KAPITEL 45

Sämtliche Fernsehsender berichteten live von der Pressekonferenz.

Auf dem Fernsehbildschirm im Büro der Außenministerin war der James S. Brady Briefing Room des Weißen Hauses zu sehen. Journalisten saßen herum und warteten auf den Präsidenten.

»Hat er dich gar nicht gefragt, ob du mitkommen willst?«, wollte Katherine von ihrer Mutter wissen.

»Hättest du das von ihm erwartet?«, gab Betsy zurück, ehe sie sich einen Schluck Chardonnay genehmigte.

»Doch, er hat mich gefragt. Ich habe abgelehnt.« Ellen sah ihre Familie an. »Ich wollte lieber bei euch sein.«

»Ohh.« Gil schaute Betsy an. »Du trinkst ja aus dem Glas.«

»Nur weil sie hier ist.« Betsy deutete auf Anahita.

Sie hatten es sich auf dem Sofa und in Sesseln gemütlich gemacht und die Füße auf den Couchtisch gelegt. Mehrere Flaschen Wein und Bier sowie eine Platte mit halb aufgegessenen Sandwiches standen auf dem Sideboard. Gil drehte den Kronkorken von einer Bierflasche ab und reichte sie an Anahita weiter, ehe er sich selbst auch eine nahm.

»Was wird er denn sagen?«, fragte er seine Mutter.

»Die Wahrheit«, antwortete Ellen, als sie sich zwischen ihren Kindern auf die Couch fallen ließ.

Sie waren in den frühen Morgenstunden nach DC zurückgekehrt und hatten ihre Mutter vollständig bekleidet schlafend vorgefunden.

Gott sei Dank gibt es Militärtransporte, dachte Ellen.

Nach dem Aufwachen hatte sie ihnen einen Großteil der Geschichte erzählt, wobei es einige Details gab, die vermutlich erst mit der Zeit ans Licht kommen würden. Sie brauchten Geduld.

Katherine verfolgte das Geschehen im Fernsehen. Auch sie hatte Journalisten auf die Pressekonferenz geschickt, gleichwohl sie über Informationen aus erster Hand verfügte. Sie hatte bereits einen Bericht der Ereignisse aus eigener Sicht verfasst und an ihren Chefredakteur geschickt, ihn allerdings angewiesen, mit der Veröffentlichung bis nach der Pressekonferenz des Präsidenten zu warten.

Sie wussten viel, trotzdem würde es noch Monate, womöglich Jahre dauern, bis der Fall vollständig aufgeklärt war und man sämtliche Mitglieder von HLI ausfindig gemacht hatte.

Zwei Richter am Obersten Gericht und sechs Kongressabgeordnete waren bereits verhaftet worden. Für die kommenden Stunden und Tage wurde mit weiteren Festnahmen gerechnet. Wahrscheinlich würde es über die nächsten Wochen hinweg so weitergehen.

»Gestern«, sagte Gil, »im Oval Office, als General Whitehead den Präsidenten als Geisel genommen hat – wusstest du, dass das Ganze inszeniert war?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Betsy. »Du hast mir die Nummer der Vizepräsidentin dagelassen und mir gesagt, dass ich unbedingt zu Hause bleiben muss. Das hast du gemacht, damit ich im Notfall den Anruf tätigen kann. Du musst doch etwas gewusst haben.«

»Ich habe es gehofft, aber gewusst habe ich es nicht. Ich dachte mir, falls ich keine Gelegenheit zum Anrufen kriege, musst du es tun. Aber als Whitehead Williams die Waffe an den Kopf gehalten hat, dachte ich im ersten Moment wirklich, dass er zu den Verrätern gehört.«

Von jetzt auf gleich fühlte sie sich in die Situation zurückversetzt. Sie erlebte noch einmal jenen Augenblick kalten Entsetzens, als sie erkannt hatte, dass sie gescheitert waren. Dass alles verloren war. Am Morgen danach war sie um halb drei aus dem Schlaf gefahren, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen.

Ellen fragte sich, ob sie den Schreck jemals ganz verwinden würde. Selbst jetzt, während sie zwischen ihren Kindern auf dem Sofa saß, spürte sie ihn noch. Ihr Herz hämmerte, und ihr war schwindlig.

