Madame Secretary?«
Diesmal gehörte die Stimme jenseits der Tür ihrem Sicherheitschef Steve Kowalski.
»Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein. Nein, danke. Nur noch einen Moment Zeit. Wir waschen uns gerade das Gesicht.«
Das war nicht gelogen, allerdings hatte Ellen die Wasserhähne in erster Linie deshalb aufgedreht, um zu übertönen, was sie Betsy sagen wollte.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was Pete Hamilton meinte«, flüsterte sie.
»Wie bitte?«
»Seine Nachricht. HLI.«
»Dann war es kein Tippfehler, weil er in Panik war?«
»Ich denke nicht. Vor Jahren, kurz nach Dunns Amtsantritt, kam Alex Huang zu mir.«
»Dein Korrespondent im Weißen Haus«, sagte Betsy.
»Genau. Er hatte die Kommunikation irgendwelcher zweitrangiger Verschwörungstheoretiker im Netz aufgeschnappt. Es gab da vage Andeutungen auf einen Webspace, eine Seite namens HLI. Er hat Nachforschungen darüber angestellt, ist aber letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass die Seite entweder ein Scherz oder bloßes Wunschdenken der Rechtsextremen ist. Etwas, was sich irgendwelche Fantasten ausgedacht hatten. Wie dem auch sei, er hat die Seite jedenfalls nie gefunden.«
»Bist du dir sicher, dass sie HLI hieß? Wieso kannst du dich noch so genau daran erinnern, wenn es schon Jahre her ist?«
»Weil HLI eine Abkürzung ist. Und weil ich weiß, was die Story bedeutet hätte, wenn sie wahr gewesen wäre.«
»Wofür ist es denn eine Abkürzung?«
»High Level Informant. Es ging um einen hochrangigen Informanten im Weißen Haus.«
»Aber das war doch bloß ein Hirngespinst, oder? Dass es einen ranghohen Regierungsmitarbeiter gab, der Geheiminformationen an die Ultrarechten weitergab?«, fragte Betsy. »Area 51? Die Außerirdischen sind unter uns. Impfstoffe enthalten Mikrochips, um uns zu tracken. Finnland existiert in Wahrheit gar nicht. Solche Sachen. Sie haben irgendwelches Zeug erfunden und es dann diesem angeblichen Informanten zugeschrieben?«
»Das dachte Huang anfangs auch. Er hielt die Sache für kurios, aber letztlich ungefährlich. Während einer Pressekonferenz im Weißen Haus hat er Pete Hamilton sogar danach gefragt. Pete hat geleugnet, irgendetwas darüber zu wissen, und Huang kam zu dem Schluss, dass es eins dieser typischen Rabbit Holes war, wie es sie im Netz eben gibt, vor allem in Verschwörungskreisen. Aber ich habe ihn gebeten, an der Sache dranzubleiben.«
»Warum?«
»Weil die meisten Rabbit Holes am rechten Rand enden. Aber dieses hier führte noch weiter.«
»Ins Darknet?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber irgendwann hat Alex Huang trotzdem aufgehört zu recherchieren?«
Es hatte sie immer amüsiert, dass Journalisten, die aus dem Weißen Haus berichteten, als »Korrespondenten« bezeichnet wurden, so als würden sie im Ausland arbeiten. Aber vielleicht stimmte das sogar irgendwie. Das Weiße Haus war wie ein Staat im Staat, mit seinen eigenen Verhaltensregeln, seiner eigenen Schwerkraft und drückenden Atmosphäre. Seinen eigenen, sich stetig verschiebenden Grenzlinien.
Das Wappentier dieses Staats war das gemeine Gerücht. Im Weißen Haus wimmelte es nur so von ihnen. Altgediente Mitarbeiter, die schon viele Regierungswechsel überlebt hatten, hielten sich deshalb so lange auf ihrem Posten, weil sie unterscheiden konnten, ob etwas an den Gerüchten stimmte oder nicht. Und was noch wichtiger war: Sie wussten, welche Gerüchte, auch wenn sie jeder Grundlage entbehrten, ihnen trotzdem nützlich sein konnten.
