10. Kapitel: Er ist böse. Durch und durch

10. Kapitel

Er ist böse. Durch und durch

 

Kampen im Mai

 

 

Mein geliebter Neffe,

 

nie zuvor ist mir das Schreiben eines Briefes so schwer gefallen. Wenn Du ihn liest, bin ich nicht mehr am Leben. Mein Tod wird auf plötzliche, unerwartete Weise eingetreten sein. Nur dann, so habe ich verfügt, sollen Dir meine Aufzeichnungen und der beiliegende Gegenstand übergeben werden.

Allein der Gedanke, dass Du diesen Brief in Händen hältst, ist also eine bedrückende Angelegenheit. Nein, nicht nur das. Nach allem, was in den letzten Jahren passiert ist, ist es furchterregend. Ich hoffe zumindest, dass mir ein schmerzloser, schneller Tod vergönnt ist. Wenn ich an die Kreatur denke, die ihn wahrscheinlich herbeigeführt hat, befürchte ich das genaue Gegenteil.

Aber verzeih, dass ich Dich mit meiner Furcht belaste. Wo ich Dich doch in den letzten Jahren so sehr im Stich gelassen habe. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich keine andere Möglichkeit sah, Dich zu schützen. Du wirst es verstehen, wenn Du den Brief gelesen hast. Ob Du mir verzeihst ist eine andere Frage. Aber deswegen schreibe ich nicht. Die Schuld, die ich auf mich geladen habe, muss ich mit mir selber ausmachen.

Ich schreibe, um Dich zu warnen, Johann. Nimm Dich in Acht vor jenem, der sich Luc Pelletier nennt. Der Riese mit den sechs Fingern und den Fähigkeiten, die nicht von dieser Welt sind.

Du zögerst beim Lesen? Schüttelst den Kopf? Hältst mich für überspannt? Ja, wenn Du ihm noch nie begegnet bist (was ich hoffe), wird Dir diese Beschreibung seltsam und unglaubwürdig vorkommen. Darum lass mich jetzt einfach ganz sachlich und nüchtern erzählen, was ich weiß. Es ist unendlich wichtig, dass Du mir glaubst, denn Pelletier ist tief in das verwickelt, was unserer Familie widerfahren ist.

Ich sah ihn zum ersten Mal auf einem festlichen Empfang im Museum für Völkerkunde. Es ging um die Eröffnung einer Foto-Ausstellung zur modernen Baukunst. Irgendetwas über deren bedeutendste Vertreter in Hamburg. Ein bekannter Fotograf hatte ihre Bauwerke in angeblich einzigartige Bilder verwandelt, die nun der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Als nicht ganz unbedeutender Immobilien-Unternehmer in Hamburg war es ein Pflichttermin für mich.

Da es recht langweilig zu werden versprach (wäre es das nur geworden!), begrüßte ich es, dass dein Vater ebenfalls kommen wollte. Er würde jemanden mitbringen, den ich unbedingt kennenlernen müsste, hatte er am Telefon gesagt. Der Mann wäre Belgier. Er wäre aber nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Kongo erst vor kurzem in Hamburg eingetroffen. Er sei eine durch und durch bemerkenswerte Person.

Neugierig machte ich mich an diesem Abend auf den Weg. Du weißt, das Völkerkundemuseum ist dieser prächtige, fast protzige Jugendstilbau an der Rothenbaumchaussee. Trotz meiner Neugier auf Gerrits Begleitung war ich spät dran. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir absichtlich Zeit gelassen. Die langweiligen Begrüßungsworte der Eröffnungszeremonie wollte ich mir sparen. Als ich dann eintraf, waren nicht nur die Reden gehalten, sondern auch der gemeinsame Rundgang durch die Foto-Ausstellung abgeschlossen. (Wie ich später von anderen hörte, habe nichts verpasst. Aber das nur nebenbei.)

Die Premierengäste standen jetzt in kleinen Grüppchen plaudernd im Foyer. Es waren sicherlich fast zweihundert Menschen. Sie gaben sich sehr hanseatisch. Weltgewandt, abgeklärt und ein wenig gelangweilt – so wie das eben ist bei solchen Veranstaltungen in Hamburg.

