Lass uns hier Rast machen«, sagte Akbar.
Er hielt an und blickte über den Rand der Felsen in die Schlucht. Gil blieb ebenfalls stehen. Er war dem Freund dankbar, dass er an seine Verletzungen dachte. Beim Abstieg fiel ihm zwar das Atemholen leichter, doch wegen des ständigen Abrutschens und Stolperns schmerzte seine Beinwunde höllisch.
»Nein«, sagte er. »Wir müssen so schnell wie möglich unten ankommen. Ich muss meine Mutter kontaktieren.«
»Was hat Hamza dir gesagt? Du hast ziemlich aufgewühlt ausgesehen.«
»Ach, du kennst ihn doch. Er ist eine Dramaqueen.«
Akbar lachte. »Dafür ist er berühmt. So wie alle Pathan.«
»Ich war aufgewühlt, weil er mir nichts sagen konnte oder wollte. Ich glaube, er weiß einiges über Shah, aber er hat sich geweigert, mir etwas zu verraten. Er war meine letzte Hoffnung. Ich muss nach unten, um meiner Mutter zu sagen, dass ich nichts erreicht habe.«
»Hast du ihr nicht gestern geschrieben? Du hast dir doch mein Handy geborgt.«
»Richtig, aber ich hatte gehofft, Hamza würde es sich bis heute Morgen vielleicht anders überlegen und mir doch noch was Nützliches sagen. Hat er leider nicht.«
Akbar musterte seinen Begleiter. Seinen Freund. Nein, ein besonders enger Freund war er wohl nicht.
»Zu dumm. Den ganzen Weg für nichts.« Akbar machte eine Handbewegung, um Gil den Vortritt zu lassen. »Nach dir.«
»Wahrscheinlich ist es besser, wenn du vorgehst. Wenn mein Bein mir den Dienst versagt und ich stürze, lande ich wenigstens weich.«
»Wer ist jetzt die Dramaqueen?« Doch Akbar ging voran. Es machte seine Aufgabe etwas schwieriger, weil Gil den Angriff kommen sähe. Ein Messer im Rücken war immer einfacher. Genau wie ein Stoß von hinten.
Außerdem müsste er dann nicht für den Rest seines Lebens Gils entsetztes Gesicht sehen. Wobei Akbar vermutete, dass die Erinnerung daran verschwinden würde, sobald er sein neues Auto hätte.
Als sie eine Biegung erreichten, wo der Pfad schmal und mit Geröll von Steinlawinen übersät war, blieb Akbar plötzlich stehen, wirbelte herum und wollte Gil am Arm packen.
Der war völlig überrumpelt, doch seine Verwirrung dauerte nur einen Sekundenbruchteil.
Schnell sprang er einen Schritt zurück, stieß dabei aber mit dem verletzten Bein gegen einen Felsvorsprung. Er schrie vor Schmerzen auf, und sein Knie knickte unter ihm weg. Instinktiv suchte er Halt bei Akbar, bekam sein Gewand zu fassen und riss ihn im Stürzen mit sich zu Boden.
Nach dem Aufprall versuchte er sich von Akbar loszumachen und von ihm wegzukriechen, während er gleichzeitig mit einer Hand nach der Tasche seines Gewands tastete. Die, in der Hamza die Pistole versteckt hatte.
»Was soll das?«, schrie er, als Akbar ihm auf allen vieren folgte.
Gil riss die Augen auf. Akbar antwortete nicht, aber das lange gebogene Messer in seiner Hand sagte alles.
»Scheiße.« Gil suchte noch hektischer nach der Tasche. Doch das voluminöse Gewand gab seinen Schatz nicht preis.
Er nahm eine Handvoll Steine und Sand und warf sie Akbar in die Augen. Doch auch das hielt diesen nur kurz auf.
Gil trat wie von Sinnen um sich, aber Akbar, der eine jahrelange Nahkampfausbildung bei den Mudschaheddin hinter sich hatte, packte ihn am Stiefel und verdrehte sein Bein, bis Gil vor Angst und Schmerz aufbrüllte. Er fiel zur Seite wie ein gefesseltes Kalb.
Gil war vollkommen hilflos. Er trat um sich und schrie und erwartete jeden Moment, die Klinge an seiner Gurgel zu spüren, bis ihm zu seinem Entsetzen klar wurde, was Akbar vorhatte. Er würde ihn über den Rand des Abgrunds stoßen, damit es so aussähe, als wäre er ausgeglitten und abgestürzt. Ein Unfall. Kein Mord.
