KAPITEL 19

Die Tür des Hauses in Bad Kötzting stand einen Spaltbreit offen.

Schon vor dem Eintreten wusste Scott Cargill, was er im Innern vorfinden würde. Beißender Qualm von den Treibladungen automatischer Waffen lag in der Luft und auch noch etwas anderes, nicht minder Unverwechselbares. Der leicht metallische Geruch von Blut.

Er zog seine Waffe und bedeutete seiner Kollegin, zum Hintereingang zu gehen. Dann wagte er sich leise ins Haus.

Im Flur stieß er auf die Leichen einer Frau und eines Kleinkindes.

Er umrundete sie vorsichtig und warf einen Blick ins Wohnzimmer.

Leer.

Zurück durch den dunklen Flur in die Küche. Dort entdeckte er eine weitere Leiche, eine ältere Frau, die ihre Pistole noch in der Hand hielt. Ihre Augen waren weit geöffnet und milchig.

Er stand ganz still da und lauschte.

Es konnte noch nicht lange her sein.

Waren die Schützen noch im Haus? Er bezweifelte es.

Und Aram Wani, der Bombenattentäter? Hatten sie ihn auch erwischt?

Die Waffe im Anschlag, erklomm Cargill die Treppe in den ersten Stock und schaute nacheinander in die kleinen Schlafzimmer. Der Gestank von Gewalt war nicht bis hierher vorgedrungen. Es roch lediglich nach Babypuder.

Als er die Treppe wieder hinunterstieg, sah er in der geöffneten Haustür einen Schatten vorbeihuschen.

Er blieb stehen.

Der Schatten hielt ebenfalls inne.

Gleich darauf hörte Cargill ein leises Geräusch. Ein Schluchzen.

Er rannte die restlichen Stufen hinunter. Unten angekommen, sah er gerade noch den Rücken eines jungen Mannes, der floh.

Er stürzte zur Tür hinaus und nahm die Verfolgung auf, während er gleichzeitig seine Kollegin durch Rufen alarmierte, ohne zu wissen, ob sie ihn gehört hatte.

Aram Wani rannte. Er rannte um sein Leben. Auch wenn es ihm eigentlich egal war, ob er lebte oder starb.

Es war reiner Instinkt, nicht mehr. Und trotzdem rannte er dem Tod davon. Dem Mann mit der Waffe. Dem Mann, der seine Frau und seine Tochter ermordet hatte.

Aram Wani rannte.

Scott Cargill lief, so schnell er konnte. Als CIA-Chef in Deutschland hatte er schon lange nicht mehr rennen müssen. Aber jetzt nahm er die Verfolgung auf. Stieß die Knie nach vorn, die Schuhsohlen donnerten über das Pflaster. Seine Lunge pumpte gierig die kalte Luft.

Er rannte.

Wani verschwand taumelnd um die nächste Ecke.

Cargill drosselte sein Tempo, um nicht auszurutschen, als auch er um die Ecke bog. Er überlegte, ob er auf Wani schießen konnte, ohne ihn zu töten. Nur um ihn aufzuhalten, sodass er festgenommen und verhört werden konnte. Vielleicht würden sie dann mehr über das Netzwerk erfahren, das hinter den Anschlägen steckte.

Und womöglich auch darüber, welches Ziel sie verfolgten.

Doch hinter der Ecke blieb er abrupt stehen.

»Ach du Scheiße.«

Anahitas Eltern wurden verhaftet und sollten gerade abgeführt werden. Ellen rief sie zurück.

»Nur noch eine Frage, Mr. Dahir. Was ist das Sekretärinnenproblem?«

»Es ist ein mathematisches Problem, Madame Secretary.«

»Was für eins?« Sie saß in Frankfurt und schaute ihn über den Bildschirm an.

»Es geht darum, wann man aufhören sollte«, antwortete Irfan.

