KAPITEL 36

Es war ein schwieriger Anflug.

Der Wind, der durch die Schluchten pfiff, machte es fast unmöglich, die Helikopter auf Kurs zu bringen. Doch den Piloten der beiden Chinooks gelang es, sie lange genug im Schwebeflug zu halten, dass die Einheit ins Freie springen und sich in Deckung bringen konnte.

Gerade als die Hubschrauber wieder höher steigen und abdrehen wollten, kam ein besonders heftiger Windstoß, der einen der zwei Chinooks in Richtung Felswand drückte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte die Pilotin, während sie und der Copilot sich bemühten, das Steuer wieder unter Kontrolle zu bekommen. Eins der Rotorblätter streifte den Fels, und ein Ruck ging durch den Rumpf der Maschine.

Die Pilotin spürte, wie der Steuerknüppel zitterte und zuckte. Der Helikopter neigte sich gefährlich zur Seite.

Sie ahnte, was passieren würde, und wechselte einen Blick mit ihrem Copiloten und dem Navigator. Die beiden Männer sahen sie an und nickten.

Dann lenkte sie die Maschine weg von ihren Kameraden auf dem Plateau und dem anderen Helikopter.

Es war still im Cockpit, als sie über den Rand des Vorsprungs taumelten und sanken.

»Oh Gott«, wisperte die Pilotin.

Dann kam der Feuerball.

Sekunden später durchschnitten erste Kondensstreifen der Abwehrgeschütze von den Stellungen der Taliban den Himmel.

»Unter Feuer!«, rief die Kommandantin.

Ein Streichquartett spielte Bachs Konzert für zwei Violinen, als der Salatgang aufgetragen wurde.

Es war eins von Ellens Lieblingsstücken. Sie hörte es fast jeden Morgen, um entspannt in den Tag zu starten. War das Zufall? Wohl kaum. Sie fragte sich, wer im Raum veranlasst hatte, dass das Stück gespielt wurde.

Der Premierminister? Er schien kein Verfechter versteckter Botschaften zu sein. Der Außenminister? Vielleicht.

Oder der Militärminister, General Lakhani? Nach allem, was sie in vertraulichen Briefings über ihn erfahren hatte, kam er am ehesten infrage. Ein Mann, der einen Fuß im Establishment und den anderen in den Lagern der Radikalen hatte.

Aber irgendjemand hätte General Lakhani einen Tipp geben müssen. Ellen konnte sich denken, wer es gewesen war.

Dieselbe Person, die ihr die Wicken geschickt hatte.

Die ihr zum Geburtstag ihrer Kinder Karten schrieb und die, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel, ihren Ehemann vergiftet hatte.

Die Person, die nun den Tod unzähliger Männer, Frauen und Kinder plante.

Bashir Shah stellte den Teller mit Salat und frischen Kräutern vor die Außenministerin auf den Tisch.

Dies war der Augenblick. Er verspürte ein seltsames Gefühl und stellte fest, dass es sich um Erregung handelte. Es war lange her, seit er als eingefleischter Zyniker überhaupt etwas empfunden hatte, geschweige denn einen Kitzel wie diesen.

Er war Ellen Adams noch nie persönlich begegnet, hatte sie allerdings aus der Ferne studiert. Als er sich zu ihr herabbeugte, kam er ihr so nahe, dass er ihr Eau de Toilette riechen konnte. Clinique, so wusste er. Aromatics Elixir. Vielleicht stammte es sogar aus dem Flakon, den er ihr zu Weihnachten geschickt hatte. Obwohl er vermutete, dass dieser direkt in den Müll gewandert war.

Er wusste, dass er ein extrem hohes Risiko einging, aber was war das Leben ohne Risiko? Und was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Wenn er erwischt wurde, würde er einfach behaupten, sich mit der Verkleidung als Kellner einen kleinen Scherz erlaubt zu haben. Schlimmstenfalls machte er sich des Hausfriedensbruchs schuldig, aber anklagen würde man ihn nicht. Dessen war er sich gewiss.

Der Teil seiner Persönlichkeit, der zum Leichtsinn neigte, hoffte geradezu darauf, enttarnt zu werden. Er wünschte sich, Ellen Adams’ Gesicht zu sehen, wenn ihr bewusst wurde, wen sie da vor sich hatte. Wie nah er ihr gekommen war. Und dass es nicht das Geringste gab, was sie gegen ihn ausrichten konnte. Dank der Amerikaner war er ein freier Mann.

