Gil Bahar hielt den Türgriff umklammert und stützte sich mit der anderen Hand am Dach des alten Taxis ab, um nicht allzu heftig durchgerüttelt zu werden, während sie über Pisten holperten, die man nicht länger als Straßen bezeichnen konnte.
Nach mehr als einer Stunde Fahrt hielt Akbar an.
»Den Rest der Strecke müssen wir zu Fuß laufen. Schaffst du das?«
Er sah seinem Freund an, dass er Schmerzen hatte.
»Lass mich nur kurz ausruhen.«
Akbar reichte Gil eine Flasche Wasser und ein Stück Brot, was dieser dankbar annahm. Gil inspizierte seinen Vorrat an Schmerztabletten. Zwei waren noch übrig.
Er warf einen Blick auf das unwegsame Terrain, das vor ihnen lag. Er kannte ihr Ziel und wusste, dass der steile Anstieg und die zerklüfteten Felsen sein geringstes Problem wären.
Er schluckte noch eine Tablette, ehe er sich die Hose auszog, um den inzwischen blutdurchtränkten Verband an seiner Beinwunde zu wechseln.
»Warte«, sagte Akbar. »Lass mich.«
Er nahm Gil die Verbandsrolle aus den zitternden Fingern, säuberte vorsichtig und geschickt die Wunde und gab antiseptisches Puder darauf, ehe er ihm einen frischen Verband anlegte.
»Sieht übel aus.«
»Ich hatte noch Glück«, sagte Gil, der seine starken Schmerzen nicht verbergen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Außerdem hatten er und Akbar zu viel gemeinsam erlebt, um dem anderen etwas vorzumachen.
Innerhalb weniger Minuten begann das Schmerzmittel zu wirken, und Gil stand auf. Er war blass, hatte jedoch wieder etwas Kraft gesammelt.
Den Blick nach vorn gerichtet, sagte er zu Akbar: »Du kannst hier warten, wenn du willst.«
»Nein, ich komme mit. Wie soll ich sonst wissen, ob er dich umbringt?«
»Und was, wenn er dich umbringt, weil du mich hergeführt hast?«
»Dann ist es der Wille Gottes.«
»Alhamdulillah«, sagte Gil. Dank sei Gott.
Die beiden Männer machten sich auf den Weg. Entlang des steinigen Bergpfads fand Akbar einen Ast, den Gil als Krücke benutzen konnte, und so humpelte er hinter seinem Freund her, während er im Stillen um Stärke betete. Und um Mut.
»Sie geht nicht ran«, knurrte Betsy leise.
Sie hatte Denise Phelan gebeten, das Zimmer zu verlassen. Die Soldatin war verwundert gewesen, doch Betsy hatte ihr erklärt, dass sie es mit streng geheimen Dokumenten zu tun hätten und niemand anders im Raum sein dürfe.
Daraufhin hatte Captain Phelan einen vielsagenden Blick auf Pete Hamilton geworfen, den in Ungnade gefallenen ehemaligen Pressesprecher von Eric Dunn.
»Ich habe ihn zu meinem Stellvertreter ernannt«, sagte Betsy bestimmt.
Das war natürlich blanker Unsinn. Genauso gut hätte sie sagen können, dass sie Hamilton einen Decodierring oder einen Werkzeuggürtel gegeben habe. Oder Thors Hammer.
Sie bemerkte, dass die Soldatin zunächst zögerte. Vielleicht glaubte sie ihr sogar. Wer würde auch etwas dermaßen Absurdes behaupten, wenn es nicht der Wahrheit entsprach?
Doch auch nachdem Phelan das Büro verlassen hatte, sprachen sie nur im Flüsterton miteinander. Sie mussten davon ausgehen, dass der Raum verwanzt war.
Denise Phelan war General Whiteheads Adjutantin. Er hatte sie nicht geschickt, um sie zu beschützen, sondern um sie zu überwachen. Insofern war es nur logisch, dass man auch Abhörgeräte im Büro installiert hatte.
Betsy hatte ihren Schock, dass nicht Beecham, sondern Whitehead der Maulwurf war, immer noch nicht ganz verwunden. Der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs arbeitete mit Bashir Shah zusammen. Er stand auf der Seite von Terroristen und gab wichtige Informationen an sie weiter.
Die Gründe dafür waren unvorstellbar, deshalb versuchte sie gar nicht erst, sich das zu erklären. Dafür wäre später immer noch Zeit. Zunächst einmal musste sie Ellen warnen.
