Präsident Williams’ Blick war hellwach und konzentriert, während er alles in sich aufnahm, was Ellen ihm berichtete.
Mit jedem Wort ballten sich seine Hände fester zu Fäusten, bis Betsy fürchtete, sie könnten bald Blut weinen, und er würde sich mit den Fingernägeln Stigmata zufügen.
Die bei den Bombenanschlägen getöteten Wissenschaftler waren lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen.
Die wirklich wichtigen, weitaus erfahreneren Atomphysiker arbeiteten schon seit einem Jahr oder länger für Shah.
Nach Ende seines Hausarrests war Shah damit beauftragt worden, ein Atomwaffenprogramm für die Taliban und El Kaida auf die Beine zu stellen. Gewisse Elemente innerhalb Pakistans und Russlands wussten davon.
Es war ihnen gelungen, mindestens drei Sprengkörper zu bauen, die sich bereits in amerikanischen Städten befanden und jeden Tag, jeden Moment explodieren konnten.
Doch sie wussten nicht, wo. Sie wussten nicht, wann. Sie wussten nicht, wie groß die Bomben waren.
»Sind Sie fertig?«, fragte er irgendwann. Als Adams nickte, drückte er einen Knopf, und Barb Stenhauser betrat das Büro. »Sagen Sie der Vizepräsidentin, sie soll eine Regierungsmaschine nehmen, zur Militärbasis Cheyenne Mountain in Colorado fliegen und dort auf weitere Instruktionen warten.«
»Ja, Mr. President.« Stenhauser wirkte bestürzt, entfernte sich jedoch, ohne Fragen zu stellen.
Danach wandte er sich wieder an Ellen. »Und das alles kam von Ihrem Sohn?«
Ellen machte sich auf eine Andeutung, wenn nicht gar einen offenen Vorwurf gefasst: Woher konnte er das wissen, wenn er nicht selbst daran beteiligt war? Es war allgemein bekannt, dass er zum Islam konvertiert war. Er liebte den Nahen Osten trotz allem, was er dort erlebt hatte.
Wie sollten sie seinen Angaben trauen?
»Er ist ein mutiger Mann«, sagte Doug Williams stattdessen. »Bitte richten Sie ihm meinen Dank aus. Jetzt brauchen wir mehr Informationen.«
»Ich glaube, der Ajatollah hat versucht, sie mir zukommen zu lassen.«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil er bereits an seine Nachfolge denkt und an die Zukunft des Iran. Er will nicht, dass sie ihm aus den Händen genommen und von einem politischen Gegner oder gar von den Russen bestimmt wird. Natürlich wünscht er auch keine amerikanische Einmischung. Aber er sieht einen schmalen Pfad in Richtung Annäherung. Eine Möglichkeit für die Katze und die Ratte, zusammenzuarbeiten.«
»Wie bitte?«
»Egal. Bloß eine Geschichte.«
Der Präsident nickte. Er musste nicht erst die Fabel hören, um den Sinn dahinter zu begreifen. »Wenn wir Shah aufhalten, gewinnen wir beide.«
»Aber Ajatollah Khoshravi durfte nicht dabei gesehen werden, wie er mir die Informationen gibt. Ich habe meine Tochter Katherine zusammen mit Charles Boynton im Iran gelassen, in der Hoffnung, dass ich recht behalte. Der Ajatollah hat eine meiner Mitarbeiterinnen verhaften lassen. Anahita Dahir.«
»Die, die die Warnung per Mail erhalten hat?« Der Präsident hatte den Namen wiedererkannt.
»Genau.« Im Moment sah Ellen keine Notwendigkeit, ihn über Anahitas familiären Hintergrund aufzuklären. »Und dann hat er mich zur Ausreise aufgefordert.«
»Ich gebe unseren Leuten in der Schweizer Botschaft in Teheran Bescheid, dass eine unserer Mitarbeiterinnen illegal festgehalten wird.«
»Nein, bitte, tun Sie das nicht.«
Seine Hand, die er bereits nach dem Telefon ausgestreckt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Warum nicht?«
»Ich glaube, der Ajatollah hat es getan, damit er die fraglichen Informationen an uns weitergeben kann.«
»Aber warum hat er Ihnen nicht direkt gesagt, was Sie wissen wollten?«
»Das wäre zu auffällig gewesen. Er musste dafür sorgen, dass ich den Iran verlasse. Er wusste, falls uns jemand beobachtet …«
»Die Russen …«
»Oder die Pakistaner oder Shah – würden sie sich an meine Fersen heften. Jetzt glauben sie, ich wäre in Ungnade gefallen …«
»Tja.« Der Präsident verzog das Gesicht.