Er hätte sie jetzt und hier töten können. Ihr das Genick brechen. Oder ihr eins der scharfen Messer in den Leib rammen. Er könnte ihr Gift oder zermahlenes Glas ins Essen schütten.

Ihr Leben lag in seiner Hand.

Stattdessen steckte er unbemerkt einen Zettel in die Tasche ihres Sakkos. Das würde sie nicht umbringen, aber ziemlich erschüttern.

Ja, er würde noch ein bisschen länger mit ihr spielen. Er wollte ihre Reaktion sehen, wenn die Bomben hochgingen. Wenn ihr bewusst wurde, dass sie durch ihr Versagen den Tod von Tausenden verschuldet hatte. Und ein verheerendes Unglück in ihrem Land.

Während er ihren dezenten Duft einatmete, fragte er sich, ob er nicht vielleicht auf eine makabre Art und Weise für diese Frau schwärmte. Ein umgekehrtes Stockholm-Syndrom. So dicht lagen Hass und Liebe beieinander.

Aber nein. Er wusste, dass seine starken Emotionen ihr gegenüber ausschließlich negativer Natur waren. Diese Frau hatte sein Leben zerstört. Doch schon bald würde er sich dafür revanchieren. In aller Ruhe. Er würde ihr alles nehmen, was ihr lieb und teuer war. Ja, ihr Sohn war dem Attentatsversuch entronnen. Aber es würden weitere Gelegenheiten kommen.

Fürs Erste hatte er einfach seinen Spaß. Er erlaubte sich sogar, sie anzusprechen.

»Ihr Salat, Madame Secretary.«

Ellen Adams hob den Kopf.

»Schukria«, sagte sie auf Urdu.

»Apka khair maqdam hai«, erwiderte der Kellner mit einem freundlichen Lächeln.

Er hat schöne Augen, fand sie. Dunkelbraun und sanft. Wie ihr Vater. Wahrscheinlich kam er ihr deshalb bekannt vor.

Und er verströmte einen angenehmen Duft. Jasmin.

Der Kellner ging weiter zum Premierminister, der sich ebenfalls bei ihm bedankte, jedoch nicht aufsah. Der Militärminister schien glänzend aufgelegt, beinahe vergnügt. Er machte dem Kellner gegenüber eine Bemerkung, woraufhin dieser lächelte und dann weiterging.

Was hatte General Lakhani in derartig blendende Laune versetzt? Ellen wurde das Gefühl nicht los, dass es nichts Gutes sein konnte.

Während sie den leisen Klängen von Bach im Hintergrund lauschte, kam Ellen zu dem Schluss, dass dies ein weitaus komplexerer Tanz war, als sie erwartet hatte.

Wo die Soldaten jetzt wohl gerade waren? Das Ablenkungsmanöver musste inzwischen begonnen haben. War die zweite Einheit schon bei der Fabrik?

»Sie wollen den Iran dazu bringen, sein Atomwaffenprogramm aufzugeben?« Premierminister Awans Frage holte Ellen in die Gegenwart zurück. Er betrachtete sie forschend, versuchte sie zu analysieren. Sie spürte die Intensität seiner Blicke.

Sie beschloss, nichts zu sagen, damit er sich fragte, wie naiv sie wirklich war. Währenddessen kämpfte sie gegen den Drang an, auf die Uhr zu schauen. Es wäre der Gipfel der Unhöflichkeit gewesen und hätte zudem jedem signalisiert, dass sie auf etwas wartete.

Auch wenn das der Wahrheit entsprach.

Aufs Neue wanderten ihre Gedanken zu den Soldaten. Sie fragte sich, wie die Operation verlief. Und wie tief sie in der Scheiße sitzen würde, wenn ihre Gastgeber merkten, was anderswo in ihrem Land vorging, während sie frischen Kräutersalat aßen und Bach hörten.

»Oberst Gaddafi hat sich davon überzeugen lassen, sein Atomwaffenprogramm aufzugeben«, erklärte der Militärminister, während Dr. Awan fortfuhr, Ellen schweigend zu beobachten. »Und ehe man es sich versah, wurde Libyen erobert, Gaddafi wurde gestürzt und getötet. Es gibt niemanden in dieser Region, der aus diesem Vorfall nicht gelernt hätte. Ein Land mit Atomwaffen ist sicher. Niemand würde wagen, es anzugreifen. Ein Land ohne Atomwaffen ist verwundbar. Es wäre Selbstmord für den Iran, sein Atomwaffenprogramm aufzugeben.«

»Ein Gleichgewicht des Schreckens«, sagte Ellen.

