KAPITEL 22

Verpissen Sie sich.«

Betsy hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, um die Gerüche abzuwehren.

»Mr. Hamilton?«

Stille.

»Pete Hamilton? Ich, äh …« Sie warf einen Blick auf die speckige Visitenkarte in ihrer Hand. »Ich brauche einen PR-Experten.«

»Um Mitternacht? Hauen Sie ab.«

»Es handelt sich um einen Notfall.«

Wieder Stille. Dann das Scharren von Stuhlbeinen auf Holz.

»Wie haben Sie mich gefunden?« Die Stimme kam jetzt direkt von der anderen Seite der Tür.

»Der Barkeeper im Off the Record hat mir Ihre Karte gegeben. Ich habe Sie heute dort gesehen.«

»Wer sind Sie?«

Auf der Fahrt hierher hatte Betsy sich bereits überlegt, was sie auf diese Frage antworten wollte.

»Mein Name ist Elizabeth Jameson. Meine Freunde nennen mich Betsy.«

Wenn sie wollte, dass er ehrlich war, musste sie auch ehrlich sein. Es hatte keinen Sinn, mit einer Lüge zu beginnen.

Sie hörte, wie er ein, zwei, drei Schlösser aufsperrte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann ging die Tür auf.

Betsy wappnete sich gegen den Gestank. Sie musste mehrmals einatmen, ehe sie feststellte, dass es in seiner Wohnung nicht schlecht roch. Im Gegenteil, es roch nach Aftershave. Der leichte Duft angenehmer Männlichkeit.

Und nach Selbstgebackenem. Chocolate-Chip-Cookies, wenn sie sich nicht irrte.

Sie hatte mit blutunterlaufenen Augen gerechnet. Mit Erbrochenem auf seinen Kleidern. Damit, dass Hamilton in ausgeleierten, verdreckten Unterhosen an die Tür kam. Auf all das war sie vorbereitet gewesen. Der Großteil ihrer Kindheit hatte sie darauf vorbereitet.

Aber nicht auf das, was sich nun ihren Augen bot.

Der Pete Hamilton, der vor ihr stand, war glatt rasiert, hatte einen wachen, klaren Blick und trug Jogginghosen, die so aussahen, als seien sie gebügelt worden. Seine dunklen Haare waren noch nass von der Dusche.

Er war nur unwesentlich größer als sie und hatte noch eine Schicht Babyspeck am Körper. Er war nicht dick, eher weich. Mit seinem pausbäckigen Gesicht sah er aus wie das Baby auf einer Kekspackung.

»Sie sind die Beraterin der Außenministerin.«

»Ja, die bin ich. Und Sie sind der ehemalige Pressesprecher der Regierung.«

Er trat zur Seite. »Kommen Sie rein.«

Von der Wohnungstür aus gelangte man direkt in ein kleines Wohnzimmer, dessen Wände in einem beruhigenden Blaugrau gestrichen waren. Der Holzfußboden sah so aus, als wäre er sorgsam abgeschliffen und geölt worden.

Es gab ein Schlafsofa und einen gemütlich aussehenden Sessel. Auf einem Tisch am Fenster stand ein aufgeklappter Laptop neben einem Stapel Papieren. Daneben ein Glas Wasser und ein Keks.

In der Ecke befand sich eine Küchenzeile.

Während der wenigen Sekunden, in denen sie sich umsah, hörte sie, wie die Schlösser an der Tür wieder verriegelt wurden.

»Was wollen Sie?«, fragte er. »Keinen PR-Experten, nehme ich mal an.«

»Doch, ich brauche einen PR-Experten. Genauer gesagt, brauche ich Sie.«

Er blickte sie an und lächelte. »Lassen Sie mich raten. Es hat etwas mit den Bombenschlägen auf die Busse zu tun.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Sie haben doch nicht etwa mich im Verdacht, oder?«

Er schenkte ihr dasselbe engelsgleiche Lächeln, das er oft mit großem Erfolg beim Verbreiten von Dunns Lügen auf dem Podium eingesetzt hatte. Es war entwaffnend, und Betsy musste sich bemühen, sich nicht davon einnehmen zu lassen.

In Anbetracht seines Engelsgesichts und des Dufts von Schokoladenkeksen schien dies eine Schlacht, die sie nicht gewinnen konnte. Doch dann dachte sie an die Gesichter der Familien in Frankfurt, und ihr Abwehrmechanismus schaltete sich ein.