»Nein, nein!«
Er rutschte auf den Abgrund zu. Seine schweren Stiefel zogen ihn in die Tiefe. Es geschah wie in Zeitlupe, wie in einem Albtraum, wenn man versuchte wegzulaufen, sich aber nicht bewegen konnte. Mit den Fingern suchte er verzweifelt nach Halt.
Doch es war bereits zu spät. Er war zu weit über den Rand gerutscht. Jeden Augenblick würde ihn sein Eigengewicht in die Tiefe ziehen und er in den Abgrund stürzen. Und dann …
Mit aller Kraft krallte er sich am Geröll fest, bis seine Nägel einrissen und er eine Spur aus Blut im Sand hinterließ.
Plötzlich krachte ein Schuss. Nur ein einziger. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten über den Rand des Pfads in die Schlucht stürzen.
Doch Gils Probleme waren damit nicht vorbei. Unaufhaltsam zog es ihn in die Tiefe. Immer verbissener versuchte er sich irgendwo festzuhalten.
Dann wurde er plötzlich am Kragen gepackt. Sein Fall wurde gebremst, und jemand zerrte ihn wieder nach oben.
Sobald er außer Gefahr war, lag er keuchend und schluchzend auf der Erde. Er konnte nicht aufhören zu zittern. Schließlich hob er den Kopf. Sein Gesicht war verdreckt von Staub und schlammigen Tränen.
»Wer ist jetzt die Dramaqueen?«, sagte Hamza.
»Ach du Scheiße, ach du Scheiße. Woher …«
»… ich es wusste? Gewusst habe ich es nicht, aber ich habe diesem kleinen Bastard nie so richtig getraut. Er war immer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Meistens ging es um Geld. Er hat erbeutete Waffen auf dem Schwarzmarkt verscherbelt, sodass sie wieder bei den Leuten endeten, denen wir sie abgenommen hatten. Er war ein Arschloch.«
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass du mit diesem Drecksack in Kontakt geblieben bist?«
»Für wen hat er gearbeitet?«, fragte Gil. Doch er wusste es. »Shah? Oh Gott. Wenn Akbar für ihn gearbeitet hat, weiß er, dass ich hier bin und mit dir gesprochen habe.« Hamza nickte. »Dann wird er auch wissen, dass du mir die Informationen gegeben hast.«
»Vielleicht halb so schlimm. Hier bei uns sind Allianzen …« Hamzas Blick schweifte über die trockene Landschaft. »… fließend. Wer kann schon sagen, für wen Akbar gearbeitet hat. Er wusste, dass Informationen über den Aufenthaltsort des Sohns der amerikanischen Außenministerin sich gut verkaufen lassen.«
»Aber es ging nicht nur um Informationen. Jemand hat ihn dafür bezahlt, mich umzubringen.«
»Scheint wohl so.«
»Deshalb die Pistole.« Gil legte die Hand auf die Tasche.
»Ja, obwohl – genützt hat sie dir ja nichts. Ich habe gehört, was du zu ihm gesagt hast. Du hast gelogen. Du hast behauptet, ich hätte dir nichts verraten. Warum? Hattest du ihn im Verdacht?«
Gil blickte über den Rand der Schlucht auf den zerschmetterten Körper in der Tiefe. Hatte er Akbar im Verdacht gehabt? Doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin einfach von Natur aus vorsichtig. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser.«
Auch Hamza warf einen Blick auf den Mann, den er getötet hatte. »Ich war erstaunt, ihn mit dir im Lager zu sehen.«
Der Satz klang vertraut. Gil brauchte nur einen Moment, ehe er wusste, woher. »Wo ich doch heute Abend eine Verabredung in Samarra mit ihm hatte«, zitierte er.
Als Hamza fragend den Kopf zur Seite neigte, sagte Gil: »Ein Zitat aus einer alten mesopotamischen Geschichte über die Unmöglichkeit, den Tod zu überlisten.«
»Scheint so, als hättest du ihn überlistet, und zwar gleich zweimal. Ich frage mich, wo er mit dir verabredet ist.« Er bückte sich und hob etwas vom Pfad auf. »Die hier sind ihm aus der Tasche gefallen.« Er gab Gil das Handy und die Autoschlüssel. Das lange, krumme Messer behielt er. »Wenn ich du wäre, würde ich um Samarra einen weiten Bogen machen.«
Doch als Gil seinen Abstieg humpelnd, stolpernd und rutschend fortsetzte, hatte er das eigenartige Gefühl, dass der Tod ihm nicht folgte. Dass er zurückgeblieben war, weil er stattdessen eine Verabredung mit Hamza hatte. Und er, Gil, hatte ihn direkt zu ihm geführt.
