Betsy Jameson konnte nicht sehen, was im Oval Office vor sich ging, aber sie wusste, dass soeben etwas Schreckliches passiert sein musste.
Sie sah nur den Monitor des Laptops.
Ellen hielt ihr Telefon vollkommen ruhig. Es zeigte auf die geöffnete Tür und das, was dahinter zum Vorschein gekommen war.
»Sie verdammter Mistkerl«, fluchte Präsident Williams, als er, die Waffe an der Schläfe, aus seinem Stuhl in die Höhe gerissen wurde.
Die Ranger machten einen Schritt auf ihn zu.
»Keiner kommt näher«, befahl Whitehead.
»Deshalb haben Sie heute Morgen mit mir zusammengesessen«, sagte Williams. »Sie wussten ganz genau, dass die Bomben nicht um zehn nach drei hochgehen würden.«
»Ganz genau. Beecham, nehmen Sie ihnen die Waffen ab.« Er deutete auf die Ranger, die noch erschrockener wirkten als alle anderen. »Stenhauser, Sie tragen Kabelbinder bei sich. Fesseln Sie sie an die Beine des Schreibtischs.«
»Ich?«, sagte Stenhauser.
»Verdammt noch mal, denken Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind? Ich habe Sie rekrutiert, und Sie haben Ihre Assistentin ins Boot geholt. Wo ist die eigentlich? Ich nehme mal an, sie war diejenige, die Hamilton erledigt hat. Ich hoffe, Sie haben sich um sie gekümmert.«
Tim Beecham hatte zwischenzeitlich die Ranger entwaffnet und hielt Stenhauser nun eine der Pistolen hin. Sie betrachtete die Waffe abwägend. Sie schien genau zu wissen, was es bedeutete, wenn sie sie nahm.
»Ach, was soll’s«, sagte sie und griff nach der Waffe. Dann drehte sie sich langsam herum, bis sie auf den Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs zielte. »Wer sind Sie?«
Der General lachte verächtlich. »Was glauben Sie denn, wer ich bin?«
Sie schaute zu Shah. »Kennen Sie ihn?«
Shah, der nach wie vor alles aufmerksam beobachtete, schüttelte den Kopf. »Nein. Aber Sie kenne ich auch nicht. Die Identitäten wurden streng geheim gehalten. Die Tatsache, dass er dem Präsidenten eine Waffe an den Kopf hält, sagt allerdings einiges aus, finden Sie nicht?«
Bert Whitehead lächelte. »Sie wollen wissen, wer ich bin? Ich bin ein wahrer Amerikaner. Ein Patriot. Ich bin HLI.«
Der dritte Kopf des Azhi Dahaka war der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs. Also doch.
Der Umsturz hatte begonnen.
Betsys Augen weiteten sich, während sie den Wortwechsel im Oval Office verfolgte, aber vor allem, als sie sah, was sich ihr auf dem Monitor des Laptops offenbarte.
Hinter der geöffneten Tür konnte man sehen, wo die Bomben deponiert waren.
Auf einer Seite des Bildschirms waren Fotos der Bomben zu sehen, auf der anderen Videofeeds von den jeweiligen Standorten.
Noch zwölf Minuten.
Sie sah die riesige Halle der Grand Central Station in New York City, in der es vor Pendlern nur so wimmelte. Die Bombe befand sich in der Krankenstation des Bahnhofs.
Sie sah die Familien, die vor dem Eingang zu Legoland in Kansas City anstanden. Die Bombe lag im Erste-Hilfe-Raum.
Nur das Versteck der Bombe im Weißen Haus konnte sie nicht erkennen. Es war eine Nahaufnahme, man sah nichts von der unmittelbaren Umgebung. Sie konnte praktisch überall sein, und das Gebäude war riesig.
Allerdings zeigte der Monitor eine Liveübertragung aus dem Oval Office. Sie konnte sehen, dass Bert Whitehead den Präsidenten als Geisel genommen hatte. Ihr Verdacht hatte sich also doch bewahrheitet.
Noch elf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden.