Weil ihr Anruf nicht durchgekommen war, schickte sie ihr eine Textnachricht.
»Ich glaube, Sie haben sich vertippt«, raunte Hamilton, als er las, was sie geschrieben hatte.
Schlendert ein Synonym in eine Taverne.
»Was stimmt denn nicht?«
»Alles. Wollten Sie nicht eigentlich schreiben: Whitehead ist der Verräter? Mir scheint, als hätten Sie sich da vertan.«
»Das ist unser Code, wenn es Ärger gibt«, erklärte Betsy leise, ehe sie mit einer Kopfbewegung auf den Rechner deutete. »Wir müssen rausfinden, was sonst noch in den Dokumenten steht.«
Hamilton setzte sich an Boyntons Schreibtisch und machte sich wieder ans Werk.
Ellen wandte sich dem Geistlichen zu. Bei seinem Eintreten verneigten sich Wachen, Beamte und Politiker und legten sich die Hand ans Herz.
»Eure Eminenz«, sagte sie. Ihr kam Präsident Williams’ Warnung in den Sinn. Er hatte recht: Sollte jemals ein Foto von ihr an die Öffentlichkeit gelangen, wie sie sich mit dem Führer eines Terroristenstaates traf – und sich auch noch vor ihm verbeugte –, konnte das sehr unangenehme Folgen haben.
Gleichwohl machte Ellen Adams Anstalten, sich zu verneigen. Es gab Wichtigeres als den politischen Schein. Zum Beispiel die Tausenden von Menschen, deren Leben vielleicht vom Ausgang dieses Treffens abhing.
Sie hatte den Kopf erst wenige Zentimeter gesenkt, als Großajatollah Khoshravi die Hand ausstreckte. Selbstverständlich berührte er sie nicht, doch die Bedeutung der Geste war klar.
»Nein«, sagte er mit der leicht heiseren Stimme eines Mannes, der die achtzig überschritten hatte. »Das ist nicht nötig.«
Ellen richtete sich wieder auf und blickte in seine grauen Augen. Es lag Neugierde darin und eine große Ernsthaftigkeit. Doch davon ließ sie sich nicht täuschen. Dieser Mann hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der Jahre Morde an zahllosen Menschen in Auftrag gegeben. Erst wenige Stunden zuvor hatte er, um drei Personen auszuschalten, ein Massaker an mehr als hundert unschuldigen Männern, Frauen und Kindern verüben lassen.
Dennoch beantwortete sie Höflichkeit mit Höflichkeit.
»Gott sei mit Ihnen«, sagte sie und legte die Hand ans Herz.
»Mit Ihnen ebenso.« Er hielt den Blickkontakt zu ihr aufrecht. Er versuchte sie zu lesen, genau wie sie ihn.
Hinter dem Geistlichen standen mehrere junge Männer. In der kurzen Zeit, die Ellen gehabt hatte, um sich zu informieren und mit Fachleuten über den modernen Iran zu sprechen, hatte sie erfahren, dass es sich um die Söhne des Ajatollah sowie seine engsten Berater handelte.
Sie wusste auch, dass Großajatollah Khoshravi weit mehr war als nur das geistliche Oberhaupt des Landes. In den über dreißig Jahren, die er nun schon das höchste Staatsamt bekleidete, hatte er seine Macht konsequent immer weiter ausgebaut, während er nach außen hin den Anschein eines bescheidenen Geistlichen erweckte.
Ajatollah Khoshravi stand einer Art Schattenregierung vor, in der seine eigenen Leute alle wichtigen Entscheidungen über die Zukunft des Iran trafen. Wenn es einen Richtungswechsel geben sollte, sei er auch noch so klein, konnte nur er ihn anstoßen. Es war seine Hand, die das Steuer hielt, nicht Nasseris.
Der Ajatollah trug das schwarze Gewand seines Amtes und einen riesigen schwarzen Turban, der seine ganz eigene Symbolik hatte. Die Tatsache, dass er nicht weiß, sondern schwarz war, zeigte, dass Khoshravi als ein direkter Nachfahr des Propheten Mohammed galt. Die Größe des Turbans wiederum war ein Hinweis auf den Status des Trägers.
Der Kopfschmuck des Ajatollah Khoshravi war in etwa so groß wie der äußere Ring des Saturn.