»Ja. Er ist einfach nicht weitergekommen. Das fand er am seltsamsten. Die meisten Leute, die Verschwörungstheorien in die Welt setzen, lechzen nach Öffentlichkeit. Ihr ›Geheimnis‹ sollte möglichst große Verbreitung finden. Aber die Leute im Umfeld von HLI waren anders. Es hatte den Anschein, als wollten sie die Sache um jeden Preis geheim halten.«
»Ein lautes Schweigen«, sagte Betsy.
Ellen nickte. »Er hat seine Nachforschungen eingestellt und gekündigt.«
»Wo ist er hingegangen? Zu einer anderen Zeitung?«
»Nein, ich glaube, er ist nach Vermont gezogen. Vielleicht arbeitet er dort für ein Lokalblatt. Ein ruhigeres Leben. Als Korrespondent im Weißen Haus ist der Burnout praktisch vorprogrammiert.«
»Okay, ich versuche ihn ausfindig zu machen.«
»Warum?«
»Weil ich der Spur nachgehen will. Wenn dieses HLI wirklich existiert und irgendetwas mit der Sache zu tun hat, müssen wir es rausfinden. Allein schon Pete zuliebe.«
Betsy empfand es als ihre Pflicht dem jungen Mann gegenüber.
»Gut, aber du machst das nicht«, entschied Ellen. »Ich setze jemand anders darauf an.«
»Warum?«
»Weil Pete Hamilton seine Fragen mit dem Leben bezahlt hat.«
»Glaubst du nicht, meine Liebe, dass wir alle dran sind, wenn die Bomben hochgehen?«, fragte Betsy. »Ich mache das. Also, was waren noch mal die Buchstaben?«
Ellen zwang sich zu einem Lächeln. »Du bist unmöglich.« Sie drehte die Wasserhähne ab. »Bereit?«
»Noch einmal stürmt, noch einmal, meine Freundin«, zitierte Betsy, ehe sie im Spiegel ihren Lippenstift überprüfte.
Als sie gemeinsam das WC verließen, wären sie beinahe mit dem pakistanischen Premierminister zusammengestoßen, der sehr erbost wirkte.
Ali Awan stand, die Hände hinter dem Rücken, in dem prächtigen Gang. Hinter ihm hatten sich sämtliche Frauen und Männer versammelt, die beim Staatsbankett anwesend gewesen waren, einschließlich des Streichquartetts.
Alle starrten sie vorwurfsvoll an.
»Madame Secretary, wann hatten Sie die Absicht, mich einzuweihen?« Er hielt sein Telefon in die Höhe, auf dem er soeben eine Nachricht über die wahre Natur des nächtlichen Kommandoangriffs in Bajaur erhalten hatte.
Ellen war mit ihrer Geduld am Ende.
»Wann hatten Sie die Absicht, mich einzuweihen, Premierminister?«, gab sie die Frage zurück. Awan mochte verärgert sein, aber sie glühte förmlich vor Zorn. »Ja, es stimmt, die Mitglieder eines Sonderkommandos haben sich heute Nacht in Bajaur ein Gefecht mit den Taliban geliefert und sind dabei alle ums Leben gekommen, während eine weitere Einheit eine stillgelegte Zementfabrik erstürmt hat. Das waren nicht die Briten, sondern wir. Und ja, diese Operation fand auf pakistanischem Staatsgebiet statt. Wissen Sie auch, warum?«
Sie machte zwei Schritte auf ihn zu und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, sich auf ihn zu stürzen und ihn bei seiner langen, bestickten Kurta zu packen.
»Weil dort die Terroristen sind. Und warum sind sie dort? Weil Sie ihnen Zuflucht gewähren. Sie haben Feinden des Westens, Feinden der Vereinigten Staaten innerhalb Ihres Landes Zuflucht gewährt. Warum wir Sie nicht im Voraus über die Angriffe informiert haben? Weil wir Ihnen nicht vertrauen konnten. Nicht nur haben Sie zugelassen, dass die El Kaida in Ihrem Land Stellungen unterhält, von denen aus sie operiert, Sie sehen auch noch tatenlos zu, wie Bashir Shah in einer stillgelegten Fabrik Atomwaffen baut. Sie …« Sie machte einen weiteren Schritt auf den Premierminister zu, während dieser vor ihr zurückwich. »… tragen …« Noch ein Schritt. »… die Verantwortung dafür.«
Sie stand jetzt dicht vor ihm und blickte in sein schweißglänzendes Gesicht.
