KAPITEL 34

Der Konvoi der Außenministerin hielt vor dem hohen vergoldeten Tor, das zum Anwesen von Eric Dunn führte.

Obwohl der Expräsident wusste, dass sie kamen, und obwohl seine privaten Sicherheitsleute sahen, wie der Autokorso sich die lange Zufahrt hinaufschlängelte, ließ man sie erst einmal warten.

Außenministerin Adams lächelte und blieb höflich, als die Wachleute, im Wesentlichen Dunns Privatarmee, sie dazu aufforderten, sich auszuweisen, und sich dann sehr viel Zeit ließen, bis sie ihr die Papiere zurückgaben. Von Dunns Leuten unbemerkt, wippte Ellens Knie vor Ungeduld auf und ab, während Betsy ihr gesamtes Arsenal an Schimpfwörtern aufbrauchte.

Steve Kowalski, Ellens Sicherheitschef, der lange Jahre beim Militär gewesen war, drehte sich vom Beifahrersitz aus um und beäugte Mrs. Cleaver, während diese Worte miteinander vermählte, die niemals ein eheähnliches Bündnis hätten eingehen dürfen. Nomen wurden zu Verben, und aus Verben schuf sie völlig neue, noch nie da gewesene Wortarten, und das Resultat dieser linguistischen Akrobatik war gleichermaßen grotesk wie urkomisch. Es war ein Spektakel, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Und er war bei den Marines gewesen.

Er bewunderte die Außenministerin. Doch ihre persönliche Beraterin verehrte er.

Auf der Fahrt vom Flughafen hatten sie im Fernsehen die Pressekonferenz verfolgt, die Eric Dunn gegeben hatte, während sie im Flieger gesessen hatten. Er hatte sie kurzfristig einberufen, obwohl – oder weil – er gewusst hatte, dass sie auf dem Weg zu ihm waren.

Der einzige Zweck dieser Pressekonferenz schien es gewesen zu sein, Ellens Sohn in den Dreck zu ziehen. Dabei hatte Dunn sich nicht mit bloßen Andeutungen begnügt, sondern Gil Bahar offen bezichtigt, in die Bombenanschläge von London, Paris und Frankfurt verwickelt zu sein. Er sei radikalisiert worden. Er habe seine Mutter, die Außenministerin, manipuliert und sie womöglich sogar gegen die USA aufgestachelt. Ein Land, so hatte er wild gestikulierend gerufen, das infolge des Regierungswechsels extrem geschwächt sei. Ein Land, in dem jetzt Radikale, Sozialisten, Terroristen, Abtreibungsgegner, Verräter und Idioten das Sagen hätten.

»Sie können weiterfahren«, sagte der Wachmann. Er trug ein Abzeichen, das Ellen aus Dossiers über eine ultrarechte Gruppierung wiedererkannte.

»Ist der Secret Service nicht mehr für die Sicherheit des ehemaligen Präsidenten zuständig?«, fragte sie Kowalski, als sie in ihrem SUV den Rest des Weges zum Haus fuhren, das aussah wie ein Schloss.

»Eigentlich schon«, antwortete er. »Aber er hat die Führungspositionen mit seinen eigenen Leuten besetzt. Er denkt, der Secret Service ist Teil des Deep State.«

»Tja, wenn er damit meint, dass der Secret Service den Vereinigten Staaten und dem Amt des Präsidenten, aber nicht dem Individuum dient, dann hat er wohl recht«, sagte Ellen.

Ehe sie ausstieg, warf sie noch einen letzten Blick auf ihr Mobiltelefon. Keine weitere Nachricht von Katherine, Gil oder Boynton. Auch nicht vom Präsidenten.

Sie gab es Kowalski und trat ins Freie. Wenig später standen sie und Betsy vor den großen Doppeltüren und warteten auf Einlass.

Und warteten. Und warteten.

Mit Entsetzen beobachtete der Barkeeper, wie Pete Hamilton sich seinen Weg durch den schummrig beleuchteten Raum bahnte und einen Barhocker erklomm.

»Ich dachte, ich hätte Ihnen verboten, noch mal herzukommen«, sagte er, sobald Hamilton saß.