Auf eine Bewegung seiner von dicken Venen durchzogenen Hand hin nahmen alle wieder Platz. Khoshravi wählte den Stuhl neben Präsident Nasseri und gegenüber von Ellen.
»Sie sind hier, Madame Secretary, weil Sie sich Informationen erhoffen, von denen Sie glauben, wir könnten sie Ihnen geben«, stellte er fest. »Und Sie glauben auch, dass wir guten Grund haben, dies zu tun.«
»Weil ich der Ansicht bin, dass in diesem speziellen Fall unsere Ziele übereinstimmen.«
»Und welche wären das?«
»Wir wollen Bashir Shah aufhalten.«
»Aber das haben wir bereits getan«, hielt der Großajatollah dagegen. »Seine Wissenschaftler können ihre Mission nicht mehr zu Ende führen.«
»Was ist das für eine Mission?«
»Atombomben zu bauen. Ich dachte, das läge auf der Hand.«
»Für wen?«
»Das spielt keine Rolle. Wenn irgendeine Macht in der Region über Kernwaffen verfügte, wäre das nicht in unserem Interesse.«
»Es gibt andere, die ihren Platz einnehmen werden. Sie können ja wohl kaum jeden Nuklearwissenschaftler ermorden.«
Khoshravi zog die Brauen hoch, und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als wollte er sagen, dass er das sehr wohl könnte und dass der Iran, sollte es nötig werden, alle Atomphysiker der Welt töten lassen würde – bis auf die eigenen natürlich.
Doch Außenministerin Adams wusste auch, dass er aus einem ganz bestimmten Grund zu diesem Treffen erschienen war. Der Oberste Führer der Islamischen Republik Iran hätte sich niemals dazu herabgelassen, wenn er sich nicht etwas davon versprochen hätte. Er brauchte etwas von ihr.
Und sie glaubte auch zu wissen, was dies war: Obwohl er noch rüstig wirkte, gab es innerhalb amerikanischer Sicherheitskreise das Gerücht, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten bestellt war. Khoshravi wünschte sich, dass sein Sohn Ardashir ihm als Ajatollah nachfolgte, allerdings hatten die Russen einen anderen Kandidaten im Sinn, der der Regierung in Moskau treu ergeben war. Jemanden, den sie kontrollieren konnten.
Wenn sie sich durchsetzten, wäre der Iran allenfalls noch nominell ein unabhängiges Land. Er würde praktisch zu einem russischen Satellitenstaat werden.
Es war ein Machtkampf, der im Verborgenen stattfand und den Khoshravi, ein Überlebender der komplexen und oft brutalen politischen Ränkespiele des Nahen Ostens, um jeden Preis gewinnen wollte.
Seine Anwesenheit bei diesem Treffen verriet Ellen, dass er sich nicht länger sicher war, ob ihm das gelänge.
Folglich hatte er beschlossen, beide Seiten gegeneinander auszuspielen, um am Ende als lachender Dritter dazustehen. Es war ein riskantes Vorhaben, und der bloße Umstand, dass er sich darauf einließ, war ein Ausdruck seiner Verzweiflung und einer politischen Verwundbarkeit, die er niemals offen zugegeben hätte.
Das musste er auch gar nicht. Ellen hatte es durch ihre Behauptung, dass sie dieselben Ziele hätten, bereits für ihn getan. Sie sah ihm an, dass er sie verstanden hatte: Keiner von ihnen wollte, dass Russland aus dem Konflikt als Sieger hervorging. Und beide waren verzweifelter und verwundbarer, als sie es eingestehen wollten.
Die Ausgangslage war also zugleich vielversprechender und prekärer, als Ellen erwartet hatte. Vielversprechender, weil zumindest eine gewisse Chance auf Erfolg bestand; prekärer, weil verzweifelte und verwundbare Menschen beziehungsweise Staaten mitunter unerwartete, sogar katastrophale Entscheidungen trafen.
Wie etwa Busse voller Zivilisten in die Luft zu sprengen, nur um eine einzelne Person zu liquidieren.
»Woher wussten Sie von Shahs Physikern, Eure Eminenz?«, fragte sie.
»Der Iran hat Freunde in aller Welt.«
»Ein Staat mit so vielen Freunden hat es doch sicherlich nicht nötig, einen Massenmord zu begehen. Nicht nur haben Sie den Tod zahlloser unschuldiger Menschen in Kauf genommen, danach haben Sie auch noch den entflohenen Attentäter aufgespürt und ihn ebenfalls getötet – einschließlich seiner Familie und zweier verdienter amerikanischer Botschaftsmitarbeiter.«
»Sie meinen den CIA-Chef in Deutschland und seine Stellvertreterin?«, fragte der Ajatollah.