»… und es interessiert sie nicht weiter, dass ich meine Tochter und Boynton zurückgelassen habe, damit sie versuchen, meine Mitarbeiterin aus dem Gefängnis zu holen.«
»Aber Sie sagten, Sie hätten sie zurückgelassen, um die Informationen entgegenzunehmen, die der Ajatollah an Sie weitergeben will. Um was für Informationen handelt es sich denn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen nicht mal, ob das sein Plan war. Sie riskieren einiges, Ellen.«
Alles, dachte sie, ohne es jedoch laut auszusprechen. »Es steht ja auch viel auf dem Spiel.«
»Boynton«, fuhr der Präsident fort. »Ihr Stabschef. Ist er nicht derjenige, der den Kampf mit einem Cremetörtchen verloren hat?«
»Ich glaube, es war ein Schokoladenbiskuitröllchen.«
»Na ja, ihn wird wenigstens niemand der Spionage bezichtigen. Haben die beiden schon etwas in Erfahrung gebracht?«
Ellen atmete ein. »Ich habe seit mehreren Stunden nichts mehr von ihnen gehört.«
Doug Williams biss sich auf die Lippe und nickte mechanisch. »Wir müssen herausfinden, wo diese Bomben sind. Und wo sie gebaut werden.«
»Genau, Mr. President. General Whitehead wird es Ihnen aller Voraussicht nach nicht sagen, auch wenn ich glaube, dass er es weiß.«
»Notfalls prügeln wir es aus ihm heraus.«
Ellen, die entsetzt gewesen war, nachdem sie von der Brutalität »erweiterter Verhörtechniken« erfahren hatte, entdeckte tief in ihrem Innern unerwartet einen Quell der Situationsethik. Wenn er unter Folter verriet, wo die Bomben waren, und sie auf diese Weise Tausende Menschenleben retten konnten – warum nicht?
Ellen blickte auf ihre im Schoß liegenden Hände. Sie hatte die Finger ineinander verschränkt, die Knöchel traten weiß hervor.
»Was ist?«, fragte Betsy.
Ellen hob den Kopf und sah ihrer Freundin in die Augen. Betsy nickte unmerklich zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.
»Du könntest es nicht tun, oder? Der Zweck heiligt nicht die Mittel …«
»Der Zweck wird durch die Mittel definiert«, sagte Ellen, dann sah sie Doug Williams an. »Es gibt bessere und schnellere Methoden als Folter. Wir wissen, dass Menschen unter Folter alles Mögliche gestehen, nur damit es aufhört. Es muss nicht unbedingt die Wahrheit sein. Außerdem würde Whitehead zu lange standhalten. Wir müssen sein Haus durchsuchen. Er bewahrt solche Informationen sicher nicht in seinem Büro im Pentagon auf, und ich bezweifle, dass er sie auf seinem Rechner gespeichert hat. Er muss die Aufzeichnungen irgendwo bei sich zu Hause haben.«
Williams betätigte den Knopf der Gegensprechanlage. »Wo ist Tim Beecham?«
»Im Krankenhaus, Sir. Er hat ein gebrochenes Nasenbein. Er müsste bald entlassen werden.«
»Wir haben keine Zeit. Schicken Sie mir seinen Stellvertreter rein. Sofort.«
»Ich würde gerne mitfahren«, sagte Ellen im Aufstehen.
»Gern«, sagte Williams. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich setze mich mit unseren Verbündeten in Kontakt. Mal sehen, was die Nachrichtendienste über die anderen Wissenschaftler herausfinden können, die für Shah arbeiten.«
Unter Sirenengeheul brauste der Konvoi in Richtung Bethesda. Ellen schaute die ganze Zeit immer wieder auf ihr Handy.
Ihre Angst war mittlerweile beinahe unerträglich geworden. Was, wenn sie nie wieder etwas von ihnen hörte? Was, wenn sie ihre eigenen Kinder in den Tod geschickt hatte und niemals erfuhr, was ihnen zugestoßen war?