»Aufhören womit?«

»Nach einem Haus zu suchen. Einem Ehepartner. Einem Job. Einer Sekretärin«, sagte er. »Es geht darum, wann der Punkt erreicht ist, an dem man die bestmögliche Option gefunden hat. Oder hört man nie auf, sich zu fragen, ob es da draußen vielleicht noch etwas Besseres gibt? Solange man das tut, kann es keinen Fortschritt geben. Eine Entscheidung muss getroffen werden, selbst wenn sie nicht perfekt ist. Als ich in Teheran war, während der Revolution, habe ich zu viel gesehen. Zu viele Dinge, die nicht zu dem passten, was ich über den Islam gelernt hatte. Aber an welchem Punkt hätte ich gehen sollen? Der Iran war meine Heimat. Meine ganze Familie, all meine Freunde lebten dort. Ich liebte den Iran. Also: Wann wird es zu viel? Wann trifft man den Entschluss zu gehen, im Wissen, dass es dann kein Zurück mehr gibt?«

»Und wann sind Sie gegangen?«, fragte Ellen.

»Als ich erkannt habe, dass das neue Regime genauso böse, wenn nicht gar böser war als das alte. Und dass auch ich böse werden würde, wenn ich bliebe.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Tim Beecham unruhig wurde, als hätte er es eilig, das Gespräch zu beenden.

»Und dafür gibt es eine mathematische Gleichung?«, fragte sie.

»Ja. Aber es ist wie bei vielen anderen Dingen auch. Wir können Berechnungen anstellen, die hilfreich sind, aber letzten Endes bleibt es eine Frage der Intuition.« Er zögerte, und der Blick seiner dunklen traurigen Augen hielt ihren fest. »Und des Mutes, Madame Secretary.«

Das Sekretärinnenproblem, dachte Ellen.

Sie verstand.

Nachdem die Dahirs abgeführt worden waren und der Bildschirm schwarz wurde, wandte Anahita sich an Ellen.

»Sie haben nichts getan. Okay, er hat damals gelogen. Das ist Jahrzehnte her. Seitdem ist er stolzer Amerikaner, ein absoluter Vorzeigebürger. Sie wissen, dass er nichts mit den Anschlägen zu tun hat.«

»Ich weiß nichts dergleichen«, sagte Ellen. »Ich weiß nur, dass jemand aus dem Haushalt Ihres Onkels Ihnen eine E-Mail geschickt hat. Jemand weiß, wer Sie sind, selbst wenn Sie die betreffende Person nicht kennen.«

Anahitas Miene hellte sich auf. »Dann glauben Sie mir also. Und Sie glauben meinen Eltern.«

»So weit würde ich nicht gehen. Aber Sie haben Gil das Leben gerettet. Sie haben versucht, auch die anderen Menschen zu retten. Ich denke nicht, dass Sie in die Sache verstrickt sind. Was allerdings Ihre Eltern betrifft …« Sie fragte sich, ob sie den Rest auch noch sagen sollte, und kam zu einem Entschluss. »Gil mag Sie. Er vertraut Ihnen, und er ist niemand, der schnell Vertrauen fasst.«

»Er mag mich? Hat er das gesagt?«

»Ich glaube kaum, dass das der springende Punkt an dieser Sache ist. Sie?«

Als sie den Bunkerraum im amerikanischen Konsulat verließen, war Ellen in Gedanken immer noch bei Gil. Er war so wütend gewesen, weil sie ihn nach seinem Informanten gefragt hatte. Fest entschlossen, ihn nicht zu verraten. Seine Quelle um jeden Preis zu schützen.

Und dann hatte er geflüstert: »Aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit …«, nur um im nächsten Atemzug nach Anahita zu fragen.

Ellen war davon ausgegangen, dass er Gefühle für die junge Frau hatte. Doch nun kam sie ins Grübeln.

War es möglich, dass seine Informantin niemand anders als die schlanke, zierliche Frau war, die ein paar Schritte hinter ihr ging? Die nach Rosen duftete und ihre Unschuld beteuerte? Die behauptete, nichts zu wissen? Deren Familie bis zum Hals in der Sache mit drinsteckte? Vielleicht war ihnen das Ganze über den Kopf gewachsen …

Eine als dringend markierte Nachricht ging auf ihrem Smartphone ein.

Scott Cargill. Endlich.

Ellen öffnete sie und sah, dass sie nicht von Cargill, sondern von Beecham kam.

Habe gerade von unseren Kontaktleuten in Teheran gehört. Es gibt eine Tochter. Zahara Ahmadi, 23. Physikstudentin.

Ellen wandte sich an Boynton, von dem sie wieder einmal vergessen hatte, dass er auch noch da war.

»Ich will den Präsidenten über eine sichere Telefonleitung sprechen.« Ist sie diejenige welche?, schrieb sie Beecham zurück.

