Okay, ich bin drin«, sagte Pete Hamilton. »Wonach soll ich suchen?«
Betsy hatte ihm einen Arbeitsplatz in Boyntons Büro eingerichtet und ihm den Login-Namen sowie das Passwort gegeben, damit er auf vertrauliche Informationen zugreifen konnte. Zuvor jedoch hatte sie den Zugang zu den Räumlichkeiten der Außenministerin, ihr privates Büro und das Büro des Stabschefs abgeschlossen.
Fehlte nur noch, dass sie die Tür von innen mit dem Sofa verbarrikadierte. Und auch darüber hatte sie nachgedacht.
»Nach allem, was Sie über Tim Beecham finden können.«
Hamiltons Finger schwebten über der Tastatur, während er sie entgeistert anstarrte. »Oh mein Gott. Es geht um den Direktor der Nationalen Nachrichtendienste?«
»Genau. Timothy T. Beecham. Und wenn Sie schon mal dabei sind, finden Sie auch gleich raus, wofür das T in seinem Namen steht.«
Zwei Stunden später ging gerade die Sonne auf, als Hamilton seinen Stuhl vom Schreibtisch zurückschob.
»Haben Sie etwas?« Betsy durchquerte den Raum und spähte ihm von hinten über die Schulter. »Was ist das?«
Hamilton rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Seine Augen waren gerötet, seine Züge angespannt.
»Das ist alles, was ich über Beecham ausgraben konnte.«
»In zwei Stunden?«
»Ja. Irgendjemand will nicht, dass wir mehr finden. Es gibt keine von ihm verfassten Berichte, keine E-Mails, Aufzeichnungen aus irgendwelchen Meetings oder Terminpläne. Die ganzen Unterlagen aus vier Jahren sind einfach verschwunden. Unauffindbar. Ich finde kein einziges von den Dokumenten, die dem Gesetz nach aufbewahrt werden müssen. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.«
»Aber was ist mit ihnen passiert? Wurden sie gelöscht?«
»Oder woanders abgelegt. Im Verzeichnis eines anderen Ministeriums, wo niemand danach suchen würde. Sie könnten praktisch überall sein. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.«
»Aber warum?«
»Ist das nicht offensichtlich? Weil sie etwas zu verbergen haben.«
Betsy dachte nach. »In Ordnung. Bisher haben wir direkt nach Beecham gesucht. Vielleicht müssen wir woanders ansetzen. Einen Umweg durch die Hintertür nehmen.«
»Shah? Taliban?«
»Fliegen.«
»Wie bitte?«
»Tim Beecham trägt Fliegen. Ich weiß noch, dass ich im Modeteil von Ellens Washingtoner Tageszeitung mal ein Feature über ihn gelesen habe.«
»Und?«
»Der Artikel müsste doch irgendwo archiviert sein. Wir haben Leute, die einen Pressespiegel anfertigen, richtig? In der Dunn-Regierung war Beecham noch nicht Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, sondern ein hochrangiger Sicherheitsberater. Viele Artikel über ihn wird es nicht gegeben haben, dafür hat er sicher gesorgt. Aber ein Feature über Mode? Ein launiges Interview in einer Zeitung, die sonst dafür bekannt war, alles zu kritisieren, was Dunns Leute tun? So etwas haben sie doch garantiert aufgehoben.«
»Fliegen?«
»Al Capone hat man wegen Steuerhinterziehung drangekriegt«, sagte Betsy und beugte sich weiter zum Monitor vor. »Warum kriegen wir Beecham nicht wegen seiner Fliegen dran? Sie könnten die Schlinge sein, die sich um seinen Hals legt. Aus einem Artikel über ein so harmloses Thema würde man doch kein Geheimnis machen. Wenn wir den finden, finden wir auch den Rest.«
Pete Hamilton hatte begriffen. Fliegen konnten die Brücke sein, die niemand abgebrannt hatte. Die Brücke zu einer Vielzahl belastender Informationen.
»Ich gehe Kaffee holen«, verkündete Betsy.
»Und was Süßes«, rief Pete ihr nach. »Zimtschnecken.«
Als sie, gefolgt vom Klackern der Tastatur, Boyntons Büro verließ, erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie Ellen gegeben hatte: Sie sollte Captain Phelan anrufen und sie um Schutz bitten.
Inzwischen kam ihr das albern vor. Hier, im vertrauten, gediegenen Umfeld des Ministeriums, erschien es absolut unvorstellbar, dass ihr Leben in Gefahr sein könnte.
