KAPITEL 2

Ein Murmeln war zu hören, als der stellvertretende Sergeant at Arms die Außenministerin ankündigte. Es war zehn nach neun Uhr abends, und alle anderen Kabinettsmitglieder saßen bereits auf ihren Plätzen.

Es hatte Spekulationen gegeben, Ellen Adams’ Fehlen könne eventuell damit zusammenhängen, dass sie die designierte Überlebende war, allerdings lautete der allgemeine Konsens, dass der Präsident diese Aufgabe eher seiner Socke anvertraut hätte als ihr.

Als Ellen den Saal betrat, schien sie das ohrenbetäubende Schweigen gar nicht wahrzunehmen.

Kommt ein Oxymoron in eine …

Sie folgte dem Sergeant at Arms hocherhobenen Hauptes und lächelte den Kabinettsmitgliedern zu beiden Seiten des Ganges zu, als wäre alles in bester Ordnung.

»Sie sind spät dran«, zischte der Verteidigungsminister, als sie ihren Platz in der ersten Reihe zwischen ihm und dem Direktor der Nationalen Nachrichtendienste einnahm. »Wir haben mit der Rede auf Sie gewartet. Der Präsident ist außer sich. Er glaubt, Sie haben das mit Absicht gemacht, damit sich die Fernsehkameras auf Sie konzentrieren statt auf ihn.«

»Der Präsident irrt sich«, entgegnete der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste. »So etwas würden Sie niemals tun.«

»Danke, Tim«, sagte Ellen. Es kam höchst selten vor, dass sie von einem der treuesten Gefolgsleute des Präsidenten Rückendeckung bekam.

»Wenn man das Desaster in Südkorea betrachtet«, fuhr Tim Beecham fort, »kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die Aufmerksamkeit der Presse auf sich lenken wollen.«

»Wie in Gottes Namen sehen Sie überhaupt aus?«, wollte der Verteidigungsminister wissen. »Waren Sie wieder beim Schlammringen?« Er rümpfte die Nase.

»Nein, ich habe meine Arbeit gemacht. Manchmal wird man dabei schmutzig.« Sie taxierte den Minister von oben bis unten. »Sie hingegen sehen so makellos aus wie immer.«

Der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste auf ihrer anderen Seite lachte, ehe sich alle von ihren Plätzen erhoben und der Sergeant at Arms verkündete: »Mr. Speaker, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Dr. Nasrin Bukhari rannte durch die vertrauten Gassen, während sie den verstreut herumliegenden Kisten und Dosen auswich, um keinen Krach zu machen und sich so zu verraten.

Sie blieb kein einziges Mal stehen. Schaute nicht zurück. Auch nicht, als die ersten Schüsse krachten.

Sie redete sich ein, dass ihr Ehemann, mit dem sie seit achtundzwanzig Jahren verheiratet war, hatte fliehen können. Dass er überlebt hatte. Er war denen, die sie aufhalten wollten, entkommen.

Er war nicht getötet oder gar gefangen genommen worden. Man würde ihn nicht foltern, bis er alles verriet, was er wusste.

Als die Schüsse verstummten, interpretierte sie dies als ein Zeichen dafür, dass Amir sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Genau das musste sie jetzt auch tun.

Davon hing alles ab.

Einen halben Straßenblock von der Bushaltestelle entfernt verlangsamte sie ihre Schritte. Sie versuchte wieder zu Atem zu kommen und lief dann ruhig und gemessen weiter, um sich in die Schlange der Wartenden einzureihen. Ihr Herz raste, doch ihre Miene gab nichts preis.

Anahita Dahir saß an ihrem Schreibtisch im Referat für zentral- und südostasiatische Angelegenheiten des Außenministeriums.

Sie hielt in ihrer Arbeit inne, um zum Fernseher an der gegenüberliegenden Wand zu gehen und die Regierungserklärung des Präsidenten einzuschalten.

