicht ganz, oder? Ich glaube Ihnen, dass Sie so heißen und dass Sie fürs Auswärtige Amt arbeiten, aber ich glaube nicht, dass das schon alles war. Die Mail wurde an Sie gesendet. An Sie persönlich. Wir wissen mittlerweile, dass es eine Verbindung zu Pakistan gibt. Alle drei Nuklearwissenschaftler stammen von dort. Sie selbst haben zwei Jahre lang in der Botschaft in Islamabad gearbeitet, und jetzt sind Sie im Pakistanreferat tätig. Wer hat Ihnen die Mail geschickt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Doch«, knurrte Ellen. »Hören Sie zu, ich habe Sie aus dem Verhör geholt. Wahrscheinlich hätte ich das nicht tun sollen, aber ich habe es getan. Ich habe Sie mit nach Frankfurt genommen, damit Ihnen nichts passiert. Auch das war vermutlich nicht das Klügste, aber Sie haben meinem Sohn das Leben gerettet, und ich war Ihnen etwas schuldig. Aber meine Dankbarkeit hat ihre Grenzen, und die sind jetzt erreicht. Da draußen stehen zwei Agenten.« Sie machte sich nicht die Mühe, in Richtung der Tür zu schauen. »Wenn Sie mir keine Antworten liefern, rufe ich sie herein, und sie nehmen Sie mit.«

»Ich weiß es wirklich nicht.« Anas Stimme klang schrill und gepresst, weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. »Das müssen Sie mir glauben.«

»Nein. Ich muss die Wahrheit herausfinden. Sie haben die Nachricht abgeschrieben, bevor Sie sie gelöscht haben. Tun Sie das immer?«

Anahita schüttelte den Kopf.

»Warum bei dieser Nachricht?«

Als sie den jämmerlichen Gesichtsausdruck ihrer jungen Mitarbeiterin sah, wusste Ellen, dass sie gewonnen hatte. Vielleicht würde sie keine Antwort bekommen, aber sie hatte immerhin die richtige Frage gestellt.

Sie bekam zwar eine Antwort, aber die fiel ganz anders aus, als Ellen erwartet hatte.

»Meine Familie stammt aus dem Libanon. Meine Eltern sind liebevoll, aber streng. Traditionsbewusst. Ein gutes libanesisches Mädchen wohnt bis zur Hochzeit zu Hause. Ich hatte viel mehr Freiheiten als meine Freundinnen. Ich durfte mir eine eigene Wohnung nehmen, sogar für meinen Job ins Ausland reisen. Meine Eltern waren stolz, dass ich für das Außenministerium arbeite und meinem Land diene. Und sie haben darauf vertraut, dass ich eine gewisse Grenze niemals überschreite.«

Ellen hörte aufmerksam zu. Im ersten Moment wusste sie nicht, worauf Anahita hinauswollte, doch dann fiel bei ihr der Groschen.

»Gil.«

Anahita nickte. »Ja. Als die Nachricht kam, dachte ich wirklich, es wäre Spam. Anfangs. Deshalb habe ich sie meinem Vorgesetzten gezeigt und dann gelöscht. Aber kurz davor habe ich mir gedacht, dass sie vielleicht von Gil sein könnte.«

»Wieso haben Sie das gedacht?«

Eine Pause trat ein, und Ellen sah, wie die erwachsene Frau errötete.

»In Islamabad sind wir immer in meine Wohnung gegangen. Wenn er sich mit mir treffen wollte, hat er eine Textnachricht mit der Uhrzeit geschickt. Sonst nichts, nur die Uhrzeit.«

»Wie charmant«, sagte Ellen.

Anahita lächelte ein wenig verkniffen. »Das war er wirklich. Es klingt schlimm, aber er hat es meinetwegen getan. Ich wollte unsere Beziehung geheim halten, damit nichts zu meinen Eltern dringt. Und es war …«

Schön. Berauschend. Aufregend. Der Reiz der Heimlichkeit in einer Stadt, in der Betrug und Täuschung an der Tagesordnung waren. Die heißen, schwülen Tage und Nächte in Islamabad. Alle waren so jung, so lebendig, so entschlossen und sicher. Um sie herum tobte das Leben, und auf dem Marktplatz wartete der Tod.

Ihre Arbeit war ihnen so wichtig vorgekommen. Dolmetscher, Leibwächter, Reporter. Spione. Sie alle hielten sich für unentbehrlich. Unsterbliche an einem Ort, an dem Gewalt und Tod nur die anderen trafen. Aber niemals sie.