Ich bin in Sicherheit, wiederholte sie. Ich bin in Sicherheit. Wir sind alle in Sicherheit.

Wenigstens so weit, wie dies in einer streitbaren Demokratie möglich war. Das war der Preis der Freiheit.

»Wusste der Präsident, dass der General blufft?«, wollte Anahita wissen.

»Ja. Wie sich herausstellte, haben sie den Plan gemeinsam ausgeheckt. Ich hatte mich schon gefragt, weshalb der Secret Service nicht sofort den Raum gestürmt hat. Williams hatte ihnen befohlen, sich zurückzuhalten.«

Ellen musste schmunzeln, als sie sich an die Entschärfung der Bombe erinnerte. Wie sich herausgestellt hatte, war es nicht Bert Whiteheads Frau gewesen, die er angerufen hatte, sondern die Kampfmittelexperten, die die Bombe in New York City entschärft hatten.

Dort hatte man mehr Zeit gehabt, sodass jemand den Ranger im Weißen Haus Schritt für Schritt hatte anleiten können.

Als er fertig gewesen war, hatten noch zwei Sekunden auf dem Timer gefehlt.

Sobald sie sich halbwegs vom Schock erholt hatten, hatte General Whitehead sich an Doug Williams gewandt. Sich das Brustbein reibend, hatte er den Präsidenten gefragt, ob dieser wirklich so hart habe zuschlagen müssen.

»Tut mir leid«, hatte Williams entgegnet. »Das war das Adrenalin. Aber gut zu wissen, dass ich es mit Ihnen aufnehmen kann.«

»Darauf sollten Sie es vielleicht nicht ankommen lassen«, hatte der Ranger, immer noch über die Bombe gebeugt, gesagt.

Die Reporter im Brady Press Briefing Room nahmen ihre Plätze ein.

»Mom?«, sagte Katherine.

»Entschuldige.« Ellen kehrte ins Hier und Jetzt zurück.

»Woher wusstest du, dass der General nicht der Verräter ist?«

»Anfangs wusste ich das gar nicht. Ich habe den Dokumenten geglaubt, die Pete Hamilton in den verborgenen Archiven der Dunn-Regierung gefunden hatte. Aber dann sind mir immer mehr Zweifel gekommen. Als er festgenommen wurde, hat er Tim Beecham angegriffen. Er hat ihm das Nasenbein gebrochen. Kurz bevor er abgeführt wurde, hat er zu mir gesagt: ›Ich habe meinen Teil erledigt‹.«

»Das weiß ich noch«, warf Betsy ein. »Da ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Ich dachte, das wäre ein Geständnis, dass er für Shahs Freilassung gesorgt und so den Weg für die Bomben freigemacht hat.«

»Dass seine Arbeit getan ist«, sagte Ellen. »Ja, genauso habe ich es anfangs auch interpretiert. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr ist mir klar geworden, dass er vielleicht etwas ganz anderes gemeint hatte. Es war vollkommen untypisch für ihn, dermaßen die Beherrschung zu verlieren. Er hat so viele Kampfeinsätze hinter sich, hatte das Kommando über gefährliche Missionen. Um andere befehligen zu können, braucht man zunächst einmal Selbstkontrolle. Ich habe mich gefragt, ob er Beecham vielleicht absichtlich angegriffen hat.«

»Aber warum?«, fragte Gil.

»Weil er ihn im Verdacht hatte, der Verräter zu sein, es aber nicht beweisen konnte. Er hat getan, was er konnte, um Beecham aus dem Weg zu räumen, damit er nicht dabei ist, wenn wir das weitere Vorgehen besprechen. Und seine Rechnung ist aufgegangen. Beecham war im Krankenhaus, während wir die Erstürmung der Fabrik geplant haben.«

»Das meinte er also, als er gesagt hat: ›Ich habe meinen Teil erledigt‹«, sagte Betsy. »Er wollte uns zu verstehen geben, dass wir am Zug sind.«

»Aber da war noch etwas, oder?«, fragte Katherine.