Wir glauben es. Anscheinend keine Hardlinerin.

Glauben oder wissen?

Unmöglich zu sagen, ohne sie festzunehmen.

Nein. Tun Sie nichts. Ich habe eine andere Idee. Ellen wandte sich an Anahita. »Sie müssen Ihrer Cousine eine Nachricht schicken.«

»Ich habe eine Cousine?«

»Ja.«

»Eine Cousine?«, wiederholte Anahita.

»Bleiben Sie bei der Sache. Sie müssen Kontakt zu ihr aufnehmen.«

Das ließ die junge Frau aufhorchen. »Ich? Wie denn? Ich wusste ja nicht mal, dass ich eine Cousine habe, bis Sie es mir eben gesagt haben.«

Ellen ging nicht weiter darauf ein. »Wenn sie Ihnen eine Nachricht schicken konnte, dann können Sie das auch. Cargill wird Ihnen dabei helfen.« Dann fiel ihr ein, dass Cargill in Bayern war, um den Attentäter festzunehmen.

»Wir haben eine Mailadresse des Absenders in Teheran, Madame Secretary«, meldete sich Boynton zu Wort. »Die können wir benutzen.«

Ellen dachte nach. »Nein. Der Rechner wird wahrscheinlich von den Iranern überwacht.« Sie hielt inne. Wenn das stimmte, würden die iranischen Behörden schon bald von der Mail ans amerikanische Außenministerium erfahren. Sie würden glauben, der Onkel hätte sie geschickt. Wenigstens anfangs. Und vielleicht würde er seine Tochter schützen. Wenigstens anfangs.

Sie mussten diese Zahara Ahmadi so schnell wie möglich warnen.

»Der Präsident steht Ihnen in drei Minuten zur Verfügung«, sagte Boynton.

»Danke. Nehmen Sie Ms. Dahir mit nach oben in Cargills Büro. Sie versuchen dort, die Cousine zu erreichen. In zehn Minuten will ich andere Optionen auf dem Tisch haben.«

Sie waren wieder im Erdgeschoss angelangt. Dort, wo die Sonne schien und man einen schönen Ausblick auf den Friedhof gegenüber hatte.

Noch einmal schaute sie auf ihr Telefon. Immer noch keine Nachricht aus Bad Kötzting.

»Etwas unsauberer, als mir lieb gewesen wäre«, sagte der Mann am Pool. Er war Mitte fünfzig, schlank und sportlich. Er hatte sich bemüht, seine Fitness während des Hausarrests weiter zu verbessern. »Aber wenigstens ist die Sache jetzt erledigt.«

»Ja, Sir. Und vielleicht ist es sogar zu unserem Vorteil«, sagte der Assistent, der ihm die Nachricht überbracht hatte.

»Wie das?«, wollte Bashir Shah wissen.

»Es wird ihre Aufmerksamkeit erregen.«

»Ich würde sagen, wir haben ihre Aufmerksamkeit bereits, meinen Sie nicht?« Er bedeutete dem Assistenten, sich zu setzen, sodass er bei der Unterredung nicht von der grellen Sonne geblendet wurde. »Es gab zwei Fehler, von denen ich nicht will, dass sie sich wiederholen.«

Shahs Stimme klang freundlich, dennoch erstarrte der Assistent. Es war schon beängstigend genug gewesen, seinem Boss die Nachricht vom Selbstmordattentäter überbringen zu müssen, der keinen Selbstmord begangen hatte. Er saß stocksteif da. Auf das Schlimmste gefasst. Sein Chef war angespannt wie ein Raubtier vor dem Sprung.

»Wissen Sie, wovon ich rede?«, fragte Shah.

»Der Attentäter konnte entkommen, aber wir haben …«

Shah hob die Hand. »Und?«

»Und der Sohn hat überlebt.«

»Genau. Der Sohn hat überlebt. Wir haben uns viel Mühe gegeben, um dafür zu sorgen, dass Gil Bahar in diesem Bus sitzt. Wie kann es sein, dass er ausgestiegen ist?«

»Das war die andere Sache, Sir. Unser Informant hat ein Video geschickt.«

Shah schaute sich das Video an, das im Innern des 119er-Busses in Frankfurt aufgenommen worden war. Als die Aufnahme zu Ende war, wandte er sich erneut an seinen Assistenten.