Es war einundzwanzig Uhr fünfzehn. Die Rede hatte mit einigen Minuten Verspätung begonnen. Schuld an der Verzögerung, so sagten es die Berichterstatter, sei das Fehlen der Außenministerin, Anahitas neuer Chefin.

Die Kamera folgte dem Präsidenten, als dieser unter frenetischem Applaus seiner Parteigenossen und eher verhaltenem Beifall der noch immer angeschlagenen Opposition den reich verzierten Plenarsaal betrat. Da seine Vereidigung erst wenige Wochen zurücklag, war zu bezweifeln, dass Präsident Williams wirklich über die Lage der Nation Bescheid wusste. Und selbst wenn, würde er die Wahrheit wohl kaum aussprechen.

Die Regierungserklärung würde, da waren sich alle Experten einig, ein Drahtseilakt werden. Es galt Kritik an der Vorgängerregierung für den von ihr hinterlassenen Scherbenhaufen zu üben und gleichzeitig einen hoffnungsvollen Ton anzuschlagen, wobei Ersteres nicht allzu scharf und Letzteres nicht allzu überschwänglich ausfallen durfte.

Hauptsächlich ging es darum, die hohen Erwartungen, die während des Wahlkampfs geweckt worden waren, zu dämpfen und gleichzeitig jegliche Verantwortung für die Zustände von sich zu weisen.

Der Auftritt von Präsident Williams vor dem Kongress war politisches Kabukitheater: Gesten hatten mehr Gewicht als Worte. Und wenn Douglas Williams eins wusste, dann wie man einen präsidialen Eindruck machte.

Doch während er beim Betreten des Saals übertrieben jovial Hände schüttelte, politische Freunde wie Feinde gleichermaßen begrüßte und anlächelte, schwenkte die Kamera immer wieder zur Außenministerin.

Denn dort spielte sich das wahre Drama ab, die eigentliche Geschichte des Abends.

Die Kommentatoren überschlugen sich förmlich mit Mutmaßungen darüber, was Präsident Williams tun würde, wenn er seiner Außenministerin gegenüberstand. Ellen Adams, wie sie nicht ohne Genugtuung wieder und wieder betonten, war eben erst von einer desaströsen ersten Auslandsreise nach Südkorea zurückgekehrt, wo sie das Kunststück fertiggebracht hatte, einen wichtigen Bündnispartner zu verprellen und eine ohnehin bereits unsichere Region noch weiter zu destabilisieren.

Der Augenblick, in dem die beiden hier in diesem Plenarsaal aufeinandertrafen, würde von Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt live im Fernsehen verfolgt und unzählige Male in den sozialen Netzwerken geteilt werden.

Die Spannung war mit Händen zu greifen.

Die Kommentatoren beugten sich nach vorn, begierig darauf, die Signale zu entschlüsseln, die der Präsident sendete.

Anahita Dahir war, abgesehen von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten in seinem Eckbüro, allein in ihrer Abteilung. Gespannt, was zwischen dem neuen Präsidenten und ihrer Chefin passieren würde, trat sie näher an den Bildschirm heran. Sie war dermaßen gefesselt von den Fernsehbildern, dass sie das Ping einer eingehenden E-Mail gar nicht hörte.

Während Präsident Williams langsam weiterging, dabei hin und wieder stehen blieb, um zu winken oder ein paar Worte an jemanden zu richten, vertrieben sich die Kommentatoren die Zeit, indem sie sich über Ellen Adams’ Haar, ihr Make-up und den Zustand ihrer Kleidung ausließen, die zerknittert und mit etwas bespritzt war, von dem man nur hoffen konnte, dass es sich um Schlamm handelte.

»Sie sieht aus, als käme sie gerade von einem Rodeo.«

»Und von da geht es jetzt direkt ins Schlachthaus.«

Gelächter.

Schließlich wies einer der Kommentatoren darauf hin, dass die Außenministerin es vermutlich nicht darauf angelegt habe, so zerzaust auszusehen. Ihr Erscheinungsbild sei vielmehr ein Beweis dafür, wie hart sie arbeite.