Jemand muss etwas tun, dachte sie. Jemand musste den entsprechenden Stellen Bescheid geben.
Irgendwo anrufen.
»Oje«, seufzte sie. »Dieser Jemand bin ich. Ellen will, dass ich es mache.«
Aber wen sollte sie anrufen?
Betsy war wie gelähmt. Wer wäre in der Lage, die Bomben zu entschärfen? Und selbst wenn sie es gewusst hätte – sie konnte ihr Telefon nicht benutzen. Sie musste die Videoverbindung zum Weißen Haus aufrechterhalten. Zum Laptop des Präsidenten. Und zu Ellen.
Aber es gab noch ein anderes Telefon. Den Festnetzapparat vorne im Flur. Sie stürzte dorthin und fand die Nummer, die Ellen daneben bereitgelegt hatte. Sie nahm den Hörer ab und wählte.
»Madame Vice President?«
Noch zehn Minuten und dreiundvierzig Sekunden.
»Nein, Sie sind nicht HLI«, sagte Beecham. »Sie ist HLI.« Er zeigte auf Stenhauser. »Sie hat das alles koordiniert. Sie ist die Informantin.«
»Halten Sie den Mund, Sie Idiot«, fauchte Stenhauser.
»Sie wissen es doch sowieso«, entgegnete Beecham. Er starrte die Stabschefin an und riss plötzlich die Augen auf. »Sie waren es. Sie haben versucht, mich reinzulegen. Sie haben meine Unterlagen manipuliert, damit es so aussieht, als würde ich hinter allem stecken. Damit ich als der Schuldige dastehe, falls etwas schiefgeht. Sie arbeiten mit Whitehead zusammen.«
»Whitehead hat nichts mit der Sache zu tun«, widersprach Stenhauser. »Ich habe keine Ahnung, wer er ist.«
»Gut«, sagte Whitehead. »Genau das war die Idee dahinter. Glauben Sie, ich will, dass jeder Bescheid weiß? Erinnern Sie sich, Stenhauser. War das alles wirklich Ihre Idee, oder wurden Sie vielleicht beeinflusst? Ich brauchte ein Gesicht, jemanden, der Senatoren, Kongressabgeordnete und Richter am Obersten Gericht ansprechen konnte. Wie viele haben Sie inzwischen rekrutiert? Zwei? Drei?«
»Drei«, antwortete Beecham.
»Jetzt halten Sie doch endlich den Mund, verdammt noch mal!«, fuhr Stenhauser ihn an.
»Oh mein Gott«, stieß Ellen hervor, als ihr das Ausmaß des Komplotts klar wurde. »Warum? Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie Terroristen erlaubt, Atombomben ins Land zu bringen? Auf amerikanischen Boden?«
»Amerika? Das ist nicht mehr Amerika!«, ereiferte sich Stenhauser. »Glauben Sie, Washington, Jefferson oder irgendeiner der Gründungsväter würde dieses Land heute noch wiedererkennen? Hart arbeitende Amerikaner verlieren ihre Jobs. Gebete werden verboten. Täglich, stündlich werden irgendwo Abtreibungen vorgenommen. Schwule dürfen heiraten. Immigranten und Kriminelle überrennen unser Land. Und wir schauen tatenlos zu? Nein. Es endet hier und heute.«
»Das ist nicht Patriotismus, das ist Terrorismus!«, brüllte Ellen. »Um Himmels willen, Ihretwegen wurde eine ganze Einheit Soldaten abgeschlachtet.«
»Märtyrer. Sie sind im Dienst für ihr Land gefallen«, sagte Beecham.
»Sie machen mich krank.« Ellen wandte sich an General Whitehead. »Und Sie haben all das ins Rollen gebracht?«
Noch sechs Minuten und zweiunddreißig Sekunden.
»Ich habe keine Ahnung, wer er ist«, wiederholte Barb Stenhauser. »Aber er gehört nicht zu uns. Lassen Sie die Waffe fallen.«
Sie machte einen Schritt auf Whitehead zu, gerade als der General in einer geschmeidigen Bewegung seine Pistole herumschwenkte und sie auf Stenhauser richtete.