»Ich glaube, Sie können mir helfen, Mr. Hamilton.«

»Warum sollte ich das tun?«

Noch einmal schaute sie sich in seiner Wohnung um, dann suchte sie seinen Blick.

»Sie denken, ich finde es schrecklich hier und will unbedingt weg«, sagte er. »Zugegeben, es sieht nicht besonders toll aus, aber es ist mein Zuhause, und es gibt hier eine echte Gemeinschaft mit kaputten, aber anständigen Menschen. Hier passe ich rein wie die Faust aufs Auge.«

»Aber wäre es nicht schön, die Wahl zu haben? Ich glaube ja, dass Sie sich insgeheim danach sehnen. Tun wir das nicht alle? Sie können sich entscheiden, hier zu leben, aber Sie müssen es nicht. Wie gesagt, ich habe Sie heute Nachmittag im Off the Record gesehen. Sie wirkten stockbesoffen. Völlig fertig. Ein Wrack.«

»Sie brauchen wirklich einen PR-Experten«, sagte er, und sie lächelte.

»Warum diese Scharade?« Als er nicht antwortete, ging sie zum Tisch und sah auf die Unterlagen neben seinem Computer. Ihr gelang nur ein kurzer Blick, ehe er die Hand darauf legte.

»Bitte, gehen Sie.«

»Sie schreiben ein Buch. Über Dunn.«

»Nein. Bitte, gehen Sie jetzt. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

Sie blickte in seine dunklen Augen. »Sie passen hier nicht rein.«

Er schnaubte. »Ihr elitären Demokraten seid doch alle gleich. Ihr tut so, als würdet Ihr euch für die Armen und Gebeutelten einsetzen, aber in Wahrheit verachtet ihr sie.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Sie missverstehen mich. Sie sagten, Ihre Nachbarn wären anständige Menschen. Deshalb passen Sie hier nicht rein. Sie sind kein anständiger Mensch. Ich biete Ihnen die Chance, dabei zu helfen, den Drahtzieher der Bombenattentate zu finden. Vielleicht können wir sogar einen weiteren Anschlag verhindern. Und alles, woran Sie denken, ist Ihr Buch. Ihr persönlicher Rachefeldzug.«

»Es geht mir nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Ich schreibe auch kein Buch. Ich versuche, Beweise zu finden.«

»Wofür?«

»Dafür, was sie mir angetan haben. Und wer dahintersteckt.«

»Madame Secretary?« Charles Boynton stand in der Tür zur Kabine. »Unsere Leute in Teheran sind instruiert. Sie brauchen nur noch grünes Licht von Ihnen. Soll ich mich mit Mr. Beecham in Verbindung setzen?«

»Nein, das ist nicht nötig.«

»Aber …«

»Danke, Charles. Würden Sie dann Ms. Dahir und Katherine zu mir schicken?«

Nachdem er gegangen war, griff Ellen zu dem abhörsicheren Telefon.

Die Agentin in Teheran schien überrascht, die Stimme der Außenministerin zu hören.

»Sind Sie so weit?«

»Ja, Madame Secretary. Wir haben das Haus der Ahmadis unter Beobachtung. Sie müsste sich jeden Moment auf den Weg zur Uni machen.«

»Sind Sie ganz sicher, dass die iranischen Sicherheitskräfte keinen Verdacht schöpfen?«

Sie hörte ein leises Lachen von der Frau am anderen Ende. »So sicher, wie man sich bei so etwas eben sein kann. Deshalb sollten wir rasch handeln. Je länger wir warten, desto größer ist die Chance, dass sie Wind von der Sache kriegen.«

Ellen zögerte. Sie dachte an Scott Cargill und seine Kollegin, die erst wenige Stunden zuvor in Bad Kötzting erschossen worden waren.

Wie mutig diese Menschen waren, während sie über allem schwebte, mit heißem Kaffee und Gebäck und dem Duft von Wicken.

»Tun Sie es. Möge Allah Sie segnen.«

»Inschallah.«

»Dürfte ich vielleicht Ihr Bad benutzen?«, fragte Betsy.

Als sie zurückkam, stand Hamilton in der Küchenecke und war dabei, eine Kanne Tee zu kochen. Die Kekse lagen auf einem Teller auf dem Tresen. Er deutete mit einem Kopfnicken darauf.