»Er bekam einen Anruf. Jemand hat ihn gewarnt. Wer?«

»Seine Mutter.«

Shah atmete tief ein. Das war die Antwort, mit der er am ehesten gerechnet hatte und die ihm am wenigsten gefiel.

»Und wie hat die amerikanische Außenministerin von der Bombe erfahren?« Seine Stimme war hart geworden. Zorn loderte in seinen Worten. »Wer hat es ihr verraten?«

Der Assistent sah sich um, aber alle anderen waren vorsorglich einen Schritt zurückgewichen.

»Das weiß ich nicht, Sir. Wir glauben, es war jemand innerhalb des Ministeriums. Ein Mitarbeiter im Auswärtigen Amt.«

»Und wie hat dieser Mitarbeiter davon erfahren?«

Der Assistent wurde immer nervöser. »Das werden wir bald erfahren, Sir. Da wäre …« Er schloss die Augen und betete im Stillen. »… noch eine andere Sache.«

»Ich höre.«

»Man weiß über Sie Bescheid.«

»Ellen Adams weiß, dass die Wissenschaftler für mich gearbeitet haben?«

»Ja, Sir.« Er fragte sich, wie es passieren würde. Erschießen? Erstechen? Oder würde man ihn in den Sumpf werfen, damit die Krokodile ihn fraßen? Grundgütiger, bloß das nicht.

Stattdessen lächelte sein Boss. Und nickte.

Bashir Shah erhob sich. »Ich bin auf einen Drink im Klub verabredet und muss mich noch umziehen. Wenn ich zurückkomme, will ich Antworten haben.«

Der Assistent blickte Shah nach, der um den Pool herumging und in dem großen Haus verschwand, das ihm ein guter Freund in Palm Beach zur Verfügung gestellt hatte.

Der amerikanische Generalkonsul in Frankfurt hatte der Außenministerin sein Büro überlassen.

Sie saß an seinem Schreibtisch. Auf dem Display des abhörsicheren Telefons in ihrer Hand sah sie das missmutige Gesicht des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Einen schwindelerregenden Moment lang hatte sie das Gefühl, ihn in ihrer Hand zu halten.

Schön wär’s …

Der Moment war dahin, als Tim Beechams noch missmutigeres Gesicht auf der anderen Hälfte des geteilten Bildschirms auftauchte, sodass beide etwas gequetscht aussahen.

Ellen war erstaunt, dass er zu dem Gespräch eingeladen worden war, beschloss jedoch, ihre Verwunderung für sich zu behalten und die Entscheidung nicht zu hinterfragen. Sie konnte sowieso nichts dagegen tun. Aber sie würde mit Fingerspitzengefühl vorgehen müssen. Sich genau überlegen, was sie sagte. Und was sie besser verschwieg.

»Also«, begann der Präsident. »Was ist jetzt schon wieder schiefgelaufen?«

»Nichts, Mr. President«, antwortete Ellen. »Im Gegenteil, wir machen gute Fortschritte.«

Sie brachte ihn auf den neuesten Stand, wobei sie darauf achtete, ihm nur das mitzuteilen, was Beecham bereits wusste.

»Sie denken also, die Tochter Zahara Ahmadi steckt hinter der Warnung? Beecham, was wissen wir über sie?«

»Ich habe gerade ein Dossier bekommen. Sie studiert Physik an der Universität Teheran.«

»Wie ihr Vater«, sagte der Präsident.

»Nicht ganz. Ihr Fachgebiet ist statistische Mechanik.«

»Das hat mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun, richtig?«, fragte Williams.

Ellen war froh, dass sie gelernt hatte, ihre Emotionen im Zaum zu halten, sonst wäre sie vor Überraschung vom Stuhl gefallen.

Offenbar war Doug Williams gebildeter, als sie ihm zugetraut hatte.

»Ja, Mr. President. Interessant ist allerdings, dass sie einer Studentenorganisation angehört, die als sehr fortschrittlich gilt. Sie setzt sich für mehr Freiheiten und eine Annäherung des Iran an den Westen ein. Das einzige Warnsignal ist, dass sie anscheinend tief religiös ist.«

»Ich bin auch tief religiös«, sagte Präsident Williams. »Ist das ein Grund, mir zu misstrauen?«

»Im Iran schon, Sir.«

»Gehört sie einer bestimmten Moschee an?«, wollte Ellen wissen.