»Ein Gleichgewicht der Mächte, Madame Secretary«, sagte der Premierminister mit einem gütigen Lächeln.

Ein Mitarbeiter war zu General Lakhani an den Tisch getreten und raunte ihm etwas ins Ohr. Der Militärminister fuhr zu ihm herum und starrte ihn einen Moment lang an, ehe er etwas erwiderte, woraufhin der Mann sich eilig entfernte.

Als Nächstes wechselte der Militärminister einige Worte mit Dr. Awan.

Es war so weit. Ellen zwang sich, entspannt zu bleiben und ruhig weiterzuatmen. Atmen. Auf der anderen Tischseite war Betsy ebenfalls auf den kleinen Zwischenfall aufmerksam geworden.

Der Premierminister hörte dem General zu, dann richtete er das Wort an Ellen. »Wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass die Briten heute Nacht einen Angriff auf El-Kaida-Stellungen innerhalb unseres Staatsgebiets planen. Wissen Sie etwas darüber?«

Ellens Erstaunen war nicht gespielt.

»Nein.«

Awan musterte sie mit dem ihm eigenen stechenden Blick, dann nickte er. »Ich sehe, Sie sagen die Wahrheit.«

»Aber es ergibt Sinn, oder nicht?«, meinte Ellen langsam. »Wenn die Briten der Ansicht sind, dass die El Kaida hinter den Bombenattentaten in London und den anderen Städten steckt.«

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht und sprach bewusst langsam, während ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete und sämtliche Möglichkeiten durchspielte.

Konnte es stimmen, was der Premierminister sagte? Hatten die Briten einen eigenen Gegenschlag gestartet, womöglich auf Empfehlung der Konferenz der Nachrichtendienstchefs hin, an der auch Tim Beecham derzeit teilnahm? War der Himmel über Pakistan an diesem Abend noch voller als gedacht?

Denkbar war aber auch, dass es sich um ein Gerücht handelte, das Präsident Williams mit Absicht in die Welt gesetzt hatte. Das wäre ein brillanter Schachzug. Wenn sie nur gewusst hätte, welche der beiden Möglichkeiten der Wahrheit entsprach.

»Was hingegen keinen Sinn ergibt«, sagte Awan unwirsch, während die anderen Gespräche am Tisch allmählich erstarben, »ist, dass man uns darüber nicht in Kenntnis gesetzt hat. Wir reden hier immerhin von einer militärischen Operation auf dem Boden eines souveränen Staates. Wissen wir, wo der Angriff stattfinden soll?«

»Mein Mitarbeiter versucht gerade, es in Erfahrung zu bringen«, sagte General Lakhani, der inzwischen nicht mehr so vergnügt aussah wie noch kurz zuvor. Im nächsten Moment kehrte der Mitarbeiter zurück und beugte sich zu ihm hinunter.

»Sagen Sie es laut«, forderte der General ihn auf. »Jetzt weiß es ohnehin jeder. Wo soll der Angriff erfolgen?«

»Er hat bereits begonnen, General. In der Region Bajaur.«

»Was denken sie sich dabei?«, entrüstete sich der Premierminister. »Eine zweite Schlacht von Bajaur? Als wäre die erste nicht blutig genug gewesen.«

Er hatte die Kämpfe seinerzeit als Offizier miterlebt und war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Jetzt hörte er klassische Musik und aß Salat, während eine zweite Schlacht um Bajaur tobte. Gott steh ihm bei, er war heilfroh, hier zu sein und nicht dort. Er dachte an die britischen Einsatzkräfte, die gegen die Taliban und die El Kaida in ihren Bergfestungen kämpften.

Die Schlacht von Bajaur. Operation Löwenherz. Das Trauma war allgegenwärtig. Dieses Ereignis war nur einer von vielen Gründen, weshalb Premierminister Awan den Krieg verabscheute und sich nach einem friedlichen, sicheren Pakistan sehnte.

Er bemerkte, dass sein Militärminister erleichtert wirkte, was der Situation nicht angemessen war. Wie konnte General Lakhani erleichtert sein, wenn die Briten eine geheime Kommandoaktion auf pakistanischem Boden durchführten? Er hätte außer sich sein müssen vor Empörung.