Als er sich ein letztes Mal zu seinem Freund umwandte, sah er in Hamzas Gesicht, dass dieser dasselbe dachte.
Hamza der Löwe hatte Gil die Informationen gegeben und damit sein Leben verwirkt. Gierig, wie der Tod war, würde er kommen und ihn holen. In Gestalt von Bashir Shah.
Gil schaute immer wieder auf Akbars Handy, um zu sehen, wann er wieder eine Netzverbindung hatte. Oben im Lager hatte es Empfang gegeben, aber in den Tälern und Höhlen? Keine Chance.
Unten angekommen, stieg er in das Auto und fuhr über die holprige Straße zurück in Richtung der durchlässigen Grenze zu Pakistan.
Er hatte den Plan gefasst, nach Washington zurückzukehren. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Um helfen zu können. Aber er würde über Frankfurt fliegen, um der freundlichen Krankenschwester ihr Geld zurückzugeben und um Anahita zu finden.
Seit seiner Entführung hatte die Angst eine Festung um ihn errichtet, und aus dieser Festung heraus hatte er die Welt betrachtet. Sicher, unabhängig – und allein. Aber damit war nun Schluss. Der Beinahesturz in den Abgrund hatte seine Festungsmauern eingerissen. Er hatte eine zweite Chance erhalten, und er würde verdammt sein, wenn er zuließe, dass die Angst ihn weiterer kostbarer Momente beraubte, die er mit Anahita verbringen könnte. Wenn der Tod ihn fand, dann mit Liebe statt mit Furcht im Herzen.
Als Anahita neben ihrer Cousine Platz nahm, fiel ihr auf, dass Zahara sich so weit wie möglich von ihrem Vater entfernt hingesetzt hatte. Katherine saß auf ihrer anderen Seite, sodass die beiden Frauen eine Art schützende Flanke für sie bildeten.
Nachdem die Waffen gesenkt worden waren, hatte Farhad beziehungsweise Mahmoud sie durch einen verborgenen Seitentunnel in eine größere Kammer der Höhle geführt. Dort hatte er sie angewiesen, ihre Laternen in die Mitte eines Steinkreises zu stellen. Der Boden war geschwärzt von Feuern, die vor Zehntausenden Jahren erloschen waren.
Sie saßen auf Steinen, die Menschen dort platziert hatten, die längst tot und zu Staub zerfallen waren.
Anahita fragte sich, ob eine Katastrophe die Höhlenbewohner dazu getrieben hatte, ihre Heimat zu verlassen. War dies ein Ort zum Feiern gewesen? Waren hier früher Rituale vollzogen worden? Hatten sich die Menschen tief in die Höhlen zurückgezogen, weil sie geglaubt hatten, hier sicher zu sein?
So wie Anahita und die anderen es jetzt glaubten?
Waren sie trotzdem aufgespürt worden?
Sie betrachtete die Malereien, die sich nicht nur über die Wände, sondern auch über die Decke erstreckten. Das sanfte Flackern der Kerosinlampen verlieh den Figuren Dynamik, sodass es aussah, als wäre die Jagd in vollem Gange und würde niemals aufhören. Eines der Bilder sah sogar aus, als hätte sich die Bestie, die sie jagten, umgewandt, um nun die Menschen zu verfolgen.
War es so gewesen? Hatte das Raubtier die Männer, Frauen und Kinder hier aufgespürt?
Anahita wusste, dass ihre Fantasie mit ihr durchging. Das war nicht gut. Die Wirklichkeit war schon beängstigend genug.
Sie starrte über die Lampen hinweg zu ihrem Onkel auf der anderen Seite des Kreises hinüber. Er hatte noch kein Wort mit Anahita gewechselt, ihr jedoch finstere Blicke zugeworfen, als wäre sie der Feind. Als hätte sie seine Tochter dazu verführt, etwas zu tun, das sie niemals hätte tun dürfen.
Und ihn damit gezwungen, etwas zu tun, was er niemals hätte tun dürfen.