Dass er keine Unwissenheit heuchelte, signalisierte Ellen, wie wichtig ihm die Angelegenheit war. Er hatte die Operation persönlich verfolgt, wenn nicht gar dirigiert.
»Was hätten wir denn tun sollen?«, fragte er, »nachdem all unsere Warnungen ignoriert worden waren? Glauben Sie mir, wir wollten diesen Menschen kein Leid antun, und wir hätten es auch nicht getan, wenn Sie auf unser Flehen geantwortet hätten. Sie sind für diese Ereignisse ebenso verantwortlich wie wir. Sogar noch mehr.«
»Was sagen Sie da?«
»Ich bitte Sie, Madame Secretary. Ich weiß, dass es bei Ihnen einen Regimewechsel gab, aber …«
»Einen Regierungswechsel.«
»Aber es muss doch eine gewisse Kontinuität des Informationsflusses gewährleistet sein. Sie können mir nicht erzählen, dass ich, ein einfacher Geistlicher, mehr über diesen Fall weiß als die Außenministerin eines so großartigen Landes.«
»Wie Ihnen bekannt sein dürfte, bin ich neu auf dem Posten der Außenministerin. Vielleicht hätten Sie die Güte, mich aufzuklären.«
Der Ajatollah wandte sich an den jungen Mann zu seiner Rechten. Es war sein Sohn und designierter Nachfolger Ardashir.
»Wir haben Ihr Außenministerium schon vor Monaten vor den Nuklearwissenschaftlern gewarnt«, sagte dieser. Seine Stimme war sanft, beinahe beiläufig, als er diese Bombe platzen ließ.
»Ich verstehe«, sagte Ellen, die diese Information dem äußeren Anschein nach mit Fassung nahm. »Und?«
Er hob die Hände. »Nichts. Wir haben es mehrmals versucht, weil wir dachten, unsere Nachrichten seien vielleicht nicht zu den richtigen Stellen durchgekommen. Wie Sie sich ja denken können, konnten wir dafür nicht die offiziellen Kanäle nutzen. Wir können Ihnen gerne zeigen, was wir gesendet haben.«
»Das wäre hilfreich.« Sie zweifelte weder an der Existenz dieser Nachrichten noch an ihrem Inhalt. Aber sie wollte die Namen derjenigen wissen, an die die Warnungen geschickt worden waren. Sie hegte den Verdacht, dass einer von ihnen Tim Beecham sein könnte.
Ihr Vorteil war verspielt, und nun versuchte sie verzweifelt ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
»Als deutlich wurde, dass der Westen sich nicht kümmert«, fuhr Ardashir fort, »haben wir die Sache in die eigene Hand genommen. Mit Bedauern.«
»Sie hätten dafür keine unschuldigen Menschen töten müssen.«
»Leider doch, Madame Secretary. Unsere Quellen wussten nur, dass Dr. Shah diese Physiker angeheuert hatte, um für ihn Atomwaffen zu bauen. Wir kannten ihre Namen nicht, nur ihre Reisepläne.«
»Genauer, die Busverbindungen«, schaltete Nasseri sich ein. »Wir haben Sie gefragt, ob Sie weitere Informationen haben. Wir haben Sie förmlich um Unterstützung angefleht. Am Ende blieb uns keine andere Wahl.«
»Wir mussten sicherstellen, dass Shah und der Westen begreifen, dass solche Bedrohungen gegen die Islamische Republik Iran keinesfalls geduldet werden«, sagte Ardashir. »Wir werden nicht zulassen, dass ein anderes Land in dieser Region Atomwaffen besitzt, erst recht nicht, nachdem mein Vater eine Fatwa gegen alle Massenvernichtungswaffen ausgerufen hat.«
»Ja«, sagte Ellen. »Und dennoch haben Sie Ihre eigenen Atomphysiker. Wenn ich mich nicht irre, wurde der Leiter Ihres Atomwaffenprogramms, Dr. Behnam Ahmadi, kürzlich verhaftet.«
»Nein.«
»Nein? Was meinen Sie damit?«
»Nein, das Programm, das Dr. Ahmadi leitet, dient der friedlichen Nutzung der Kernenergie zum Zweck der Energiegewinnung«, sagte Ardashir. »Und er wurde auch nicht verhaftet. Wir haben ihn lediglich gebeten, uns einige Fragen zu beantworten. Seine Tochter hingegen wurde festgenommen. Sie wird vor Gericht gestellt und hingerichtet, sollte man sie für schuldig befinden.« Er wandte sich an Anahita. »Sie sind diejenige, die die Nachricht bekommen hat. Ihre Cousine. Ist es nicht so?«
Anahita wollte etwas antworten, doch Ellen nahm rasch ihre Hand. Zwar hatte sie ihre Mitarbeiterin angewiesen, nicht zu lügen, aber das bedeutete nicht, dass sie mehr Informationen preisgeben mussten als unbedingt nötig.
