KAPITEL 27

Von den Aussichtposten am Berg waren Kalaschnikows auf sie gerichtet, als Gil und Akbar sich langsam dem Lager der Pathan näherten. Sie konnten die Kämpfer nicht sehen, wussten aber, dass sie da waren.

Die beiden Männer, inzwischen in traditioneller paschtunischer Kleidung, hoben die Hände, und Gil ließ den Ast fallen, den er als Krücke benutzt hatte, damit niemand ihn fälschlicherweise für ein Gewehr hielt.

Akbar neben ihm atmete schwer, sowohl vom Aufstieg über die tückischen Bergpfade als auch vor Angst. Gils Humpeln war schlimmer geworden, und er zuckte bei jedem Schritt vor Schmerzen zusammen.

Trotzdem setzten sie ihren Weg fort.

Eine bewaffnete Wache stellte sich ihnen entgegen, das Maschinengewehr auf die beiden Neuankömmlinge gerichtet. Hinter ihm tauchte eine vertraute Gestalt auf. Gil und Akbar blieben stehen.

»As-Salam Alaikum«, sagte Gil Bahar. »Friede sei mit dir.«

»Wa-Alaikum-as-Salam«, antwortete der Mann, bei dem es sich eindeutig um den Befehlshaber des Lagers handelte. Friede sei auch mit dir.

Spannung lag in der Luft. Der jüngere Mann, der das Gewehr hielt, packte es fester und wartete auf Befehle. Mit dem Rücken zu seinem Kommandanten, konnte er das kleine Lächeln nicht sehen, das in dessen bärtigem Gesicht erschienen war.

»Du siehst nicht gesund aus, mein Freund«, sagte er.

»Besser als beim letzten Mal. Das hoffe ich wenigstens.«

»Na ja, immerhin hast du noch deinen Kopf.«

»Dank dir.«

Die Wache ließ das Gewehr sinken, als der Kommandant an ihm vorbeiging, Gil in die Arme schloss und ihn dreimal küsste.

Gil trat zurück und hielt den Mann auf Armeslänge von sich weg, um ihn zu mustern.

Er war kräftiger geworden. Muskulöser. Mit Anfang dreißig war er nicht mehr der Junge, den Gil vor Jahren kennengelernt hatte. Aber er selbst hatte sich auch verändert.

Das Gesicht des Mannes war wettergegerbt und von Sorgenfalten gezeichnet. Er trug einen Bart, das zurückgekämmte Haar lang und die typische Kluft der afghanischen Kämpfer, eine Mischung aus islamischer Kleidung und westlicher Armeeuniform.

»Wie geht es dir, Hamza?«

»Ich lebe noch.« Der Kommandant sah sich um. Dann legte er Gil eine große Hand auf die Schulter und sagte: »Es wird spät, und wer weiß, was in der Dunkelheit lauert.«

»Ich dachte, du herrschst über die Dunkelheit«, sagte Gil und folgte ihm.

»Ich herrsche über gar nichts.« Hamza zog die Klappe eines Zelts beiseite, damit Gil eintreten konnte, während Akbar draußen wartete.

»Ja, ich sehe, du bist immer noch derselbe bescheidene Mann wie damals.« Gil betrachtete die Kästen voll mit Sprengstoff und Granaten und die langen Holzkisten, auf denen die Worte Awtomat Kalaschnikowa zu lesen waren.

Kalaschnikows. Alle Kisten trugen eine russische Aufschrift.

Hamza befahl den Männern im Zelt, sie allein zu lassen, dann schenkte er ihnen beiden Tee aus einem Samowar ein.

