Die Bar war brechend voll.
Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr, und DC stürzte sich ins Nachtleben.
Betsy sah sich um, während sich ihre Augen langsam an das schummrige Licht gewöhnten. Dann nahm sie Kurs auf die Bar, wo sie Pete Hamilton zuletzt gesehen hatte. Er war nicht mehr da, und sie widerstand dem Drang, unter dem Tresen nach ihm zu suchen, denn diesen Weg schien er am Nachmittag angestrebt zu haben.
»Was kann ich Ihnen bringen?«, fragte der Barkeeper.
Ein Fass Chardonnay, dachte Ellen Adams’ beste Freundin.
»Ein Ginger Ale light, bitte«, sagte die Beraterin der Außenministerin. »Mit einer Maraschinokirsche, wenn’s geht«, fügte Betsy hinzu.
Während sie auf ihren Drink wartete, vibrierte ihr Handy.
»Was machst du? Es muss doch …«, begann sie, ehe sie unterbrochen wurde.
»Kommt ein Simile in eine Bar«, sagte Ellen. Sie klang angespannt.
»Was? Offen gestanden, bin ich auch gerade in eine Bar gekommen.«
»Betsy. Kommt ein Simile in eine Bar!«
Im ersten Moment war Betsys Kopf wie leergefegt. Simile … Simile.
»Und hat einen Brand wie der Dachstuhl. Ellen.« Sie senkte die Stimme. »Was ist los? Wo bist du? Was ist das für ein Geräusch im Hintergrund?«
»Geht es dir gut?«
»Ja. Ich bin im Off the Record. Wusstest du, dass sie schon Untersetzer mit deiner Karikatur drauf haben?«
»Betsy, hör mir zu. Der Brief, den ich dir gegeben habe, bevor du abgereist bist, wo ist der?«
»In meiner Tasche.« Sie schob die Hand hinein. Der Brief war nicht mehr da. »Oh, warte. Jetzt weiß ich es wieder. Ich habe ihn rausgenommen und auf deinen Schreibtisch gelegt, als ich in dein Büro gekommen bin. Ich wollte nicht, dass er verloren geht.« Betsy schwieg. »Wieso?«
»Weil ich eine Kopie davon habe.«
»In Frankfurt? Aber wie …«
»Nein. In der Air Force Three.«
»Scheiße.« Betsys Gedanken überschlugen sich. Sie ließ alles, was sie an diesem Tag getan hatte, Revue passieren. »Ich habe ihn auf deinen Schreibtisch gelegt, als ich in Boyntons Büro gegangen bin, um auf seinem Rechner Nachforschungen über Beecham anzustellen.«
»Ist in der Zeit irgendwer reingekommen?«
»Ja. Barb Stenhauser. Du liebe Zeit, Ellen.«
Grundgütiger, dachte Ellen. Beecham war schon schlimm genug. Aber jetzt auch noch die Stabschefin des Präsidenten?
»Warum sollte sie den Brief nehmen und dir dann eine Kopie davon schicken?«
»Wer auch immer ihn genommen hat, hat ihn an Shah weitergeleitet. Er hat mir einen Strauß Wicken mit der Kopie der Nachricht ins Flugzeug liefern lassen.«
»Die Blumen, die Quinn dir immer geschenkt hat. Als eine Warnung?«
»Eine Provokation. Er will, dass ich weiß, dass er in der Nähe ist. Dass er tun kann, was er will. Dass er überall an mich herankommt.«
»Aber dann müsste es doch jemanden in Frankfurt geben, der Zugang zu deiner Maschine hat. Ellen …«
»Ich weiß.«
Es konnte jeder sein. Ein Mitarbeiter ihres Personenschutzteams. Einer der Flugbegleiter. Sogar der Pilot.
Oder auch – Ellen schaute zur verschlossenen Tür des Büros – ihr eigener Stabschef. Der nahezu unsichtbare Charles Boynton.