Wahrscheinlich hatten die Passagiere in den Bussen genau dasselbe gedacht.
Egal. Zuerst Kaffee und Zimtschnecken.
Sie fuhr nach unten in die Cafeteria und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie immerhin in Erfahrung gebracht hatten, was das T in Timothy T. Beecham bedeutete. Obwohl auch das irgendwie merkwürdig war.
Die ältere Frau, eine Mitarbeiterin der iranischen Regierung, trat einen Schritt zurück und betrachtete Ellen.
»So müsste es gehen«, sagte sie auf Englisch.
Der Privatjet des Sultans von Oman war auf dem internationalen Flughafen Imam Khomeini in Teheran gelandet, und nun standen sie in der geräumigen Schlafkabine und trafen letzte Vorbereitungen.
Als Nächstes wandte sich die Frau Katherine und Anahita zu, die ähnlich gekleidet waren wie die Außenministerin. Durch ihre Burkas von Kopf bis Fuß verhüllt, waren die drei nicht wiederzuerkennen.
Vor dem Abflug aus Oman hatte Ellen Minister Aziz angerufen und ihn gebeten, ihnen bei Ankunft mehrere Burkas zur Verfügung zu stellen. Er hatte den Grund dieser Bitte sofort verstanden.
Dann, noch im Terminal in Maskat, hatte Ellen Anahita beiseite genommen.
»Ich finde, Sie sollten hierbleiben. Wenn die Iraner herausfinden, wer Sie sind, und das werden sie höchstwahrscheinlich, könnten Sie in Schwierigkeiten kommen. Unter Umständen wird man Sie sogar als feindliche Spionin verhaften.«
»Ich weiß, Madame Secretary.«
»Sie wissen das?«
Anahita lächelte. »Ich habe mich mein ganzes Leben lang davor gefürchtet, was passieren würde, wenn die Iraner meine Familie finden, deswegen scheint es absurd, jetzt einfach so in die Höhle der Löwen zu spazieren. Aber gestern habe ich gesehen, was die Heimlichtuerei und die ständige Angst aus meinen Eltern gemacht haben. Das ist doch kein Leben. Ich bin es leid, Angst zu haben. Ich bin es leid, mich kleinzumachen, damit man mich ja nicht bemerkt. Es reicht. Was immer geschieht, kann sowieso nicht schlimmer sein als das, was ich mir im Kopf vorgestellt habe.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das zutrifft«, sagte Ellen.
»Sie kennen meine Vorstellungen ja nicht. Ich bin mit Geschichten von Dämonen aufgewachsen, die nachts kommen, um einen zu holen. Khrafstra. Die, vor denen ich am meisten Angst hatte, waren die Al. Die sind unsichtbar. Man merkt nur, dass sie da sind, weil dann schreckliche Dinge passieren.«
Es waren einige schreckliche Dinge passiert, das ließ sich nicht leugnen.
Ellen erinnerte sich an Anahitas Miene, als diese erfahren hatte, dass Bashir Shah hinter den Bombenanschlägen steckte.
»Ist Shah auch ein Al?«
»Schön wär’s. Er ist der Azhi Dahaka, der mächtigste aller Dämonen. Er befehligt eine Armee von Als und bringt Chaos, Verderben und Tod. Azhi Dahaka ernährt sich von Lügen, Madame Secretary.«
Die zwei Frauen sahen einander an.
»Ich verstehe«, sagte Ellen.
Sie trat beiseite und sah zu, wie Anahita die Maschine nach Teheran bestieg.
Kurz vor der Landung hatte Ellen im Krankenhaus in Frankfurt angerufen, um noch einmal mit Gil zu sprechen.
»Was soll das heißen, er ist gegangen?«, fragte sie.
»Tut mir leid, Madame Secretary. Er sagte, Sie wüssten Bescheid.«
Mehr Lügen, dachte Ellen und blickte aus dem Fenster auf den Iran weit unter ihnen. Persien. Wenn sie genau hinschaute, würde sie dann den Azhi Dahaka sehen können, der eben jetzt auf dem Weg nach Teheran war, um sie zu erwarten? Oder war er irgendwo anders beschäftigt? Kroch er in Richtung der Küste der Vereinigten Staaten, während er durch all die Lügen immer mächtiger wurde?