Williams sah seine Chance gekommen. Er rammte Whitehead den Ellbogen in den Solarplexus, woraufhin dieser sich vor Schmerzen vornüberkrümmte.
Dann machte er einen Hechtsprung auf Ellen zu und riss sie mit sich zu Boden.
Während Schüsse krachten, machte Ellen sich so klein wie möglich und legte schützend die Hände über den Kopf.
Betsy lauschte in blankem Entsetzen.
Ellens Smartphone war zu Boden gefallen. Sie konnte nichts mehr sehen, aber sie hörte die Schüsse. Dann Schreie.
Dann Stille.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Bildschirm. Sie wagte nicht zu atmen. »Ellen?«, flüsterte sie. Dann schrie sie: »Ellen!«
Eine gebieterische Stimme ertönte. »Mr. President, sind Sie wohlauf? Madame Secretary?«
Wahrscheinlich ein Agent des Secret Service, dachte Betsy, der gekommen war, um die Ordnung wiederherzustellen.
»Ellen! Ellen!«
Gleich darauf verschwand die Schwärze vom Display, und sie blickte in das Gesicht ihrer Freundin.
»Hast du den Anruf gemacht?«, fragte sie.
»Anruf?«
»Bei der Vizepräsidentin. Hast du ihr gesagt, wo die Bomben sind?«
»Ja. Die Schüsse eben …«
»Platzpatronen«, hörte sie die vertraute, wenngleich gepresste Stimme des Präsidenten.
Noch fünf Minuten und einundzwanzig Sekunden.
»Auf den Boden«, befahl ein Mann laut. »Hände hinter den Kopf.«
Ellen drehte sich um und nahm ihr Handy mit, sodass Betsy Bashir Shah, Tim Beecham und Barb Stenhauser bäuchlings am Boden liegen sah, die Hände hinter dem Rücken. Bert Whitehead hatte seine Waffe noch in der Hand. Er kniete neben den Soldaten und befreite sie von den Kabelbindern.
»Die Bomben …«, sagte Williams.
»Betsy hat die Vizepräsidentin alarmiert«, sagte Ellen. »Sie kümmert sich um alles.«
»Aber die Bombe hier im Weißen Haus?«, fragte Whitehead. »Wo ist die?«
Alle schauten auf den Monitor.
Noch vier Minuten und neunundfünfzig Sekunden.
»Sie könnte überall sein.« Williams wandte sich an die Gefangenen. »Wo ist sie? Sagen Sie es uns! Sonst werden Sie auch sterben.«
»Es ist zu spät«, sagte Stenhauser. »Sie werden sie niemals rechtzeitig entschärfen.«
Williams, Ellen und Whitehead tauschten einen Blick.
»Wo ist die Krankenstation?«, fragte Ellen.
»Keine Ahnung«, sagte der Präsident. »Ich habe ja schon Mühe, das Speisezimmer zu finden.«
General Whitehead sprang auf. »Ich weiß, wo.« Er richtete den Blick auf den Fußboden. »Sie liegt direkt unter dem Oval Office.«
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Williams.
Whitehead war bereits auf dem Weg zur Tür.
Noch vier Minuten und einunddreißig Sekunden.
Der Präsident der Vereinigten Staaten und die Außenministerin eilten, zwei Stufen auf einmal nehmend, wenige Schritte hinter dem Ranger und dem Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs über eine Seitentreppe ins Untergeschoss.
»Ich bete zu Gott, dass Sie recht haben«, sagte Williams.
»Ich bin mir sicher. Die beiden anderen Bomben waren auf den Krankenstationen deponiert, mit dieser hier muss es auch so sein.« Doch insgeheim war Ellen längst nicht so zuversichtlich, wie sie zu sein vorgab.
Dicht hinter ihnen folgten mehrere Leute vom Secret Service. Im Untergeschoss angekommen, stellten sie fest, dass die Tür zum Krankenflügel abgeschlossen war.
