Madame Secretary.« Ihr Stabschef hatte angeklopft und war hereingebeten worden. »Der Jet des Sultans von Oman wäre jetzt startklar. Die Iraner bestehen auf Ihrer Abreise.«
Der schlaksige Mann verharrte unsicher an der Tür.
Sowohl die Außenministerin als auch ihre Tochter standen am Fenster und sahen aus, als hätten sie soeben den Schrecken ihres Lebens bekommen,
»Was ist los?«, fragte er, machte einen Schritt in den Raum hinein und schloss die Tür.
Ellen hatte Gils Nachricht sowohl an Katherine als auch an Betsy weitergeleitet und sie um einige der Details ergänzt, die sie von Gil am Telefon erfahren hatte. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, sie auch an Präsident Williams und Tim Beecham zu schicken, am Ende jedoch gezögert.
General Whitehead konnte unmöglich allein arbeiten. Er musste Komplizen in der höchsten Führungsriege des Weißen Hauses haben, vielleicht sogar im Kabinett. Wenn sie dem Präsidenten die Nachricht schickte und sie abgefangen wurde, würden sie wissen, dass ihr Komplott aufgedeckt worden war. Und statt zu riskieren, dass man sie erwischte, würden sie die Bomben womöglich früher zünden.
Nein. Ellen musste es dem Präsidenten persönlich sagen. Von Angesicht zu Angesicht.
Doch ihre Arbeit im Iran war noch nicht vollendet. Sie brauchten unbedingt weitere Informationen. Jemand versorgte Shah mit atomwaffenfähigem Material. Wahrscheinlich die Russenmafia, so wie Gil es gesagt hatte.
Und jemand hatte den Iranern von den Physikern berichtet.
Wahrscheinlich ein iranischer Informant, der gleichzeitig für die Russenmafia arbeitete. Die hatte die Information absichtlich durchsickern lassen, damit Nasseri und der Ajatollah taten, was Shah wollte, und die drei Nuklearwissenschaftler ausschalten ließen.
Vielleicht wusste dieser Informant etwas über Shahs übergeordnete Ziele. Vielleicht kannte er sogar einen Aufenthaltsort. Die Chancen standen gut, dass er sich noch im Iran aufhielt. Sie mussten ihn bloß aufspüren.
»Was ist?«, fragte Boynton noch einmal. »Madame Secretary?«
»Mom?«, sagte Katherine.
Ellen hob die Hand an den Mund, legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. Sie dachte angestrengt nach.
Wenn sie all das herausgefunden hatte, war der Ajatollah höchstwahrscheinlich auch dahintergekommen. Er brauchte ihre Hilfe, um Shah zu stoppen. Und sie brauchte seine Hilfe, um die Terroranschläge in ihrem Land zu verhindern.
Wusste Khoshravi, wer der Informant war? Wenn ja, konnte er es ihr unmöglich sagen. Jedenfalls nicht direkt. Jedes ihrer Worte, jede Geste wurde überwacht.
Er musste ihr die Informationen auf anderem Wege zuspielen.
Darum ging es in der Fabel von der Katze und der Ratte. Um gemeinsame Interessen. Aber auch um Täuschung. Um Ablenkungsmanöver. Darum, dass man in die eine Richtung schaute, während das eigentlich Relevante ganz woanders passierte.
»Haben sie gesagt, dass ich das Land verlassen muss?«, wollte sie von Boynton wissen. »Oder ist das lediglich unsere Einschätzung der Situation?«
Die Frage schien ihn zu verwirren. »Ist das nicht dasselbe?«
»Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Versuchen Sie sich genau daran zu erinnern, was der Mann gesagt hat.«
Boynton überlegte. »Er hat gesagt: ›Bitte teilen Sie der Außenministerin mit, dass sie auf Anweisung des Großajatollah hin den Iran verlassen muss‹.«
»Na ja. Das scheint mir doch ziemlich eindeutig zu sein«, meinte Katherine.
»Das ist hier die Frage«, sagte Ellen, ehe sie sich wieder an ihren Stabschef wandte. »Halten Sie sie auf.«
Er lachte schnaubend. »Bei der Verabschiedung?« Doch als er die ernste Miene seiner Vorgesetzten sah, verging ihm das Lachen.
»Halten Sie sie hin, meine ich«, sagte die Außenministerin.