»Ja. Etwas viel Naheliegenderes. Bert Whiteheads Familie war die ganze Zeit in DC. Beechams nicht.«

Betsy hatte noch eine Frage. Bisher hatte sie sich gescheut, sie zu stellen, doch nun tat sie es. »Stammte der Plan zur Erstürmung der Fabrik von Whitehead?«

»Ja. Ich habe Williams gesagt, dass wir meiner Meinung nach falschlagen. Dass Whitehead reingelegt worden war. Ich muss zugeben, meine Interpretation von Whiteheads Abschiedssatz hat er mir nicht so recht abgekauft, aber als er das von den Familien hörte, war er überzeugt. Als dem Leiter des Kommandos für Spezialoperationen und den anderen Generälen kein überzeugender Plan einfiel, hat Williams sich an Whitehead gewandt. Er war bei der Schlacht von Bajaur einer der amerikanischen Beobachter gewesen und kannte das Terrain.«

»Er hat sich das mit dem Ablenkungsmanöver ausgedacht«, sagte Katherine.

»Und die Erstürmung der Fabrik. Die beiden Teile des Plans gingen Hand in Hand. Ursprünglich wollte er den Angriff sogar selbst befehligen«, fuhr Ellen fort. »Aber Williams hat das nicht zugelassen. Wir konnten nicht riskieren, dass jemand von Whiteheads Freilassung erfuhr. Beecham sollte glauben, dass er uns von seiner Unschuld überzeugt hatte.«

»Dann wusstet ihr zu dem Zeitpunkt bereits, dass es Beecham war?«, fragte Gil.

»Wir haben es vermutet, aber es gab keine Beweise. Als er darum gebeten hat, nach London fliegen zu dürfen, hat Williams eingewilligt, um ihn aus dem Weg zu haben.«

Nun kam die Frage, vor der Betsy sich gefürchtet hatte.

»Wer hat das Ablenkungsmanöver befehligt?«

Ellen sah sie an. »Bert hat seine Adjutantin dafür ausgewählt«, sagte sie leise. »Sie hatte drei Einsätze in Afghanistan mit den Rangers hinter sich. Sie war seine beste Offizierin.«

»Denise Phelan?«

»Ja.«

Betsy schloss die Augen. Sie hatte geglaubt, all ihre Seufzer aufgebraucht zu haben, aber einen hatte sie noch, einen langen, tiefen Seufzer der Trauer um die junge Frau, die wenige Tage zuvor mit Kaffee in der Hand in diesem Raum gestanden und gelächelt hatte.

Sie sah Pete Hamilton am Computer sitzen.

Wie er verbissen nach Informationen grub. Immer tiefer. Er hatte nicht aufgehört, selbst nachdem er die gefälschten Memos des Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs gefunden hatte.

Er hatte weitergegraben. Im Internet. Im Darknet und an den äußersten Rändern vorbei bis hinein in die riesige Leere dahinter. Das Vakuum, wohin kein Licht mehr vordrang. Dort hatte er HLI gefunden.

Und sich somit sein eigenes Grab geschaufelt.

Jetzt waren beide tot.

Bert Whitehead warf den Stock und verfolgte, wie er in einer Schneeverwehung landete. Pine sprang hinterher und vergrub den Kopf im Schnee, mit wedelndem Schwanz, den Hintern in die Luft gereckt.

Seine riesigen Ohren lagen wie Flügel auf dem weißen Schnee.

Der andere Schäferhund tänzelte aufgeregt, ehe er – ohne erkennbaren Grund – den Kopf ebenfalls in eine Schneewehe steckte.

»Eins muss man zugeben«, meinte der Mann neben Whitehead. »Henri hat nicht besonders viel Grips. Im Grunde dient sein Kopf nur als Halterung für seine Ohren. Alles, was wirklich wichtig ist, bewahrt er in seinem Herzen.«

Berts Gelächter wurde von einer weißen Atemwolke begleitet. »Kluger Hund.«

Beide Männer schauten zum Haus der Gamaches in Three Pines hinüber, wo ihre Ehefrauen wahrscheinlich gerade vor dem Fernseher saßen und auf die Pressekonferenz des Präsidenten warteten.