Dass der Iran versucht hatte, die Vereinigten Staaten über Shahs Pläne in Kenntnis zu setzen, und dass diese Warnungen ignoriert worden waren, kam einer politischen, diplomatischen und moralischen Bankrotterklärung gleich. Es entschuldigte nicht, was der Iran getan hatte, und stellte auch kein moralisches Gleichgewicht her, doch es streute jede Menge Sand ins Getriebe ihrer Annäherung.
Ellen überlegte fieberhaft, wie sie darauf reagieren sollte. »Die Vereinigten Staaten sind jetzt zum Handeln bereit …«
Das sorgte für Gelächter unter den Anwesenden, auch wenn der Ajatollah ihm mit einer fast unmerklichen Geste sogleich Einhalt gebot. Er schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit.
»… wenngleich spät.« Ellen sah Khoshravi an. Offenbar hatten die Iraner damit gerechnet, dass sie zum Gegenangriff übergehen würde. Sie hatten damit gerechnet, die lange Liste ihrer Verfehlungen vorgehalten zu bekommen.
Und die Versuchung war groß. Doch Ellen wusste, wenn sie dem Drang nachgab, so verständlich er auch sein mochte, würde das Gespräch nur wieder in die altbekannte Polemik ausarten. Sie würden keinen Schritt weiterkommen, und unterm Strich würde nichts bleiben als Schmutz und Galle.
»Es tut mir sehr leid, Eure Eminenz, dass Sie bei uns auf taube Ohren gestoßen sind. Im Namen der Vereinigten Staaten möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen und unser tiefes Bedauern darüber ausdrücken, dass wir Ihren Warnungen keine Beachtung geschenkt haben.«
Sie hörte ein Keuchen. Nicht von den Iranern, obschon auch die überrascht waren.
Nein, das Keuchen kam von Charles Boynton, ihrem Stabschef. »Madame Secretary!«, zischte er.
Ellen stellte sich vor, wie all die Leute, die ihnen zuhörten, angefangen bei den Russen bis hin zu ihren eigenen Geheimdiensten, ebenfalls nach Luft schnappten, weil sich eine amerikanische Außenministerin soeben beim iranischen Ajatollah entschuldigt hatte.
Aber es war eine wohlkalkulierte Geste. Sie wusste genau, was sie tat. Sie bewegte sich buchstäblich auf Messers Schneide. Musste die heikle Balance zwischen Offenheit und Verschwiegenheit wahren, während sie gleichzeitig eine unterschwellige Botschaft an den Ajatollah sandte.
Er war erfahren genug, um zu wissen, dass die Schwachen sich aufplusterten, dementierten, logen und wild um sich schlugen.
Die Starken hingegen räumten ihre Fehler ein und raubten ihnen so den Stachel.
Und nur die wirklich Großen konnten es sich leisten, Reue zu zeigen. Es war alles andere als ein Zeichen der Schwäche. Im Gegenteil, die amerikanische Außenministerin hatte beeindruckende Stärke und Entschlossenheit bewiesen.
Der Ajatollah, der dies erkannt hatte, neigte den Kopf, einerseits in Anerkennung der Entschuldigung, andererseits als Würdigung des Schachzugs, durch den sie ihm den moralischen Vorteil genommen hatte.