»Sie hinhalten?«, wiederholte Boynton mit hoher Stimme. »Wie denn?«
»Tun Sie es einfach.«
Ellen stieß ihn fast zur Tür hinaus. Kurz nachdem sie ins Schloss gefallen war, hörten sie, wie ihr Stabschef dem iranischen Beamten mitteilte, dass sie jeden Moment herauskommen würden. »Nur eine kurze Verzögerung. Frauenprobleme.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Haben Sie hier auch Frauenprobleme?«
Vielleicht bleibt uns doch nicht so viel Zeit wie erhofft, fuhr es Ellen durch den Kopf.
Sie versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie durfte jetzt nicht an den Verräter Whitehead denken und auch nicht daran, was Gil gesagt hatte: dass sich die Atombomben aller Wahrscheinlichkeit nach bereits auf amerikanischem Boden befanden und bald explodieren würden.
Jeder Schlag ihres Herzens kam ihr vor wie das Ticken einer Uhr.
Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Dann wieder aus. Versuch den nächsten Schachzug vorauszuahnen, sagte sie zu sich. Blende alles Unwichtige aus. Versuche klar zu denken …
»Mom?«
Schweigen. Dann riss sie plötzlich die Augen auf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Es hämmerte gegen ihre Rippen wie Big Ben, der die Sekunden bis zum Geläut um Mitternacht herunterzählte.
Ihre Gedanken rasten genauso schnell wie ihr Herz. Sie war kurz davor. Ganz kurz davor.
Und dann hatte sie es. Jetzt wusste sie, was der Ajatollah ihr hatte sagen wollen.
Mit großen Schritten durchquerte sie den Raum. Als sie die Tür aufriss, hörte sie, wie Boynton und der arme iranische Beamte sich darüber unterhielten, was für ein Baum der Prophet gewesen wäre, wenn er ein Baum gewesen wäre.
Wahrscheinlich war es höchste Zeit, dass sie die beiden erlöste. Es schien, als wäre ihr Stabschef nur noch Augenblicke davon entfernt, wegen Gotteslästerung festgenommen zu werden.
»Charles!«
Er machte ein Gesicht wie der Fisch an der Angel. »Ja?«
»Kommen Sie bitte herein.«
Das musste sie ihm nicht zweimal sagen.
»Ich muss abreisen«, sagte sie, sowie sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Und zwar sofort.«
»Ja, das sagte ich Ihnen doch«, entgegnete Boynton.
»Und Sie bleiben hier.«
»Was?«
»Sie und Katherine.«
Die beiden starrten sie entgeistert an.
»Wir können Anahita nicht alleinlassen«, erklärte Ellen in normaler Laustärke. Sie wollte sichergehen, dass alle, die sie belauschten, mitbekamen, was sie sagte. »Ich muss zurück nach DC und mit Präsident Williams über die Lage reden. Anweisungen von ihm entgegennehmen. Sie bleiben im Iran, bis ich zurückkomme. In der Zwischenzeit sollten Sie ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen.«
Beide sahen sie an, als wäre sie geisteskrank.
»Man wird Ihnen folgen. Führen Sie sie an der Nase herum, damit sie denken, Sie hätten etwas vor. Schauen Sie sich Persepolis an. Oder nein, noch besser: Bitten Sie darum, die prähistorischen Höhlenmalereien in Belutschistan besichtigen zu dürfen.«
»Wovon redest du?«, fragte Katherine.
»Ich habe auf dem Flug hierher etwas darüber gelesen. Archäologen haben dort Felszeichnungen entdeckt. Elftausend Jahre alt. Manche Forscher sind der Ansicht, sie seien ein Beweis dafür, dass vor Tausenden von Jahren Iraner auf den amerikanischen Kontinent ausgewandert sind.«
»Was?«, fragte Katherine, die nur noch Bahnhof verstand, während Boynton aus Vorsicht lieber gar nichts sagte.
»Die Malereien zeigen dieselben Pferde, auf denen auch die indigenen Völker in Nordamerika geritten sind. Da macht es doch Sinn, dass Sie sich so etwas anschauen wollen.«
»Ach ja?«, fragte Boynton nach einer längeren Pause. »Wirklich?«
»Sicher, gewissermaßen mit dem Gedanken, dass wir alle dieselben Menschen sind. Der wahre Zweck der Übung ist natürlich, dass Sie Ihren Verfolgern eine lustige Jagd liefern.«
»Lustig?«, wiederholte Boynton.