»Und wie sollen wir Ihnen noch vertrauen?«, entgegnete er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Sie haben gelogen, Madame Secretary. Sie sind mit dem alleinigen Ziel hergekommen, uns abzulenken.«
»Natürlich. Und ich würde es wieder tun.«
»Sie haben unsere nationale Ehre verletzt.«
Sie neigte sich zu ihm vor und flüsterte: »Ich scheiße auf Ihre Ehre. Sechsunddreißig Mitglieder unserer Spezialkräfte haben heute Nacht ihr Leben verloren, weil sie eine Katastrophe verhindern wollten, die Sie sehenden Auges zulassen.«
»Ich …« Der Premierminister stand buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.
»Was? Sie wussten nichts davon? Oder wollten Sie es vielleicht einfach nicht wissen?«
»Wir hatten …«
»Keine andere Wahl? Wollen Sie mich verarschen? Die große Nation Pakistan hat vor einem amerikanischen Verrückten kapituliert?«
»Einem amerikanischen Präsidenten.«
»Und wie gedenken Sie das dem gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten zu erklären?«
Premierminister Awan stand unter Schock. Er hatte das Gleichgewicht verloren und war von seinem Drahtseil abgestürzt. Nun klammerte er sich mit einer Hand daran fest und hing über dem Abgrund.
»Kommen Sie mit.« Ellen packte ihn beim Arm und stieß ihn unsanft ins Damen-WC. Betsy folgte ihnen und verschloss die Tür, ehe ihnen jemand folgen konnte.
»Premierminister!«, rief sein Sicherheitschef von draußen. »Gehen Sie in Deckung!«
»Nein«, antwortete Awan. »Warten Sie. Ich bin nicht in Gefahr.« Er warf einen Blick zu Ellen. »Oder?«
»Wenn ich könnte, wie ich wollte …«, sagte diese, dann atmete sie tief durch. »Hören Sie, ich brauche Informationen. Shah hat Atomphysiker angeheuert, um Bomben zu bauen, und hat die leer stehende Fabrik in Bajaur als Produktionsstätte benutzt.«
»Bomben?«
Sie musterte ihn. Konnte es sein, dass Dr. Awan wirklich nichts wusste? Seiner bestürzten Miene nach zu urteilen, verhielt es sich so. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine moralische Grenze gefunden, die er nicht überschreiten würde.
»Es gibt Hinweise auf spaltbares Material in der Fabrik.«
»Für Kernwaffen?« Er versuchte noch immer die Situation zu begreifen. Sein anfänglicher Schock war tiefem Entsetzen gewichen.
»Ja. Was wissen Sie darüber?«
»Nichts. Mein Gott.« Er wandte sich ab und begann, eine Hand gegen die Stirn gepresst, im luxuriösen Bad auf und ab zu gehen, wobei er sich zwischen den großen, mit Seide bezogenen Pouffes hindurchschlängeln musste.
»Ich bitte Sie, irgendetwas müssen Sie doch wissen«, sagte Ellen, die ihm folgte. »Unsere Geheimdienste sagen, die Bomben wurden an die El Kaida verkauft, und wir glauben, sie befinden sich bereits an ihren Bestimmungsorten.«
»Wo?«
»Genau da liegt das Problem.« Ellen streckte die Hand aus, zwang ihn so zum Stehenbleiben und drehte ihn zu sich herum. »Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass sie in drei amerikanischen Städten deponiert wurden. Wir müssen herausfinden, wo genau sie sich befinden und wann sie hochgehen sollen. Sie müssen uns helfen, Premierminister, sonst gnade Ihnen Gott …«
Awans Atem ging schnell und flach. Betsy machte sich Sorgen, er könnte das Bewusstsein verlieren.
Er mochte einiges geahnt haben, doch man sah ihm an, dass die Einzelheiten ihn zutiefst erschütterten.
Er ließ sich auf eine der Sitzgelegenheiten sinken. »Ich habe ihn noch gewarnt. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen.«
»Wen?« Ellen setzte sich neben ihn und lehnte sich vor.
»Dunn. Aber seine Berater haben darauf bestanden. Dr. Shah musste freigelassen werden.«
»Welche Berater?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er auf sie gehört hat und sich keines Besseren belehren ließ.«
»General Whitehead?«
»Vom Generalstab? Nein, er war dagegen.«
Natürlich hat er sich dagegen ausgesprochen, dachte Betsy. In der Öffentlichkeit. Sie dachte an Pete. An seine Aufregung, vermischt mit Fassungslosigkeit, als er die Dokumente im Privatarchiv gefunden hatte, die den Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs schwer belasteten.