Vielleicht sollte sie Aziz in Teheran anrufen. Der iranische Außenminister konnte bestimmt helfen. Er konnte Leute nach Belutschistan zu den Höhlen schicken, um nachzuschauen …
Doch sie zögerte.
Sie musste Katherine mehr Zeit geben. Wenn sie Aziz jetzt kontaktierte, würde das ihren Plan durchkreuzen.
Stattdessen zwang sie sich dazu, sich auf die vor ihnen liegende Aufgabe zu konzentrieren. Sie mussten die Informationen finden, die General Whitehead irgendwo versteckt hatte.
»Hat er noch etwas zu dir gesagt?«, fragte sie Betsy zum hundertsten Mal. »Irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte?«
Betsy zermarterte sich das Hirn. »Nur dieses verfluchte Gedicht, und das hilft uns nicht weiter.«
Es war regelrecht unheimlich gewesen, wie er John Donne zitiert hatte. Und das nun schon zum zweiten Mal.
Sie bogen in die Einfahrt des im Cape-Cod-Stil erbauten Hauses ein. Es hatte einen weißen Gartenzaun, Erkerfenster und eine breite Veranda mit Schaukelstühlen.
Dass es so uramerikanisch aussah, fast schon klischeehaft, machte Ellen nur noch wütender. Sie spürte, wie ihr die Galle hochkam.
Agenten hämmerten an die Haustür, während andere ums Haus herum nach hinten eilten.
Gerade als sie sich mit Gewalt Zutritt verschaffen wollten, erschien eine Frau in der Tür. Ihre grauen Haare waren schlicht und klassisch geschnitten, sie trug eine Stoffhose und eine seidene Bluse.
Elegant, dachte Ellen, ohne prätentiös zu sein.
»Was gibt es denn? Was ist los?« Ihre Stimme war kurz vor dem Befehlston. »Wo ist Bert?«, fragte sie, als sie zur Seite geschoben wurde.
Sie spähte an den Agenten vorbei und hielt Ausschau nach ihrem Mann. Stattdessen fiel ihr Blick auf die Außenministerin.
Sie hielt einen großen Hund am Halsband, der zugleich aufgeregt und verdattert wirkte. In den Tiefen des Hauses hörte man ein Kind weinen. »Was geht hier vor?«
»Aus dem Weg«, sagte einer der Agenten und schubste sie zur Seite.
Ellen nickte Betsy zu, die Mrs. Whitehead am Arm nahm und mit ihr zurück in Richtung des weinenden Kindes ging.
Inzwischen waren die Agenten überall im Haus ausgeschwärmt. Sie zogen Bücher aus Regalen, kippten Sessel und Sofas um, nahmen Gemälde von den Wänden. Das Haus, Augenblicke zuvor noch elegant und behaglich, war ins Chaos gestürzt worden. Und die Unordnung wurde immer größer.
Betsy folgte der Ehefrau des Generals in die Küche, während Ellen das Arbeitszimmer suchte, wo der stellvertretende Direktor der Nationalen Nachrichtendienste und die ranghöheren Einsatzkräfte nach Unterlagen suchten.
Das Zimmer war groß und hell, mit riesigen Fenstern, durch die man in den Garten schauen konnte. Dort hing eine selbst gebaute Schaukel. Sie bestand aus einem dicken Brett und zwei Seilen, die um den Ast einer Eiche geschlungen waren.
Auf dem Rasen lag ein kleiner Football.
Die Wände des Arbeitszimmers waren gesäumt von Regalen voller Bücher und gerahmter Fotos, die alle einzeln heruntergenommen, untersucht und dann achtlos zu Boden geworfen wurden.
Was es im Arbeitszimmer nicht gab, waren irgendwelche Orden oder Auszeichnungen.
Nur Fotos seiner Kinder und Enkelkinder. Von Bert Whitehead und seiner Frau. Von Freunden und ehemaligen Kameraden.
Während um sie herum ein Tornado wütete, stand die Außenministerin an der Wand und dachte nach.
Was veranlasste einen Mann dazu, sein Land zu verraten? Bürger seines Heimatlandes zu ermorden? Eine der Bomben war mit ziemlicher Sicherheit in DC deponiert worden. Wahrscheinlich sogar im Weißen Haus.