»Von mir aus auch trübsinnig, wenn Ihnen das lieber ist.«
Während Boynton sich im Internet über die Felsmalereien schlau machte, senkte Katherine die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Mom, die Bomben. Was Gil dir gesagt hat. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Das tun wir auch nicht.« Ellen sah ihre Tochter eindringlich an. Die nahm die Entschlossenheit in ihrem Blick war.
»Bis dorthin sind es mindestens zwanzig Stunden Autofahrt«, sagte Boynton, der von seinem Handy aufblickte.
»Bestimmt können Sie einen Flugplatz in der Nähe anfliegen und von dort aus mit dem Auto weiterfahren«, meinte Ellen, jetzt wieder in normaler Lautstärke – so normal, wie es ihr angesichts der Situation möglich war. »Sie können unterwegs schlafen, dadurch machen Sie es Ihren Verfolgern noch schwerer, weil es sie noch mehr Zeit und Mühe kostet.«
»Aber uns kostet es auch Zeit und Mühe«, gab Boynton zu bedenken.
Katherine sah ihre Mutter an, deren Augen vor Erschöpfung gerötet waren, aber funkelten. Ob es Genie oder Wahnsinn war, wusste Katherine nicht. Hatten Gils Nachricht und der ungeheure Druck, eine Katastrophe zu verhindern, ihr zu viel abverlangt?
»Anahita?«, fragte Katherine. »Und Zahara? Was sollen wir tun, um den beiden zu helfen?«
»Und den zwei Iranern, die ebenfalls verhaftet wurden«, ergänzte Charles.
»Ich frage Präsident Williams, was er in der Sache unternehmen will. Solche Entscheidungen überschreiten meinen Kompetenzbereich. Ich komme so schnell wie möglich zurück. Erzählen Sie überall herum, dass Sie zu den Höhlen fahren möchten. Dann wird man Ihnen folgen und nicht darauf achten, was ich in der Zwischenzeit mache.«
Während sie sprach, tippte sie eine kurze Nachricht an ihre Tochter.
Geht. Vertraut mir. Ich bin an der Sache dran.
Es war stockfinster, als die Außenministerin den Jet des Sultans bestieg. In der geräumigen Kabine legte sie zunächst die Burka ab und wollte sie der Regierungsbeamtin zurückgeben.
»Behalten Sie sie«, sagte diese in fehlerfreiem Englisch. »Ich habe das Gefühl, Sie kommen wieder.«
Als der Jet die Startbahn hinunterraste und die erste Etappe einer langen Heimreise begann, lehnte sich Ellen unwillkürlich nach vorn, als könnte sie so ihre Rückkehr beschleunigen.
Das Letzte, was sie sah, waren ihre Tochter Katherine und Boynton, die ein Auto bestiegen, um die Fahrt zu den Höhlen anzutreten.
Sie hoffte inständig, dass sie die Geschichte des Ajatollah über die Katze und die Ratte richtig verstanden hatte. Sie war sich relativ sicher, dass er Anahita Dahir hatte festnehmen lassen, damit jemand aus Ellens Gruppe im Iran zurückbleiben musste.
Dass er die Außenministerin offiziell des Landes verwiesen, jedoch ihrer Tochter und ihrem Stabschef zu bleiben erlaubt hatte, bestätigte ihre Vermutung.
Er spielte ein Spiel der Irreführung. Er hatte ihnen etwas mitzuteilen, doch Ellen wurde viel zu engmaschig überwacht. Deshalb hatte der Oberste Führer dafür gesorgt, dass sie das Land verließ, während ein Teil der amerikanischen Delegation zurückblieb, um die Informationen entgegenzunehmen.
Als sie die vorgeschriebene Flughöhe erreicht hatten, erhielt Ellen eine Textnachricht von Katherine.
Am Flughafen steht Maschine für uns bereit. Man hat uns schon erwartet.
Ellen ließ vor Erleichterung den Kopf hängen.
Sie wurden erwartet. Sie hatte also tatsächlich recht gehabt.
Sie antwortete mit einem Daumen-hoch-Emoji, dann ließ sie sich tiefer in ihren Sitz sinken. Zuversichtlich, die Intentionen des Obersten Führers der Islamischen Republik Iran richtig gedeutet zu haben.
Aber …
Sie versuchte den verräterischen Gedanken beiseitezuschieben.