Was führt er im Schilde? fragte sich der Premierminister. Aber er fragte sich auch, ob er das wirklich wissen wollte. Er spürte, wie er auf seinem Drahtseil das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

Premierminister Awan gab sich, was General Lakhani betraf, keinen Illusionen hin. Er hatte den Mann nur zum Militärminister ernannt, um die radikalen Strömungen in seiner Partei zu besänftigen. Es war ein Problem, einen Militärminister zu haben, dem man nicht vertrauen konnte.

In diesem Moment flüsterte der Sicherheitschef der Außenministerin dieser etwas ins Ohr und reichte ihr das Mobiltelefon.

»Wenn Sie mich bitte kurz entschuldigen würden, Premierminister. Eine dringende Nachricht.«

»Von den Briten?«, fragte er, noch immer unter dem Eindruck der Beleidigung gegen seine Nation.

»Nein, von meinem Sohn.«

»Wir sind gleich da, Sir«, meldete der Pilot. »Neunzig Sekunden.«

Auf den Befehl des Kommandanten hin stellten sich die Fallschirmjäger in einer Reihe an der Luke auf.

Durch die Fenster konnten sie sehen, wie in der Ferne der Nachthimmel im Artilleriefeuer erstrahlte, und kurz darauf riesige Explosionen, als ihre Kampfjets die Stellungen der Taliban unter Beschuss nahmen.

Die Ranger auf dem Plateau hatten den Feind in Kampfhandlungen verwickelt. Das Ablenkungsmanöver hatte begonnen.

»Fünfundvierzig Sekunden.«

Aller Blicke wanderten von den Fenstern des Transporthubschraubers zur Luke, die sich jeden Moment öffnen würde. Ihre Aufgabe war eine andere. Sie mussten so schnell wie möglich die Fabrik erstürmen, bevor den darin befindlichen Personen die Flucht gelang oder sie wichtige Unterlagen vernichteten.

Bevor sie einen nuklearen Sprengkörper zündeten.

»Fünfzehn Sekunden.«

Die Luke wurde aufgerissen, und ein heftiger Stoß kalter Luft strömte herein.

Sie hakten ihre Leinen in das Drahtseil über ihren Köpfen und machten sich bereit.

Ellen las die kurze Nachricht. Sie war nicht von Gil, sondern von Boynton.

Der Informant Farhad, der sowohl für den iranischen Geheimdienst als auch für die Russenmafia gearbeitet hatte, war von den Russen getötet worden. Kurz bevor er gestorben war, hatte er noch zwei Worte gesagt.

»Weißes Haus.«

Das Feuer von den Stellungen der Taliban war erbarmungslos. Schlimmer als erwartet. Die Kommandantin erkannte die Waffen als russische Fabrikate und gab die Informationen ans Hauptquartier weiter, zusammen mit einem kurzen Lagebericht, dass sie die Stellung hielten und das Feuer erwiderten.

Sie wollte gerade fragen, wo die Luftunterstützung blieb, als sie ein ohrenbetäubendes Dröhnen über sich hörte. Kurz darauf erzitterte die Erde von Explosionen, als amerikanische Kampfjets Raketen auf die Bergstellungen abschossen.

Das verschaffte ihnen eine kurze Atempause von dem zermürbenden Beschuss.

Dann begann er von Neuem.

Hinter einem Felsen kauernd, warf die Kommandantin einen Blick auf die Uhr. Die andere Einheit musste inzwischen bei der Fabrik angekommen sein. Sie mussten den Feind nur noch zwanzig Minuten ablenken.

Einfach durchhalten. Einfach durchhalten. Was auch immer passiert, einfach durchhalten.

Sie war die Einzige in der Einheit, die wusste, weshalb sie wirklich hier waren. Wenn sie gefangen genommen wurden, konnte keiner ihrer Soldaten unter Folter verraten, worin die wahre Mission bestand.

Aber sie würde ohnehin niemals zulassen, dass man einen ihrer Leute gefangen nahm.

Präsident Williams saß im Kreis seiner Sicherheitsexperten und militärischen Berater im Lageraum im Erdgeschoss des Weißen Hauses. Sie hatten die letzte Stunde hier verbracht. Der Raum war fensterlos und stickig, doch das kümmerte im Moment niemanden.

Stattdessen blickten alle hoch konzentriert auf die Monitore. Jeden Moment würde sich die Einheit auf das Dach der Fabrik abseilen.

»Fünfzehn Sekunden«, kam die Stimme des Piloten überraschend klar aus den Lautsprechern.