»Zum Glück ist nicht alles, was von den Russen kommt, zum Töten gemacht«, sagte er und hob sein Glas mit süßem Tee zu einem Trinkspruch. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Du hättest nicht herkommen sollen.«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich hätte es auch nicht getan, wenn ich eine andere Möglichkeit gesehen hätte.«

Hamza deutete mit einem Kopfnicken auf Gils Bein, wo die Wunde wieder angefangen hatte zu bluten. »Was ist passiert? Hast du versucht, sie aufzuhalten?«

»Die Physikerin? Nein. Ich bin Dr. Bukhari bis nach Frankfurt gefolgt. Sie war da, wo du gesagt hast. Ich hatte vor, sie bis zu Shah zu verfolgen und so herauszufinden, was er vorhat. Aber der Bus, in dem sie saß, wurde in die Luft gesprengt.«

Hamza nickte. »Ich habe von den Explosionen gehört. Sie haben nicht gesagt, weshalb es passiert ist oder wer dahintersteckt, aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht.« Er musterte Gil scharf. »Weshalb bist du hier?«

»Es tut mir leid, Hamza, aber ich brauche mehr Informationen.«

»Mehr kann ich dir nicht geben. Ich habe dir schon viel zu viel gesagt. Wenn jemand dahinterkommt …«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht beugte sich Gil auf seinem großen Bodenkissen nach vorn. »Wir wissen doch beide, dass du nur dann sicher bist, wenn Shah tot ist. Inzwischen muss ihm klar geworden sein, dass ihn jemand verraten hat. Nicht lange, und er zählt zwei und zwei zusammen, und dann wird er dich jagen.«

»Ein Wissenschaftler mittleren Alters soll auf einen Berg klettern und an meinen Wachen vorbeikommen? Ich denke, ich habe nichts zu befürchten.«

»Du weißt, was ich damit sagen will. Und du weißt auch, wen er schicken wird.« Gil blickte hinter ihn auf die Kisten. »Es tut mir leid.«

»Mit Shah habe ich nichts zu schaffen. Ich habe lediglich ein Gerücht über die Physiker weitergeleitet.«

»Richtig, aber irgendjemand hat dir von ihnen erzählt.« Als Hamza den Kopf schüttelte, sah Gil sich um. »Ich brauche mehr.«

»Du musst gehen. Heute ist es zu spät, aber gleich morgen in aller Frühe.« Hamza erhob sich. »Ich habe nichts weiter zu sagen. Ich habe dir vor Jahren geholfen zu fliehen, das möchte ich jetzt nicht bereuen. Vielleicht hatte Allah für dich vorgesehen, dass du enthauptet wirst. Ich will seinem Wunsch nicht eigenhändig nachkommen müssen.«

»Das glaubst du doch selber nicht«, sagte Gil, der sitzen geblieben war. »Du hast mir zur Flucht verholfen, weil wir monatelang zusammen den Koran studiert haben. Du selbst hast mich die Worte des Propheten gelehrt. Du hast mir gezeigt, dass es im wahren Islam um ein friedliches Miteinander geht. Deshalb wolltest du Shah aufhalten. Und du willst es immer noch.«

Während seiner Gefangenschaft hatte Gil die Wachen belauscht und mit der Zeit einzelne Worte und Phrasen aufgeschnappt. Irgendwann hatte er sie auf Paschto angesprochen. Bis eines Abends der Jüngste, der ihm immer das Essen brachte, antwortete.

Nach ein paar Monaten setzte der junge Mann sich zu ihm, und auf Gils Bitten hin brachte er ihm einige Sätze auf Arabisch, der Sprache des Koran, bei. Sie redeten über den Islam. Sie lasen gemeinsam im Koran, Gil lernte mehr über die Lehren des Propheten, und mit der Zeit verliebte er sich in dessen Botschaft.

Ihre Diskussionen über die heiligen Texte führten auch dazu, dass Hamza in seinen Ansichten gemäßigter wurde und er erkannte, wie die radikalen Geistlichen die Worte des Koran zu ihrem eigenen Vorteil verdreht hatten.