Suchend schaute ich mich um. Meinen Bruder konnte ich nicht entdecken, stattdessen fiel mein Blick auf die große und markante Gestalt von Felix Eboué. Er lachte dröhnend und schien sich prächtig zu amüsieren, während er mit einem recht bekannten Professor der Kunsthochschule und einigen meiner Kollegen aus der Immobilienbranche zusammenstand.

Eboué selbst lehrte Architektur an der damals noch recht neuen HafenCity Universität. Ich kannte ihn gut und mochte ihn. Er hatte in Hamburg vor einigen Jahren eine reizende Frau gefunden und war mittlerweile Vater zweier fast schulpflichtiger Kinder. Er kam aus dem Kongo und war unter abenteuerlichen Umständen als Kind nach Hamburg gelangt. Er hatte es mir einmal erzählt. Sein Vater war ein einfacher Bauer. Dessen Sohn hat dagegen eine ganz bemerkenswerte Karriere gemacht und es bei uns bis zum Inhaber des Lehrstuhls für Bauphysik gebracht. Ich glaube, Felix Eboué war zu der Zeit sogar der einzige farbige Architekturprofessor in Deutschland.

Auch er bemerkte mich jetzt und winkte mich zu sich heran. Ich wollte gerade hingehen, als ich meinen Bruder entdeckte. Du kennst Deinen Vater. Eigentlich liebte er es, im Mittelpunkt zu stehen. Bei solchen Anlässen umgab ihn fast immer eine Schar von Leuten, die seinen Bonmots und Geistesblitzen andächtig lauschten. Diese Gabe, praktisch aus dem Stegreif Menschen für sich zu gewinnen, habe ich immer an ihm bewundert – ebenso seine messerscharfe Intelligenz. Wenige konnten sich mit ihm messen. Vielleicht war dies auch ein Grund, warum er sich besonders am Anfang so stark zu Pelletier hingezogen fühlte. Er glaubte, endlich jemanden getroffen zu haben, der ihm ebenbürtig war. Ebenbürtig! Oh Bruder, wärst du bei all deiner Klugheit nur nicht so ein eitler und selbstgefälliger Esel gewesen. Mit Pelletier konntest selbst du nicht mithalten. Du warst ein Mensch aus Fleisch und Blut. Woraus er besteht? Aus Elementen, die geradewegs aus der Hölle stammen müssen! Aber verzeih, Johann, ich schweife ab und lasse es an Sachlichkeit fehlen. An diesem Abend im Völkerkundemuseum war Dein Vater jedenfalls nicht von einer Traube Menschen umgeben. Er hatte sich inmitten der Festlichkeit eine ruhige Ecke am Rande des Saales gesucht. Dort, wo das Deckenlicht kaum noch für Helligkeit sorgte und das Trio aus Deinem Vater sowie zwei weiteren Personen in ein fast schon intimes Halbdunkel tauchte.

Luc Pelletier stand an diesem Abend neben Deinem Vater. Eine schlanke, beinahe hagere Gestalt, die sogar noch größer als Eboué war. Ich beachtete ihn anfangs kaum, denn Dein Vater und Pelletier hörten andächtig einer Frau zu, die sich ziemlich ereiferte. Als ich zu ihnen hinüberging, leuchteten mir als Erstes ihre blonden hochtoupierten Haare aus dem Dämmerlicht entgegen. Dann hörte ich sie reden. Sie sprach schnell und so laut, dass ich ihre Worte schon verstand, während ich mich ihnen näherte. Irgendetwas über antifeministische, inhumane Architektur und phallische Bauwerke hörte ich sie sagen. Diese Ausstellung sei wieder mal ein Beispiel dafür, dass man endlich die männliche Gesellschaft überwinden müsse, um zu einer humanen Gesellschaft zu gelangen.