»Sie wollen Informationen über Dr. Shah«, sagte Khoshravi. »Und wir wollen ihn aufhalten. Ich denke, es ist, wie Sie eingangs sagten, Madame Secretary: Unsere Ziele stimmen überein. Leider können wir Ihnen nicht allzu viel bieten. Wir wissen nicht, wo Shah sich derzeit aufhält. Wir wissen nur, dass er die Expertise zum Bau atomarer Sprengkörper zusammen mit dem notwendigen Personal und Material zum Kauf anbietet.« Er hielt inne, um sich mit einem seidenen Tuch die Nase zu putzen. »Selbst wenn wir ihn diesmal noch stoppen konnten, gehen wir davon aus, dass er immer weitermachen wird, es sei denn, er wird gefasst. Sie haben das Monster entfesselt. Sie tragen die Verantwortung.«
»Wir sollen dafür sorgen, dass er wieder unter Hausarrest gestellt wird?«
»Das wäre nicht ratsam, Madame Secretary.«
Ellen wusste sehr genau, was er meinte. Was er und somit der iranische Staat von den USA verlangten.
»Wie sind Sie an die Informationen über Shah und die Nuklearwissenschaftler gekommen?«, wollte sie wissen.
»Durch eine anonyme Quelle«, antwortete der Sohn des Ajatollah.
»Ich verstehe. Ist das zufällig dieselbe Quelle, die Ihnen von Zahara Ahmadi erzählt hat?«
Der Ajatollah nickte einem Soldaten der Revolutionsgarden zu. Der öffnete daraufhin die Tür, und eine in leuchtendes Pink gehüllte junge Frau trat ein.
Anahita wollte aufstehen, doch Ellen legte ihr eine Hand aufs Knie.
Das blieb nicht unbemerkt.
Hinter Zahara betrat ein älterer Mann den Raum. Es war ihr Vater, der Atomphysiker Behnam Ahmadi.
Als die beiden des Ajatollah ansichtig wurden, blieben sie erschrocken stehen. Vermutlich hatten sie ihn noch nie leibhaftig vor sich gesehen, außer vielleicht aus großer Entfernung.
Dr. Ahmadi machte augenblicklich eine tiefe Verbeugung, die Hand über dem Herzen. »Eure Eminenz.«
Zahara folgte dem Beispiel ihres Vaters, allerdings erst nachdem sie Ellen angeschaut hatte, die sie eindeutig als die amerikanische Außenministerin wiedererkannte. Von dort aus wanderte ihr Blick weiter zu Anahita.
Die beiden Cousinen waren einander so ähnlich, dass Zahara sofort begriffen haben musste, wer Anahita war. Trotzdem sagte sie nichts, stattdessen verneigte sie sich mit demutsvoll gesenktem Blick vor dem Obersten Führer des Iran.
»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte Präsident Nasseri. Khoshravi hatte ihm das Signal gegeben, die Gesprächsführung zu übernehmen. »Miss Ahmadi, vielleicht möchten Sie uns erklären, woher Sie von den Bomben in den Bussen wussten.«
»Sie haben es mir gesagt.«
Die Augenbrauen aller Anwesenden schossen in die Höhe, vor allem Nasseri machte ein erstauntes Gesicht. »Das habe ich nicht.«
»Nicht Sie persönlich. Aber Sie haben Ihren wissenschaftlichen Berater zu meinem Vater geschickt, und der hat ihm von den Physikern erzählt. Er hat gesagt, es wäre nur bekannt, dass sie zu einer bestimmten Uhrzeit in bestimmten Bussen sitzen würden. Ich habe das Gespräch zufällig mit angehört. Mein Zimmer liegt über dem Arbeitszimmer meines Vaters.«
Sie sah ihren Vater nicht an, während sie sprach. Ihr beinahe roboterhafter Ton verriet, dass sie mit der Frage gerechnet und ihre Antwort sorgsam einstudiert hatte.
Sie versuchte ihren Vater zu schützen.
»Und warum haben Sie beschlossen, sich an die Amerikaner zu wenden?«, wollte Nasseri wissen.
Eine elektrische Spannung breitete sich im Raum aus. Die nächste Antwort würde über Zaharas Zukunft entscheiden. Wenn sie gestand, hatte sie ihr Leben verwirkt.
»Eure Eminenz.« Sie richtete das Wort an den Ajatollah. »Ich glaube nicht, dass Gott, der Barmherzige und Allgütige, den Mord an Unschuldigen billigt.«
Sie hatte Stellung bezogen. Und damit ihr Schicksal besiegelt.
