Auf dem Flug nach Islamabad schlief Ellen unruhig. Sie wachte oft auf und schaute, ob sie Nachrichten bekommen hatte.
Mehrere Chinook-Transporthubschrauber und Tankflugzeuge waren von einer geheimen Luftwaffenbasis im Nahen Osten aus gestartet, und die Befehlshaber legten die finalen Angriffspläne fest.
Als die Regierungsmaschine am frühen Abend in Pakistan landete, hatten sich die Soldaten in zwei Teams aufgeteilt.
Sie sah auf die Uhr. Noch drei Stunden und dreiundzwanzig Minuten bis zum Beginn der Operation. Als Erstes würde die Einheit, die zur Ablenkung gedacht war, landen. Zwanzig Minuten später würde dann die Erstürmung der Fabrik anlaufen.
Eine weitere Nachricht bestätigte, dass Bashir Shah Florida mit unbekanntem Reiseziel verlassen hatte. Die Villa war leer. Keine Bewohner, keinerlei Unterlagen. Es lagen auch keine Dokumente über einen Privatflug mit ihm als Passagier vor.
Das war enttäuschend, aber kaum verwunderlich.
Nach Überprüfung aller Privatflüge war die Suche mittlerweile auf Linienflüge ausgeweitet worden.
Bashir Shah hatte sich in Luft aufgelöst wie ein Geist.
Sie blickte auf ihren Schreibtisch, wo noch immer der Strauß Wicken stand. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass sie bereits die Köpfe hängen ließen. Bald wären sie verwelkt.
Der Steward hatte Anstalten gemacht, den Strauß zu entsorgen, doch Ellen wollte, dass er stehen blieb. Es verschaffte ihr ein seltsames Gefühl von Befriedigung, Shahs Geschenk beim Sterben zuzusehen.
Ein kläglicher Ersatz für den Mann selbst, aber besser als nichts.
»Bevor wir das Flugzeug verlassen, möchte ich dir noch was zeigen«, sagte Betsy.
Sie hatte nichts weiter von Pete Hamilton gehört, war aber zu dem Schluss gelangt, dass Ellen sich seine Nachricht trotzdem anschauen sollte.
»HLI?«, fragte sie. »Was soll das heißen?«
»Vielleicht hat er sich vertippt.«
Ellen runzelte die Stirn. »Aber sie ist als dringend markiert. Da passiert einem doch kein Tippfehler. Wenn es so wichtig ist, geht man sicher, dass alles seine Richtigkeit hat, findest du nicht?«
»Ich würde es so machen, aber wahrscheinlich war er in Eile.«
»Hat er es näher erklärt?«
»Ich habe nachgefragt, bisher kam keine Antwort.«
Beide starrten die Buchstaben an. Hatte er vielleicht HIL schreiben wollen? Aber wenn ja, was bedeutete es? »Hill«, wie in Capitol Hill? War dort eine der Bomben versteckt? Aber auch das ergab keinen Sinn. Warum hätte er das zweite L weglassen sollen? Und dennoch hatte Hamilton die Nachricht als dringlich markiert.
»Sag mir Bescheid, wenn er sich zurückmeldet.«
Ellen betrachtete sich im Spiegel. Diesmal trug sie keine Burka, sondern lediglich konservative Kleidung, einen Hosenanzug mit langärmeliger Bluse und dazu ein wunderschönes Seidentuch, das ihr der pakistanische Amtskollege anlässlich ihrer Ernennung zur Außenministerin geschickt hatte. Es hatte ein Muster aus Pfauenfedern und sah sehr edel aus.
Fast bereute sie, was sie im Begriff war zu tun. Doch sie hatte keine andere Wahl. Wenn die tapferen Soldaten das Ihrige taten, konnte sie es auch.
»Bist du bereit? Möchtest du nicht vielleicht lieber hierbleiben und dich ausschlafen?«, fragte sie Betsy, die müde und gestresst aussah, auch wenn sie es um ihrer Freundin willen zu verbergen versuchte.
»Machst du Witze? Das ist immer noch tausendmal besser, als mit einer neunten Klasse Der Sturm durchzunehmen. Gott, ich würde eher über El-Kaida-Gebiet mit dem Fallschirm abspringen, als mich noch mal vor eine Klasse Vierzehnjähriger zu stellen.«
O holde neue Welt, dachte sie und sah ihre Freundin an. Die so bevölkert ist.