Sie nahm den Teller und suchte sich einen Keks aus, während sie zum Sessel ging. Das Schlafsofa war in eine Sitzcouch zurückverwandelt worden.

»Darf ich Sie bemuttern?«, fragte er, als er sich zu ihr gesellte, und deutete auf die Teekanne. Nachdem er ihr eine Tasse eingegossen hatte, sagte er: »Haben Sie gefunden, wonach Sie suchen?«

»Ehrlich gesagt …« Sie nahm die Tasse entgegen. »Nein.«

Keine Drogen, lediglich Aspirin. Doch inzwischen überraschte sie das nicht mehr. Dieser Mann war nicht der Alkoholiker, den er der Welt vorspielte.

»Ich brauche einen Insider, Mr. Hamilton. Jemanden, der sich auskennt, der Dinge herausfinden kann. Jemanden, der bereit ist zu reden.«

»Über die Bomben? Darüber weiß ich nichts.«

»Über die schmutzigen kleinen Geheimnisse der Dunn-Regierung.«

Er schwieg.

»Warum sollte ich das tun?«, fragte er nach einer Weile.

»Weil Sie selbst versuchen, sie aufzudecken.«

»Nein. Ich will nur meine eigenen Beweise finden.«

»Darf ich? Die sind köstlich.« Sie zeigte auf den Keksteller.

»Möchten Sie vielleicht ein Sandwich? Haben Sie Hunger?«

Sie lächelte. »Nein, machen Sie sich keine Umstände. Aber danke.« Sie lehnte sich zu ihm vor. »Was haben die Ihnen angetan?«

Als er nicht antwortete, beschloss sie ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

»Sie haben Sie gefeuert, und weil sie keinen Grund hatten, mussten sie einen erfinden. Sie haben E-Mails, Nachrichten oder Ähnliches gefälscht, um zu beweisen, dass Sie alkoholabhängig sind.«

Sie beobachtete ihn genau, während sie sprach. Er hatte die Lider gesenkt.

Nein, dachte sie. Da war noch mehr. Denn ich hab mehr.

Er hob den Blick und atmete tief ein. »Das war ich aber nicht.«

»Aber Sie haben Drogen genommen.«

»Wer hat das nicht? Ich war jung, Drogen waren für uns wie Martinis. Aber ich habe nicht …«

»Inhaliert?«

Er schmunzelte. »Ich habe nicht gedealt. So was würde ich niemals tun. Und ich habe auch nie was Stärkeres genommen als Gras. Aber sie haben es so dargestellt, als wäre ich ein Junkie. Brandgefährlich für die Regierung. Weil ich möglicherweise Staatsgeheimnisse verkaufen würde, um meine Sucht zu finanzieren.«

Sein Blick war jetzt regelrecht flehentlich. Aber das galt nicht ihr, wurde Betsy klar. Er schaute sie zwar an, sah jedoch seine Ankläger vor sich. Während des Meetings hinter verschlossenen Türen, als sie ihm die »Beweise« vorgelegt hatten.

Sein anfänglicher Schock. Seine Beteuerungen. Seine Appelle. Sein Bitten. Sie mussten ihm doch glauben.

Und sie hatten ihm geglaubt. Das war ja das Tragische daran.

»Warum hat man Ihnen das angetan?«, fragte sie.

Er holte seinen Laptop und betätigte einige Tasten, um ein Dokument mit einem Foto zu öffnen.

»Das ist der einzige Grund, der mir bisher eingefallen ist. Drei Tage bevor ich gefeuert wurde, kam dieser Artikel raus.«

Es war ein Zeitungsbericht. Nein, kein Bericht, sondern eine politische Kolumne. Das dazugehörige Foto zeigte einen Pete Hamilton, der viel jünger aussah als der Mann, der jetzt neben ihr saß. Er stand zusammen mit einigen Korrespondenten aus dem Weißen Haus im Off the Record und lachte.

Die Bildunterschrift lautete: Pete Hamilton, Pressesprecher des Weißen Hauses, amüsiert sich königlich.