Doch an dem jungen Mann war irgendetwas anders. Er sah nicht mehr so fertig aus wie sonst. Seine Augen waren klarer, seine Kleidung ordentlicher. Er hatte sich sogar die Haare gewaschen.

»Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte der Barkeeper.

»Was meinen Sie?«

Der Barkeeper betrachtete Pete mit schief gelegtem Kopf und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass er den jungen Mann mochte. Vier Jahre lang hatte er seinen langsamen, herzzerreißenden Absturz aus nächster Nähe miterlebt. Er fühlte mit dem Burschen.

Der Politikbetrieb konnte brutal sein, egal auf welcher Ebene. Hier in DC war er absolut gnadenlos. Und der junge Mann war öffentlich an den Pranger gestellt worden. Man hatte ihn aufgespießt und über offenem Feuer geröstet.

Doch jetzt schien Pete Hamilton sich überraschenderweise gefangen zu haben. Er wirkte wieder gesund und frisch, und das nach nur einem Tag. Schon erstaunlich, was eine Dusche und saubere Klamotten bewirken konnten.

Doch der Barkeeper arbeitete schon viel zu lange in seinem Job, um sich von Äußerlichkeiten täuschen zu lassen. Das war eine Fassade, nicht mehr.

»Ich nehme einen Scotch«, sagte Pete.

»Sie kriegen ein Mineralwasser.« Der Barkeeper gab noch eine Limettenscheibe in das hohe Glas und stellte es auf einen Untersetzer mit einer Karikatur der Außenministerin Ellen Adams.

Pete lächelte und sah sich um.

Niemand schenkte ihm Beachtung. Er wusste, dass es womöglich ein Fehler gewesen war, herzukommen. Er war angewiesen worden, direkt nach Hause zu fahren, zumal er noch Arbeit vor sich hatte. Er wollte weitere Beweise gegen Whitehead und seine eventuellen Komplizen im Weißen Haus sammeln.

Doch er wollte auch hören, was hier in den Eingeweiden der Macht geredet wurde.

Das Hauptthema, oder vielmehr das einzige Thema, war natürlich Bert Whitehead und das Gerücht, der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs sei festgenommen worden.

Was ihm vorgeworfen wurde, war unklar.

Die größte Gruppe von Gästen hatte sich um eine junge Frau geschart, die kurz zuvor die Bar betreten hatte. Pete hatte sie noch nie im Off the Record gesehen, erkannte sie jedoch wieder. Sie waren sich früher am Tag kurz begegnet, während er darauf gewartet hatte, ins Oval Office vorgelassen zu werden. Sie war die Assistentin von Präsident Williams’ Stabschefin.

Ihre Blicke trafen sich, und sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Er erwiderte es. Vielleicht, dachte er, ehe er sein Glas nahm und langsam in ihre Richtung schlenderte, war heute sein Glückstag.

Ihm kam nicht in den Sinn, sich zu fragen, weshalb Barb Stenhausers Assistentin mitten in der größten Krise, die das Land je gesehen hatte, in einer Bar herumsaß.

Ihm kam nicht in den Sinn, sich zu fragen, ob sie ihm womöglich ins Off the Record gefolgt sein könnte.

Ihm kam nicht in den Sinn, sich zu fragen, ob heute vielleicht doch nicht sein Glückstag war, sondern das genaue Gegenteil.

Präsident Williams hatte den Lageraum verlassen, war jedoch eine halbe Stunde später zurückgekehrt, nachdem er eine zuvor anberaumte Pressekonferenz gegeben hatte.

Sie abzusagen hätte keinen guten Eindruck gemacht, trotzdem hatte er sie auf zehn Minuten begrenzt. Den Rest der Zeit hatte er genutzt, um andere Dinge zu erledigen.

Von den Journalisten waren einige Fragen zu Bert Whitehead gekommen, aber keine sehr fundierten. Ein Sturm braute sich zusammen, doch noch war das Gewitter nicht ausgebrochen. Der Donner rollte nur unheilverkündend in der Ferne.