Mit seiner Tochter hingegen hatte er sehr wohl gesprochen – oder es zumindest versucht. Immer wieder hatte er sie angefleht, ihm zu verzeihen. Zu begreifen, weshalb er sie hatte denunzieren müssen. Er hatte geschluchzt und nach ihrer Hand gegriffen, aber sie hatte ihn abgeschüttelt und war zu Anahita und Katherine gegangen, sodass Dr. Ahmadi mit seinem Schmerz allein blieb.
Der Atomphysiker hatte den Kopf in die Hände sinken lassen, und Anahita musste an etwas denken, was Einstein einmal gesagt hatte. »Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden die Menschen mit Stöcken und Steinen kämpfen.«
Aber Einstein war ein Heuchler gewesen. Er hatte, so wie alle, die hier in diesem Kreis saßen, ganz genau gewusst, womit sich die Menschheit zurück in die Steinzeit bomben würde.
Doch keiner wusste dies besser als der Schöpfer solcher Waffen, Dr. Behnam Ahmadi.
»Jetzt bin ich der Tod geworden …«, wiederholte sie leise die Worte Robert Oppenheimers, der sie wiederum aus der Bhagavad Gita zitiert hatte, »der Zerstörer der Welt«.
Vielleicht, dachte Anahita, während sie ihren Onkel beobachtete, müssen wir uns wieder daran gewöhnen, in Höhlen zu leben.
Katherine wandte sich an Charles Boynton, der förmlich an ihrer Seite klebte. Wollte er sie beschützen? Doch sie wusste es besser. Er suchte Schutz bei ihr.
Mittlerweile war ihr der Mann fast schon sympathisch.
»Das Oval Office«, wisperte sie und sah sich in der Höhle um.
Er lächelte. »Irgendwie unheimlich.«
Farhad räusperte sich, und aller Augen wandten sich ihm zu.
»Mein Kontaktmann beim MOIS hat mir gesagt, ich soll die Amerikaner abholen und hierherbringen. Und ihnen sagen, was ich weiß.«
Katherine schloss für einen Moment die Augen. Ihre Mutter hatte gewusst oder zumindest geahnt, dass dies der Plan des Ajatollah war. Doch dafür hatte sie zunächst einen Weg finden müssen, sie aus Teheran hinauszuschaffen, damit jemand ihnen die Informationen übergeben konnte, die sie brauchten, um Shah zu stoppen, ohne dass jemand davon erfuhr.
Zumindest nicht die Russen.
Ihr Reiseziel hatte keine Rolle gespielt. Wichtig war, dass ihnen niemand gefolgt war.
Clevere Mutter. Cleverer Ajatollah.
Farhad blickte in die Finsternis, dann auf die in der Runde Sitzenden. »Mir wurde nicht gesagt, dass …« Er machte eine ausladende Handbewegung. »… wir so viele sein würden.«
»Ist das wichtig?«, fragte Katherine.
»Vielleicht. Wenn man ihnen gefolgt ist, schon.« Er hatte ganz offensichtlich Angst. Blickte ständig nervös um sich. »Warum sind Sie hier?«
»Man hat uns gesagt, wir sollen mit den Leuten herkommen«, sagte der ältere Soldat der Revolutionsgarde. »Und sie euch übergeben. Außer ihn. Er soll wieder mit uns zurückkommen.«
Der Soldat musterte Dr. Ahmadi, der den Kopf gehoben hatte.
»Warum haben Sie ihn dann mitgebracht?«, wollte Boynton wissen.
Der Soldat lächelte. »Hat man Ihnen erzählt, weshalb Sie wirklich hier sind?«
»Hören Sie«, sagte Katherine, deren Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren, zu Farhad. »Je eher Sie uns sagen, was Sie wissen, desto schneller können wir von hier verschwinden.«
Ihr Unbehagen wurde immer stärker. Wenn dieser Mann den Auftrag hatte, ihnen Informationen zukommen zu lassen, und er eindeutig ungeduldig war, warum hatte er ihnen dann Frühstück gemacht? Warum Zeit mit der Zubereitung einer Mahlzeit verschwendet?
Inzwischen erschien es ihr, als wollte er Zeit schinden. Als wartete er. Aber wenn er nicht auf Anahita und die anderen gewartet hatte, auf wen dann?
»Wo arbeiten die richtigen Nuklearwissenschaftler?«, fragte Katherine.