Betsy schaute auf. »Das ist alles? Man hat Sie gefeuert, weil Sie sich mit Reportern getroffen haben? War das nicht Ihre Aufgabe?«

»In der Regierung war Loyalität das Allerwichtigste. Jeder, der auch nur den Anschein erweckte, er könnte etwas Kritisches äußern, wurde sofort beseitigt.«

»Aber Sie lachen doch bloß. Das hätte alle möglichen Gründe haben können.«

»Spielte keine Rolle. Das da sind Journalisten von CNN. Der Präsident dachte, wir würden über ihn lachen. Der Zweifel war gesät. Unkraut wuchert schnell. Also musste ich gehen.«

»Gehen vielleicht, wenn es hochkommt. Aber man hat Sie als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit gebrandmarkt. Als Verräter. Man hat Sie beruflich ruiniert.«

»Sie wollten ein Exempel statuieren. Das war noch zu Beginn der Legislaturperiode. Sie mussten allen zeigen, was mit denen passiert, die auch nur den Verdacht erregen, der Regierung nicht treu ergeben zu sein. Ich kann von Glück sagen, dass sie meinen Kopf nicht auf einen Spieß gesteckt haben.«

»Das hätte auch keinen Unterschied mehr gemacht. Sie werden nie wieder eine Anstellung finden.«

»Ja. Sie haben nie eine Stellungnahme abgegeben oder mich öffentlich bezichtigt, sodass ich keine Möglichkeit hatte, gegen die Anschuldigungen Stellung zu beziehen oder vor Gericht zu gehen.«

»Sie? Meinen Sie Eric Dunn?«

Er zögerte. »Ich hoffe nicht, aber ich weiß es nicht genau. In der Regierung ist nur wenig passiert, worüber er nicht Bescheid wusste.«

»Und jetzt?« Sie schaute zum Tisch und den Unterlagen. »Jetzt versuchen Sie, Ihren Namen reinzuwaschen. Beweise dafür zu finden, dass die Sache fingiert war.«

»Es hat eine Weile gedauert, um so wütend zu werden. Anfangs war ich entsetzt. Dann dachte ich sogar, ich hätte es nicht anders verdient. Ich habe an Eric Dunn geglaubt. An die Ziele der Regierung. Doch im Laufe der Monate und Jahre ist mir bewusst geworden, welchen Schaden sie in meinem Leben angerichtet haben, und das hat mich zornig gemacht.«

»Sie haben eine lange Zündschnur.«

»Die zu einem großen Pulverfass führt.«

»Aber was sollte dieses Theater heute im Off the Record? Sie haben nur so getan, als wären Sie betrunken oder high. Warum?«

»Sie müssen mir verraten, weshalb Sie hier sind, Mrs. Jameson. Und Sie müssen wissen, dass ich trotz allem mit Leib und Seele ein Konservativer bin. Vielleicht bin ich kein großer Dunn-Fan mehr, aber Ihren Präsidenten halte ich für einen Schwachkopf.«

Betsy überraschte ihn, indem sie lachte. »Wenn Sie das politische Geschehen verfolgen, wissen Sie vielleicht, dass ich Ihnen da nicht widersprechen würde. Außenministerin Adams übrigens auch nicht.« Gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Unser Mann ist vielleicht ein Schwachkopf, aber wenigstens nicht gemeingefährlich.«

»Ein schwachköpfiger Präsident ist per definitionem gefährlich.«

»Was ich meinte, ist, dass er keine Pläne schmiedet, die Regierung zu stürzen, indem er Terroristen unterstützt und vielleicht sogar bewaffnet. Sie wollen wissen, was ich hier mache? Wir glauben, dass Eric Dunn beziehungsweise Leute, die ihm treu ergeben sind, mit den Bombenanschlägen zu tun haben – und mit dem, was danach kommen soll.«

Pete Hamilton sah sie an. Er war, wie Betsy feststellte, zwar überrascht, jedoch keineswegs schockiert.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat der Freilassung von Bashir Shah zugestimmt, dem pakistanischen …«

»Ich weiß, wer Shah ist. Er befindet sich nicht länger im Hausarrest?«

»Er ist untergetaucht.«

»Sie glauben, Shah steckt hinter den Anschlägen?«

»Nein. Es ist noch nicht offiziell, aber in jedem dieser Busse saß ein pakistanischer Nuklearwissenschaftler, den Shah rekrutiert hatte.«

Es war unheimlich, Hamiltons Gesicht zu beobachten. Er sah immer noch aus wie ein kleiner Engel, aber jetzt wie ein Engel, der ein Monster verschluckt hatte.