»Was haben Sie?«, fragte Williams, nachdem er sich wieder zu seinen Generälen gesellt hatte.

Diese hatten in der Zwischenzeit zwei Aktionspläne ausgearbeitet.

»Wirklich zufrieden sind wir mit keinem der beiden, Sir«, sagte der Leiter des Kommandos für Spezialoperationen. »Aber auf die Schnelle war nichts anderes möglich. Wenn wir mehr Zeit hätten …«

»Haben wir aber nicht«, unterbrach Williams ihn. »Im Gegenteil, die Zeit rennt uns nur so davon.« Er hörte sich die beiden Vorschläge an. »Wie sind die Erfolgsaussichten?«

»Unseren Schätzungen nach zwanzig Prozent für das erste Szenario und zwölf für das zweite. Wenn sich die Taliban in den Bergen so gut verschanzt haben, wie berichtet wird, müssen wir davon ausgehen, dass wir unser Team nicht mal erfolgreich absetzen können.«

»Wir könnten die Fabrik auch einfach bombardieren«, meinte ein General.

»Klingt verlockend«, räumte der Präsident ein. »Aber wenn es dort weitere atomare Sprengkörper gibt, würden wir riskieren, dass sie hochgehen. Außerdem würden wir damit sämtliche Unterlagen zerstören, die es dort vielleicht gibt und die uns Aufschluss darüber geben könnten, wo in den USA die Bomben versteckt sind. Das hat im Moment oberste Priorität.«

»Gibt es keine anderen Möglichkeiten, an diese Informationen zu gelangen?«

»Wenn es welche gäbe, würden wir sie nutzen.« Der Präsident beugte sich über die Karte. »Vielleicht ist es leichtsinnig, aber ich sehe noch eine andere Möglichkeit. Angenommen, wir landen hier …« Er zeigte auf eine Stelle der Karte, die die Generäle bisher noch gar nicht beachtet hatten.

»Das Gelände ist viel zu unwegsam«, sagte einer.

»Aber es gibt hier ein Plateau. Gerade groß genug, dass zwei Helikopter dort landen könnten.«

»Woher wissen Sie, dass es dort ein Plateau gibt?«, fragte ein anderer und beugte sich dichter über die Karte.

»Das sieht man doch.« Präsident Williams drehte die Karte und zoomte näher heran. Tatsächlich befand sich an einer Stelle eine flache, wenngleich sehr kleine Hochebene.

»Tut mir leid, Mr. President, aber was würde das bringen? Der Landeplatz ist zehn Kilometer von der Fabrik entfernt. Unsere Soldaten würden es nie bis an den Einsatzort schaffen.«

»Das sollen sie auch gar nicht. Sie wären lediglich ein Ablenkungsmanöver. Wir könnten sie aus der Luft unterstützen und die Kräfte der Taliban binden, während das eigentliche Team direkt über der Fabrik abspringt.«

Alle starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

»Aber das wäre Wahnsinn«, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs. »Sie würden sofort getötet werden.«

»Nicht, wenn wir ein Ablenkungsmanöver starten. Wenn die Kräfte der Taliban woanders gebunden sind. Das wäre doch möglich, oder?« Er blickte in die Runde. »In den Stunden vor der Erstürmung verbreiten wir über das Netzwerk unserer Informanten ein Gerücht, dass wir von der Anwesenheit der Taliban in der Region erfahren haben und einen Angriff auf ihre Stellungen planen. Das wird sie aufscheuchen. Die Operation findet so weit entfernt statt, dass ihnen gar nicht der Verdacht kommt, die Fabrik könnte das wahre Ziel sein, aber trotzdem tief genug im Talibangebiet, dass es glaubwürdig erscheint. Ich spreche mit Premierminister Bellington in Großbritannien. Vielleicht können wir es so aussehen lassen, als wäre es eine Kommandooperation der SAS als Vergeltungsschlag für das Bombenattentat von London. Das ist glaubhaft und lenkt den Fokus von uns ab.«

Er sah seine Generäle an, während diese Blicke miteinander wechselten.

»Wäre das durchführbar?«, wollte er wissen.

Schweigen.