»Ja.«

»Ist es dieselbe wie die ihres Vaters?«

»Nein, ihre Gemeinde ist in die Universität eingegliedert. Wir überprüfen den Imam, um zu sehen, ob er ein Radikaler ist.«

»Was denken Sie, Ellen?«, fragte Williams.

»Wir sind inzwischen relativ sicher, dass der Iran hinter den Anschlägen steckt, Mr. President. Das war von Anfang an die plausibelste Erklärung. Sie haben die pakistanischen Physiker als Bedrohung betrachtet. Wenn Zahara wirklich diejenige ist, die meiner Mitarbeiterin die Nachricht geschickt hat, heißt das doch wohl, dass sie die Anschläge verhindern wollte. Warum? Das kann ich erst sagen, wenn wir mit ihr gesprochen haben. Meine Leute versuchen gerade, Kontakt zu ihr aufzunehmen.«

So viel musste sie vor Beecham preisgeben. Es war schließlich seine Abteilung, die daran arbeitete, und sie hatten die Entscheidung gemeinsam getroffen.

Der Umstand, dass er von Zahara und dem Kontaktversuch wusste, war, gelinde gesagt, problematisch. Doch Ellen konnte nichts daran ändern.

»Wie hat sie von den Anschlägen erfahren?«, fragte der Präsident, dann stutzte er. »Von ihrem Vater? Dem Physiker?«

»Wir halten es für möglich, Mr. President«, antwortete Beecham.

»Tim, wollen Sie etwa behaupten, ihr Vater hätte ihr davon erzählt? Weil er die Anschläge auch verhindern wollte?«

»Nein. Ihr Vater ist ein treuer Anhänger des Regimes. Vielleicht hat sie zufällig etwas aufgeschnappt oder in seinen Unterlagen gesehen.«

»Das ist alles pure Spekulation. Nicht hilfreich. Wie können wir diese Informationen verifizieren?« Williams lehnte sich näher nach vorn zum Bildschirm, sodass sein Gesicht ganz verzerrt aussah. »Ellen?«

»Seit Beginn meiner Amtszeit versuche ich schon, Beziehungen zum iranischen Außenminister zu knüpfen. Es wurde viel Schaden angerichtet, aber er ist ein gebildeter, kultivierter Mann, der die Vorteile einer Entente zwischen uns durchaus zu sehen scheint.«

»Sie haben unschuldige Menschen getötet«, entgegnete der Präsident. »Das sind nicht die Taten eines kultivierten Mannes, der sich nach Frieden sehnt.«

»Nein«, pflichtete Ellen ihm bei. »Die Sache ist die: Wenn wir herausfinden konnten, woher die Warnung kam, dann wird es vermutlich nicht lange dauern, bis die Iraner es auch wissen. Möglicherweise wird Zaharas Vater sie eine Zeit lang decken – aber vielleicht auch nicht. Und wenn sie verhaftet wird …«

»Mit anderen Worten, wir müssen sie zuerst kriegen«, sagte Williams. »Wie?«

»Wenn meine Mitarbeiterin, ihre Cousine, meinen Leuten vor Ort eine kurze Nachricht zukommen lässt«, sagte Beecham, »können sie sie ihr vielleicht irgendwie überbringen. Ihr sagen, dass wir Bescheid wissen und bereit sind, sie zu beschützen.«

»Aber wie können wir ihr das zusichern?«, wollte Williams wissen. »Wir können sie ja schlecht kidnappen. Oder?« Er machte ein hoffnungsvolles Gesicht.

»Ich habe eine bessere Idee.« Eigentlich hatte Ellen in Gegenwart des Direktors der Nationalen Nachrichtendienste nicht darüber sprechen wollen, doch nun glaubte sie, keine andere Wahl zu haben. Es ging alles zu schnell. »Ich will nach Teheran fliegen.«

Doug Williams öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sagte er: »Wie bitte?«

»Teheran. Die Maschine ist abflugbereit. Ursprünglich war es mein Plan, nach Pakistan zu fliegen, aber wir können die Route ändern, während wir in der Luft sind, und heimlich nach Teheran fliegen.«

»Heimlich? In einer dicken, fetten Regierungsmaschine? Meinen Sie nicht, das könnte jemandem auffallen?«

Beecham schwieg zwar, sah jedoch aus, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen.