»Möchtest du auch reingehen und zuschauen?«, fragte Armand.

»Nein. Aber geh nur, wenn du magst. Ich weiß bereits, was der Präsident sagen wird. Ich muss es mir nicht anhören.«

Er klang erschöpft, ausgelaugt. Bert, seine Frau und Pine waren zusammen nach Montreal geflogen und von dort aus in das idyllische kleine Dörfchen im ländlichen Quebec gefahren. Um genau das hier zu genießen.

Himmlische Ruhe.

Die beiden Männer gingen schweigend nebeneinanderher. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, während sie eine Runde um den Dorfanger drehten. Häuser aus alten Feldsteinen, Ziegeln und Holzschindeln säumten den Platz. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, hinter den Sprossenfenstern leuchtete es einladend.

Es war kurz nach sechs Uhr abends und bereits dunkel. Polaris, der Nordstern, leuchtete hell über ihren Köpfen. Er war beständig, immer an derselben Stelle, während der Rest des Nachthimmels sich um ihn drehte.

Sie blieben stehen und schauten nach oben. Es war tröstlich, etwas zu haben, das unveränderlich war. Eine Konstante in einem sich ständig wandelnden Universum.

Die Kälte brannte auf ihren Wangen, doch keiner von ihnen hatte es eilig, ins Haus zu kommen. Die frische Luft tat gut.

Die Ereignisse lagen erst etwas mehr als einen Tag zurück, doch zugleich schienen sie ein ganzes Leben und eine Welt entfernt zu sein.

»Um Denise Phelan tut es mir leid. Und um all die anderen auch.«

»Merci, Armand Der General wusste, dass der Chief Inspector den Schmerz, eigene Leute verloren zu haben, nachvollziehen konnte. Zumal die meisten von ihnen noch so unglaublich jung gewesen waren.

Auch er bewahrte das, was ihm am kostbarsten war, in seinem Herzen auf. So lange es schlug, würden die jungen Männer und Frauen dort weiterleben.

»Ich hoffe nur, wir kriegen sie alle«, sagte er.

Armand blieb stehen. »Gibt es denn Zweifel?«

»Wenn jemand wie Shah involviert ist, bleiben immer Zweifel.«

»Als du dem Präsidenten die Waffe an den Kopf gehalten hast, wusstest du bereits, wo die Bomben sind. Der Präsident hatte die Seite geöffnet, ihr kanntet die Standorte der Bomben, auch den im Weißen Haus. Warum habt ihr sie nicht sofort entschärfen lassen? Wozu kostbare Zeit mit einer gespielten Geiselnahme verschwenden?«

»Weil wir eben nicht wussten, wo die Bombe im Weißen Haus war. Auf den Aufnahmen konnte man nichts Genaues erkennen.«

»Und wie seid ihr schließlich dahintergekommen?«

»Wir haben geraten.«

Arman sah den Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschef ungläubig an. »Geraten?«

»Wir wussten ja, dass die anderen beiden Bomben jeweils auf Krankenstationen deponiert worden waren. Aber das kam erst später. Wir wollten erreichen, dass Beecham und Stenhauser gestehen. Es reichte nicht, die Anschläge zu verhindern. Wir mussten die Täter fassen, und dafür brauchten wir Beweise.«

»War dir klar, dass Außenministerin Adams alles live an ihre Beraterin überträgt? Dass sie die Informationen weitergegeben hat?«

»Ich konnte sehen, was sie mit ihrem Handy gemacht hat, ja. Ich habe gehofft …«

»Es war verdammt knapp«, sagte Armand. »Warum haben sie es getan? Ich kann verstehen, dass man desillusioniert ist, unzufrieden mit der Entwicklung im Land – aber Atombomben? Wie viele Menschen wären dabei ums Leben gekommen?«

»Wie viele Menschen kommen bei Kriegen ums Leben? Sie wollten eine zweite amerikanische Revolution anzetteln.«

»Mit der El Kaida als Verbündete?«, sagte Gamache. »Und der Russenmafia?«

»Jeder von uns schließt irgendwann mal einen Pakt mit dem Teufel. Auch du, mein Freund.«

Armand nickte. Es stimmte. Auch er hatte schon solche Pakte geschlossen.