»Wäre es durchführbar!«, rief er.

»Geben Sie uns eine halbe Stunde zum Überlegen, Mr. President«, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs.

»Sie haben zwanzig Minuten.« Williams ging zur Tür. »Dann will ich, dass die Einheiten in der Luft sind. Die restlichen Details können während des Fluges ausgearbeitet werden.«

Sobald er den Raum verlassen hatte, ließ er sich von außen gegen die Tür sinken, schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. »Was habe ich getan?«, murmelte er.

»Der Verzweiflung Knecht«, wisperte Betsy, als sie die große Eingangshalle durchquerten und das Interieur bestaunten, das prunkvoll gewesen wäre, hätte es sich in einem echten Palast befunden statt in diesem steingewordenen Minderwertigkeitskomplex.

»Der Präsident erwartet Sie auf der Terrasse«, teilte Dunns persönliche Assistentin ihnen mit.

In Wahrheit gab es mehrere Terrassen in italienischer Anmutung, die, treppenförmig angeordnet, zu einem fünfzig Meter langen Schwimmbecken hinabführten. In der Mitte des Beckens ragte ein Springbrunnen auf, was zwar sehr imposant aussah, es zum Schwimmen jedoch völlig ungeeignet machte.

Darum herum erstreckten sich makellos gepflegte Rasenflächen und Beete, und ganz hinten am Ende des Gartens glitzerte das Meer. Dahinter nichts als endlose Weite …

Ellen vermutete, dass für Eric Dunn die Welt an der eigenen Grundstücksgrenze endete. Alles, was sich jenseits seiner Einflusssphäre befand, war unwichtig.

Allerdings, so musste sie eingestehen, war diese Einflusssphäre noch immer erstaunlich groß.

Sie wollte das Treffen so schnell wie möglich hinter sich bringen, doch wenn sie ihm den Eindruck vermittelte, in Eile zu sein, würde er es absichtlich in die Länge ziehen, das wusste sie.

»Mrs. Adams.« Er stand auf und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

Er war groß. Geradezu hünenhaft. Ellen war ihm schon oft begegnet, wenngleich nur im Vorübergehen auf irgendwelchen Veranstaltungen. Sie hatte ihn als amüsant, sogar charmant erlebt, wenngleich er sich für andere Menschen grundsätzlich nicht interessierte und schnell gelangweilt wirkte, wenn das Scheinwerferlicht nicht auf ihn gerichtet war.

Ihre Presseorgane hatten diverse Features über ihn veröffentlicht, als sein Imperium gewachsen, zusammengebrochen und dann zu neuer Größe aufgestiegen war. Jedes Mal mächtiger. Aufgeblähter. Und fragiler.

Wie eine mit Gas gefüllte Blase konnte es jeden Moment platzen und einen ekelerregenden Gestank freisetzen.

Dann hatte er sich unerwartet der Politik zugewandt und das höchste Amt im Staat errungen – wenngleich nicht ohne die Hilfe von Personen und ausländischen Regierungen, die davon zu profitieren hofften. Und dies auch getan hatten.

Das war der lange Schatten, den das helle Licht der Demokratie warf: Menschen besaßen auch die Freiheit, ihre Freiheit auszunutzen.

»Wer ist denn diese kleine Dame?«, fragte Dunn und wandte sich an Betsy. »Ihre Sekretärin? Ihre Partnerin? Ich bin offen für alles, solange Sie sich in der Öffentlichkeit zurückhalten und nicht die Pferde scheu machen.«

Während er lachte, stieß Ellen ein leises Knurren aus. Es war als Warnung an Betsy gedacht, bloß nicht auf seine Bemerkung zu reagieren. Das hätte diesem oberflächlichen Mann nur neue Nahrung gegeben.

»Mr. President.« Ellen schüttelte ihm die Hand, ehe sie ihm Betsy Jameson, ihre gute Freundin und Beraterin, vorstellte.

»Und was raten Sie Mrs. Adams so?«, fragte er, ehe er die beiden Frauen mit einer Handbewegung einlud, auf den bereitstehenden Stühlen Platz zu nehmen.