Und seine Nachrichten. 1945. 1330. Und ihre Lieblingsnachricht: 0615. Eine schöne Art aufzuwachen. In Gils Armen.

Als Ellen Anahitas körperliche Reaktion auf die Erinnerungen bemerkte, musste sie sich ein Lächeln verkneifen. Genau dasselbe hatte sie damals für Gils Vater empfunden. Cal war ihre erste große Liebe gewesen. Nicht ihr Seelenverwandter. Das war Quinn, Katherines Vater.

Aber Gott, hatte sie mit Cal Bahar Spaß gehabt. Und knackig war er gewesen.

Wenn sie jetzt an ihn dachte, selbst nach all der Zeit …

Sie gab sich einen Ruck. Es konnte wohl kaum einen unangemesseneren Zeitpunkt geben, um in Erinnerungen zu schwelgen.

Ellen räusperte sich. Anahita stieg erneut die Röte ins Gesicht, als sie in den grauen, faden Raum in Frankfurt zurückkehrte. »Ich habe gehofft, dass die Nachricht von Gil ist. Ich habe sie abgeschrieben und dann gelöscht. Später am Abend habe ich ihm eine Textnachricht geschickt, um ihn zu fragen, ob sie von ihm war.«

»Wussten Sie zu dem Zeitpunkt, wo er sich aufhält?«

»Nein. Wir hatten schon seit einer Weile keinen Kontakt mehr. Seit meiner Rückkehr nach DC nicht.«

Ellen nickte. Wenn Anahita den Agenten dies alles erzählt hätte, hätten sie ihr vermutlich nicht geglaubt. Sie hätten die Sehnsucht nicht verstanden, das Brennen, das eine junge Frau für ihre erste Liebe empfand und das dazu führen konnte, dass man jede Nachricht überinterpretierte, missverstand, sie wieder und wieder las und zu Tode analysierte.

Sie hätten nicht verstanden, dass Hoffnung selbst den klügsten Menschen blind machen konnte.

Für Ellen jedoch war dies absolut einleuchtend. Auch sie hatte sich von Gils Vater blenden lassen. Sie war blind gewesen für das, was andere nur allzu deutlich gesehen hatten. Auch Betsy hatte versucht, ihre Freundin vorsichtig darauf hinzuweisen, weshalb das mit ihr und Cal niemals funktionieren würde.

»Daher wussten Sie, dass er in Frankfurt ist«, schloss sie.

»Ja.«

»Aber wenn Gil Ihnen die Nachricht nicht geschickt hat, wer dann?«

»Ich weiß es nicht. Wer auch immer sie geschrieben hat, wollte vielleicht gar nicht unbedingt, dass ich sie bekomme. Sie sollte einfach nur an jemanden in der Abteilung gehen.«

»Was wissen Sie über Bashir Shah?« Ellen sah, wie das Gesicht der jungen Frau erstarrte. »Sie wissen etwas. Ich habe gesehen, wie Sie im Wagen reagiert haben. Sie hatten Angst.«

Ein langes Schweigen folgte, während Anahita unruhig in ihrem Sessel herumrutschte. »In Islamabad habe ich mich mit dem Thema Verbreitung von Kernwaffen beschäftigt, und manchmal haben meine pakistanischen Kollegen seinen Namen erwähnt. Sie klangen beinahe ehrfurchtsvoll. Er war ein Mythos. Eine grausige Legende, wie ein Gott des Krieges. Steckt er dahinter?«

Statt einer Antwort stand Ellen auf. »Gibt es sonst noch etwas, was Sie mir sagen müssen?«

Anahita erhob sich ebenfalls und schüttelte den Kopf. »Nein, Madame Secretary. Das war alles.«

Ellen brachte sie zur Tür. »Ich fahre zurück ins Krankenhaus, um Gil noch einmal zu besuchen, bevor wir abfliegen. Möchten Sie mitkommen?«

Anahita zögerte, dann hob sie das Kinn und straffte die Schultern. »Nein. Aber danke.«

Als Ellen die Tür schloss, fragte sie sich, ob Gil auch nur im Entferntesten wusste, was er aufgegeben hatte.

Während Anahita den Flur hinunterging, fragte sie sich, wie weit sie kommen würde, wenn sie einfach immer weiterlief. Wie lange würde es dauern, ehe jemand merkte, dass sie verschwunden war?

Oder dass sie gelogen hatte. Schon wieder.