War Whitehead der HLI? So musste es sein. Aber es bestand die Möglichkeit, dass er nicht allein agierte. Er saß im Pentagon. Angenommen, es gab noch jemand anderen direkt im Weißen Haus?
»Wo ist Shah jetzt?«, fragte Ellen.
»Das weiß ich nicht.«
»Wer weiß es dann?«
Stille.
»Wer weiß es?«, wiederholte Ellen. »Ihr Militärminister?«
Dr. Awan senkte die Lider. »Möglicherweise.«
»Holen Sie ihn her.«
»Hierher?« Er sah sich auf der Damentoilette um.
»Von mir aus auch in Ihr Büro. Hauptsache, schnell.«
Awan nahm sein Telefon und wählte eine Nummer. Es klingelte. Und klingelte. Und klingelte.
Er runzelte die Stirn. Dann schickte er eine Textnachricht, ehe er eine andere Nummer anrief.
»Finden Sie General Lakhani. Umgehend.«
Während er damit beschäftigt war, schrieb Ellen eine Nachricht an Präsident Williams, in der sie ihm nahelegte, Tim Beecham aus London zurückzubeordern.
Sie erhielt sofort eine Antwort. Beecham würde in einer Militärmaschine nach DC geflogen werden.
Und Sie kommen auch zurück, hatte der Präsident noch hinzugefügt.
Ellen zögerte, ehe sie eine Antwort formulierte. Geben Sie mir bitte noch ein paar Stunden. Könnte sein, dass ich hier Antworten bekomme.
Sie drückte auf Senden. Wieder war innerhalb weniger Augenblicke eine Antwort da.
Sie haben eine Stunde, dann will ich, dass Sie die Regierungsmaschine besteigen.
Ellen wollte schon ihr Handy wegstecken, da fiel ihr noch etwas ein. Eine Frage.
Die Munition, mit der die Wissenschaftler erschossen wurden?
Russisch.
Sie sah Premierminister Awan an. »Wie stark sind die Russen in Pakistan involviert?«
»Überhaupt nicht.«
Sie musterte ihn, und er musterte sie. Irgendwie fand er ihre Ruhe noch verstörender, als wenn sie ihn angeschrien hätte.
Und wo zur Hölle steckte General Lakhani? Er hatte ihnen diesen Schlamassel eingebrockt. Er war derjenige, gegen den sich ihr Zorn hätte richten sollen.
»Ich weiß, Sie dachten, ich wäre eine inkompetente Idiotin«, sagte sie zu seiner großen Überraschung, »die Sie mit Leichtigkeit manipulieren können.«
»Den Eindruck haben Sie vermittelt, Madame Secretary. Mit Absicht, wie ich nun erkenne.«
»Wissen Sie, was ich über Sie gedacht habe?«
»Dass ich ein inkompetenter Idiot bin, den Sie mit Leichtigkeit manipulieren können?«
Betsy, die dies mit anhörte, dachte bei sich, dass es schwer war, diesen Mann nicht zu mögen. Aber noch schwerer war es, ihm zu vertrauen.
»Na ja, vielleicht ein bisschen«, räumte Ellen ein. »Aber im Wesentlichen dachte ich, dass Sie ein guter Mann in einer ausweglosen Lage sind. Das denke ich übrigens immer noch. Aber heute ist der Tag der Abrechnung gekommen. Sie müssen eine Entscheidung treffen, und zwar jetzt. Wir oder die Dschihadisten? Stellen Sie sich auf die Seite von Terroristen oder auf die Seite Ihrer Bündnispartner?«
»Wenn ich mich für Sie entscheide, Ellen – wenn ich Ihnen helfe, dann …«
»Dann sind Sie vielleicht ihr nächstes Ziel. Ich weiß.« Sie sah ihn mitfühlend an. »Aber wenn Sie sich für die Terroristen entscheiden, wird man Sie auch umbringen, spätestens, wenn man keine Verwendung mehr für sie hat. Und ich sage Ihnen, Ali, dieser Moment ist gekommen. Spätestens nach heute Abend. Shah räumt hinter sich auf, und Sie sind ein Teil des Abfalls. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass Sie uns helfen, ihn zu finden.« Sie sah, wie er mit sich rang. »Wollen Sie wirklich, dass Pakistan in die Hände von Terroristen und Wahnsinnigen fällt? Oder in die der Russen?«
Der Verzweiflung Knecht, dachte Betsy. Nur dass sie selbst die Verzweifelten waren.