»Außenministerin Adams hat ihren eigenen Kopf und trifft ihre Entscheidungen selbst«, sagte Betsy mit derart zuckersüßer Stimme, dass Ellen angst und bange wurde. »Ich bin nur für den Sex zuständig.«

Ellen blinzelte. Gott, dachte sie. Falls du zuhörst, hole mich jetzt zu dir. Eine Pause trat ein, dann fing Eric Dunn dröhnend an zu lachen.

»So, Ellen, was kann ich denn nun für Sie tun?«, sagte er auf die ihm eigene plump vertrauliche Art. »Ich hoffe doch, es hat nichts mit den Bombenanschlägen zu tun. Das ist ein europäisches Problem, kein amerikanisches.«

»Wir haben Informationen erhalten, die … beunruhigend sind.«

»Noch mehr Schmutz über mich?«, fragte er. »Glaube ich nicht. Fake News.«

Ellen war versucht, den Schmutz zu erwähnen, den er kurz zuvor über ihrem Sohn ausgegossen hatte, doch sie wusste, dass er genau darauf spekulierte. Stattdessen tat sie so, als hätte sie von seiner Pressekonferenz nichts mitbekommen.

»Nicht direkt, nein. Was können Sie uns über General Whitehead sagen?«

»Bert?« Dunn zuckte mit den Schultern. »Hatte nie wirklich Verwendung für ihn, aber er hat immer gemacht, was man ihm gesagt hat. Wie alle meine Generäle.«

Wollte er sie mit dieser Bemerkung zu dem Hinweis verleiten, dass es nicht wirklich »seine« Generäle waren? Oder glaubte er wirklich, was er sagte?

»Ist es denkbar, dass er noch mehr getan hat als nur das, was ihm gesagt wurde?«

Dunn schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Während meiner Amtszeit ist nichts passiert, worüber ich nicht Bescheid wusste und was nicht persönlich von mir abgesegnet wurde.«

Die Aussage könnte ihn noch in den Arsch beißen, dachte Betsy bei sich.

»Warum haben Sie zugestimmt, dass der Hausarrest gegen Dr. Shah aufgehoben wird?«, fragte Ellen.

Dunns Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. »Aha, darum geht es also. Er hat mich schon gewarnt, dass Sie mich das fragen würden.«

»Er?«, sagte Ellen. »Sie meinen General Whitehead?«

»Nein. Bashir.«

Ihre Zunge vermochte Ellen im Zaum zu halten, aber über ihren Blutfluss hatte sie keine Kontrolle. Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Sie war leichenblass geworden.

»Shah?«, fragte sie.

»Bashir, ja. Er hat mir gesagt, dass Sie sich bestimmt darüber ärgern würden.«

Ellen musste einen Augenblick verstreichen lassen, ehe sie in der Lage war, eine halbwegs zivile Antwort zu geben. »Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Sicher, warum nicht? Er wollte mir seine Dankbarkeit ausdrücken, weil ich ihm geholfen habe. Er ist ein Genie und ein guter Geschäftsmann. Wir haben viel gemeinsam. Haben Sie ihm nicht schon genug angetan? Er ist ein pakistanischer Unternehmer, der – unter anderem von Ihren Medien – zu Unrecht beschuldigt wurde, ein Waffenhändler zu sein. Er hat mir alles genau erklärt. Die Pakistaner auch. Ihr Problem ist, dass Sie Atomenergie mit Atomwaffen verwechseln.«

Betsy murmelte etwas Unverständliches.

Dunn fuhr zu ihr herum. Sein Gesicht war rot angelaufen. Die Blase war kurz vor dem Platzen.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe gesagt, Sie sind … scharfsichtig.«

Dunn funkelte sie noch eine Zeit lang böse an, dann wandte er sich wieder an Ellen.

Diese musste sich am Riemen reißen, um nicht instinktiv vor ihm zurückzuweichen. Die machtvolle Ausstrahlung dieses Mannes ließ sich nicht leugnen. Ellen hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt.