„Sind Sie da nicht ein wenig zu streng mit uns Männern?“, fragte der Begleiter meines Bruders, und ich weiß noch, wie überraschend angenehm seine Stimme klang. „Denken Sie nur an die vielen Bauarbeiter, die schwer arbeiten und sogar ihr Leben riskieren, um Frauen wie Ihnen ein angenehmes Zuhaue zu schaffen.“

„Unsinn, das sind doch…“, hörte ich seine Gesprächspartnerin antworten, aber noch bevor sie weiterreden konnte, trat ich hinzu. Mein Bruder begrüßte mich herzlich und stellte mich dann zunächst der Frau vor. Bei der Erwähnung ihres Namens fiel mir ein, dass ich sie sogar flüchtig kannte. Wanda Schlebusch-Petersen war die Gattin eines bedeutenden Hamburger Reeders. Sie selbst stammte aus einem alten Hamburger Hanseatengeschlecht.

Verzeih meine Überheblichkeit, aber ich habe sie immer als eine dieser gelangweilten Ehefrauen empfunden. Solche, die sich Zeit ihres luxuriösen Lebens fast verzweifelt mühen, ihrem Dasein Sinn zu verleihen. Anfangs hatte sie sich als Organisatorin von Wohltätigkeitsveranstaltungen in der feinen Hamburger Gesellschaft einen Namen gemacht. Danach hatte sie den Tierschutz für sich entdeckt. Ich kann mich an eine Initiative erinnern, die sich dafür einsetzte, Obdachlosen zu verbieten, Hunde zu besitzen. Die Tiere würden vor allem im Winter schrecklich unter Kälte und Hunger leiden, hatte sie in einer TV-Sendung verkündet und dabei sehr kamerawirksam einen Hundewelpen auf dem Arm gehalten. Sie trug damals, glaube ich, ein Kostüm von Gucci.

An diesem Tag hatte sie aus ihrem zweifelsohne enormen Kleiderfundus einen lilafarbenen Hosenanzug gewählt. Wohl, um ihren jetzigen Zeitvertreib zu unterstreichen. Ihren bisherigen Worten nach zu urteilen, hatte sie anscheinend den Feminismus für sich entdeckt und sich deswegen für einen Auftritt in dessen Erkennungsfarbe Lila entschieden. Sicherlich war auch dieses Kleidungsstück ein edles Designermodell. Eine schlechte Wahl hatte sie jedenfalls nicht getroffen. Obwohl sie etwas füllig war, sah sie sehr attraktiv aus. Ich schätzte sie auf Mitte bis Ende dreißig. Ich weiß noch, dass ich ihren Händedruck trotz ihres burschikosen Auftretens überraschend zart, fast schüchtern fand.

Und dann, nachdem ich Wanda Schlebusch-Petersen vorgestellt war, schüttelte ich seine Hand. Das Werkzeug des Foltermeisters, das todbringende Instrument des Hexenmeisters. Aber all das wusste ich bei dieser ersten Begegnung mit Luc Pelletier natürlich noch nicht. Ich sah nur diese riesenhafte Figur mit großem, fast weiblich wirkendem Mund und dichten, schulterlangen schwarzen Haaren vor mir aufragen. Seine Wangenknochen waren hoch und sehr markant. Die grauen Augen waren von einer Schärfe, wie ich sie selten gesehen habe. Ich weiß noch, dass ich mir in diesem Augenblick nicht darüber klar werden konnte, ob ich diesen Mann wunderschön oder abgrundtief hässlich fand.

„Das ist Luc Pelletier. Wie schön, dass ihr euch endlich kennenlernt“, erklärte mein Bruder, und mehr noch als Pelletiers Erscheinung selbst erstaunte mich in diesem Augenblick die schwärmerische Art, mit der Gerrit von diesem Mann sprach. Kurz sah ich, wie die grauen Augen Pelletiers mich intensiv musterten, dann wurden wir unterbrochen.

„Wenn ich bitten darf. Ich heiße jetzt nur noch Schlebusch. Ich und mein Mann… Wir haben uns nämlich getrennt“, erklärte die Frau mit so wichtigtuerischer Miene, als würde sie gerade bekanntgeben, dass der Weltuntergang in 30 Minuten stattfinden würde.