»Ihre Maschine aus Seoul ist eben erst gelandet«, gab er zu bedenken.

»Wo unseren Informationen nach die Gespräche abgebrochen wurden.«

»Tja«, räumte der Erste ein. »Ich habe nur gesagt, dass sie hart arbeitet. Von Effektivität war nicht die Rede.«

Danach widmeten sie sich in ernstem Ton der Frage, welche negativen Konsequenzen ihr Versagen in Südkorea haben würde – für die Außenministerin selbst, die neue Regierung und für die amerikanischen Beziehungen zu diesem Teil der Welt.

Auch das war politisches Theater, das wusste die junge Mitarbeiterin. Ein einziges verpatztes Treffen würde auf keinen Fall zu dauerhaften Verstimmungen führen. Doch als sie ihre neue Chefin im Fernsehen beobachtete, erkannte sie, dass nichtsdestoweniger ein Schaden entstanden war.

Anahita war noch recht neu im Auswärtigen Dienst, hatte jedoch bereits gelernt, dass in Washington der Anschein oft mächtiger war als die Realität. Mehr noch: Der Anschein konnte mitunter seine eigene Realität erschaffen.

Die Kamera verweilte auf Außenministerin Adams, während diese genüsslich von den Kommentatoren zerpflückt wurde.

Anders als die Experten im Fernsehen sah Anahita Dahir eine Frau im Alter ihrer Mutter, die aufrecht und mit hocherhobenem Kopf dastand. Aufmerksam. Respektvoll. Den Blick auf den Mann gerichtet, der langsam auf sie zukam, erwartete sie ruhig ihr Schicksal.

Ihr unordentliches Äußeres ließ sie in Anahitas Augen nur noch würdevoller erscheinen.

Bis zu diesem Moment hatte die junge Frau geglaubt, was sowohl die Experten als auch ihre Kollegen behaupteten: dass der gerissene Präsident Ellen Adams aus reiner Arglist zur Außenministerin ernannt hatte.

Doch während sie zusah, wie ihre Chefin sich für die Begegnung mit Williams wappnete, fragte sich Anahita, ob sie sich nicht womöglich geirrt hatte.

Irgendwann hatte sie genug gehört und schaltete den Ton aus.

Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, bemerkte sie die neue E-Mail und öffnete sie. Dort, wo normalerweise der Name des Absenders stand, war bloß eine Reihe unzusammenhängender Buchstaben zu sehen, und auch die kurze Nachricht selbst bestand nicht aus Text, sondern lediglich aus Zahlen und Symbolen.

Als der Präsident sich ihr näherte, glaubte Ellen Adams zunächst, er würde sie ignorieren.

»Mr. President«, grüßte sie ihn.

Er blieb stehen und sah an ihr vorbei. Durch sie hindurch. Lächelnd nickte er den rechts und links von ihr stehenden Kabinettsmitgliedern zu, dann streckte er den Arm aus, um der Person hinter ihr die Hand zu schütteln, wobei er sie fast mit dem Ellbogen anstieß. Erst danach drehte er sich betont langsam zu ihr um. Er strahlte eine solche Feindseligkeit aus, dass sowohl der Verteidigungsminister als auch der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste unwillkürlich zurückwichen.

»Stinkig« beschrieb seine Stimmungslage nicht einmal ansatzweise, und die Umstehenden wollten nach Möglichkeit nichts davon abbekommen.

Für die Kameras und die Millionen von Fernsehzuschauern wirkte sein attraktives Gesicht zwar streng, aber eher enttäuscht als wütend. Ein trauriger Vater, der seinem missratenen Kind gegenübersteht.

»Madame Secretary.« Sie inkompetente Versagerin.

»Mr. President.« Sie arrogantes Arschloch.

»Vielleicht könnten Sie morgen früh vor der Kabinettssitzung zu mir ins Oval Office kommen?«

»Selbstverständlich, Sir.«

Als er seinen Weg fortsetzte, schaute sie ihm mit freundlicher Miene nach. Ein loyales Mitglied der Regierungsmannschaft.