Nachdem der französische Journalist hingerichtet worden war, hatte Hamza im Schutz der Dunkelheit Gils Fesseln gelöst und ihn freigelassen. Aber das Band zwischen ihnen war stark, und so waren sie all die Jahre über heimlich in Kontakt geblieben.

»Ich weiß, dass du niemals wahllos Männer, Frauen und Kinder töten würdest«, sagte Gil. »Andere Kämpfer, ja – aber Gott würde nicht wollen, dass Unschuldige zu Schaden kommen. Deshalb hast du mir das mit Shah und den Physikern gesagt. Ein Gewehr ist eine Sache.« Er deutete auf die Kisten mit Kalaschnikows. »Aber Massenvernichtungswaffen sind etwas ganz anderes. Ich brauche mehr Informationen. Nur so kann ich ihn stoppen.« Abermals beugte Gil sich nach vorn und biss die Zähne zusammen, als ein scharfer Schmerz durch sein Bein fuhr. »Wenn Shahs Kunden eine Atombombe bauen und sie zur Explosion gebracht wird, werden Tausende ums Leben kommen. Was wird Gott dazu sagen?«

»Verspottest du meinen Glauben?«

Gil sah ihn bestürzt an. »Nein, ganz im Gegenteil. Es ist auch mein Glaube. Deshalb bin ich auf diesen verdammten Berg gestiegen. Um dich zu sehen. Um zu versuchen, Schlimmeres zu verhindern. Bitte. Ich flehe dich an, Hamza, hilf mir.«

Die beiden Männer sahen einander an. Sie waren annähernd im selben Alter, aber Welten voneinander entfernt aufgewachsen. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt und Brüder aus ihnen gemacht. Verwandte Seelen. Vielleicht aus genau diesem Grund, für diesen einen Moment.

Hamza hieß nicht wirklich Hamza. Er hatte den Namen angenommen, nachdem er sich den Kämpfern angeschlossen hatte. Er bedeutete »Löwe«.

Gil hieß zwar wirklich Gil, aber der Name war eine Abkürzung. Die meisten nahmen an, dass er mit vollständigem Namen Gilbert hieß. Doch im Dunkel der Nacht, als der Gefangene und sein Wächter über den Koran gesprochen hatten, hatte Gil ihm sein Geheimnis anvertraut.

Sein vollständiger Name lautete Gilgamesch.

»Oh mein Gott.« Hamza hatte sich vor Lachen kaum halten können. »Gilgamesch? Wie ist denn das passiert?«

»Mein Vater hat an der Uni das alte Mesopotamien studiert und meiner Mutter oft Gedichte vorgelesen. Am liebsten mochte sie das Gilgamesch-Epos.«

Gil verriet Hamza nicht, dass an der Wand seines Kinderzimmers ein Poster mit einem Foto aus dem Louvre gehangen hatte. Darauf war eine Statue zu sehen, die Jahrhunderte zuvor aus der uralten mesopotamischen Stadt Dur Scharrukin geraubt worden war. Sie zeigte Gilgamesch, den Helden des gleichnamigen Epos, wie er einen Löwen an seine Brust drückt. Ihre Geister, ihre Schicksale waren untrennbar miteinander verbunden.

Die Stätte war während der jüngsten Kampfhandlungen vom IS zerstört worden. Was auf den ersten Blick nach Plünderung aussah, hatte in Wahrheit zahlreiche Artefakte vor der Vernichtung gerettet.

Retter, so hatte auch Gilgamesch gelernt, zeigten sich mitunter in unerwarteter Gestalt. Oft erschienen sie auf den ersten Blick gar nicht wie Retter, sondern wie das genaue Gegenteil. Retter konnten abstoßend sein und Monster verführerisch. Sie konnten dem Bösen einen schönen Anstrich geben. So wie radikale Geistliche. So wie skrupellose politische Führer.

Die beiden Männer, Gilgamesch und der Löwe, saßen einander im Zwielicht des Zeltes gegenüber. Und standen vor einer Entscheidung.