»Richtige Nuklearwissenschaftler?«, sagte Boynton. »Wovon reden Sie?«
Sie wollte keine kostbare Zeit verlieren, indem sie ihm den Inhalt von Gils Nachricht auseinandersetzte. Sie war ganz auf Farhad konzentriert.
»Es gibt eine stillgelegte Fabrik in Pakistan, an der Grenze zu Afghanistan«, sagte Farhad, der die Stimme zu einem Flüstern gesenkt hatte.
Alle im Kreis lehnten sich unwillkürlich vor. Katherine, die ihre Einbildungskraft nicht ganz im Zaum halten konnte, sah förmlich, wie die Bilder an den Wänden ebenfalls aufhorchten. Sich zu ihnen herablehnten. Weil sie frisches Blut gerochen hatten und auf fettere Beute hofften.
»Die Russenmafia verkauft seit über einem Jahr spaltbares Material und Ausrüstung an Shah und liefert sie dorthin«, sagte Farhad.
»Sie haben schon mindestens drei Bomben gebaut«, sagte Katherine, woraufhin Farhad sie erstaunt ansah. Dann nickte er.
»Heilige Scheiße«, entfuhr es Boynton.
»Wo sind die Bomben?«, wollte Katherine wissen.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur das, was ich gehört habe, nämlich dass sie vor zwei Wochen auf Containerschiffe verladen und in die USA geschickt wurden.«
»Wollen Sie uns verarschen?«, sagte Boynton. »Es gibt Atombomben in den Vereinigten Staaten?« Er sprang auf und baute sich vor Farhad auf. »Wo? Sie wissen es, nicht wahr? Wo sind sie?«
Als Farhad den Kopf schüttelte, packte Boynton ihn und stieß ihn von seinem Sitzfelsen auf den Höhlenboden. Der Stabschef war zwar deutlich größer und mehrere Jahre jünger als Farhad, konnte es jedoch nicht mit dem drahtigen Mann aufnehmen, der im Zweikampf trainiert war. Die einzigen Zweikämpfe, die Boynton je geführt hatte, waren die mit dem Getränkeautomaten in Foggy Bottom. Und selbst die hatte er verloren.
Ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte Farhad ihn in den Schwitzkasten genommen.
»Lassen Sie das«, befahl Katherine. »Wir haben keine Zeit für so was.« Sie versetzte Farhad einen Stoß, der sie mit vor Wut blitzenden Augen ansah. Im ersten Moment glaubte Katherine schon, er würde sich auf sie stürzen, doch dann ließ er Boynton los, der sich taumelnd aufrichtete und die Hand auf seine Kehle legte.
»Hinsetzen«, sagte Katherine, und die Männer gehorchten. Sie nahm ebenfalls wieder Platz und beugte sich zu Farhad hinüber. »Waren Sie jemals in dieser Fabrik?«
Wieder sah er sich um, dann nickte er. »Ich habe Kisten dort abgeliefert. Keine Ahnung, was drin war.«
»Sagen Sie mir, wo sie liegt.«
»Im Bezirk Bajaur, am Rande von Kitkot. Eine alte Zementfabrik. Aber da kommen Sie nicht hin. Da wimmelt es nur so von Taliban.«
»Wer weiß, wo die Bomben versteckt wurden? In welchen Städten und wo?«, fragte Katherine weiter.
»Dr. Shah.«
»Und sonst? Es muss doch noch andere geben, die Bescheid wissen. Er hat sie ja wohl nicht selbst hingetragen.«
»Jemand in der Fabrik könnte es wissen. Irgendwer musste ja den Transport koordinieren. Und in den USA gibt es Leute, die dafür verantwortlich sind, sie an ihren Zielorten zu deponieren. Aber ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Ich weiß nur das, was ich gehört habe.«
»Und das wäre?«
»Es sind bloß Gerüchte. Hören Sie, Dr. Shah ist so was wie ein Mythos. Um ihn ranken sich alle möglichen Geschichten. Dass er mehrere Hundert Jahre alt ist. Dass er einen mit einem einzigen Blick töten kann.«
»Dass er der Azhi Dahaka ist«, warf Anahita ein.
Farhad, der grau vor Entsetzen geworden war, nickte.
»Ich will Fakten, keine Legenden«, sagte Katherine. »Na los. Raus mit der Sprache.«
Ihr fiel auf, dass die Flammen der Laternen, deren Glaszylinder geöffnet worden waren, flackerten. Gleich darauf spürte sie einen leichten Luftzug. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.