»Ich habe den Zugangscode.« Der Präsident gab eine Zahlenkombination ein, doch seine Hände zitterten so sehr, dass er zwei Anläufe benötigte. Ellen hätte am liebsten geschrien.
Stattdessen schaute sie auf die Uhr.
Noch vier Minuten und drei Sekunden.
Die Tür öffnete sich, und im Raum ging automatisch das Licht an.
»Sie haben Ihre Ausrüstung?«, fragte Whitehead den Ranger.
»Jawohl, Sir.«
Unschlüssig standen sie in der Mitte des Raums und sahen sich um.
»Wo ist sie?« Williams drehte sich einmal im Kreis und suchte jeden Winkel mit Blicken ab.
»In der MRT-Maschine«, sagte Ellen. »Die Bombe wurde nicht gefunden, weil man bei einem MRT-Gerät davon ausgeht, dass es radioaktive Strahlung abgibt.«
Drei Minuten und dreiundvierzig Sekunden.
Der Ranger, ein Experte für Kampfmittelbeseitigung, öffnete behutsam die Abdeckung des Geräts.
Da war sie.
»Es ist eine schmutzige Bombe, Sir«, sagte er. »Eine ziemlich große. Sie würde das Weiße Haus dem Erdboden gleichmachen und halb DC verstrahlen.«
Er beugte sich über den Zündmechanismus und machte sich an die Arbeit, während Whitehead sich an Williams und Ellen wandte. »Ich würde Ihnen ja raten zu fliehen, aber …«
Noch drei Minuten und dreizehn Sekunden.
Whitehead trat ein paar Schritte beiseite, um zu telefonieren. Wahrscheinlich mit seiner Frau, vermutete Ellen.
Betsy starrte auf ihr Handy. Die beiden Freundinnen sahen einander an.
Es ist, dachte Betsy, immerhin ein kleiner Trost, dass ich nicht lange um meine Freundin trauern müsste. Irgendwann würde sie an der Strahlenkrankheit sterben.
Es ist, dachte Ellen, ein großer Trost, zu wissen, dass Katherine und Gil weit, weit weg sind.
Katherine und Gil, Anahita, Zahara und Boynton kauerten zusammen im Dunkeln und starrten auf das Telefon, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Sie verfolgten eine Livesendung von einem von Katherines Fernsehsendern.
Wenn die Bomben tatsächlich explodierten, würde das Fernsehen innerhalb von Minuten darüber berichten.
Im Moment diskutierte der Moderator allerdings mit einem Experten darüber, ob Tomaten Obst oder Gemüse seien und was das für die Einordnung von Ketchup im Rahmen der Ernährungsrichtlinien für Schulkantinen bedeutete.
Noch zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.
Als Gil die Berührung einer vertrauten Hand spürte, hob er den Blick und sah zu Ana. Sie hatte auch Zahara an der Hand gefasst. Daraufhin nahm er die Hand seiner Schwester, und sie ergriff die von Charles Boynton.
So saßen sie im Kreis, starrten auf das Telefon und warteten.
Während der Ranger versuchte, die Bombe zu entschärfen, und der General telefonierte, bemerkte Ellen, dass Doug Williams neben sie getreten war. Als sie seine Hand nahm, lächelte er dankbar.
»Ich schaffe es nicht«, sagte der Ranger. »Mit so einem Mechanismus hatte ich noch nie zu tun.«
Noch eine Minute und einunddreißig Sekunden.
»Hier.« Whitehead gab ihm sein Telefon. »Hören Sie genau zu.«
Sie alle starrten den Ranger an, der fieberhaft arbeitete.
Vierzig Sekunden.
Er griff nach einem anderen Werkzeug, ließ es jedoch fallen. General Whitehead bückte sich, hob es auf und gab es dem Mann zurück, dessen Augen vor Anspannung weit aufgerissen waren.
Einundzwanzig Sekunden.
Er arbeitete fieberhaft weiter.
Neun Sekunden.
Betsy schloss die Augen.
Acht.
Williams schloss die Augen.
Sieben.
Ellen schloss die Augen und spürte, wie ein Gefühl tiefer Ruhe sie überkam.