Präsident Williams wappnete sich und umklammerte die Armlehnen seines Drehsessels.

Der Leiter des Kommandos für Spezialoperationen der Vereinigten Staaten saß bei ihm, während der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs im Nebenraum die Kampfhandlungen auf dem Plateau verfolgte.

»Mr. President, wir haben einen der Chinooks verloren«, meldete er.

»Die Soldaten?« Williams versuchte sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen.

»Haben es rechtzeitig nach draußen geschafft. Aber Pilotin, Copilot und der Navigator sind gefallen.«

Williams nickte mechanisch. »Die anderen halten weiterhin die Stellung?«

»Ja, Sir. Sie ziehen das Feuer der Taliban auf sich.«

»Gut.«

»Los, los, los!«, kam der Befehl.

Tausende Kilometer entfernt im Lageraum beugte sich der Präsident der Vereinigten Staaten unwillkürlich vor.

Mithilfe der Helmkameras der Soldaten konnte er das Geschehen hautnah verfolgen. Es war, als wäre er selbst dabei.

Ein Ruck ging durch seinen Körper, als würde er sich mit dem Kommandanten aus dem Helikopter abseilen. Eine unheimliche und zugleich beinahe friedliche Stille lag über allem, als auch die übrigen Mitglieder der Einheit ins Freie sprangen.

Ein dumpfes Geräusch und ein leises Aufstöhnen, als seine Stiefel auf dem Dach landeten.

Kein Wort wurde gesprochen. Die Soldaten wussten genau, was sie zu tun hatten.

Der Agent klopfte an Pete Hamiltons Tür und sah sich im verdreckten Hausflur um.

Es stank. Er schaute seinen Partner an, der das Gesicht verzog.

»Hamilton?«, rief er laut und schlug mit der Faust gegen die Tür.

Sie hatten seinen Weg vom Off the Record bis zu seiner Wohnung verfolgt. Er war vor mehr als einer Stunde zu Hause angekommen, seitdem hatte er auf keine Nachricht mehr reagiert.

Der Agent, ein altgedienter Mitarbeiter des Secret Service, sah sich um. Irgendetwas war faul. Wenn jemand mit dem Weißen Haus zusammenarbeitete, achtete er normalerweise darauf, immer erreichbar zu sein. Wenn es drei Uhr morgens gewesen wäre, hätte die Sache anders ausgesehen … Aber es war mitten am Nachmittag.

Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

Er holte seine Werkzeuge hervor und beugte sich über das Türschloss. Nach wenigen Sekunden war ein leises Klicken zu hören. Er zog die Waffe, dann nickte er seinem Partner zu.

Bereit?

Bereit.

Mit dem Fuß versetzte er der Tür einen kleinen Stoß.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Das Dessert wurde Ellen von einem anderen Kellner serviert.

Das Staatsbankett in Islamabad war von Anfang an keine wirklich ausgelassene Angelegenheit gewesen, doch nach der Nachricht von dem angeblichen britischen Angriff in Bajaur war die Stimmung regelrecht bedrückt.

General Lakhani hatte sich entschuldigt, der Premierminister hingegen war geblieben. Vielleicht war das ein Hinweis auf die Wichtigkeit, die Dr. Awan seinem amerikanischen Gast zumaß. Aber wahrscheinlich, dachte Ellen, zeigt es bloß, wer in der Regierung wirklich das Sagen hat und wer am besten einfach sitzen bleibt und sich sein süßes Gulab Jamun schmecken lässt.

Zwischenzeitlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass das Gerücht über den SAS-Angriff eine Finte sein musste. Die amerikanischen Spezialkräfte waren in Bajaur gelandet und lieferten sich ein Gefecht mit den Taliban. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Pakistaner begriffen, was wirklich vor sich ging und wer für den Angriff verantwortlich war.

Sie schob die in Sirup getränkten Teigbällchen hin und her. Aus der hauchfeinen Porzellanschale stieg ein Duft von Rosen und Kardamom auf.

Sie hatte noch nichts von Präsident Williams gehört, seit sie Boyntons Nachricht an ihn weitergeleitet hatte.

Weißes Haus.

Im Grunde genommen bestätigte es lediglich, was sie bereits wussten. Es gab einen Verräter im Weißen Haus, der dem Präsidenten nahestand.

In dem Moment summte ihr Smartphone. Die Nachricht war als eilig markiert.