»Ich weiß nicht, wo Shah sich aufhält, wirklich nicht«, sagte Awan. »General Lakhani könnte es Ihnen vielleicht sagen, aber ich bezweifle, dass er es tun wird. Sie haben nach den Russen gefragt. Sie sind nicht unsere offiziellen Verbündeten, das stimmt, aber es gibt Elemente innerhalb des Landes, die Beziehungen zur russischen Mafia haben.«
»Auch General Lakhani?«
Der Premierminister nickte betroffen. »Ich glaube schon.«
»Er verkauft Waffen der Russenmafia an Shah?«
Awan nickte.
»Einschließlich spaltbaren Materials?«
Wieder ein Nicken.
»Und dann weiter an die El Kaida?«
Nicken.
»Und er bietet den Terroristen Unterschlupf?«
Nicken.
Fast hätte Ellen ihn gefragt, weshalb er es nicht unterbunden hatte, doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt. Falls sie überlebten, würde sie es nachholen. Aber natürlich wusste sie auch, dass die amerikanische Regierung im Laufe der Geschichte mehr als einmal den Bund mit dem Teufel eingegangen war. Manchmal war es ein notwendiges Übel. Jedoch nur selten ein guter Handel.
Die Außenministerin beobachtete Premierminister Awan, während er zu einer Entscheidung gelangte. Er ließ das Drahtseil los und überließ sich dem freien Fall.
»Wenn Bashir Shah kernwaffenfähiges Material besitzt«, sagte er, »dann muss er Kontakt zu den höchsten Führungsebenen der Russenmafia haben.«
»Und wer ist das?«
Als Awan zögerte, flüsterte Ellen: »Sie sind schon so weit gekommen, Ali. Noch einen Schritt.«
»Maxim Iwanow. Er wird es niemals zugeben, aber nichts geschieht, ohne dass der russische Präsident dabei seine Finger im Spiel hat. Ohne seine Zustimmung könnte niemand an diese Waffen oder gar an atomwaffenfähiges Material gelangen. Er hat Milliarden damit verdient.«
Ellen hatte einen Verdacht gehabt. Sie hatte sogar die Rechercheabteilung einer ihrer größeren Zeitungen damit beauftragt, Nachforschungen über Iwanows Verbindungen zur Russenmafia anzustellen, doch nach anderthalb Jahren ergebnisloser Suche hatten sie aufgegeben. Niemand wollte reden. Und diejenigen, die vielleicht dazu bereit gewesen wären, hatten die Angewohnheit, spurlos zu verschwinden.
Die Oligarchen wurden vom russischen Präsidenten aufgebaut. Er gab ihnen Reichtum und Einfluss. Er kontrollierte sie. Und sie kontrollierten die Mafia.
Die Russenmafia war der Faden, der alle Elemente miteinander verband. Den Iran. Shah. Die El Kaida. Pakistan.
Ein Ping ertönte, als eine weitere Nachricht einging. Auch diese war vom Präsidenten.
Das spaltbare Material, von dem man in der stillgelegten Fabrik Spuren gefunden hatte, war als Uran-235 identifiziert worden. Es war im südlichen Ural abgebaut und zwei Jahre zuvor von der Atomaufsichtsbehörde der UNO als vermisst gemeldet worden.
Ellen ließ sich diese Neuigkeit durch den Kopf gehen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schrieb eine Antwort.
Dann hatte sie noch eine letzte Frage an Premierminister Awan.
»Sagt Ihnen HLI irgendetwas?«
»HLI? Nein, tut mir leid.«
Die Außenministerin stand auf. Sie bedankte sich bei dem Premierminister und ging, nachdem sie ihn gebeten hatte, niemandem gegenüber zu erwähnen, worüber sie gesprochen hatten.
»Oh, keine Sorge. Das werde ich nicht.«
So viel immerhin glaubte sie ihm.
Im Oval Office warf Präsident Williams einen Blick auf sein Telefon. »Ach du Scheiße«, knurrte er.