Ihr Weg führte sie am Bistro vorbei, durch dessen Fenster buttergelbes Licht auf den Schnee fiel. Sie konnten Dorfbewohner am Feuer sitzen sehen, die tranken und sich angeregt unterhielten. Die beiden Männer ahnten, worüber. Sie redeten über das, worüber die ganze Welt redete.

Vor dem dunklen Buchladen blieben sie stehen. Im Obergeschoss flackerte ein Licht. Auch Myrna Landers und Alex Huang schauten sich die Pressekonferenz an.

»Es ist so friedlich hier«, sagte Bert Whitehead, ehe er sich abwandte. Er blickte zu den Bergen und Wäldern. Und schließlich nach oben in den sternenübersäten Himmel.

»Tja«, sagte Armand, »das Leben hier hat seine Vorzüge.« Er hörte, wie sein Begleiter einen langen Seufzer ausstieß. »Warum setzt du dich nicht zur Ruhe und ziehst hierher? Du und Martha könnt gerne bei uns wohnen, bis ihr was Eigenes gefunden habt.«

Bert schwieg einige Schritte lang, ehe er antwortete. »Du hast keine Ahnung, wie verlockend das klingt. Aber ich bin Amerikaner. So unvollkommen mein Land auch sein mag, das sind die Narben einer Demokratie, für die es sich zu kämpfen lohnt. Amerika ist meine Heimat, Armand. Genau wie dies hier deine Heimat ist. Außerdem: Bis sicher ist, dass wir alle Verschwörer entlarvt haben, bleibe ich im Dienst.«

»Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Doug Williams betrat langsam und mit ernster Miene das Podium.

»Ehe ich meine Stellungnahme verlese, möchte ich, dass wir eine Schweigeminute einlegen für all diejenigen, die ihr Leben gegeben haben, um dieses Land vor einer Katastrophe zu bewahren, darunter auch sechs Mitglieder der Spezialkräfte und eine ganze Einheit der Army Rangers. Sechsunddreißig tapfere Männer und Frauen.«

Im Büro der Außenministerin neigten alle den Kopf.

Im Off the Record neigten alle den Kopf.

Auf dem Times Square, in Palm Beach, in den Straßen von Kansas City und Omaha und Minneapolis und Denver, überall in den weiten Ebenen und Gebirgszügen, in Städten, Dörfern und in den großen Metropolen neigten Amerikaner die Köpfe.

Für die wahren Patrioten, die ihr Leben gegeben hatten.

»Nun werde ich eine Stellungnahme verlesen«, sagte Präsident Williams in das Schweigen hinein. Er hielt kurz inne und schien nachzudenken. »Danach beantworte ich Ihre Fragen.«

Ein leises Murmeln erhob sich unter den Journalisten. Damit hatten sie nicht gerechnet.

Im Büro der Außenministerin lauschten sie aufmerksam.

Präsident Williams hatte Ellen am Morgen ins Oval Office gebeten, um mit ihr zu besprechen, was sie der amerikanischen Öffentlichkeit sagen wollten und was nicht. Er hatte sie eingeladen, an der Pressekonferenz teilzunehmen, doch sie hatte abgelehnt.

»Danke, Mr. President, aber im Moment habe ich das Bedürfnis, bei meiner Familie zu sein. Ich schaue sie mir wie alle anderen im Fernsehen an.«

»Ich brauche Ihren Rat, Ellen.« Er deutete auf den Sessel am Kamin.