»Mein Gott«, stieß Betsy hervor. »Wenn Stenhauser … Heißt das, Williams …«
»Nein«, fiel Ellen ihr ins Wort. »Man mag ihm vieles nachsagen, aber er steckt bestimmt nicht mit Bashir Shah unter einer Decke. Ich weiß nur, dass wir endlich Klarheit schaffen müssen. Im Moment verdächtigen wir jeden. Das muss aufhören.«
»Ganz meine Meinung. Aber was machen wir denn jetzt?«
»Wie gesagt, wir brauchen Fakten. Beweise. Informationen. Bist du sicher, dass niemand sonst ins Büro gekommen ist?«
»Ja, ich bin mir sicher …«
»Was ist?«, fragte Ellen.
»Theoretisch könnte jemand in deinem Büro gewesen sein, während ich mich mit General Whitehead getroffen habe. Das würde ja bedeuten, Shah weiß, dass du Beecham im Verdacht hast.«
»Und dass du Nachforschungen über ihn anstellst.« Ellen Adams schwieg, wurde ganz ruhig. Entgegen aller Vorurteile bekam sie, wie die meisten Frauen, Krisensituationen gut in den Griff. Und dies hier war definitiv eine Krisensituation. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Bestimmt überlegen sie gerade, wie sie das Problem aus der Welt schaffen können. Hast du schon etwas rausgefunden?«
»Nein, noch nichts, deshalb bin ich ja hier.«
»In der Bar?«
»Mit einem Ginger Ale …«
»Und einer Maraschinokirsche?«
»Das ist das Beste daran. Hör zu, Ellen, als ich heute Nachmittag hier war, habe ich Pete Hamilton gesehen.«
»Dunns ehemaligen Pressesprecher?«
»Ja.«
»Jung, idealistisch. Irgendwie liebenswert«, sagte Ellen. »Er hat Dunns Lügen gut verkauft.«
»Er war sehr überzeugend.«
»Wahrscheinlich, weil er sie geglaubt hat. Der Propagandist ist sein eigener bester Kunde.«
Das hatte sie früher immer ihren angehenden Journalisten eingeschärft, zusammen mit dem Rat der buddhistischen Nonne Thubten Chodron: »Glaub nicht alles, was du denkst.«
»Hamilton hat seine Sache gut gemacht«, sagte Ellen, »bis er durch Dunns Sohn ersetzt wurde.«
»Diese Flachzange. Haben wir je erfahren, warum sie sich von Hamilton getrennt haben?«
»Es gab nie eine offizielle Erklärung dazu, aber es ging das Gerücht um, dass er ein Alkoholproblem hat. Dass man ihm deshalb keine Staatsgeheimnisse anvertrauen könnte. Warum willst du dich mit ihm treffen?«
»Weil ich jemanden aus der Dunn-Regierung brauche. Jemanden, der uns dabei helfen kann, an die Informationen ranzukommen, die wir brauchen. Alle anderen haben Angst, den Mund aufzumachen, aber Hamilton redet vielleicht.«
»Schwierig, dem Wort eines verbitterten Alkoholikers zu trauen. Aber vielleicht geht es ihm inzwischen ja besser.«
Betsy erinnerte sich an seine laute, aggressive Stimme. Wie die Gäste der Bar vor ihm zurückgewichen waren.
»Vielleicht«, räumte sie ein. »Ich brauche ja auch nichts Zitierfähiges, einfach nur jemanden, der uns die Beweise liefern kann, die wir suchen. Außerdem bin ich jetzt regelrecht besessen davon, rauszufinden, was das T in Timothy T. Beecham bedeutet.«
»Bitte, komm nicht nur damit zurück.«
Betsy lachte, und Ellen stimmte mit ein. Nach dem Tag, der hinter ihr lag, hätte sie nicht geglaubt, dass sie dazu überhaupt noch fähig wäre. Aber Betsy wusste sie immer aufzuheitern.