Die Agenten, die man losgeschickt hatte, um nach Pete Hamilton zu sehen, hatten ihn in seiner Wohnung aufgefunden. Erschossen.

Sie hatten seine Spur bis ins Off the Record verfolgt, wo er sich laut Zeugenaussagen mit einer jungen Frau unterhalten hatte, die kurz nach ihm gegangen war. Man bemühte sich um eine Identifizierung.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigte sich Dr. Awan, der sah, wie blass sie geworden war.

»Ich glaube, ich habe den Fisch nicht vertragen. Würden Sie mich kurz entschuldigen, Premierminister?«

»Selbstverständlich.« Er erhob sich, als sie aufstand und Betsy ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Alle anderen am Tisch erhoben sich ebenfalls von ihren Plätzen und blickten den beiden Frauen nach, die aus dem Saal eilten. Eine Mitarbeiterin wies ihnen den Weg zu den Toiletten.

Offenbar neigte sich der unangenehme Abend seinem Ende zu. Wenn der Ehrengast sich übergeben musste, war das normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Dinner vorbei war.

Doch sie irrten sich.

Kaum hatten die Ranger festen Boden unter den Füßen, rannten sie in Richtung der Eingänge. Der Präsident und die anderen beobachteten, wie sie das Tor überwanden und ins Innere vordrangen.

»Gesichert!«

»Gesichert!«

»Gesichert!«

Sieben Sekunden waren vergangen. Bisher keine Anzeichen von Widerstand. Kein einziger Schuss war gefallen.

»Ist das normal?«, fragte Williams den Leiter des Kommandos für Spezialoperationen.

»›Normal‹ gibt es bei solchen Einsätzen nicht, Mr. President, aber es stimmt, wir hatten mit Gegenwehr gerechnet.«

»Und warum gibt es keine?«

»Es könnte bedeuten, dass wir sie komplett überrumpelt haben.« Doch er wirkte skeptisch.

Beinahe hätte Präsident Williams gefragt, was es sonst noch bedeuten könnte, aber dann beschloss er, einfach weiter zuzuschauen. Sie würden es früh genug erfahren.

Die Zeit dehnte sich fast bis zum Zerreißen. Williams hätte nie gedacht, dass eine Sekunde so elastisch sein konnte.

Schwere Stiefel polterten Treppen aus Beton hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, die M4-Gewehre im Anschlag. Eine Gruppe machte sich auf den Weg nach oben, die andere ins Untergeschoss, eine dritte verteilte sich in der großen offenen Halle, die vollgestellt war mit Maschinen.

Dreiundzwanzig Sekunden waren vergangen.

»Gesichert!«

»Gesichert!«

»Gesichert!«

»Was ist das da?« Williams deutete auf einen der Monitore.

Der Kommandant erhielt die Anweisung, sich dem Objekt zu nähern. Rasch wurde klar, worum es sich handelte.

»Ach du Scheiße«, sagte der Präsident.

»Ach du Scheiße«, sagte der Leiter des Kommandos für Spezialoperationen.

»Ach du Scheiße«, sagte der Kommandant vor Ort.

Es waren mehrere Leichen, alle in Laborkitteln, allem Anschein nach Wissenschaftler. Sie lagen zusammengesunken am Boden, die Wand hinter ihnen war übersät mit Einschlagslöchern und Blut.

»Identifiziert sie«, befahl der Kommandant. »Sucht nach Papieren.«

Behandschuhte Hände tasteten die leblosen Körper ab.

»Wann ist das passiert?«, wollte der Leiter des Kommandos für Spezialoperationen wissen.

»Sieht so aus, als wären sie seit etwa einem Tag tot«, antwortete der Kommandant. »Vielleicht auch schon länger.«

Shah hatte seine eigenen Leute umbringen lassen. Sie waren ihm nicht länger nützlich gewesen. Er hatte, was er brauchte. Die Bomben waren fertig und an die El Kaida verkauft worden, die nun unter dem Schutz der Taliban stand.

Shah räumte hinter sich auf.

»Finden Sie die Unterlagen«, befahl der Präsident. »Wir brauchen die Informationen.«

»Jawohl, Sir!«

Bitte, lieber Gott.

»Weitere Leichen hier oben«, ertönte eine andere Stimme. »Im ersten Stock.«

»Im Keller auch. Gott, das war ja das reinste Massaker.«

»Passt auf Sprengfallen auf«, befahl der Kommandant, während er und seine Leute die Fabrik nach Unterlagen, Computern und Telefonen absuchten.