Lag es an der bloßen Erwähnung Shahs? Oder war es Einbildung?
Aber nein, die Flammen flackerten wirklich. Inzwischen war es auch den anderen aufgefallen.
»Sagen Sie es mir«, wiederholte Katherine leise, aber umso eindringlicher.
Farhads Augen waren noch größer geworden, und die Soldaten der Revolutionsgarde hatten ihre Gewehre fester umfasst. Sie drehten sich um und spähten in die Dunkelheit hinter ihnen.
Der erste Schuss traf Farhad in die Brust.
Katherine streckte blitzschnell die Arme aus und zerrte Zahara und Boynton von ihren Felsen, während sie sich ebenfalls auf den Boden rollte und versuchte, hinter den riesigen Steinen in Deckung zu gehen. Schüsse krachten und prallten von den Felswänden ab.
Sie sah, wie Boynton zu Farhad robbte, seine Waffe nahm und sich über ihn beugte, kurz bevor der sterbende Mann Worte formte und Blut in Boyntons Gesicht hustete.
Der Stabschef suchte Katherines Blick. Seine Augen waren vor Angst geweitet.
Farhad war tot. Auch andere, darunter einer der Soldaten, waren niedergeschossen worden.
»Zahara!«, schrie Dr. Ahmadi über die Schüsse hinweg.
Der zweite Soldat hatte Position in einer Felsspalte an der Höhlenwand bezogen und feuerte in die Dunkelheit.
Wir müssen weg vom Licht, dachte Katherine. Oder noch besser: Das Licht musste weg von ihnen.
Sie wartete auf eine Gelegenheit.
Anahita, die sie beobachtet hatte, erriet, was sie vorhatte, und machte sich bereit.
Als der Soldat die nächste Salve abgab, sprangen beide nach vorn in den Steinkreis, packten die Laternen und schleuderten sie in die Finsternis. Dorthin, wo das feindliche Feuer herkam. Dann gingen sie blitzschnell wieder in Deckung.
Auch der zweite Soldat war getroffen worden und saß zusammengesunken an der Wand, doch die Agentin war bei ihm und hatte seine Kalaschnikow an sich genommen.
Als die Laternen auf dem Boden aufkamen und explodierten, waren ihre Angreifer urplötzlich zu sehen.
»Poimet!«, brüllte einer von ihnen auf Russisch. Es war sein letztes Wort, ehe die Agentin auf ihn feuerte. »Scheiße.«
Auch Boynton zielte und schoss auf die Angreifer, die das Feuer erwiderten.
Während des Schusswechsels war Katherine wieder hinter die Felsen gekrochen und lag flach auf dem Boden, die Arme schützend über dem Kopf. Als es still wurde, schaute sie vorsichtig hoch.
Beißender Qualm hing in der Luft. Als er sich langsam verzog, sahen sie das Blutbad.
»Baba?«
Katherine und Anahita drehten sich um und sahen, wie Zahara auf ihren Vater zukroch, der mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken lag. Er war von einer Maschinengewehrsalve getroffen worden, als er versucht hatte, zu seiner Tochter zu gelangen.
Farhad war ebenfalls tot, genau wie die Soldaten und beide iranischen Agenten.
»Charles.« Katherine kroch zu Boynton, dessen Knie unter ihm nachgegeben hatten, sodass er nun wie ein Kind auf dem Boden hockte. Ein Kind mit einer Waffe in der Hand. »Geht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt?«
Sie kniete sich neben ihn und nahm ihm vorsichtig die Waffe ab.
Er sah sie an. Seine Unterlippe und sein Kinn zitterten. »Ich glaube, ich habe jemanden umgebracht.«
Sie nahm seine Hand. »Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten es tun.«
»Vielleicht ist er auch bloß verletzt.«
»Ja, vielleicht.« Katherine holte ein Taschentuch hervor, befeuchtete es mit ihrer Zunge und rieb ihm Farhads geronnenes Blut aus dem Gesicht.
»Er hat …« Boyntons Blick ging zu Farhad, der an die Decke starrte, als wäre er mesmerisiert von der großartigen Kunst über ihm. »… ›Weißes Haus‹ gesagt.«
»Was?«
»Er hat ›Weißes Haus‹ gesagt. Was könnte das bedeuten?«