Sie nahmen Platz, und Präsident Williams begann mit seiner Regierungserklärung. Zunächst hörte Ellen nur aus Höflichkeit zu, doch mit der Zeit wurde sie immer aufmerksamer. Nicht wegen seiner Rhetorik, sondern weil sie etwas heraushörte, das viel tiefer ging als Worte.

Es war die Feierlichkeit, die historische Bedeutung, die Tradition dieses besonderen Augenblicks. Sie ließ sich von der Erhabenheit und der stillen Größe des Ereignisses mitreißen. Von der Symbolwirkung, wenn schon nicht vom Inhalt der Rede.

Williams sandte eine machtvolle Botschaft an Freunde und Feinde zugleich. Eine Botschaft der Beständigkeit, der Stärke und Entschlossenheit. Die Botschaft, dass man den Schaden, den die vorherige Regierung angerichtet hatte, reparieren würde. Dass Amerika auf die Weltbühne zurückgekehrt war.

Ellen Adams verspürte eine Ergriffenheit, die so intensiv war, dass sie darüber sogar ihre Abneigung gegen den Präsidenten vergaß. Ihr Misstrauen und ihr Argwohn verschwanden im Hintergrund, und zurück blieben Stolz und Ehrfurcht. Das Leben hatte sie hierhergeführt. An diesen Ort, in eine Position, die sie dazu befähigte, ihrem Land zu dienen.

Sie mochte aussehen wie eine Landstreicherin und nach Düngemittel stinken, aber sie war die Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie liebte ihr Land und würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um es zu verteidigen.

Dr. Nasrin Bukhari suchte sich einen Platz ganz hinten im Bus und blickte starr geradeaus. Nicht aus dem Fenster. Nicht auf die Tasche in ihrem Schoß, die sie mit weiß hervortretenden Knöcheln umklammert hielt.

Auch nicht auf die anderen Passagiere. Es war von äußerster Wichtigkeit, dass sie jeden Blickkontakt vermied.

Sie zwang sich zu einem neutralen, fast schon gelangweilten Gesichtsausdruck.

Der Bus fuhr von der Haltestelle los und rumpelte in Richtung Grenze. Man hatte einen Flug für sie gebucht, doch sie hatte andere Pläne gemacht, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Nicht einmal Amir wusste Bescheid. Die Leute, die sie aufhalten wollten, würden damit rechnen, dass sie so schnell wie möglich versuchte, das Land zu verlassen. Sie würden am Flughafen auf sie lauern. Falls nötig, würden sie auf jedem Auslandsflug einen ihrer Leute unterbringen. Sie würden alles tun, um sie daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen.

Wenn Amir gefangen genommen und gefoltert wurde, würde er den Plan verraten. Deswegen hatte sie ihr Vorhaben ändern müssen.

Nasrin Bukhari liebte ihr Land. Sie würde tun, was nötig war, um es zu verteidigen.

Auch wenn das bedeutete, alles, was ihr lieb und teuer war, zurückzulassen.

Anahita Dahir starrte mit gerunzelter Stirn auf ihren Computermonitor. Nach wenigen Augenblicken kam sie zu dem Schluss, dass es sich bei der Mail um Spam handeln musste. So etwas kam häufiger vor, als allgemein angenommen wurde.

Trotzdem wollte sie lieber noch eine zweite Meinung einholen. Sie klopfte an die Tür ihres Vorgesetzten und öffnete sie. Er verfolgte gerade kopfschüttelnd die Rede des Präsidenten im Fernsehen.

»Was gibt’s denn?«

»Eine Mail. Ich glaube, es ist Spam.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Sie zeigte ihm die Nachricht.

»Und sie kommt definitiv nicht von einer unserer Quellen?«

»Definitiv nicht, Sir.«

»Gut. Dann löschen Sie sie.«

Sie befolgte die Anweisung. Allerdings nicht, ohne sich vorher die Zahlen zu notieren. Nur für den Fall der Fälle.

19/0717, 38/1536, 119/1848