»Wir schaffen das«, sagte Ellen.
Die Höll’ ist los, ergänzte sie im Stillen. All ihre Teufel hier.
Zumindest waren sie nicht weit weg. Sie konnte nur hoffen, dass Shah sich in der Fabrik aufhielt und nicht ahnte, was sich um ihn zusammenbraute. Abermals sah sie auf die Uhr.
Noch drei Stunden und zwanzig Minuten …
Die Helikopter vom Typ Chinook hoben zeitversetzt ab.
Die Sonne ging eben unter, als die ersten beiden Maschinen in die Luft stiegen und mit nach unten gerichteten Nasen losflogen. An Bord befand sich die Einheit, die auf dem Plateau landen und versuchen sollte, es gegen die Taliban zu verteidigen.
Die Kommandantin blickte in die entschlossenen Mienen ihrer Soldatinnen und Soldaten. Die meisten waren mit Mitte zwanzig bereits gestandene Veteranen. Aber diese Mission würde härter werden als alles, was sie bisher erlebt hatten. Manche von ihnen, wenn nicht gar die meisten, würden davon nicht mehr zurückkehren.
Ihre Befehlshaber hatten dies gewusst, als sie ihr das Kommando übertragen hatten. Und ihr war es klar geworden, sobald man ihr die Einsatztaktik erläutert hatte. Aber die Mission war zu wichtig, als dass sie Einwände erhoben oder auch nur eine Sekunde lang gezögert hätte.
»Eine seltsame Vorstellung, dass Katherine und Gil auch in Pakistan sind«, meinte Betsy, als sie sich zum Verlassen der Maschine bereit machten. »Wenn auch ziemlich weit weg. Ich wünschte, sie wären jetzt bei uns.« Sie hielt inne, damit Ellen Gelegenheit hatte zu sagen, dass sie einander schon bald wiedersehen würden. Doch ihre Freundin schwieg. »Trotzdem«, fuhr Betsy fort. »Besser hier als in DC.«
»Finde ich auch.« Jeder, der von den Bomben wusste, hatte den ersten Impuls, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Raus aus DC und aus jeder größeren Stadt, die als Angriffsziel infrage kam. Ellen ging es nicht anders.
Draußen auf dem Flugfeld hatte eine Militärkapelle einen Marsch angestimmt und vollführte im Takt der martialischen Musik ihre Paradeübungen.
»Hast du das hier schon gesehen?« Betsy hielt ihr ein iPad unter die Nase.
Ellen beugte sich über den Bildschirm und sah einen Ausschnitt aus Präsident Williams’ Pressekonferenz.
Ein Reporter hatte ihn zu Eric Dunns Behauptungen über Gil Bahar und seine Rolle bei den Bombenanschlägen befragt.
»Ich werde diese Frage einmal, und nur einmal, beantworten«, sagte Präsident Williams, der direkt in die Kamera blickte. »Gil Bahar hat sein Leben riskiert und es fast verloren, um die Männer, Frauen und Kinder in diesem Bus zu retten. Er ist ein außergewöhnlicher junger Mann. Seine Familie und sein Land können stolz auf ihn sein. Jeder Versuch, seinen Namen in den Schmutz zu ziehen, seinen Ruf oder den seiner Mutter zu beschädigen, kann nur von Leuten kommen, die unlautere Absichten verfolgen und noch dazu schlecht informiert sind.«
Ellen zog die Brauen hoch und fragte sich, weshalb ihr bislang nie aufgefallen war, was für eine angenehme Stimme Doug Williams hatte.
»Noch immer nichts von Pete Hamilton?«, fragte sie.
Betsy schaute noch einmal nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Madame Secretary«, sagte ihre Assistentin. »Es wird Zeit.«
Ellen warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sie holte tief Luft und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Die Schultern gestrafft, das Kinn vorgereckt, den Kopf hoch erhoben.
Wir schaffen das, wiederholte sie im Geiste, als sie in den warmen Abend hinaustrat, wo sie unter Jubelrufen und Fähnchenschwenken begrüßt wurde. Die amerikanische Nationalhymne erklang, und wie jedes Mal war sie tief bewegt. »Twilight’s last gleaming«, sang sie leise mit.