Präsident Williams stützte den Kopf auf die Hände, während er die Monitore anstarrte. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Atem ging flach und stoßweise.

»Wir müssen wissen, wohin die Bomben gebracht wurden«, wiederholte er.

Neunzig Sekunden. Nichts.

Zwei Minuten und zehn Sekunden. Immer noch nichts.

»Bisher nichts gefunden«, meldete der Kommandant. »Wir suchen weiter. Keine Anzeichen von Sprengfallen.«

Der Leiter des Kommandos für Spezialoperationen wandte sich an den Präsidenten. »Das ist seltsam.«

»Aber gut, oder?«

»Vielleicht.« Er klang beunruhigt.

»Raus mit der Sprache.«

»Ich mache mir Sorgen, dass man unsere Leute tiefer ins Gebäude locken will, ehe die Sprengfallen ausgelöst werden.«

»Was können wir tun, um das zu verhindern?«

»Nichts.«

»Sollten wir sie nicht warnen?« Präsident Williams deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Bildschirme.

»Sie wissen Bescheid.«

Im Lageraum verfolgte man mit finsteren Mienen, wie die Soldaten immer tiefer in die Fabrik vordrangen, um nach wichtigen Informationen zu suchen, obwohl sie genau wussten, was sie womöglich erwartete.

»Mr. President?«

Eine Stimme riss Williams aus seiner Konzentration. Er fuhr zusammen und blickte zur Tür. Dort stand der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs. Er hielt sich am Türrahmen fest und sah aus, als wäre ihm übel. Hinter ihm standen die anderen Männer und Frauen, die mit ihm den Einsatz auf dem Plateau verfolgt hatten.

Williams erhob sich. Er sah an ihren Gesichtern, dass sie keine guten Neuigkeiten brachten. »Ja, General?«

»Sie sind gefallen.«

»Wie bitte?«

»Sie sind alle tot. Die gesamte Einheit.«

Im Raum herrschte Totenstille. »Alle?«

»Ja, Sir. Sie haben versucht, sich gegen die Aufständischen zu behaupten, aber es waren zu viele. Es deutet einiges darauf hin, dass die Taliban gewarnt wurden.«

Williams schaute den Leiter des Kommandos für Spezialoperationen an, der sprachlos war vor Entsetzen. Dann wandte er sich wieder an den Mann in der Tür.

»Reden Sie weiter, General«, sagte der Präsident und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wie um sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.

Denn ich hab mehr …

»Als deutlich wurde, dass die Taliban unseren Leuten zahlenmäßig überlegen waren und sie keine Chance hatten, hat die Kommandantin den Befehl gegeben, so viele Terroristen wie möglich zu ergreifen und sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Sie haben bis zum Ende gekämpft.«

»Oh Gott.« Williams schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Er versuchte es sich vorzustellen …

Es gelang ihm nicht.

Dann richtete er sich wieder auf, atmete tief ein und nickte. »Danke, General. Die Leichen?«

»Ich habe Kampfhubschrauber losgeschickt, um sie zu bergen, aber …« Die Miene des Generals war gequält.

»Ja. Danke. Ich will ihre Namen wissen.«

»Jawohl, Sir.«

Die Zeit zu trauern würde später kommen. Fürs Erste widmete sich Präsident Williams wieder der Erstürmung der Fabrik. Immer tiefer und tiefer drangen die Soldaten ins Innere vor – und liefen mit großer Wahrscheinlichkeit direkt in eine Falle.

Aber sie brauchten die Informationen.

In welchen amerikanischen Städten waren die Bomben versteckt, die jeden Moment hochgehen konnten?

Betsy durchsuchte zunächst die Damentoilette, dann sperrte sie die Tür ab.

Sie waren allein, was allerdings nicht bedeutete, dass niemand sie belauschte.

»Was ist los?«, wisperte sie. »Was ist passiert?«

Ellen ließ sich auf das mit Seide bezogene Sofa sinken und starrte ihre Freundin an, die sich neben sie setzte.

»Pete Hamilton wurde ermordet«, flüsterte sie. »Sein Laptop, sein Smartphone und seine Aufzeichnungen sind weg.«

»Ohhhhh.« Betsy sackte in sich zusammen. Es war, als hätte sich jeder Knochen in ihrem Körper aufgelöst. Das Gesicht des jungen Mannes erschien vor ihrem geistigen Auge. Sie war an ihn herangetreten. Sie hatte ihn überredet, ihnen zu helfen.