Aber …
Der Mann war ein Terrorist. Ein erklärter Feind der USA, der zahlreiche Angriffe gegen den Westen finanziert hatte. Und sie hatte gerade nicht nur ihre Tochter, sondern das Schicksal ihres Landes in seine Hände gelegt. Und all das wegen einer Fabel über eine Katze und eine Ratte?
Sie vertraute darauf, dass der listige alte Ajatollah nicht in Wahrheit der Jäger war, der ihnen eine Falle gestellt hatte – denn dann wäre sie soeben hineinspaziert.
Das war ihr letzter Gedanke, ehe die Müdigkeit sie übermannte.
Boynton bekreuzigte sich, als die Luke der kleinen Propellermaschine geschlossen wurde.
Es gelang ihnen, auf dem Flug in die Provinz Sistan und Belutschistan ein wenig zu schlafen. Ihr Ziel, so teilte Boynton Katherine auf die ihm eigene griesgrämige Art mit, als sie den Landeanflug begannen, befinde sich unweit der Grenze zu Pakistan. In seinen Augen machte das die ganze Sache noch schlimmer.
Dabei, dachte Katherine, als sie angestrengt aus dem Fenster spähte, um in der Dunkelheit das Land erkennen zu können, wusste er noch gar nichts von den Atombomben, die sich bereits in den USA befanden. Er wusste nicht, was »schlimmer« wirklich bedeutete.
Ein Mann mit grauem Bart namens Farhad erwartete sie und stellte sich ihnen als ihr Fahrer und Fremdenführer vor. Sie stiegen in sein altes, nach Tabak riechendes Auto, und er fuhr mit ihnen in die Wüste.
Er sprach fließend Englisch mit einem weichen, melodischen Akzent. Er sei es gewohnt, westliche Archäologen zu den Höhlen zu fahren, erklärte er sichtlich stolz. Sie saßen zu dritt im Wagen, und außer ihnen war weit und breit niemand zu sehen. Keine Spur von den zuvor omnipräsenten Wachen und Beobachtern. Wie es schien, hatte man das Interesse an ihnen verloren.
Auch Charles Boynton wirkte alles andere als interessiert. Im fahlen Licht der Morgendämmerung starrte er auf die endlose Landschaft aus Sand und Hügeln.
Während der Fahrt erzählte Farhad ihnen von der Entdeckung bronzezeitlicher Piktogramme und Petroglyphen, die Tiere, Pflanzen und Menschen darstellten.
»Manche wurden mit Pflanzenfarbe gemalt«, sagte er, »andere mit Blut. Insgesamt sind es mehrere Tausend.«
Die Gegend, so berichtete er weiter, werde trotz der Vielzahl an Felsmalereien von Touristen weitgehend gemieden.
»Kein Reisender aus dem Ausland verirrt sich je hierher.«
Er sprach sich leidenschaftlich für den Schutz der Fundstätten aus. Dabei sah er Katherine, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, während Boynton auf der Rückbank erneut eingeschlafen war und mit offenem Mund schnarchte, eindringlich an.
»Deshalb sind Sie doch hergekommen, oder? Um das zu schützen, was wichtig ist?«
Sein Blick war so intensiv, dass sie unwillkürlich nickte, auch wenn sie nicht wusste, wozu sie eigentlich Ja sagte.
Sie erreichten ihr Ziel bei Sonnenaufgang. Nachdem sie Boynton geweckt hatten, stiegen sie auf ein Plateau, wo ihnen Farhad ein Frühstück mit starkem Kaffee aus einer Thermosflasche, saftigen Feigen, Orangen, Käse und Brot zubereitete.
Katherine machte ein Foto von Boynton und Farhad. Der Stabschef, immer noch im Anzug, sah aus, als wäre er durch eine verzauberte Tür im Außenministerium direkt in die Wüste gestolpert.
Verwirrt. Unglücklich.
Sie schickte das Foto an ihre Mutter, zusammen mit einer kurzen Nachricht, dass sie bei den Höhlen angekommen seien und sie sich melden würde, sobald es mehr zu sagen gäbe.
Dann saß sie auf dem Felsvorsprung, sah zu, wie die Sonne aufging und blickte über die uralte Landschaft, die seit Zehntausenden, vielleicht sogar seit Millionen von Jahren unverändert war. Ein ehrfürchtiges Staunen erfasste sie. Andere hatten genau dort gesessen, wo sie jetzt saß, und Bilder in die Steine geritzt, um Zeugnis über ihr Leben abzulegen. Über ihren Glauben. Ihre Gedanken. Sogar ihre Gefühle.