Guter Gott, steh uns bei.
Die zweite Gruppe Transporthubschrauber hob ab. An Bord befand sich kostbare Fracht – junge Menschen, deren Eltern voller Angst gewesen wären, wenn sie gewusst hätten, was ihr Land von ihren Söhnen und Töchtern verlangte. Sie hielten M4-Gewehre in den Händen und blickten einander von ihren Plätzen zu beiden Seiten des Rumpfs aus an.
Sie waren die Speerspitze. Army Ranger. Elitesoldaten.
Zehn Jahre zuvor waren Navy SEALs in Pakistan eingedrungen, um Osama bin Laden auszuschalten.
Diese Soldaten wussten, dass ihre Mission mindestens ebenso wichtig war, wenn nicht gar wichtiger.
Und sie wussten, dass sie ebenso gefährlich war. Wenn nicht gefährlicher.
»Das kann doch nicht stimmen«, sagte Charles Boynton, als das Auto in dem winzigen pakistanischen Ort anhielt. »Das ist ja bloß ein Schuppen.«
»Was haben Sie erwartet?«, fragte Katherine. »Das Ritz?«
»Es gibt eine ganze Menge zwischen dem Ritz und …« Er deutete auf das windschiefe Holzgebäude. »Haben die hier überhaupt Strom?«
»Für Ihre elektrische Zahnbürste?«, sagte Katherine, als sie ausstieg. Obwohl sie zugeben musste, dass auch sie erstaunt und ein wenig enttäuscht war.
»Nein. Für das hier.« Boynton hielt sein Smartphone in die Höhe. »Ich muss es aufladen, um Ihrer Mutter eine Nachricht zu schicken.«
Weißes Haus. Weißes Haus.
Katherine wollte mit einer weiteren bissigen Bemerkung kontern, verkniff sie sich jedoch. Sie war hungrig und übermüdet und hatte gehofft, wenn sie ihr Ziel erst einmal erreicht hätten, wären all ihre Probleme gelöst. Doch das war ganz eindeutig nicht der Fall.
Weißes Haus. Weißes Haus, dachte Boynton. Warum hatte er die Information nicht mit der anderen Nachricht mitgeschickt? Weil jemand versucht hatte, ihn zu töten. Weil er kurz zuvor einen Menschen erschossen hatte.
Weil er nicht richtig bei Verstand gewesen war. Er hatte nur daran gedacht, alles Nötige über die Nuklearwissenschaftler und ihren Aufenthaltsort zu erfahren und die Informationen seiner Chefin zu übermitteln, ehe er von einer Kugel getroffen wurde.
Weißes Haus. Die ganze Fahrt über hatte er sich gefragt, was Farhad damit gemeint haben könnte, oder vielmehr: Er hatte versucht, das Offensichtliche zu leugnen.
Jemand im Weißen Haus arbeitete mit Shah zusammen. Es konnte General Whitehead sein, aber streng genommen arbeitete der ja nicht im Weißen Haus, sondern im Pentagon.
Vielleicht war Farhad der Unterschied nicht bewusst gewesen?
Doch tief im Herzen wusste Charles Boynton, dass das nicht stimmte. Wenn Farhad mit seinem letzten blutigen Atemzug »Weißes Haus« gesagt hatte, dann hatte er auch genau das gemeint.
Katherine klopfte gegen die Tür, die unter ihren Fäusten erzitterte. Dann wurde geöffnet, und Gil stand vor ihr.
»Gott sei Dank«, hauchte er.
Katherine wollte ihrem Bruder um den Hals fallen, merkte jedoch, dass er an ihr vorbeischaute.
Zu Anahita Dahir.
Im selben Moment drängte sich jemand an ihr vorbei, um ihr zuvorzukommen.
»Na«, ertönte eine Stimme hinter ihr. »Das kam jetzt aber unerwartet.«
Charles Boynton hatte ihren Bruder fest umarmt und schluchzte leise auf.
Dann löste sich der Stabschef von Gil. »Telefon«, stieß er hervor. »Haben Sie ein Telefon?«
»Ja …«
»Geben Sie es mir.« Gil tat es, und Sekunden später hatte Boynton auf Senden gedrückt.