Der Präsident wusste dies, weshalb er seine Vizepräsidentin und alle Kabinettsmitglieder bis auf Ellen fortgeschickt hatte. Die Explosion und die Strahlung würden in einem Umkreis von vielen Kilometern alles Leben auslöschen. Alles würde entweder zerstört oder verstrahlt werden.
Was war mit Bert Whitehead geschehen? Wenn die Antwort war, dass er mit Terroristen konspirierte, wie zur Hölle lautete dann die Frage?
Ellen gesellte sich zu Betsy in der Küche, wo Mrs. Whitehead und ihre Tochter gerade vernommen wurden.
Sie stand eine Weile im Türrahmen und hörte zu, während die Frauen von zwei Agenten mit Fragen bombardiert wurden, während das weinende Kind in den Armen seiner Mutter zappelte.
»Könnten Sie uns bitte allein lassen?«, sagte sie.
Die Agenten schauten verärgert in ihre Richtung, dann sprangen sie auf.
»Ich würde gerne mit Mrs. Whitehead und ihrer Tochter allein sprechen.«
»Das geht nicht.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ja, Madame Secretary.«
»Gut. Ich komme gerade vom Krankenbett meines Sohnes in Frankfurt. Ich bin die ganze Nacht geflogen« – sie dehnte die Wahrheit ein bisschen –, »um hier sein zu können. Da ist es doch sicher möglich, uns ein paar Minuten zu gönnen.«
Die beiden wechselten einen Blick. Glücklich waren sie damit ganz offensichtlich nicht. Aber sie verließen den Raum.
Ehe sie sich setzte, warf Ellen einen Blick auf das weinende Kind. »Vielleicht gehen Sie ein bisschen mit ihm an die frische Luft«, sagte sie zu der Tochter.
»Mom?«
Mrs. Whitehead nickte knapp. Als ihre Tochter und ihr Enkelsohn den Raum verlassen hatten, nahm Ellen Platz und musterte die Frau. Sie war wütend, aber auch verängstigt und durcheinander.
Auch Ellen war ebenso verwundert. Mrs. Whitehead kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie wusste bloß nicht, woher.
Dann fiel es ihr ein. »Sie heißen gar nicht Whitehead, richtig?«
Betsy zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.
»Zu Hause schon.«
»Ansonsten sind Sie Professorin Tierney. Sie lehren Englisch in Georgetown.«
Eins der Bücher, die aufgeschlagen auf dem Boden des Arbeitszimmers lagen, hatte ein Foto dieser Frau auf dem Umschlag gehabt. Ein Autorenfoto, wenngleich es schon mehrere Jahre alt zu sein schien. Das Buch trug den Titel Der Verzweiflung Knecht, was ein Zitat aus einem Gedicht von John Donne war. Es war eine Biografie des metaphysischen Dichters.
»Warum zitiert ihr Mann andauernd Hast Du’s getan, ist’s nicht getan?«
»Denn ich hab mehr«, vollendete Professorin Tierney den Satz. »Es ist ein Wortspiel. Ich bin Donne-Expertin. Das macht Bert in gewisser Weise auch zu einem Donne-Experten. Wahrscheinlich gefällt ihm das Zitat einfach.«
»Ja, aber warum?«
»Ich weiß nicht. Ich habe es noch nie aus seinem Mund gehört. Sie sind doch nicht hier, um über Lyrik zu sprechen, Madame Secretary. Sagen Sie mir, was los ist. Wo ist mein Mann?«
»Wenn seine Nähe zu Ihnen ihn zu einem Donne-Experten gemacht hat«, sagte Ellen, »hat es Sie dann auch zu einer Expertin auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit gemacht?«
»Ich will einen Anwalt«, sagte Tierney. »Und ich will mit Bert sprechen.«
»Ich bin keine Polizistin, und Sie sind nicht verhaftet. Ich bitte Sie lediglich, uns zu helfen. Ihrem Land.«
»Dann muss ich zuerst wissen, worum es geht.«
»Nein. Sie müssen unsere Fragen beantworten.« Ellen senkte die Stimme und fuhr in ruhigerem Ton fort. »Ich weiß, das ist ein Schock für Sie. Mir ist klar, dass Sie Angst haben. Aber bitte, sagen Sie uns, was wir wissen müssen.«
Professorin Tierney zögerte, dann nickte sie. »Ich helfe, wenn ich kann. Sagen Sie mir nur eins, ist Bert wohlauf?«
»Hat Ihr Mann jemals Bashir Shah erwähnt?«
»Den Waffenhändler? Ja, erst gestern. Er hat sich aufgeregt, weil sein Hausarrest aufgehoben wurde.«
»Das hat er Ihnen erzählt?«, fragte Ellen.