Seine Nacht war soeben noch schlimmer geworden.
Einer Nachricht seiner Außenministerin zufolge war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Russenmafia in den Bau der Bomben involviert. Das bedeutete, dass vermutlich auch der russische Präsident involviert war.
Doug Williams hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er auf einer Atombombe saß. Er hatte schreckliche Angst. Er wollte genauso wenig sterben wie jeder andere Mensch.
Aber vor allem wollte er nicht scheitern.
Er hatte die Evakuierung des Weißen Hauses befohlen. Nur seine engsten Mitarbeiter waren geblieben.
Spezialisten suchten das Gebäude nach Spuren von Uran-235 ab, doch Williams wusste, dass es Möglichkeiten gab, die Strahlung abzuschirmen. Und er wusste, dass es im Weißen Haus sehr, sehr viele Orte gab, an denen man etwas verstecken konnte.
Eine schmutzige Bombe, wenn es denn eine war, passte in einen Aktenkoffer. Auch davon gab es viele in dem verwinkelten alten Gebäude.
Noch einmal las er Ellens Nachricht.
Sie würde nicht nach Washington zurückkehren. Noch nicht. Stattdessen würde sie mit der Regierungsmaschine nach Moskau fliegen. Ob er ein Treffen mit dem russischen Präsidenten arrangieren könne?
Einen kurzen Moment spielte Williams mit dem Gedanken, dass die Außenministerin selbst die Verräterin war und deshalb so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Bomben bringen wollte.
Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Das war eine der großen Gefahren: dass sie sich in ihrer Panik gegeneinander wendeten. Einander zu misstrauen begannen.
Wenn sie erfolgreich sein wollten, mussten sie zusammenhalten.
Er mochte auf einer Atombombe sitzen, aber Ellen Adams war kaum besser dran. Sie war unterwegs zu einem Showdown mit dem russischen Bären.
Was wäre die bessere Art zu sterben? Zu Asche verbrennen oder in Stücke gerissen werden?
Er verschränkte die Arme auf dem Schreibtisch und bettete seinen Kopf darauf. Einen Moment lang schloss er die Augen und stellte sich eine Wildblumenwiese mit einem Bach vor, der im Sonnenschein glitzerte. Sein Golden Retriever Bishop sprang den Schmetterlingen hinterher, obwohl er niemals einen fangen würde.
Dann blieb Bishop plötzlich stehen und schaute zum Horizont, wo ein Atompilz zu sehen war.
Präsident Williams hob den Kopf, rieb sich mit den Händen das Gesicht und rief in Moskau an.
Gott, dachte er, bitte lass mich jetzt keinen Fehler machen.
Auf dem Weg zum Flughafen steckte Ellen die Hand in die Sakkotasche, um ihr Smartphone herauszuholen. Es war reiner Instinkt. Sie vergaß immer wieder, dass sie es nach jeder Benutzung ihrem Sicherheitschef aushändigte.
Aber …
»Was ist denn das?«
»Was?«, fragte Betsy. Sie war zugleich aufgedreht und übermüdet. Völlig gerädert. Wie lange würden sie das wohl noch durchhalten?
Dann dachte sie an Pete Hamilton. An die Soldaten auf dem Plateau.
Länger, lautete die Antwort. So lange wie nötig.
Ellen hielt ein Stück Papier zwischen Daumen und Zeigefinger. »Steve?«
Kowalski drehte sich zu ihr um. »Ja, Madame Secretary?«
»Haben Sie einen Asservatenbeutel?«
Ihr Tonfall veranlasste ihn dazu, sie gründlich zu mustern. Dann fiel sein Blick auf das, was sie in der Hand hielt. Er griff in ein Fach zwischen den Vordersitzen und holte einen Plastikbeutel heraus.
Sie ließ das Stück Papier hineinfallen, allerdings nicht ehe Betsy ein Foto von dem gemacht hatte, was in eleganter, gleichmäßiger Handschrift darauf geschrieben stand.
310 1600.
»Was bedeutet das?«, fragte Betsy.