Die meisten erfolgreichen Politiker besaßen Charisma, aber bei Dunn war es viel mehr als das. Wenn man sich in seinem Orbit aufhielt, hatte man das Gefühl, bei etwas Außergewöhnlichem dabei zu sein. Da war diese Anziehungskraft, das Versprechen von Abenteuer und Gefahr. Als würde man mit Granaten jonglieren.

Es war berauschend. Und beängstigend. Sie spürte es ganz deutlich.

Ellen Adams fühlte sich nicht im Mindesten davon angezogen. Im Gegenteil, Eric Dunn widerte sie an. Nichtsdestoweniger musste sie zugeben, dass er einen starken Magnetismus und einen geradezu animalischen Instinkt besaß. Er hatte ein Händchen dafür, die Schwächen anderer aufzudecken. Menschen seinem Willen zu unterwerfen. Und wenn sie sich nicht beugen wollten, dann brach er sie.

Er war ein abscheulicher und gefährlicher Mann. Aber sie würde nicht vor ihm kuschen. Sie würde sich nicht verkriechen.

Sie würde sich nicht beugen. Und ganz bestimmt würde sie sich nicht brechen lassen.

»Wer in Ihrer Regierung hat vorgeschlagen, Dr. Shah aus dem Hausarrest freizulassen?«

»Niemand. Das war meine Idee. Ich habe mich während eines Gipfels privat mit den Pakistanern getroffen, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Dabei ist das Thema zur Sprache gekommen. Sie haben sich über die Einmischung der vorherigen Regierung beschwert und mir gesagt, wie froh sie sind, dass endlich jemand an der Macht ist, der weiß, wie man ein Land führt. Sie erwähnten Dr. Shah. In Pakistan gilt er als Held, aber das hat meinen Vorgänger nicht interessiert. Sie hatten es sehr schwer mit ihm. Er war ein Schwächling und ein Dummkopf und hat auf schlechte Berater gehört. Auf seinen Druck hin mussten die Pakistaner Bashir verhaften. Das hat unsere Beziehungen stark beschädigt. Also habe ich den Fehler wieder ausgebügelt.«

»Indem Sie Shahs Freilassung zugestimmt haben.«

»Haben Sie ihn mal kennengelernt? Kultivierter Mann, kluger Kopf. Ganz anders, als Sie denken.«

So verlockend es auch gewesen wäre, ihm zu widersprechen, Ellen unterließ es. Sie fragte auch nicht, in welcher Form Shah Präsident Dunn seine Dankbarkeit ausgedrückt hatte. Das war nicht nötig.

»Wo ist Shah jetzt?«, wollte sie stattdessen wissen.

»Eigentlich war ich gestern mit ihm zum Mittagessen verabredet, aber er hat abgesagt.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß. Ist das zu fassen? Er hat einfach abgesagt. Und das mir.«

»Er ist hier? In den USA

»Ja. Seit Januar. Ich habe arrangiert, dass er im Haus eines Freundes wohnen kann. Gar nicht weit von hier.«

»Hatte er ein Visum für seine Einreise?«

»Davon gehe ich aus. Ich habe ihn einfliegen lassen, kurz bevor ich selbst hierhergezogen bin.«

»Können Sie mir die Adresse geben?«

»Er ist nicht mehr dort, falls Sie bei ihm vorbeifahren wollen. Ist gestern abgereist.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.«

Abermals warf Ellen Betsy einen Blick zu, der sie warnen sollte, nicht auf die Provokation einzugehen. Aber Betsy starrte lediglich entsetzt vor sich hin. Sie war weder in der Stimmung noch in der Lage, ihren persönlichen Gefühlen verbal Ausdruck zu verleihen. Stattdessen schaute sie auf ihr Handy, wo soeben eine als dringend gekennzeichnete Nachricht von Pete Hamilton eingegangen war.

HLI

Das konnte nur ein Tippfehler sein. Betsy antwortete mit einem Fragezeichen, dann widmete sie sich wieder dem Gespräch.

»Mr. President«, sagte Ellen gerade, »wenn Sie wissen, wo Dr. Shah sich aufhält, oder jemanden kennen, der es weiß, sagen Sie es mir. Jetzt.«

Ihr Ton ließ Eric Dunn aufhorchen, und auf einmal wurde seine Miene ernst. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn.