»Was wissen Sie?«, fragte sie. »Sie wissen doch etwas. Sie müssen etwas gehört haben.«

»Sie wollten wissen, weshalb ich ins Off the Record gehe und den Alkoholiker spiele? Das mache ich, um zu zeigen, dass ich keine Bedrohung darstelle. Dass ich so kaputt bin, dass man sich keine Sorgen um mich zu machen braucht. Und das tun sie auch nicht. Also sitze ich da, stiere vor mich hin und murmle unzusammenhängendes Zeug, während sie sich unterhalten. So schnappe ich Dinge auf. Wenn man mich schon zu einem Säufer gemacht hat, kann ich wenigstens meinen Vorteil daraus ziehen.«

Betsy betrachtete dieses Riesenbaby und erkannte, dass sie sich womöglich in Gegenwart eines modernen Mozart befand. Vielleicht war er ein Wunderkind.

»Und was haben Sie aufgeschnappt?«

»Gerüchte. Die Leute schmieden ständig irgendwelche Pläne, und in DC wird immer alles maßlos aufgebauscht. Die tollsten Versprechungen werden gemacht. Aber diesmal ist es anders. Diesmal hört man nichts. Nichts von dem normalen politischen Theater. Ich habe versucht, etwas rauszufinden, aber dabei gibt es ein Problem. Ich weiß, wo und wie ich suchen muss. Ich habe Jahre damit verbracht, zuzuhören. Ich weiß, wo diese Leute ihre vertraulichen Unterlagen aufbewahren. Was mir fehlt, ist ein Zugang. Ich komme nicht am Computersicherheitssystem des Weißen Hauses vorbei.«

Betsy lächelte.

Um kurz nach sieben Uhr morgens verließ Zahara Ahmadi ihr Elternhaus und machte sich auf den kurzen Fußweg zur Universität von Teheran.

Ein rosafarbenes Kopftuch umrahmte ihr Gesicht, der Mantel im selben Farbton reichte ihr bis über die Knöchel.

Ihre Mutter trug immer Schwarz, und ihr Vater hatte darauf bestanden, dass seine Töchter sich aus Respekt ebenfalls in gedeckten Farben kleideten. Doch sobald sie mit Anfang zwanzig zur Uni gekommen war, hatte sich Zahara, die ihren Vater liebte und bewunderte, diesen einen kleinen Akt der Rebellion erlaubt.

Ihre Kleidung war immer hell und farbenfroh. Weil der Islam sie froh mache, hatte sie ihrem Vater erklärt. Weil Allah Freude und Frieden in ihr Leben brachte.

Ihr Vater sah zwar, dass dies stimmte, doch das bedeutete nicht, dass er mit ihrer Kleiderwahl einverstanden war. Dr. Ahmadi machte sich Sorgen, dass seine älteste Tochter, die er von Herzen liebte, nicht den gebotenen Respekt, die nötige Ehrfurcht oder gar Furcht vor ihrem Gott, geschweige denn vor der Regierung hatte.

Und er wusste, wozu beide imstande waren, wenn man sie erzürnte.

Während Zahara Ahmadi die vertrauten Straßen entlangging, bemerkte sie, dass ihr jemand folgte. In einem Schaufenster sah sie, dass es sich um zwei Personen handelte, einen Mann und eine Frau. Beide waren in Tiefschwarz gekleidet, die Frau trug sogar einen Tschador.

Zahara erkannte die Mitarbeiter des Geheimdienstes VAJA auf den ersten Blick. Sie kamen schon ihr ganzes Leben zu ihnen nach Hause, um ihren Vater zu besuchen. Sie saßen in seinem unaufgeräumten Schlafzimmer und stellten ihm Fragen. Gaben ihm Anweisungen. Er hörte sich alles an, und am Ende tat er, was sie sagten.

Nicht weil er dazu gezwungen wurde, sondern weil er es wollte.

Sie hatte sich nie vor diesen Leuten gefürchtet. Zahara sah sie so, wie ihr Vater sie sah, als Vertreter einer Regierung, die ihre Bürger gegen eine feindlich gesinnte Welt beschützen wollte. Doch inzwischen wusste sie es besser. Seit dem letzten Besuch. Seit dem letzten Gespräch, das durch die Lüftung nach oben in ihr Zimmer gedrungen war.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

Auf den Straßen waren kaum Leute, bis auf einige Ladenbesitzer, die ihre Außenstände aufbauten.