»Keine Ahnung.«
»Wo kommt der her?«
»Der steckte in meiner Tasche.«
»Ja, aber wer hat ihn dir da reingesteckt?«
Ellen ließ den Abend Revue passieren. Der Zettel war noch nicht da gewesen, als sie das Sakko vor einer scheinbaren Ewigkeit in der Regierungsmaschine angezogen hatte. Es gab eine Vielzahl von Menschen, die infrage kamen, auch wenn die meisten Gäste beim Staatsbankett einen respektvollen Abstand zu ihr gewahrt hatten. Weder Premierminister Awan noch der Außenminister waren ihr nahe genug gekommen.
Und General Lakhani auch nicht.
Wer dann?
Ihr kam eine Erinnerung in den Sinn. Tiefbraune Augen und eine Stimme mit leichtem Akzent, als er sich zu ihr herunterbeugte, bis sie sein Eau de Cologne riechen konnte.
Jasmin.
Ihr Salat, Madame Secretary.
Danach war er verschwunden. Für den Rest des Dinners hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Aber er hätte Zeit gehabt, ihr den Zettel in die Tasche zu stecken. So viel war gewiss.
Und im nächsten Moment stellte sich auch noch eine andere Gewissheit ein.
»Es war Shah«, sagte sie tonlos.
»Shah?« Auf einmal war Betsy wieder hellwach. »Er hat jemanden beauftragt, dir den Zettel zu geben? So wie die Blumen?«
»Nein, er war es selbst. Der Kellner, der mir den Salat serviert hat. Das war Shah.«
»Er war heute Abend dort? Oh Gott, Ellen.«
»Schnell, Steve, ich brauche mein Handy.« Kaum hatte er es ihr gegeben, machte sie den Anruf. »Hier ist Außenministerin Adams. Stellen Sie mich zu jemandem in der Nachrichtenabteilung durch.«
Nach einer quälenden Minute, in der sie die Frau von der Telefonzentrale der US-Botschaft in Islamabad vergeblich davon zu überzeugen versuchte, dass sie wirklich die amerikanische Außenministerin war, legte Ellen schließlich auf und rief kurzerhand den Botschafter an.
»Ich brauche Bashir Shahs Adresse«, sagte sie. »Und eine Einheit unserer Leute. Sie sollen sich unverzüglich vor seinem Haus mit mir treffen. Voll bewaffnet.«
»Ja«, murmelte der Botschafter, den sie aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. »Einen Moment, Madame Secretary, ich gebe Ihnen die Adresse.«
Wenige Minuten später befanden sie sich in einem grünen Vorort von Islamabad. Während sie auf das Botschaftspersonal warteten, versuchte Betsy Alex Huang, den ehemaligen Korrespondenten im Weißen Haus, ausfindig zu machen, der auf die rätselhafte Website namens HLI gestoßen war.
Ellen tätigte einen weiteren Anruf, diesmal an Premierminister Awan, dem sie von den jüngsten Entwicklungen berichtete.
»Dr. Shah war heute Abend hier?«, sagte der Premierminister erschüttert. »Das muss General Lakhani arrangiert haben. Ich habe gesehen, wie er mit dem Kellner gescherzt hat, und dachte …«
»Ich auch. Irgendetwas Neues über den Verbleib des Generals?«
»Nein. Wir suchen noch nach ihm. Vielleicht ist er bei Shah.«
»Haben wir Ihre Erlaubnis, Shahs Haus zu betreten?«
»Sie machen es doch so oder so, habe ich recht?«
»Ja. Ich wollte Ihnen nur die Chance geben, von sich aus das Richtige zu tun.«
»In Ordnung, Sie haben meine Erlaubnis. Wobei ich nicht sicher bin, ob unsere Gerichte bestätigen würden, dass ich die Befugnis dazu habe.« Er zögerte. »Aber ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.«
Sie hatte ihm nicht vertraut, jedenfalls nicht wirklich. Doch nun ging sie das Wagnis ein.
»Sagen Ihnen die Zahlen 310 1600 etwas?«
Er wiederholte sie und überlegte einen Moment. »Ist 1600 nicht die Hausnummer des Weißen Hauses?«
Ellen erbleichte. Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen? 1600 Pennsylvania Avenue. »Ja.«
Aber was konnten die anderen Zahlen bedeuten? 310. War das eine Uhrzeit? Sollte die Bombe um drei Uhr zehn am Morgen im Weißen Haus hochgehen?
»Ich muss jetzt auflegen.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Madame Secretary.«
»Ich Ihnen auch, Premierminister.«
Nachdem sie den Anruf beendet hatte, teilte sie Betsy mit, was Awan ihr über die Zahlen gesagt hatte.