So. Jetzt war er die Verantwortung los. Er hatte die Nachricht abgeschickt. Gleichwohl hallten die Worte in ihm nach. Sie saßen in seinem Kopf fest, als hätten sie Widerhaken.
Weißes Haus.
»Madame Secretary, was für ein unerwartetes Vergnügen.«
Der Premierminister von Pakistan, Dr. Ali Awan, streckte ihr die Hand zum Gruß hin. Er sah nicht sehr glücklich aus.
»Ich war gerade in der Gegend«, sagte Ellen mit einem warmherzigen Lächeln.
Dr. Awans Lächeln hingegen war ein wenig verkrampft. Der Staatsbesuch war eine Unannehmlichkeit, aber wenn die amerikanische Außenministerin sich zum Dinner ankündigte, konnte man schlecht einen Vertreter schicken.
Er hatte sie am Eingang seiner offiziellen Residenz auf dem Gelände der Ministerenklave empfangen. Flutlichter ließen die eleganten weißen Gebäude erstrahlen und beleuchteten die üppigen Gärten.
Majestätische Palmen ragten über ihnen auf, und Ellen, die sich leidenschaftlich für Geschichte interessierte, konnte allenfalls erahnen, wie viele Menschen im Laufe der Jahrhunderte schon dort gestanden hatten, wo sie jetzt stand, und ebenfalls gestaunt hatten.
Es war ein milder Abend. Süße und würzige Düfte stiegen von den Blumen in die schwere, feuchte Luft auf. Ihr Konvoi war am bunten und überschwänglichen Treiben auf den Straßen der pakistanischen Hauptstadt vorbeigefahren, dann die lange Constitution Avenue entlang und war schließlich in dieser altehrwürdigen Enklave angekommen, ein Ort der Stille mitten in einer quicklebendigen Stadt.
Es war ein seltsames Gefühl, sich hier in dieser Idylle zu befinden und zu wissen, was schon bald einige Hundert Kilometer entfernt passieren würde.
Sie blickte zu den Sternen empor und dachte an die Soldaten, die dort draußen durch den nächtlichen Himmel flogen.
Die Hubschrauber näherten sich der Landezone, doch in dem von Schluchten durchzogenen Gebirge war es unmöglich, das Plateau zu sehen, bevor sie sich unmittelbar darüber befanden.
Die Piloten flogen mit Nachtsichtgeräten und hofften, dass die Taliban mit ihren Luftabwehrgeschützen sie nicht entdeckten, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten. Obwohl die Chinooks mit der neuesten Technologie ausgerüstet waren, wussten sie, dass die Tarnkappenfunktion bei Helikoptern alles andere als unfehlbar war.
Niemand sprach ein Wort. Die Piloten mussten sich konzentrieren, während die Soldaten im Bauch des Helikopters zu den Sternen hinausblickten, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.
Nach den Cocktails, die, wie Ellen erleichtert festgestellt hatte, aus frisch gepressten Fruchtsäften bestanden und keinen Alkohol enthielten, nahmen die Gäste an einem langen ovalen Tisch Platz, der wunderschön eingedeckt worden war.
Ellen hatte Steve Kowalski ihr Smartphone gegeben. So verlangte es das Protokoll, aber sie war auch froh, es los zu sein. Sie wusste nicht, ob sie es sich hätte verkneifen können, alle zwei Minuten einen Blick darauf zu werfen.
Betsy saß ihr gegenüber und hatte eine Unterhaltung mit einem jungen Offizier der US Army begonnen, während Ellen sich an den Premierminister zu ihrer Linken wandte.
Die Teilnehmer des Staatsbanketts waren hastig zusammengetrommelt worden, darunter auch Dr. Awans Militärminister General Lakhani, der auf der anderen Seite des Premierministers Platz genommen hatte.
Der Außenminister war ebenfalls erschienen, wahrscheinlich in der Hoffnung, seine neue Amtskollegin aus den USA möge sich als ähnlich unbedarft erweisen wie ihr Vorgänger.
Ellen erkannte, dass ihr jüngstes Debakel in Korea durchaus sein Gutes hatte. In den Augen vieler hatte es bewiesen, dass sie inkompetent und daher leicht zu manipulieren war.
Genau das sollten diese Leute denken. Wenigstens für die nächsten, alles entscheidenden Stunden.