»Ist das ein Staatsgeheimnis?«
Ellen überlegte kurz. »Nein, wohl nicht.«
»Nein, Bert hat mir nie und würde mir auch nie irgendwelche Geheimnisse verraten.«
»Shahs Freilassung hat ihn also überrascht?«
»Er war geschockt. Und so wütend, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt habe.«
Ellen war versucht, ihr zu glauben, aber genau darauf spekulierten solche Leute, solche Verräter: auf die Bereitschaft der Menschen, das Schlimmste anzunehmen, aber vor dem Katastrophalen die Augen zu verschließen.
Wenn General Whitehead wütend gewesen war, dann nicht, weil man Shah aus dem Hausarrest entlassen hatte, sondern weil sie dahintergekommen waren.
»Wo bewahrt Ihr Mann seine privaten Unterlagen auf?«, fragte sie.
Nach einer kurzen Pause sagte Professorin Tierney: »Es gibt einen Safe hinter dem Bücherregal direkt neben der Tür zum Arbeitszimmer.«
Ellen war bereits aufgestanden. »Die Kombination?«
»Lassen Sie mich mitkommen. Ich öffne ihn.«
»Nein. Wir brauchen die Kombination.«
Die zwei Frauen starrten einander an, und schließlich lenkte die Professorin ein. »Es sind die Geburtstage unserer Kinder.«
Einige Minuten später kehrte Ellen zurück. »Lass uns gehen«, sagte sie zu Betsy.
Sobald sie im Wagen saßen, fragte diese: »Und? Was war im Safe?«
»Nichts bis auf die Geburtsurkunden der Kinder. Man wird sie analysieren für den Fall, dass sie verschlüsselte Botschaften enthalten, aber …«
Betsy fiel auf, dass Ellen nicht mit leeren Händen gegangen war. Sie hatte Tierneys Buch mitgenommen.
Der Verzweiflung Knecht.
Und Magd, dachte Betsy.
Erst als er die Grenze zu Pakistan überquert hatte, hatte Gil wieder Signal. Er hielt an und tippte schnell eine Nachricht an seine Mutter.
Es war gefährlich, in einem Fahrzeug am Straßenrand zu stehen, deshalb verweilte er nicht länger. Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, machte er sich auf die Fahrt zum Flughafen.
»Ich gehe«, verkündete Anahita.
»Ich komme mit«, sagte Zahara. »Mein Vater, ich muss …«
Sie standen beim Wagen, mit dem Farhad sie hergefahren hatte, doch der Schlüssel war nicht auffindbar. Irgendwann dämmerte ihnen, dass er ihn wahrscheinlich bei sich getragen hatte.
Katherine, die ihren eigenen Vater unerwartet verloren hatte, verstand. Sie nickte. »Okay, aber beeilt euch. Gott weiß, wer uns sonst noch alles auf den Fersen ist. Irgendwer muss den Russen von unserem Treffen erzählt haben.«
»Farhad«, sagte Boynton. »Er hat beide Seiten gegeneinander ausgespielt.«
Katherine gab Anahita die Pistole, die Boynton dem toten Mann abgenommen hatte. »Kommt schnell zurück.«
Die zwei Cousinen, die einander in Gestalt und Bewegung so sehr ähnelten, kletterten gemeinsam die Anhöhe zum Höhleneingang hinauf. Sobald sie sich durch den Spalt gezwängt hatten, eilten sie die mittlerweile vertrauten Tunnel entlang, auf das schwache Leuchten der zerschlagenen Laternen zu.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als Zahara langsamer wurde und schließlich stehen blieb. Sie hob die Hand. Ana blieb neben ihr. Angespannt. Alle Sinne in Alarmbereitschaft.
Dann hörte sie es auch.