»Doch. Aber ehe die Medien Wind davon kriegen, sind wir längst wieder weg. Im Iran herrscht nicht gerade Pressefreiheit. Vielleicht gelingt es mir sogar, Zahara Ahmadi mitzubringen.«

»Wirklich, Karl der Coyote? Das ist Ihr Plan?«, sagte Williams. »Gesetzt den Fall, man lässt Sie nicht abfliegen? Obwohl das immerhin eine Möglichkeit für mich wäre, meine wahnsinnig gewordene Außenministerin loszuwerden.«

»Zu viele Unbekannte«, sagte Beecham. »Vielleicht möchten sie sie gar nicht behalten.«

»Wer würde es ihnen verübeln? Außerdem könnte jemandem hier auffallen, dass sie verschwunden ist. Es würde zwar eine Weile dauern, aber irgendwann …«

»Schon gut«, sagte Ellen. »Ich habe verstanden. Trotzdem denke ich, dass ich mich mit dem iranischen Außenminister treffen sollte, damit wir die Lage von Angesicht zu Angesicht diskutieren können. Das würde eine Annäherung bedeuten, wenn nicht sogar Vertrauen schaffen. Und mit ein bisschen Glück lenkt es sie lange genug ab, dass wir Zahara Ahmadi unsere Nachricht zukommen lassen können. Bislang scheinen sie ja noch nicht zu ahnen, dass jemand versucht hat, die Attentate zu verhindern.«

»Tim?«, fragte der Präsident.

Der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste schüttelte den Kopf. »Wenn die Außenministerin das tut, wissen die Iraner, dass wir wissen, dass sie hinter den Anschlägen stecken. Es ist nie gut, durchblicken zu lassen, wie viele Informationen man hat. Oder eben nicht hat.«

»Wenn der Tod der Nuklearwissenschaftler auf das Konto der Iraner geht, wissen sie doch ohnehin längst, was hier im Gange ist«, hielt Ellen dagegen. »Sie wissen, was Shah geplant hatte – vielleicht sogar, wo er sich aufhält.« Sie suchte Präsident Williams’ Blick. »Wäre es das Risiko nicht wert?«

Er nickte knapp. »Dann tun Sie es. Aber nicht in Teheran. Treffen Sie sich in Oman. Das ist ein neutraler Staat. Ich rufe den Sultan an und gebe Ihnen dann Bescheid, ob er einverstanden ist. Tim, Sie und Ellen erarbeiten gemeinsam einen Plan, wie wir an die Tochter herankommen.«

Beecham wollte Einwände erheben. »Sir, ich denke nicht …«

»Es reicht«, herrschte Williams ihn an. »Mir ist bewusst, dass Sie zwei sich nicht mögen, aber Sie liefern Resultate. So wie Lennon und McCartney. Also raufen Sie sich zusammen. Heute Abend möchte ich ein fertiges Album auf dem Tisch haben. Abbey Road. Viel Glück in Oman, Ellen. Und melden Sie sich, sobald Ihre Leute den Attentäter in Deutschland festgesetzt haben.«

»Wird gemacht, Sir.«

Seine Hälfte des Bildschirms wurde schwarz. Zurück blieben Ellen Adams und Tim Beecham, die einander feindselig anstarrten.

»Ich bin McCartney«, stellte Ellen klar.

»Meinetwegen. Lennon war sowieso der bessere Musiker.«

Ellen wollte widersprechen, doch dann wurde ihr bewusst, dass es weitaus drängendere Probleme gab.

»Tja. Das Motto lautet dann wohl Come together right now«, sagte sie.

Beecham lächelte dünn.

»He just do what he please«, summte sie leise.

Ellen beschloss nach unten in Cargills Abteilung zu gehen, um sich ein Update geben zu lassen. Kaum dort angekommen, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte.

Der Raum, in dem normalerweise geschäftiges Treiben herrschte, war totenstill. Alle saßen starr da und wandten ihr beim Eintreten nur mit erschüttertem Gesichtsausdruck den Kopf zu.

»Was?«, sagte sie. »Was ist passiert?«

Ein älterer Mitarbeiter trat auf sie zu. »Sie sind tot, Madame Secretary.«

Ellen wurde es eiskalt. »Wer?«

Doch sie wusste die Antwort bereits.

Scott Cargill. Seine Stellvertreterin. Und Aram Wani.

Alle drei waren in einer kleinen Seitenstraße in Bad Kötzting erschossen worden.