Der Mann und die Frau liefen ebenfalls schneller. Sie kamen immer näher.

Noch einmal zog Zahara das Tempo an.

Ihre Verfolger ebenfalls.

Sie begann zu rennen.

Doch die Verfolger holten weiter auf. Je schneller Zahara lief, desto größer wurde ihre Panik.

Sie hatte sich immer für mutig gehalten. Nun wurde ihr bewusst, wie naiv sie gewesen war.

Zahara rannte durch eine Gasse und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Ihre rosafarbenen Kleider flatterten im Wind. Sie fiel auf wie ein bunter Hund. Man konnte sie unmöglich übersehen.

»Bleib stehen!«, rief die Frau. »Wir wollen dir nichts tun!«

Was hätten sie auch sonst sagen sollen? Bleib stehen, wir wollen dich töten? Dich foltern? Dich verschwinden lassen?

Zahara blieb nicht stehen. Doch als sie um die nächste Ecke bog, rannte sie direkt in den Mann hinein. Der Zusammenprall war so heftig, dass sie rückwärts taumelte und gestürzt wäre, hätte die Frau sie nicht von hinten gepackt.

Zahara wehrte sich, doch der Mann hielt sie fest und presste eine Hand auf ihren Mund, während die Frau etwas unter ihrem Tschador hervorzog.

»Nein«, flehte Zahara, die Stimme gedämpft von der Hand des Mannes. »Nein, nicht!«

Ihr wurde etwas vors Gesicht gehalten.

»Zahara?«, hörte sie eine Stimme.

Allmählich hörte sie auf zu zappeln, und ihr Blick fiel auf ein Handy, aus dem jemand mit starkem Akzent in Farsi zu ihr sprach. Es war die Stimme einer jungen Frau. Einer Amerikanerin.

»Ich bin deine Cousine Anahita. Diese Leute wollen dir helfen.«

Während die Air Force Three Kurs auf Oman nahm, standen Ellen Adams, eine Dolmetscherin, Katherine und Anahita im Büro und blickten angestrengt auf das Telefon.

Sie warteten auf eine Reaktion. Die Sekunden verstrichen.

»Anahita?«, kam eine blecherne Stimme aus der Leitung.

Sie sahen einander an und lächelten.

»Woher weiß ich, dass du es wirklich bist?«

Auf diese Frage waren sie vorbereitet. Sie hatten Irfan Dahir gebeten, seiner Tochter etwas zu erzählen, was nur er und sein jüngerer Bruder wissen konnten.

Ellen nickte Anahita auffordernd zu.

»Mein Vater hat deinen Vater früher immer ›kleiner Scheißer‹ genannt, und dein Vater hat meinen Vater ›Dumpfbacke‹ genannt, weil er nicht Physik, sondern Wirtschaftswissenschaften studiert hat.«

Am anderen Ende war ein erleichterter, sogar belustigter Seufzer zu hören.

»Das stimmt. Inzwischen nenne ich meine kleine Schwester auch so. Sie studiert Theaterwissenschaften.«

»Ich habe noch eine zweite Cousine?«, fragte Anahita und starrte das kleine Gerät auf dem Schreibtisch an, als enthielte es die Familie, nach der sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte.

»Ich habe auch noch einen Bruder. Der ist wirklich ein kleiner Scheißer.«

Anahita lachte.

Ellen machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger.

Anahita nickte. »Ich habe deine Mail bekommen, konnte die Anschläge aber nicht mehr verhindern. Hör zu, diese Leute können dir helfen, falls du Ärger kriegst. Sie können dich außer Landes bringen.«

»Aber ich will nicht weg von hier. Iran ist meine Heimat. Ich habe es getan, weil ich helfen wollte, nicht, um dem Iran zu schaden. Unschuldige zu töten ist nicht der richtige Weg.«

»Ja, okay, aber du willst doch bestimmt nicht der Geheimpolizei in die Hände fallen. Hör zu, wir müssen wissen, wie dein Vater von den Physikern erfahren hat. Weißt du etwas über Bashir Shah? Was hat er geplant? Wenn …«

Plötzlich ertönte ein Schrei, dann die Geräusche eines Handgemenges.

Gleich darauf war die Leitung tot.