Stimmen. Russische Stimmen.
»Scheiße«, murmelte sie. »Mist, Mist, Mist.«
Sie warf einen Blick zurück zum Höhlenausgang, dann in Richtung des Lichtscheins und der wütenden Stimmen.
Sie hatten keine Wahl. Sie brauchten die Autoschlüssel.
In geduckter Haltung kroch Anahita auf die Kammer zu. In dem Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite bewegten sich dunkle, verzerrte Schemen. Sie warf einen Blick auf Zahara, die den Leichnam ihres Vaters anstarrte. Er lag noch dort, wo er hingefallen war, teilweise hinter den Felsen verborgen.
»Geh«, flüsterte Ana. »Aber beeil dich.«
Sie war nicht sicher, was Zahara tun musste, und jetzt war auch nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber auszutauschen.
Bäuchlings robbte sie auf Farhads Leiche zu. Sie zwang sich hinzusehen, während sie ihn abtastete. Irgendwann hatte sie den Schlüssel gefunden.
Ganz, ganz vorsichtig zog sie ihn aus seiner Tasche. Sie versuchte möglichst kein Geräusch zu machen.
Die Beute fest in der Hand, schaute sie zu Zahara, gerade als ihre Cousine ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn gab, ehe sie auf Händen und Knien zu ihr zurückkroch.
Sie hatten es bis zur Einmündung des Tunnels geschafft, der sie zum Ausgang bringen würde, als sie jemanden etwas rufen hörten. Im nächsten Moment wurden sie vom Lichtkegel einer Taschenlampe gestreift.
Die beiden Frauen wirbelten herum und rannten los, ohne zurückzuschauen oder sich um Deckung zu bemühen. Sie stürzten den Tunnel hinunter auf den Spalt zu, durch den, schmal wie eine Messerklinge, die Sonne hereinschien.
Hinter sich hörten sie das Poltern von Schritten und gerufene Befehle.
Sobald sie sich ins Freie gezwängt hatte, alarmierte Anahita Katherine und Boynton. »Da sind noch mehr! Sie haben uns gesehen!«
»Sie kommen!«, rief Zahara, die hinter ihr den Abhang hinunterschlitterte.
Katherine rannte auf sie zu und riss Anahita die Autoschlüssel aus der Hand. »Steigt ein!«
Es bedurfte keiner weiteren Überredung. Als der Motor des Wagens aufheulte, hörten sie die ersten Schüsse. Ana kurbelte die Scheibe herunter und erwiderte das Feuer, ohne zu zielen. Sie hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehabt, geschweige denn abgefeuert. Doch es reichte, um die beiden Männer, die am Höhlenausgang aufgetaucht waren, in Deckung springen zu lassen.
Katherine trat das Gaspedal durch, und sie rasten los. Als Ana sich noch einmal umdrehte, waren die Männer verschwunden.
Doch nicht für lange, das wusste sie. Das wusste auch Katherine. Das wussten alle.
Sie würden die Verfolgung aufnehmen.
Boynton hatte auf der Rückbank einige alte Karten entdeckt. Nun versuchte er herauszufinden, wo genau sie sich befanden und wo sie hinfuhren.
»Mein Telefon hat keinen Saft mehr«, sagte Katherine, die sich anstrengen musste, um das klapprige Auto auf der Straße zu halten. »Wir müssen meiner Mutter mitteilen, was Farhad über Shahs Physiker gesagt hat. Charles?«
»Bin schon dabei«, sagte Boynton, der mit der Karte kämpfte. Zahara nahm sie an sich, während das Auto hüpfte und schlingerte.
Boyntons Handy war im roten Bereich. Der Akku hatte noch drei Minuten.
Er schrieb mit fliegenden Fingern, achtete jedoch darauf, sich nicht zu vertippen. Jetzt war nicht die Zeit, um Fehler zu machen.
Er drückte auf Senden und atmete aus.
»Wohin jetzt?«, wollte Anahita wissen.
In der Ferne folgte ihnen eine Staubwolke. Im Wagen war es still. Sie wussten kaum, wo sie waren, und erst recht nicht, wohin sie fliehen sollten.
»Bitte, fahren Sie rechts ran«, sagte Ellen.
Der Mann am Steuer, ein Mitarbeiter des diplomatischen Sicherheitsdienstes, gehorchte.