»Ich hatte gehofft, Dr. Shah würde auch hier sein.«
Am besten, sie demonstrierte gleich auch noch ihre Unfähigkeit zur Diskretion.
Einige Dinnergäste ließen vor Schreck ihre Gabeln fallen.
Premierminister Awan allerdings blieb gefasst. »Reden Sie von Bashir Shah, Madame Secretary? Ich fürchte, er ist weder in meinem Haus noch in irgendeinem anderen Regierungsgebäude willkommen. Einige mögen ihn als Held verehren, aber wir kennen die Wahrheit.«
»Sie meinen, dass er ein Waffenhändler ist? Dass er nukleare Technologien und Materialien an jeden verkauft, der dafür zu bezahlen bereit ist?« Ihr Blick war arglos, ihr Tonfall neutral, als suche sie lediglich Bestätigung für ein Gerücht, das ihr zu Ohren gekommen war.
»Ja«, sagte er brüsk. Wäre er ein weniger beherrschter Mensch gewesen, hätte sein Ton die Grenze zur Unhöflichkeit überschritten. In jedem Fall schwang darin eine unmissverständliche Warnung mit. In Pakistan sprach man nicht über Bashir Shah. Nicht in feiner Gesellschaft und schon gar nicht in Anwesenheit von Ausländern.
»Der Fisch ist übrigens köstlich«, sagte Ellen, die ein Einsehen mit Dr. Awan hatte.
»Es freut mich, dass er Ihnen schmeckt. Er ist eine regionale Delikatesse.«
Sie hatten beide gleichermaßen Mühe, freundlich und gelöst zu erscheinen. Wahrscheinlich konnte Awan das Ende der Scharade genauso wenig abwarten wie sie. Durch ihre Recherchen und nach Gesprächen mit pakistanischen Gelehrten und Nachrichtendienstlern, die das gebeutelte Land studiert hatten, war Ellen zu dem Schluss gekommen, dass Dr. Awan ein zutiefst zerrissener Mensch war.
Auch er war anfangs ein Unterstützer Shahs gewesen, hatte dann jedoch öffentlich gegen ihn Stellung bezogen. Als pakistanischer Nationalist glaubte Premierminister Awan, dass die einzige Hoffnung seines Landes, mit einem Giganten wie Indien als Nachbarn zu überleben, darin bestand, immer stärker und stärker zu werden. Oder wenigstens den Eindruck von Stärke zu vermitteln.
Wie ein Kugelfisch plusterte das Land sich auf, sodass es größer und gefährlicher wirkte, als es tatsächlich war. Das tat es, indem es sich mit kernwaffenfähigem Material eindeckte.
Bashir Shah konnte dieses Material beschaffen. Aber der Nuklearphysiker zog auch ungewollte und gefährliche Aufmerksamkeit auf sich. Ein weiterer Wahnsinniger mit Waffen, nur dass er nicht mit Granaten jonglierte, sondern mit Atombomben.
»Sie wissen wohl nicht zufällig, wo er sich gerade aufhält, Premierminister? Sein Haus ist nicht weit von hier, wenn ich mich recht entsinne.«
Sein Anwesen wurde von amerikanischen Agenten observiert, doch es war gut möglich, dass er sich unbemerkt hineingeschlichen hatte.
»Shah? Nein, das weiß ich nicht.« Dr. Awan hatte sich in sein Schicksal gefügt. Die Außenministerin schien wild entschlossen, dieses höchst unangenehme und brisante Thema weiter auszuwalzen, und ihm blieb keine Wahl, als ihr den Gefallen zu tun. »Ihr letzter Präsident hat darum gebeten, dass er aus dem Hausarrest entlassen wird, und wir haben seinem Wunsch entsprochen. Seitdem darf Dr. Shah sich frei bewegen.«
»Sie betrachten ihn nicht als Bedrohung?«
»Für uns? Nein.«
»Für wen dann?«
»Wenn ich der Iran wäre, würde ich mir vielleicht Sorgen machen.«
»Danke für das Stichwort, Premierminister. Ich hoffe, wir können gemeinsam daran arbeiten, den Iran wieder an das Atomwaffenabkommen zu binden, damit das Land sämtliche Kernwaffen offenlegt, die es vielleicht besitzt. Bei Libyen hat das ja sehr gut funktioniert.«
Damit erntete sie genau die Reaktion, auf die sie spekuliert hatte. Dr. Awan zog die Augenbrauen hoch, General Lakhani beugte sich vor und sah sie an, als hätte sie gerade etwas unfassbar Dummes gesagt.