»Das Hemd passt nicht zum Anzug.«

»Nein, nein, nicht dazu. Ich versuche zu entscheiden, ob ich auf der Pressekonferenz auch Fragen beantworten soll.«

»Ich finde, schon.«

»Aber Sie wissen, dass man mir Fragen stellen wird, die heikel sind. Die ich unmöglich beantworten kann.«

»Ja, das weiß ich. Sagen Sie die Wahrheit«, riet Ellen. »Mit der Wahrheit kann man umgehen. Lügen sind es, die uns schaden.«

»Wenn ich das tue, wird man mir die Schuld an den Ereignissen geben, weil ich es so weit habe kommen lassen.« Er blickte sie forschend an. »Schlagen Sie es deshalb vor?«

»Betrachten Sie es als gerechte Strafe für Südkorea.«

»Oh.« Er verzog das Gesicht. »Sie wissen davon?«

»Ich habe es vermutet. Ist das nicht der Grund, weshalb Sie mich zur Außenministerin ernannt haben? Sie wollten mir meine Medienmacht entziehen und dafür sorgen, dass ich die meiste Zeit außer Landes bin, damit ich Ihnen nicht in die Quere komme. Und Sie wollten, dass ich scheitere. Dann wäre ich international blamiert gewesen, und Sie hätten mich entlassen können.«

»Ein guter Plan, nicht wahr?«

»Und trotzdem stehe ich hier. Doug, was soll jetzt nur aus Afghanistan werden? Sie wissen genau, dass die Taliban nach unserem Abzug wieder die Macht übernehmen werden, zusammen mit der El Kaida und anderen Terroristen.«

»Ja.«

»All die hart erkämpften Fortschritte im Bereich der Menschenrechte sind dann umsonst gewesen. All die Mädchen und Frauen, die zur Schule gehen durften, die eine Ausbildung gemacht und einen Beruf erlernt haben. Die Lehrerinnen und Ärztinnen und Anwältinnen und Busfahrerinnen geworden sind. Sie wissen, was mit ihnen geschehen wird, wenn die Taliban wieder das Sagen haben.«

»Tja, ich denke, in dem Fall brauchen wir eine starke, international angesehene Außenministerin, die der afghanischen Regierung klarmacht, dass sie die Menschenrechte achten muss und dass ihr Land nie wieder zur Heimat von Terroristen werden darf.« Er sah sie lange an, bis sie errötete. »Ich danke ihnen. Für alles, was Sie getan haben, um die Anschläge zu verhindern. Sie haben viel riskiert.«

»Sie wissen, dass die Verschwörer nicht die Einzigen sind, die die Auffassung vertreten, wir seien vom rechten Weg abgekommen, nicht wahr?«, sagte sie. »Sie sind zwar die Lautesten, aber es gibt Millionen von Menschen, die derselben Meinung sind wie sie. Gute Menschen, anständige Menschen, die vielleicht nicht mit unserer Politik übereinstimmen, aber die uns im Notfall ihr letztes Hemd geben würden.«

Er nickte. »Ich weiß. Wir müssen etwas für sie tun. Wir müssen ihnen unser letztes Hemd geben.«

»Vor allem müssen wir ihnen Jobs geben. Wir müssen ihren Kindern und ihren Städten eine Perspektive geben. Schluss machen mit den Lügen, die ihre Ängste schüren.«

Lügen, die ihren eigenen Azhi Dahaka geschaffen und gemästet hatten.

»Es gibt einiges aufzuarbeiten. Es wird ein langer Heilungsprozess«, sagte er. »Die Aufgabe ist größer, als mir bewusst war. Sie hatten recht mit Ihren Leitartikeln. Ich muss noch viel lernen.«

»Ich glaube, ich habe geschrieben, Sie müssen endlich ihren Kopf aus dem …«

»Jaja, ich erinnere mich.« Doch er lächelte, und ihre Wangen glühten, als er sie abermals eindringlich ansah.

Jetzt, mehrere Stunden später, als die Sonne unterging, saß sie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn, mit Betsy, Charles Boynton und ihrer Mitarbeiterin Anahita Dahir in ihrem Büro. Letztere, vermutete Ellen, würde bald mehr sein als nur ihre Mitarbeiterin. Zumindest wenn sie Gils Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.

Sie sahen zu, wie Doug Williams die Experten für Kampfmittelbeseitigung vorstellte, die die Bomben entschärft hatten. Dann beschrieb er, was seit den Anschlägen auf die Busse passiert war.

»Ist doch nett, dass er dich erwähnt, Mom«, meinte Katherine. »Er hat seine Einstellung dir gegenüber geändert.«

Und den Anzug gewechselt, fiel Ellen auf.