»Sie maßen sich an, uns und den großen Ajatollah über Gott zu belehren?«, fragte Nasseri. »Kennen Sie denn seinen Willen?«
»Nein. Aber ich weiß, dass Allah nicht wollen würde, dass unschuldige Männer, Frauen und Kinder ermordet werden. Hätte ich gehört, dass Sie nur die Wissenschaftler töten lassen wollen, um den Iran zu beschützen, hätte ich nicht versucht, Sie aufzuhalten.«
Sie drehte sich zu ihrem Vater um, dessen Blick noch immer zu Boden geheftet war.
»Mein Vater hat nichts davon gewusst.«
»Nun ja«, sagte der Ajatollah. »Das würde ich so nicht behaupten, mein Kind. Was glauben Sie, wie wir von Ihrer Tat erfahren haben?«
Schlagartig wurde es still im Raum. Keiner rührte sich mehr. Es war wie ein Tableau. Alle starrten auf Vater und Tochter Ahmadi.
»Baba?«
Schweigen.
»Baba? Du hast es ihnen gesagt?«
Er hob den Blick und murmelte etwas.
»Lauter«, befahl Präsident Nasseri.
»Ich hatte keine andere Wahl. Mein Rechner wird überwacht. Jede Suchanfrage, jede Nachricht wird mitgelesen. Ich musste es tun, um deinen Bruder und deine Schwester zu schützen. Und deine Mutter.«
»Er hat seine Loyalität unter Beweis gestellt«, sagte Nasseri.
Dennoch nahm Ellen die Abscheu in den Mienen des Ajatollah und des Außenministers wahr. Loyalität gegenüber dem Staat mochte wichtig sein, aber wenn jemand seine eigene Familie verriet, sagte das viel über seine Persönlichkeit aus. Und nichts Gutes.
Im Gegensatz zu seiner Tochter mochte Dr. Behnam Ahmadi einer Hinrichtung entgangen sein, doch sein Leumund würde dies nicht überleben.
Er hatte Zaharas Achtung verloren.
Auch die von Secretary Adams.
Der Ajatollah und alle anderen im Raum verachteten Behnam Ahmadi.
Die Situation spitzte sich zu. Der Ablauf der Ereignisse wurde überschaubarer, während die Verständigung zu scheitern drohte.
Ellen musste sich etwas einfallen lassen. Sie musste rasch handeln, wenn sie noch irgendetwas retten wollte.
»Wir sollten nach vorne schauen, nicht zurück«, sagte sie und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich. Um die junge Frau würde sie sich später kümmern. »Die Vereinigten Staaten sind bereit zu handeln, aber dazu brauche ich zunächst mehr Informationen über Shah. Ich muss seinen Aufenthaltsort wissen, seine Pläne und wie weit sie gediehen sind. Sie müssen mir Ihre Quelle nennen.«
Ellen fing den Blick des Ajatollah ein und versuchte ihm eine stumme Botschaft zu übermitteln. Sie wusste, dass ihr Gespräch vermutlich von den Russen abgehört wurde und dass dies ein Großteil dessen beeinflusste, was in diesem Raum gesagt wurde. Er konnte ihr die geforderten Informationen unmöglich geben, selbst wenn er sie besaß. Aber vielleicht konnte er ihr einen Hinweis geben.
Einen kleinen Fingerzeig.
Denn er musste doch wissen, woher die Informationen über Shah stammten. Sie konnten nur von einer Person kommen, die Shah nahestand – wenngleich nicht so nahe, dass er über alles Bescheid wusste.
Der Unwille des Ajatollah, ihr die Quelle zu nennen, bedeutete höchstwahrscheinlich, dass es sich um einen russischen Informanten handelte. Jedoch konnte es keine offizielle Stelle sein, sonst hätte Khoshravi keine Scheu gehabt, es ihr zu verraten. Schließlich hätte er dann nichts preisgegeben, was der russische Geheimdienst nicht ohnehin schon wusste.
Die Quelle ist also russisch, dachte Ellen. Aber nicht der russische Staat. Damit blieb nur eine weitere Möglichkeit.
Der Ajatollah hielt den Blickkontakt zu ihr aufrecht. »Sie haben Ihren Kindern früher oft Der kleine Prinz vorgelesen. Ich habe meinen Kindern auch vorgelesen.«
Ellen war jetzt hellwach. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Soeben hatte Khoshravi indirekt bestätigt, dass sie alles belauscht hatten, was sie, Katherine und Anahita beim Umziehen miteinander besprochen hatten.
Einschließlich ihrer Aussage, dass Anahita die Empfängerin der Nachricht ihrer Cousine gewesen war.