»Madame Secretary?«, fragte Steve Kowalski vom Beifahrersitz aus und drehte sich zu ihr um.
Doch sie gab keine Antwort. Stattdessen las sie immer wieder die zwei Nachrichten, die fast gleichzeitig auf ihrem Telefon eingegangen waren.
Erst die von Gil, vom Handy dieses Akbar. Er schrieb, er sei auf dem Rückweg nach DC via Frankfurt.
Dann die von Charles Boynton.
Ellen holte tief Luft, dann beugte sie sich nach vorn und wandte sich an den Fahrer. »Wir müssen zum Weißen Haus. So schnell, wie es irgendwie geht.«
»Alles klar.«
Die Sirene wurde eingeschaltet, und mit blinkenden Lichtern rasten sie durch die Straßen.
»El?«, sagte Betsy. »Was ist los?«
»Katherine und Boynton haben die Informationen. Wir wissen jetzt, wo die Bomben gebaut werden.«
»Dem Himmel sei Dank. Wissen wir auch, wo sie deponiert wurden? In welchen Städten?«
»Nein, aber das werden wir herausfinden, sobald wir die Fabrik stürmen. Gil hat auch geschrieben. Er ist auf dem Weg hierher. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht nach Hause kommen.«
Betsy nickte, während sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie gleich durchdrehte. »Wenigstens sind sie in Sicherheit.«
»Na ja …«, sagte Ellen. Charles’ Nachricht hatte sie entnommen, dass das beileibe nicht der Fall war. »Könntest du die Höhlenmalereien von Saravan im Internet suchen? Die sind in der Provinz Sistan und Belutschistan im Iran.«
»Wieso?«, fragte Betsy, während sie sich bereits an die Arbeit machte.
»Weil ich Katherine und Boynton dorthin geschickt habe.«
»Um sie aus der Gefahrenzone zu bringen?«
»Nicht direkt.« Sobald Betsy eine Karte der Region aufgerufen hatte, studierte Ellen diese eingehend und zog mit dem Finger eine Linie über die Grenze zwischen dem Iran und Pakistan. Dann schrieb sie eine rasche Nachricht an ihren Sohn.
Gil hörte den Signalton und hielt abermals an, um die Nachricht seiner Mutter zu lesen.
Er warf einen kurzen Blick auf seine Karte. »Scheiße.«
Trotzdem überlegte er nur einen Augenblick, dann schickte er seine Antwort.
Ellen konnte bereits die Kuppel des Kapitols sehen, als Gils Antwort kam.
Sie leitete sie an Boynton weiter und fügte noch einige Zeilen hinzu. Dann ließ sie sich in die Polster der Rückbank sinken und dachte nach.
Boyntons Akku hatte noch Saft für eine Minute, als er die Nachricht seiner Chefin erhielt.
»Stift, Papier, schnell!«, rief er und riss Zahara die Straßenkarte aus der Hand. Er kritzelte ein paar Worte darauf, dann war sein Telefon tot.
»Pakistan«, verkündete er den anderen. »Wir müssen nach Pakistan.«
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, fragte Zahara. »Ich bin Iranerin. Wahrscheinlich werden sie uns umbringen.«
»Die da werden uns garantiert umbringen«, meinte Anahita und zeigte auf die Staubwolke hinter ihnen.
Charles lehnte sich zwischen die Vordersitze. »Ihr Bruder ist in Pakistan«, sagte er zu Katherine. »Er kann uns treffen. Er hat Freunde und Kontakte dort. Ich habe den Namen der Stadt. Es ist ziemlich weit bis dorthin, aber wir müssten es schaffen. Hauptsache, sie lassen uns über die Grenze.«
Katherine warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Staubwolke kam näher.
Während Zahara und Anahita den kürzesten Weg zur Grenze heraussuchten, lehnte sich Charles Boynton zurück und grübelte.
Etwas machte ihm zu schaffen. Er hatte etwas vergessen. Dann fiel es ihm wieder ein. Hastig holte er noch einmal sein Telefon hervor. Er drückte und drückte darauf herum, doch es nützte nichts. Der Akku war leer.
Er hatte vergessen, Außenministerin Adams die letzten Worte des sterbenden Farhad zu übermitteln.
Weißes Haus.