Betsy beugte sich zu ihr hinüber und reichte ihr etwas. »Madame Secretary? Als kleine Anerkennung für Ihren Dienst an der Allgemeinheit.«

Es war ein Untersetzer aus dem Off the Record. Mit Ellen Adams’ Gesicht darauf.

Als die Pressekonferenz zu Ende war, fragte Gil, ob Anahita mit ihm zu Abend essen wolle.

Im Restaurant hörte sie ihm zu, während er ihr von dem Buchvertrag erzählte, den man ihm angeboten hatte. Sie fragte ihn, was er darüber dachte und wie lange er brauchen würde, um das Buch zu schreiben.

Da alle Fakten auf dem Tisch lagen, bestand nicht die Gefahr, dass er vertrauliche Informationen preisgab. Er freute sich darauf, die ganze Geschichte erzählen zu können. Nur Hamza den Löwen würde er auslassen. Das Mitglied der terroristischen Pathan, das außerdem sein Freund war.

Gil fragte Anahita, ob sie das Buch mit ihm zusammen schreiben wolle.

Sie lehnte ab. Sie hatte immer noch ihre Stelle als Mitarbeiterin des Außenministeriums.

»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte er.

»Sie sind wieder zu Hause.«

Gil nickte. Anahita blickte aus dem Fenster. Auf ein Washington, DC, das noch existierte.

»Und wie geht es ihnen?«

Erstaunt sah Anahita ihn an. Dann sagte sie es ihm.

»Und wie geht es dir?«, fragte er.

»Madame Secretary?«

»Ja, Charles.«

»Sie hatten mich gebeten, Nachforschungen über das aus Russland verschwundene spaltbare Material anzustellen.«

Er war einige Meter von ihrem Schreibtisch entfernt stehen geblieben.

Es war längst dunkel. Betsy saß in ihrem eigenen Büro, bearbeitete Notizen und antwortete auf Anfragen der US-Nachrichtendienste im Zusammenhang mit dem Video, das sie aufgenommen hatte.

»Was haben Sie gefunden?«, fragte Außenministerin Adams.

Er sah sie auf eine sehr beunruhigende Art an. Es war recht augenscheinlich, dass der Stabschef ihr kein Körbchen voller Katzenbabys präsentieren würde.

Sie streckte die Hand nach dem Blatt aus, das er mitgebracht hatte, dann deutete sie auf einen Stuhl neben sich. Das hatte sie noch nie getan. Es war ihr immer lieber gewesen, wenn er auf der anderen Seite des Schreibtischs stehen blieb.

Aber es war eine neue Welt, und sie hatten noch einmal von vorne angefangen.

Sie setzte ihre Brille auf und schaute erst auf das Blatt, dann zu ihm.

»Was ist das?«

»Nicht nur aus Russland ist waffenfähiges Material verschwunden, sondern auch aus der Ukraine, aus Australien und Kanada. Und aus den Vereinigten Staaten.«

»Wo ist es hin?« Noch während sie die Worte aussprach, wurde ihr bewusst, wie albern ihre Frage war. Es war verschwunden.

Er antwortete trotzdem, während er sich mit einer Hand die Stirn rieb. »Ich weiß es nicht. Aber die Menge reicht aus, um damit mehrere Hundert Bomben zu bauen.«

»Seit wann ist es verschwunden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Und auch aus unseren eigenen Laboren?«

Er nickte.

»Und das ist noch nicht alles.« Er deutete weiter unten auf die Seite.

Hast Du’s getan, dachte sie, ist’s nicht getan, denn ich hab mehr.

Sie senkte den Blick. Beim Lesen stieß sie einen langen Seufzer aus.

Sarin.

Anthrax.

Ebola.

Marburgvirus.

Sie drehte das Blatt um. Auf der Rückseite ging die Liste weiter. Jedes nur erdenkliche Grauen. Verschwunden.

Gestohlen. Unauffindbar.

Ellen warf einen Blick auf die lange Liste.

»Ich glaube«, murmelte sie, »wir haben hier unseren nächsten Albtraum.«

»Ich fürchte, Sie haben recht, Madame Secretary.«