»Was ist los?«

»Wir denken, Dr. Shah ist in einen Komplott involviert, bei dem es darum geht, der El Kaida Atomwaffen zu beschaffen.« Mehr würde sie ihm nicht verraten.

Dunn starrte sie an, und im ersten Moment glaubte sie, ihm einen derartigen Schock versetzt zu haben, dass er sich bereit erklären würde, ihnen zu helfen. Doch dann fing er an zu lachen.

»Köstlich. Er hat vorhergesehen, dass Sie das sagen würden. Sie leiden unter Verfolgungswahn. Er meinte auch, falls Sie davon sprechen, soll ich Sie fragen, wie Ihnen die Blumen gefallen haben. Keine Ahnung, was er damit meint. Er hat Ihnen Blumen geschickt? Muss Liebe sein.«

In dem Schweigen, das darauf folgte, hörte Ellen nichts außer ihren eigenen Atem. Dann stand sie unvermittelt auf.

»Vielen Dank für Ihre Zeit.« Sie streckte ihm die Hand hin, doch als er sie ergriff, zog sie den riesigen Mann ganz nah zu sich heran, sodass sie sich fast berührten und sie seinen Atem riechen konnte. Er roch nach Fleisch.

»Ich glaube, trotz all Ihrer Gier und Dummheit lieben Sie Ihr Land«, zischte sie leise. »Wenn die El Kaida eine Atombombe hat, werden sie sie hier einsetzen. Auf amerikanischem Boden.«

Sie ließ ihn los und blickte in sein erschlafftes Gesicht, ehe sie fortfuhr. »Sie haben wieder und wieder betont, dass im Weißen Haus nichts ohne Ihre Zustimmung geschehen ist. Vielleicht wollen Sie diese Behauptung noch einmal revidieren, oder aber Sie helfen uns dabei, die Sache zu stoppen. Wenn es zum Äußersten kommt, wird die ganze Scheiße sonst nämlich vor Ihrer goldenen Haustür landen, dafür werde ich sorgen. Wenn Sie wissen, wo Shah ist, müssen Sie es uns sagen.«

Sie sah Furcht in seinen Augen. Furcht vor der bevorstehenden Katastrophe oder davor, dass man ihn dafür verantwortlich machen könnte? Ellen wusste es nicht, und es war ihr auch egal.

»Sagen Sie es uns«, befahl sie. »Jetzt.«

»Ich kann Ihnen sagen, wo er gewohnt hat. Meine Assistentin wird Ihnen die Adresse geben. Aber das ist alles.«

Sie wusste, dass dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht alles war.

»Denn ich hab mehr …«

»General Whitehead. Welche Rolle hat er bei Shahs Freilassung gespielt?«

»Versucht er etwa, das für sich zu beanspruchen? Die Idee kam von mir.«

Ellen war fassungslos. Selbst ein Desaster wollte er sich noch als Verdienst anrechnen lassen.

Sie und Betsy warteten in der Eingangshalle auf Dunns Assistentin, die ihnen die Adresse von Shahs Villa in Palm Beach geben sollte. Als sie kam, reichte sie Ellen den Zettel mit den Worten: »Ich hoffe, Sie wissen, dass Präsident Dunn ein großer Mann ist.«

Um ein Haar hätte Ellen sie gefragt, ob Dunn sie angewiesen hatte, das zu sagen. »Vielleicht«, entgegnete sie stattdessen. »Schade nur, dass er kein guter Mann ist.«

Interessanterweise widersprach die Frau nicht.

Als sie wieder im SUV saßen, deutete Betsy auf den Zettel in Ellens Hand.

»Fahren wir da jetzt hin?«

»Nein, wir fliegen nach Pakistan.« Sie bat um ihr Smartphone und schickte die Adresse an Präsident Williams, der einen sofortigen Zugriff anordnen würde.

»Mr. President«, kam die forsche, geschäftsmäßige Stimme des britischen Premierministers aus der sicheren Leitung. »Was kann ich für Sie tun?«

»Gut, dass Sie fragen, Jack. Ich muss das Gerücht verbreiten, dass die SAS einen Angriff auf Taliban-kontrolliertes Gebiet in Pakistan plant. Als Vergeltung für die Bombenattentate.«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen.