»Darf ich?«, fragte sie, und als Farhad nickte, streckte sie den Zeigefinger aus und fuhr die Linien nach.
»Das ist ein Adler«, sagte er. »Und das da«, er zeigte auf die Strahlen darüber, »ist die Sonne.«
Aus Gründen, die sie selbst nicht ganz verstand, hatte Katherine auf einmal einen Kloß im Hals, und ihre Augen wurden feucht, so wie wenn sie bewegende Musik hörte oder eine Passage in einem Buch las, die sie innerlich tief berührte. Diese Zeichnungen von Pferden und Jägern, von Kamelen, eleganten Vögeln im Flug und fröhlichen Sonnenstrahlen waren so zutiefst menschlich.
Die Hände, die sie gezeichnet hatten, hatten denselben Boden, dieselbe Sonne gespürt. Sie hatten das Bedürfnis gehabt, ihre Rituale und ihr Leben festzuhalten. Sie waren nicht so sehr viel anders gewesen als sie.
Und ihre Zeichnungen unterschieden sich im Grunde nicht von dem, was Katherines Zeitungsredaktionen und Fernsehsender machten. Dies hier waren Nachrichten, auf Stein gemalt. Die Ereignisse eines Tages.
Es ist ein tröstliches Gefühl, fand sie, während sie Kaffee trank, Obst und Käse aß und die Sonne am Himmel höher stieg. Und sie konnte wahrlich Trost gebrauchen.
Sie hatte schreckliche Angst vor dem, was Shah plante. Vor den Bomben in amerikanischen Städten. Sie hatte schreckliche Angst davor, dass es ihnen womöglich nicht gelingen würde, ihn aufzuhalten.
Und sie war verwirrt, weil sie nicht wusste, weshalb ihre Mutter sie hergeschickt hatte und was sie von ihnen wollte. Und trotz alldem verspürte Katherine, während sie die Konturen der Sonne auf dem Felsen nachfuhr, ein tiefes, unerwartetes Gefühl inneren Friedens.
Diese Lebenszeichen hatten Jahrtausende überdauert.
Einzelne Leben endeten, aber das Leben an sich ging weiter.
»Kommen Sie«, sagte Farhad, nachdem er die Reste des Frühstücks weggeräumt hatte. »Die besten sind drinnen.«
Er deutete in Richtung einer schmalen Felsspalte, stand auf und reichte ihnen beiden jeweils eine Laterne. Sie zwängten sich durch den Spalt, während Boynton unablässig »Scheiße, Scheiße, Scheiße« murmelte.
Im Innern der Höhle klopfte sich Katherine den roten Staub von der Jacke und sah sich um, wobei sie die Lampe langsam in einem Halbkreis bewegte. Sie konnte keine weiteren Malereien entdecken.
»Sie sind weiter hinten«, erklärte Farhad. »Deshalb wurden sie auch erst kürzlich entdeckt.«
Er ging voran, während Boynton und Katherine einen Blick wechselten.
»Vielleicht bleibe ich lieber hier«, sagte Boynton.
»Vielleicht kommen Sie lieber mit«, entgegnete Katherine.
»Ich mag keine Höhlen.«
»Waren Sie schon mal in einer?«
»Sie haben offensichtlich nicht viel Zeit im Weißen Haus verbracht«, flüsterte er.
Katherines Gelächter hallte von den Wänden wider und kehrte als leises Seufzen zurück.
Sie zückte ihr Telefon. Kein Empfang. Sie überlegte kurz, ob sie ihren Weg filmen sollte, aber ihr Akku würde nicht mehr lange halten, also schaltete sie das Telefon in den Ruhemodus, behielt es jedoch wie einen Talisman in der Hand.
Farhad war zwischenzeitlich um eine Biegung verschwunden, und als sie ihm folgten, sahen sie, dass er stehen geblieben war.
»Ich denke, das ist weit genug.« Auf einmal hatte er eine Pistole in der Hand.
Sie starrten ihren Fremdenführer an. Die Waffe.
»Was machen Sie da?«, stieß Katherine gepresst hervor.