»Sei vorsichtig«, sagte Ellen. »Du meintest doch eben, General Whitehead will dir eine Soldatin zur Seite stellen, richtig? Ruf sie an. Wenn Shah meinen Brief an dich gelesen hat, weiß er, dass du Beecham im Visier hast. Wenn du der Wahrheit zu nahe kommst …« Sie hielt inne. Der Gedanke war unerträglich, aber sie musste ihn zulassen. »Ich würde ihm zutrauen, dass er …«
»Mir etwas antut?«
»Ich bitte dich darum. Damit ich mir nicht so viele Sorgen machen muss. Ich habe schon genug.«
»In Ordnung, ich mache es. Aber vorher will ich Pete Hamilton kontaktieren. Und ich möchte nicht, dass eine Soldatin ihn vergrault. Du bist auf dem Weg nach Oman?«
»Ja.«
»Sag Katherine, dass ich sie lieb habe. Ich hoffe, sie hat ihre Lederklamotten zu Hause gelassen.«
Wieder lachte Ellen, dann stutzte sie. Sie hatte gedacht, ihre Tochter hätte nur einen Witz gemacht, aber vielleicht …
»Ach, und Ellen?«
»Ja?«
»Pass auf dich auf.«
Ellen legte auf und betrachtete den Strauß Wicken. Die zarten Blüten, die fröhlichen Farben. Und so ein lieblicher Duft. Sie erinnerten sie jedes Mal aufs Neue an Quinns Güte.
Sie nahm den Strauß und wollte ihn schon in den Papierkorb werfen, als sie innehielt. Dann stellte ihn zurück auf den Schreibtisch.
Shah würde ihr das nicht wegnehmen.
Und lieber Gott, bitte mach, dass er mir auch Betsy nicht wegnimmt.
»Ja, das war er«, sagte der Barkeeper auf Betsys Frage hin. »Pete Hamilton. Kommt so ungefähr alle zwei Wochen her. Nur für den Fall.«
»Welchen Fall?«
»Für den Fall, dass jemand mit ihm reden will. Oder einen Job für ihn hat.«
»Passiert das denn manchmal?«
»Nein, nie.« Der Barkeeper beäugte die fremde Frau, die aussah wie Beavers Mutter.
»Also ist er wieder gegangen?«
»Er wurde gegangen. Als ich kam, war er betrunken oder auf Drogen oder was weiß ich. Fing an, die anderen Gäste zu belästigen, also haben wir ihn rausgeworfen.« Er musterte sie. »Warum suchen Sie nach ihm?«
»Ich bin seine Tante. Nach seinem Weggang aus dem Weißen Haus hat ihn seine Familie aus den Augen verloren. Seine Mutter ist krank, und ich muss dringend mit ihm sprechen. Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Nein, nicht genau. Irgendwo in Deanwood, glaube ich. Da würde ich jetzt aber nicht hinfahren. Nicht nach Einbruch der Dunkelheit.«
Betsy bezahlte ihr Ginger Ale und nahm ihre Sachen. »Leider ist seine Mutter wirklich schwer krank. Ich muss ihn so schnell wie möglich finden.«
An der Tür holte der Barkeeper sie ein. »Hören Sie, in der Gegend sollten Sie sich nicht länger als nötig rumtreiben.« Er hielt ihr eine Visitenkarte hin. »Die hat er vor ein paar Monaten hiergelassen. Falls jemand einen PR-Berater braucht.«
Sie betrachtete das abgegriffene Stück Papier, das so aussah, als wäre es in Eigenarbeit zu Hause ausgedruckt worden.
»Vielen Dank.«
»Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, er soll sich hier nicht mehr blicken lassen. Langsam ist es einfach nur noch peinlich.«
Das Taxi hielt an der Adresse. Deanwood, im Nordosten von DC gelegen, war zwanzig Minuten Fahrt, aber eine ganze Welt vom Hay-Adams entfernt. Und vom Weißen Haus erst recht.
Betsy stand unten vor dem Mietshaus. Es gab keine Klingel, nur ein Loch, wo früher vielleicht mal eine gewesen war.
Sie versuchte ihr Glück mit dem kaputten Türgriff. Die Tür war unverschlossen. Beim Eintreten schlug ihr ein Geruch entgegen, der so penetrant war, dass sie sofort entsprechende Bilder vor Augen hatte.
Urin. Fäkalien. Verdorbene Lebensmittel und irgendetwas – oder irgendjemand, der vor sich hin rottete.
Sie erklomm die knarrenden Stufen bis in die oberste Etage und klopfte an die Tür.