Wenn sie nicht …

»Seine letzte Nachricht, wann hat er die gesendet?«, fragte Ellen.

Betsy gab sich einen Ruck, schaute nach und teilte es Ellen mit.

»Und seitdem nichts mehr? Auch keine Erklärung?«

Betsy schüttelte den Kopf. Auf einmal war HLI kein rätselhafter Tippfehler mehr. Es war die letzte verzweifelte Botschaft eines jungen Mannes, der den Tod vor Augen gehabt hatte.

»Es kommt noch mehr«, sagte Ellen. Sie war aschfahl geworden. »Die Soldaten, die für das Ablenkungsmanöver verantwortlich waren … die Army Rangers …«

»Ja?«

Ellen holte tief Luft. »Sie wurden alle getötet.«

Betsy starrte Ellen an. Sie wollte den Blick abwenden oder die Augen schließen. Sich, wenngleich nur für ein paar Sekunden, in die Dunkelheit flüchten. Doch sie konnte ihre Freundin nicht im Stich lassen, nicht mal für einen kostbaren Moment. Stattdessen nahm sie Ellens Hand.

»Alle?«

Ellen nickte. »Dreißig Ranger und sechs Hubschrauberpiloten. Tot.«

»Oh Gott«, hauchte Betsy. Dann stellte sie die Frage, vor der ihr graute. »Und die anderen? In der Fabrik?«

»Noch keine Neuigkeiten.«

Es klopfte an der Tür. Kurz darauf wurde die Klinke heruntergedrückt.

»Madame Secretary?«, rief eine Frau. »Geht es Ihnen gut?«

»Einen Moment noch«, antwortete Betsy. »Wir kommen gleich.«

»Benötigen Sie Hilfe?«

»Nein«, rief Betsy ungehalten, ehe sie sich wieder zusammenreißen konnte. »Vielen Dank, aber wir brauchen nichts, nur noch ein bisschen Zeit. Verdorbener Magen.«

Was jetzt sogar stimmte.

Beide starrten auf das Telefon, das Ellen umklammert hielt. Sie warteten. Warteten auf eine weitere Nachricht aus dem Weißen Haus.

Weißes Haus, dachte Ellen. Das hatte Boynton ihr geschrieben. Das waren die letzten Worte des sterbenden iranischen Doppelagenten gewesen.

»Lass mich noch mal die Nachricht von Pete Hamilton sehen.«

Auch sie war das letzte Lebenszeichen eines Mannes. Wahrscheinlich hatte er gewusst, dass er bald sterben würde. Seine Botschaft lautete nicht Weißes Haus, aber vermutlich bedeutete sie etwas Ähnliches.

HLI.

In dem Moment ging eine Nachricht auf ihrem Handy ein. Aus dem Weißen Haus.

Präsident Williams starrte auf die Monitore, während die Soldaten in der Fabrik ihre zweite Durchsuchung des Gebäudes abschlossen. Dann wandte er sich an den Leiter des Kommandos für Spezialoperationen.

»Holen Sie sie nach Hause.«

»Jawohl, Sir.«

Ellen Adams betrat die Toilettenkabine, sank auf die Knie und übergab sich, während Betsy die mageren Zeilen anstarrte, die Präsident Williams soeben gesendet hatte.

Fabrik leer. Wissenschaftler und Techniker tot. Keine Unterlagen. Keine Rechner. Wissen nach wie vor nicht, wo die Bomben sind. Hinweise, dass dort spaltbares Material gelagert wurde. Signatur wird analysiert. Keine Infos über Bestimmungsorte der Bomben.

Nichts.

Betsy wusste, dass sie zu Ellen hätte gehen sollen, um ihr zu helfen. Sie hätte feuchte Tücher holen sollen, damit sie sich das Gesicht abwischen konnte.

Doch sie vermochte sich nicht zu rühren. Sie schloss lediglich die Augen. Bedeckte sie mit ihren zitternden Händen und spürte, dass ihre Wangen nass waren.

Pete Hamilton war tot. Die Einheit, die die Taliban ablenken sollte, war tot.

Die Wissenschaftler waren tot, die Fabrik war leer.

Es war alles umsonst gewesen.

Sie hatten immer noch nicht den Hauch einer Ahnung, wo die Atombomben deponiert worden waren oder wann sie hochgehen sollten. Sie wussten nichts – nur dass es höchstwahrscheinlich bald passieren würde.