»Warten.«
Kurz darauf hörten sie etwas in den Tiefen der Höhle. Schritte. Das Echo machte es unmöglich zu sagen, wie viele Personen es waren. Es klang, als wären es Hunderte. Katherine kam der abenteuerliche Gedanke, dass die uralten, in Blut gemalten Gestalten an den Wänden zum Leben erwacht waren. Sie waren von ihren Felsen herabgestiegen und kamen auf sie zu.
Sie wandten sich in Richtung der Geräusche, und Katherine sah, wie Farhad mit der Waffe ins Dunkel zielte. Auf das, was immer näher und näher kam.
Hastig stellte sie ihre Laterne auf den Boden und bedeutete Boynton, dasselbe zu tun. Dann zogen sie sich leise in den Schutz der Dunkelheit zurück.
Sie hatten kaum drei Schritte gemacht, als sie sahen, dass jemand aus den Tiefen der uralten Höhle auftauchte. Anfangs erkannten sie nichts weiter als einen Haufen tanzender Lichter. Oder Gespenster.
Doch mit der Zeit wurden die Gestalten hinter den Lichtern sichtbar.
Es waren Anahita, Zahara und ihr Vater Dr. Ahmadi. Und die zwei iranischen Agenten, ihre Verbindungsleute, die Zahara auf dem Weg zur Uni abgefangen und ihr das Telefon gegeben hatten. Bei ihnen waren zwei Soldaten der Revolutionsgarde. Sie hatten ihre Waffen im Anschlag, richteten sie jedoch nicht auf ihre Gefangenen, sondern auf Farhad, Katherine und Boynton.
In etwa fünf Metern Entfernung zu ihnen blieben sie stehen.
Hatte ihre Mutter einen fatalen Fehler gemacht?
Würde es so enden? Mit ihrem Blut an den Wänden, neben dem ihrer Vorfahren? Würde es Jahrhunderte später von einem Anthropologen interpretiert werden, der zu dem Schluss kommen würde, die Spritzer wären der Versuch einer Sternenkarte gewesen?
Anscheinend hatte der Autor des Artikels, den ihre Mutter über die Malereien gelesen hatte, recht. Die Wege der alten Iraner und Amerikaner hatten sich tatsächlich gekreuzt. Nur nicht in Oregon, sondern in dieser Höhle.
Katherine fing Anahitas Blick ein. Ihre Augen waren voller Angst. Die Mitarbeiterin ihrer Mutter dachte dasselbe wie sie: dass ihr Ende gekommen war.
Katherine tippte das Videosymbol auf ihrem Handy an. Was immer gleich mit ihnen geschehen würde, es würde Aufzeichnungen davon geben.
»Mahmoud?« Die verhaftete iranische Agentin spähte angestrengt in ihre Richtung.
Farhad ließ die Waffe ein Stück sinken, nahm sie jedoch nicht ganz herunter. »Ich habe gehört, dass ihr festgenommen wurdet.«
»Ja«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Irgendwer muss uns wohl verraten haben.« Sie wandte sich an die Soldaten. »Ihr könnt die Waffen runternehmen. Das sind die Leute, die wir treffen sollten.«
»Mahmoud?«, flüsterte Katherine. »Ich dachte, Sie heißen Farhad.«
»Nur wenn ich Fremdenführer bin.«
»Und was sind Sie jetzt?«, wollte Boynton wissen.
»Ihr Retter.«
Die Agentin schüttelte den Kopf. »Ein Ego auf zwei Beinen. Er ist Informant des MOIS.«
»Der iranische Geheimdienst«, sagte Boynton.
»Mahmoud arbeitet gleichzeitig auch noch für die russische Mafia«, sagte die Frau mit hörbarer Verachtung. »Deshalb sind wir hier, richtig?«
Noch immer standen sie mehrere Meter voneinander entfernt. Ihre Unterhaltung klang höflich, fast kollegial, trotzdem lag eine unverkennbare Anspannung in der Luft. Fleischfresser auf Beutefang.
Das Licht von Katherines Laterne fiel auf die raue Felswand der Höhle und beleuchtete die exquisiten Malereien.
Sie waren detailreich und deutlich feiner ausgeführt als die Zeichnungen draußen. Da war eine Lebendigkeit, etwas Fließendes in den Bewegungen der Blutmänner auf ihren Blutpferden und Kamelen, die ihre Speere in ein schreiendes, sich windendes katzenähnliches Tier stießen.
Es war eine Jagdszene. Die Szene einer Tötung.