Es war ein kalkuliertes Risiko gewesen. Jeden Moment würde Ellen erfahren, ob sie richtig kalkuliert hatte.
Nichts von dem, was der Oberste Führer jetzt sagte, war ohne Hintergedanken, ohne versteckte Bedeutungsebenen.
Der alte Geistliche wandte sich an seine Söhne. »Eure Lieblingsgeschichten waren immer die alten persischen Fabeln von Bidpai.« Er umfasste seinen gelähmten rechten Arm und hob ihn mit der linken Hand an. Ellen erinnerte sich, dass er vor einigen Jahren bei einem Bombenattentat schwer verletzt worden war und den Arm seitdem nicht mehr bewegen konnte. Er wiegte ihn wie ein kleines Kind und drehte sich wieder zu ihr herum. »Kennen Sie die Fabel von der Katze und der Ratte?«
»Nein«, sagte sie. »Tut mir leid.« Ihr war nicht entgangen, dass er die alte Bezeichnung für sein Land, Persien, verwendet hatte.
»Eine große Katze, sagen wir, ein Löwe, war im Netz eines Jägers gefangen.« Seine Stimme klang leise und sanft, doch sein Blick war hellwach. »Eine Ratte kam aus ihrem Loch gekrochen und sah dies. Der Löwe flehte die Ratte an, die Stricke durchzunagen und ihn zu befreien, aber die Ratte weigerte sich.« Der Geistliche lächelte. »Sie war ein weises altes Tier und fürchtete, dass der Löwe sie fressen würde, sobald er frei wäre, weil Löwen das nun einmal tun. Aber die Katze bettelte immer weiter, und wissen Sie, was die Ratte dann tat?«
»Sie …«, begann Nasseri, wurde jedoch von Minister Aziz zum Schweigen gebracht.
»Herr Präsident, ich glaube, die Frage war an die amerikanische Außenministerin gerichtet.«
Ellen dachte nach. Sie vermutete, dass dies die Botschaft war, die er ihr senden wollte. Eine Art Code. Doch sie verstand ihn nicht.
»Nein, das weiß ich nicht, Eure Eminenz.«
Zu ihrem großen Erstaunen sah sie Anerkennung in seiner Miene. »Die schlaue Ratte nagte die Stricke durch, allerdings nicht vollständig. Sie ließ einen Strang übrig, sodass der Löwe weiterhin im Netz festsaß. Bald darauf hörten sie den Jäger. Er kam immer näher und näher.«
Die anderen Personen im Raum verschwanden aus ihrem Fokus. Es gab nur noch den Obersten Führer der Islamischen Republik Iran und die amerikanische Außenministerin.
Ajatollah Khoshravi senkte die Stimme. Es war, als würde er direkt in Ellens Ohr flüstern.
»Die Ratte wartete, bis der Löwe von der Bedrohung des sich nähernden Jägers abgelenkt war. Erst im allerletzten Moment biss sie den letzten Strang durch und befreite ihn. Und dann, ehe dem Löwen klar wurde, dass er nicht länger gefangen war, verschwand die Ratte wieder in ihrem Loch. Der Löwe rettete sich auf einen Baum.«
»Und der Jäger?«, fragte Ellen.
»Stand mit leeren Händen da.« Der Ajatollah zuckte die Achseln. Der Blick seiner dunklen Augen ruhte unverwandt auf ihr.
»Vielleicht wurde er auch von dem Löwen gefressen«, meinte Ellen. »Weil Löwen das nun einmal tun.«
»Vielleicht.« Der Ajatollah wandte sich an die Revolutionsgarde. »Nehmen Sie sie fest.«
Ellen erstarrte. Einer der Soldaten machte einen Schritt auf Zahara zu.
»Nicht sie«, sagte Khoshravi. »Die andere. Die Tochter des Verräters, an die die Nachricht gerichtet war.«
Anahita kam taumelnd auf die Beine. Ellen sprang auf und stellte sich schützend vor sie. »Nein.«
»Madame Secretary«, sagte Aziz, als der Soldat sie beiseiteschob und Anahita festhielt. »Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, wir würden tatenlos zusehen, wenn eine Spionin, eine Verräterin in den Iran kommt und noch dazu an einem Treffen mit den höchsten Ebenen der Regierung teilnimmt? Wir wissen, wer die Ratten sind.«
»Es tut mir leid«, sagte der Ajatollah, dann stand er auf und verließ den Raum.