»Aber seine Verletzungen?«
»Sind nicht lebensgefährlich«, sagte die Oberärztin. »Und er ist volljährig, er kann selbst entscheiden, ob er das Krankenhaus verlassen will.«
»Wissen Sie, wohin er wollte?«
»Leider nicht, Madame Secretary.«
Als Nächstes versuchte sie es auf seinem Handy, doch es nahm jemand anders ab. Eine Krankenschwester. Gil habe ihr sein Telefon gegeben und sie darum gebeten, es für ihn aufzubewahren, teilte sie Ellen mit.
Damit man ihn nicht orten konnte.
»Hat er Ihnen sonst noch etwas gesagt?«, fragte sie.
»Nein.«
»Was ist los? Da ist doch noch mehr, oder?« Sie hörte es am Tonfall der Schwester.
»Er hat mich gefragt, ob ich ihm zweitausend Euro leihen kann.«
»Und haben Sie ihm das Geld gegeben?«
»Ja. Ich habe es gestern abgehoben.«
Das bedeutete, dass er seitdem über Flucht nachgedacht und ihr nichts davon gesagt hatte.
»Warum haben Sie ihm das Geld gegeben?«
»Weil er verzweifelt war«, sagte die Schwester. »Außerdem ist er Ihr Sohn, und ich wollte ihm helfen. Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich sorge dafür, dass Sie Ihr Geld zurückbekommen. Wenn Sie von ihm hören, sagen Sie mir bitte Bescheid. Danke.«
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte ihr Telefon.
»Kommt ein falsch gesetztes Attribut in eine Bar …«
Betsy! Ellen freute sich immer, die Stimme ihrer Freundin zu hören.
»… die einem Mann mit einem Glasauge namens Ralph gehört. Was gibt’s? Hast du etwas für mich?«
»Über Tim Beecham haben wir nichts gefunden. Rein gar nichts. Es ist alles zu gut versteckt – was an sich schon bezeichnend ist, findest du nicht?«
»Betsy, wir müssen etwas finden. Wir müssen Beweise finden, dass er hinter alldem steckt, sonst wird er einfach behaupten, dass jemand versucht, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich muss den Präsidenten warnen, aber das geht nicht ohne Beweise.«
»Ich weiß. Ich weiß. Wir tun ja, was wir können. Kann sein, dass wir einen Weg gefunden haben. Gewissermaßen eine Hintertür. Das haben wir übrigens dir zu verdanken.«
»Mir?«
»Na ja, nicht dir persönlich, sondern deiner Zeitung in DC. Ihr habt mal ein Modefeature gedruckt über mächtige Männer, die Fliegen tragen.«
»Haben wir das? Muss Saure-Gurken-Zeit gewesen sein.«
»Wie sich herausstellt, war das vielleicht die wichtigste Story, die ihr je veröffentlicht habt. Alle Dokumente im Zusammenhang mit Beecham sind in anderen Verzeichnissen versteckt, wo wir sie niemals gefunden hätten. Wir hätten nicht einmal gewusst, wo wir suchen sollten. Allerdings wurde auch das Fliegenfeature archiviert – das einzige Interview, das er während Dunns Amtszeit gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es als geheim eingestuft haben. Pete Hamilton sucht gerade danach.«
»Und sobald ihr es findet, habt ihr auch den Rest.«
»Ich hoffe es wenigstens.«
Betsy hörte Ellen tief seufzen. »Gibst du mir Bescheid, wenn ihr weitergekommen seid?«
»Du bist die Erste, die es erfährt. Ach, aber eine Sache haben wir immerhin doch über Beecham rausgefunden. Wir wissen jetzt, wofür das T steht. Du wirst es nicht glauben.«
»Sag.«
»Sein vollständiger Name lautet Timothy Trouble Beecham.«
»Sein zweiter Vorname ist Trouble?«, fragte Ellen, die sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. »Wer nennt sein Kind denn so?«
»Entweder es ist ein alter Familienname, oder seine Eltern hatten da so eine Vorahnung …«
Dass sie einem Al das Leben geschenkt hatten, fügte Ellen in Gedanken hinzu.
»Oh, und ich habe Captain Phelan angerufen«, sagte Betsy. »Sie ist auf dem Weg.«
»Danke dir.«
»Wo bist du gerade?«
»Wir landen gleich in Teheran.«
»Sag mir Bescheid, wenn …«
»Mache ich. Du auch.«
Die Maschine flog eine Schleife über dem Flughafen Imam Khomeini. Ellens Atem ließ die Scheibe beschlagen, als sie unbewusst eine halb vergessene Melodie summte.
Erst nach einer Weile merkte die US-amerikanische Außenministerin, um welchen Song es sich handelte. Er war von den Horslips.