Immerhin musste man dem britischen Premierminister zugutehalten, dass er nicht sofort auflegte.

Williams umklammerte das Telefon so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Was haben Sie vor, Doug?«

»Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen. Aber wir benötigen Ihre Unterstützung.«

»Sie wissen, das könnte mein Land ins Fadenkreuz der Terroristen bringen.«

»Ich will ja nicht, dass Sie die Taliban wirklich angreifen. Sie sollen lediglich das Gerücht nicht dementieren. Nur für die nächsten paar Stunden.«

»Was sie hören, ist Realität. Am Ende spielt es keine Rolle, ob Großbritannien für den Angriff verantwortlich ist. Die Terroristen werden es glauben. Weil sie es glauben wollen.«

»Die Realität ist, dass sie sich bereits im Fadenkreuz befinden. Weit über hundert Tote, Jack.«

»Ich weiß. Vor einer Stunde ist ein kleines Mädchen seinen Verletzungen erlegen.« Er seufzte tief. »In Ordnung. Tun Sie es. Wenn man mich fragt, werde ich es nicht leugnen.«

»Niemand darf die Wahrheit erfahren, nicht mal Ihre eigenen Leute«, schärfte Williams ihm ein. »Ich weiß, dass in London derzeit ein Treffen der internationalen Nachrichtendienstchefs stattfindet.«

Er hörte Bellington geräuschvoll ausatmen, während er nachdachte. »Sie verlangen von mir, dass ich meine eigenen Leute anlüge?«

»Richtig. Ich werde genau das Gleiche machen. Wenn Sie einverstanden sind, fange ich mit meinem eigenen Direktor der Nationalen Nachrichtendienste an. Tim Beecham ist auch auf der Konferenz in London. Ich werde ihm von dem Gerücht über den SAS-Angriff berichten. Er wird Ihre Leute darauf ansprechen, und die werden sich höchstwahrscheinlich an Sie wenden.«

»Und ich soll sie belügen.«

»Sie sollen ihnen nur nicht die Wahrheit sagen. Weichen Sie aus. Bleiben Sie unverbindlich. Das ist doch Ihre Spezialität, oder nicht?«

Bellington lachte. »Sie haben wohl mit meiner Exfrau gesprochen.«

Williams sah, dass er eine dringende Nachricht von Außenministerin Adams erhalten hatte. Er wartete auf Bellingtons Antwort.

»Das Mädchen war sieben Jahre alt. So alt wie meine Enkelin. In Ordnung, Mr. President, für ein paar Stunden werde ich die Meute zurückhalten.«

»Danke, Premierminister. Ich schulde Ihnen einen Drink.«

»Ausgezeichnet. Wenn Sie das nächste Mal hier sind, gehen wir in den Pub, trinken ein Bier und essen einen Pie zusammen. Vielleicht schauen wir uns ein Fußballspiel an.«

Einen Moment lang gaben sie sich der Vorstellung hin. Es wäre schön gewesen, aber solche Dinge gehörten für beide Männer endgültig der Vergangenheit an.

Nachdem Williams das Gespräch beendet hatte, las er Ellens Nachricht, dann wies er das FBI und den Heimatschutz an, ein Team zu der Villa in Florida zu schicken. Außerdem sollten sie herausfinden, welche Privatjets am Tag zuvor von Palm Beach abgeflogen waren, wie die Passagiere hießen und was ihr jeweiliges Reiseziel gewesen war. Dann machte er sich daran, das Gerücht über die SAS-Operation in die Welt zu setzen.

Die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch summte.

»Mr. President.« Es war der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs. »Sie sind in der Luft.«

Präsident Williams schaute auf die Uhr. In wenigen Stunden würden die Spezialeinheiten in das von Taliban kontrollierte Gebiet an der pakistanischen Grenze eindringen. Sie würden im Schutz der Nacht ankommen.

Die Operation war angelaufen. Die Offensive hatte begonnen.