Womit er recht hatte.
Manchmal, dachte Außenministerin Adams, war man die Katze. Manchmal war man die Ratte. Und manchmal der Jäger.
Sie konnte den beiden Männern ansehen, was sie dachten.
Ihnen bot sich hier eine einmalige Gelegenheit. Sie war ihnen buchstäblich in den Schoß gefallen und musste genutzt werden. Sie konnten die neue Außenministerin an die Hand nehmen und in ihre Richtung lenken. Sie lehren, die Region aus der Perspektive Pakistans zu betrachten. Sie selbst waren die Guten. Indien, Israel, Iran, Irak sowie alle anderen waren die Bösen, denen man auf keinen Fall trauen durfte.
Aber Ellen wusste, dass es in der Regierung und der Armee, wahrscheinlich sogar an diesem Tisch Elemente gab, die den amerikanischen Rückzug aus Afghanistan als Einladung betrachteten, ihre Macht in der Region noch weiter auszubauen.
Indem sie Afghanistan de facto zu einer Provinz Pakistans machten.
Ohne die militärische Präsenz der US-Truppen würden die Taliban, die jahrelang sicheren Unterschlupf in Pakistan gefunden hatten, wieder die Macht über Afghanistan erlangen. Und sie würden ihre Verbündeten mitbringen, ihren international operierenden militärischen Arm: die El Kaida.
El Kaida hatte das erklärte Ziel, dem Westen zu schaden. Vor allem sann sie auf Rache gegen die Vereinigten Staaten für den Tod von Osama bin Laden. Sie hatte Vergeltung geschworen, und jetzt, nach dem Abzug der Amerikaner und dem Wiedererstarken der Taliban, war sie dank Bashir Shah und der Russenmafia endlich in der Lage, ihren Schwur wahrzumachen – noch dazu auf eine Weise, die spektakulärer und verheerender sein würde, als man es sich jemals hätte träumen lassen.
Eine Terrororganisation konnte tun, was eine Regierung sich nicht leisten durfte. Letztere unterlag internationaler Kontrolle und musste im Notfall Sanktionen fürchten.
Eine Terrororganisation hingegen nicht.
Dr. Awan, ein guter, wenn auch kein brillanter Mann, war alles andere als ein Dschihadist. Er war nicht radikal, und er hasste den Terror. Aber er war auch ein Realist. Er konnte die radikalen Elemente innerhalb Pakistans nicht auf Dauer beherrschen. Nach dem Truppenabzug der Amerikaner, der Rückkehr der Taliban und der Freilassung Shahs ließ sich die Entwicklung endgültig nicht mehr aufhalten.
Insgeheim war er entsetzt gewesen, als der vorherige US-Präsident während des Gipfeltreffens um Shahs Freilassung gebeten hatte. Er hatte versucht, Dunn die möglichen Konsequenzen aufzuzeigen, war jedoch auf taube Ohren gestoßen.
Trotz zahlreicher Schmeicheleien, die beim amerikanischen Präsidenten sonst immer gefruchtet hatten, hatte dieser darauf gepocht, dass Shah aus dem Hausarrest entlassen wurde. Das war Awans einziges Versagen gewesen. Jemand musste ihm zuvorgekommen sein und Dunn noch mehr geschmeichelt haben. Er ahnte, wer es gewesen war.
Jetzt war Bashir Shah frei, und Premierminister Awan sah sich zu einem Drahtseilakt gezwungen. Einerseits galt es die Amerikaner bei der Stange zu halten, andererseits durfte er es sich auf keinen Fall mit den radikalen Elementen im eigenen Land verscherzen.
Und was die El Kaida betraf, tat er sein Bestes, unauffällig zu bleiben.
Davon hing sein Überleben ab, und nicht nur sein politisches.
Nachdem Dunn die Wahl verloren hatte, waren sie zunächst in Sorge gewesen. Doch wie es schien, war die neue amerikanische Außenministerin nicht minder unfähig und überheblich als ihr Amtsvorgänger. Und daher ebenso leicht zu lenken.
Der Fisch schmeckte mit jedem Bissen köstlicher.