»Trouble, trouble«, murmelte sie leise. »Trouble with a capital T.«
Nachdem der Jet zum Stehen gekommen war, hatte ihnen die Iranerin die von der Außenministerin gewünschten Burkas gebracht.
Wenig später verließen sie das Flugzeug. Gefolgt von Charles Boynton, stiegen die Frauen die Stufen hinunter. Sie hatten ein wenig Mühe, nicht über die langen Gewänder zu stolpern, die sie von Kopf bis Fuß verhüllten und lediglich vor den Augen ein kleines Sichtfenster aus Netzstoff hatten.
Frauen im Iran trugen normalerweise keine Burka, das war eher in Afghanistan üblich, aber immerhin konnte sie so niemand erkennen. Ein zufälliger Beobachter, ein Flughafenmitarbeiter oder ein Taxifahrer, würde so niemals vermuten, dass die amerikanische Außenministerin soeben in Teheran gelandet war.
Ellen Adams hatte die letzte Stufe erreicht und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Sie war die erste ranghohe US-Politikerin seit Präsident Carter im Jahr 1979, die iranischen Boden betrat.
»Heilige Scheiße!«, rief Pete Hamilton und schaute Betsy über den Computermonitor hinweg an. »Ich hab’s.«
»Was haben Sie?«, fragte Denise Phelan und ließ ihre Zimtschnecke sinken.
Betsy grinste von einem Ohr zum anderen. »Lassen Sie mich zuerst Ihrem Chef davon berichten.«
Sie wählte General Whiteheads Nummer und teilte ihm die Neuigkeit mit.
»Fliegen«, sagte der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs lachend. »Sie sind eine Frau, mit der man rechnen muss. Ich bin gleich bei Ihnen.«
»Dr. Shah, die Maschine der Außenministerin ist nicht wie geplant in Islamabad gelandet«, sagte der Assistent.
»Wo ist sie dann?«
»Wir glauben, in Teheran.«
»Das kann unmöglich stimmen. So leichtsinnig wäre sie niemals. Finden Sie Genaueres heraus.«
»Jawohl, Sir.«
Bashir Shah nippte an seiner Limonade und blickte ins Leere. Im Laufe der Jahre hatte er Ellen Adams beinahe liebgewonnen. Er hatte sie sehr gut kennengelernt, und daraus war eine seltsam innige Bindung zwischen ihnen entstanden.
»Was hast du vor?«, sagte er leise.
Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich jeden ihrer Schritte genau überlegte. Vielleicht hatte er sie auch so verunsichert, dass sie sich zu diesem Fehler hatte hinreißen lassen.
Aber vielleicht war es auch kein Fehler.
Vielleicht war er derjenige, der gerade einen Fehler beging. Dieser Gedanke war ihm vollkommen fremd, und er musste sich erstaunt eingestehen, dass er mindestens so verunsichert war wie sie. Dieses leichte Nagen eines Zweifels – kaum spürbar, aber es war da.
Nach wenigen Minuten kehrte der Assistent zurück. Er traf Dr. Shah auf der Terrasse an, wo dieser das Besteck auf dem Tisch, der bereits für seine Lunchgäste gedeckt war, zurechtschob.
»Sie ist wirklich in Teheran, Sir.«
Bashir Shah verarbeitete diese Information, während er auf den Ozean blickte. Es war ganz anders hier als all die Jahre des Hausarrests in Islamabad, wo seine Welt nicht größer gewesen war als sein üppiger Garten.
»Und der Sohn?«
»Er scheint genau auf dem Weg dorthin zu sein, wo Sie ihn vermutet haben.«
»Das war keine Vermutung. Es hatte nichts mit Raten zu tun. Oder mit freiem Willen. Er hat gar keine andere Wahl.«
Wenigstens auf ein Mitglied dieser verfluchten Familie war Verlass.
»Machen Sie mein Flugzeug startklar.«
»Aber Sir, Ihre Gäste werden bald …« Ein Blick von Shah ließ den Assistenten verstummen, und er eilte davon, um den notwendigen Anruf zu tätigen.
»Er kann doch nicht einfach absagen«, tobte die Frau am anderen Ende. »Für wen hält er sich? Es ist eine Ehre, mit dem ehemaligen Prä…«
»Dr. Shah lässt Ihnen seine aufrichtige Entschuldigung ausrichten. Es handelt sich um einen Notfall.«
Bashir Shah bestieg die gepanzerte Limousine und kehrte dem Atlantik den Rücken. Er hatte für den Rest seines Lebens genug Wasser gesehen. Er sehnte sich nach einem Garten.