»Das könnte es sein«, stimmte Betsy ihr zu. »Eine der Bomben befindet sich im Weißen Haus – das hatten wir ja bereits vermutet. Aber wenn es drei Bomben sind, warum sollte Shah dich dann nur wegen einer einzigen warnen? Ich glaube, die Lösung ist einfacher. Ich glaube, es ist genauso wie bei den anderen.«
»Welche anderen?«
»In den Bussen. Die Zahlen, die deine Mitarbeiterin bekommen hat.«
Ellen betrachtete den Zettel eingehender. »Busse? Meinst du, die El Kaida hat die Bomben irgendwo in den Staaten in Bussen der Linie 310 deponiert, und sie sollen um sechzehn Uhr hochgehen?«
»Um vier Uhr nachmittags. Ja, so würde ich es interpretieren. Nehmen wir mal an, die Explosionen in London, Paris und Frankfurt sollten nicht nur die Physiker ausschalten, sondern waren zugleich auch eine Art Test.«
»Aber wir können doch unmöglich rausfinden, welche Städte gemeint sind«, sagte Ellen. »Und vier Uhr? In welcher Zeitzone denn?«
Betsy starrte auf den Zettel. Dabei fiel ihr etwas auf. »Ellen, da steht gar nicht 310. Da steht 3 Leerstelle 10. Es sind drei Busse der Linie 10, die um vier Uhr nachmittags explodieren sollen – jeweils in der Zeitzone, in der sie sich befinden.«
»Aber das ergibt doch auch keinen Sinn«, schaltete sich Steve Kowalski auf dem Beifahrersitz ein. »Entschuldigen Sie, ich konnte nicht umhin, das Gespräch mitzuhören.« Er sah blass aus. Was er gehört hatte, war eindeutig ein Schock für ihn. »Wenn wir wissen, dass in drei Bussen der Linie 10 irgendwo in den Vereinigten Staaten schmutzige Bomben versteckt sind, dann müssten wir doch bloß die betreffenden Verkehrsbetriebe alarmieren, damit sie den Linienbetrieb einstellen und die Busse durchsuchen lassen. Es wäre ziemlich aufwendig, aber machbar. Wir haben noch genug Zeit.«
Ellen seufzte. »Sie haben recht. Das kann nicht die Lösung sein.«
Abermals starrten sie auf die Zahlen. Ellens brennende, übermüdete Augen hatten den kleinen Zwischenraum zwischen der 3 und der 10 nicht registriert, aber er war da. Sobald man ihn einmal bemerkt hatte, war er nicht mehr zu übersehen.
3 10 1600.
Aber sie wussten immer noch nicht, was die Zahlen bedeuteten. Was es umso wichtiger machte, Shah zu finden.
Als sie zu dem dunklen Haus blickte, spürte Ellen, wie einer eisigen Flutwelle gleich die Angst in ihr hochstieg. Immer höher, sie erreichte bereits Mund und Nase. Bald würde sie ertrinken.
Vielleicht ging es um Busse. Vielleicht auch ums Weiße Haus.
Oder vielleicht waren es einfach nur irgendwelche völlig willkürlichen Zahlen. Vielleicht spielte Bashir Shah mit ihr, weil er wollte, dass sie ihre Zeit vergeudete.
Sie wusste, dass sie viel zu müde war, um das Rätsel alleine zu lösen. Sie hatte das Leerzeichen übersehen. Was übersah sie sonst noch?
»Schick mir das Foto, das du von dem Zettel gemacht hast.«
Sobald Betsy es getan hatte, leitete Ellen es weiter.
»An den Präsidenten?«, fragte Betsy.
»Nein. Der hat auch nicht mehr Durchblick als wir, und falls es wirklich einen HLI gibt, dürfen wir nicht riskieren, dass jemand im Weißen Haus davon Wind bekommt. Ich habe es an die Person geschickt, die schon den ersten Code geknackt hat.«
Dann schrieb sie eine Nachricht an Doug Williams und warnte ihn, dass es möglicherweise eine Bombe im Weißen Haus gab, die um zehn Minuten nach drei Uhr am Morgen hochgehen würde.
Williams warf einen Blick zur Uhr.
Es war kurz nach acht. Ihnen blieben noch sieben Stunden.