„Wie bedauerlich. Das tut mir außerordentlich leid“, hörte ich Pelletier sagen. Er wirkte belustigt, ebenso mein Bruder. Aber da war noch etwas anderes in ihrem Verhalten. In der Art, wie sie die Frau musterten, lag etwas Lauerndes. Ich weiß noch, dass mir sofort unbehaglich zumute geworden war. Unwillkürlich schaute ich mich nach Eboué um. Vielleicht hätte ich mich doch besser für seine Gesellschaft entschieden. Andererseits handelte es sich hier nur um meinen Bruder und einen seiner vielen Freunde. Gerrit hatte nun mal einen nicht immer gesellschaftstauglichen Sinn für Humor. Letztendlich waren es aber fast immer harmlose Späße, die er sich erlaubte. So würde es auch hier sein, dachte ich. Mein Gefühl der Beklemmung wollte allerdings trotzdem nicht weichen.

Wanda „Jetzt-Nur-Noch-Schlebusch“ bemerkte von all dem nichts. Sie setzte eine Miene auf, die wohl gefasstes Leid ausdrücken sollte, und redete unverdrossen von ihrer Trennung. Da gäbe es „nichts zu bedauern“, antwortete sie auf Pelletiers Bemerkung. „Mein Mann hat mich während unserer ganzen Ehe unterdrückt. Gewalttätig war er auch“, fügte sie hinzu.

Überrascht schaute ich sie an. Ich kannte Ronald Petersen. Geschäftlich war er ein harter Verhandlungspartner. Aber in Gegenwart seiner Frau hatte ich ihn immer als liebenswürdigen, fast schon unterwürfigen Ehegatten erlebt.

„Hat er Sie etwa geschlagen?“, entfuhr es mir. Im nächsten Augenblick bedauerte ich es, eine so indiskrete Frage gestellt zu haben. Aber es schien die Frau nicht zu stören. Im Gegenteil – sie wirkte fast begierig darauf, von dem zu erzählen, was ihr durch ihren Ehemann widerfahren war: „Nein, geschlagen hat er mich nicht so direkt. Aber Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter. Er hat mich geschubst“, erklärte sie.

„Geschubst?“, fragte ich etwas entgeistert.

„Wir hatten einen Streit. Mal wieder. Er hat mich solange provoziert, bis ich eines seiner geliebten Schiffsmodelle genommen und auf den Boden geschmettert habe. Mast- und Schotbruch. Aber total. Ich glaube, es war die ‚Krusenstern’. Ein russischer Viermast-Segler. Jetzt natürlich nur noch ein Wrack.“

Sie lachte kurz und triumphierend auf. Ihre blauen Augen funkelten herausfordernd. Ihr großer roter Mund entblößte zwei Reihen perlweißer Zähne. Ich weiß noch genau, dass sie eine schmale Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen hatte. Ein kleiner Makel, der sie reizvoll und sexy wirken ließ. Diese Schiffszerstörerin in Lila mochte vielleicht nicht besonders klug sein, aber sie war mehr als nur attraktiv. Sie war eine Schönheit – und an diesem Abend ziemlich gesprächig. Sie erzählte weiter: „Ja, und dann wollte ich mir das nächste Schiff greifen. Die ‚Cutty Sark’. Noch so ein Segler. Aus England, glaube ich. Die hat er immer angeguckt, als wär’ sie ’ne Frau. Sein Flaggschiff sei das, hat er gesagt. Ich also hin zu dem Ding. Aber noch bevor ich sie erreichen konnte, stand er plötzlich vor mir und hat mich richtig brutal weggestoßen.“

In Erinnerung an diese unerhörte Tätlichkeit sah sie sich mitleidheischend um. Sie wurde nicht enttäuscht. Pelletier und Gerrit setzten wie auf Kommando betroffene Mienen auf. Zufrieden über die Anteilnahme der beiden erzählte sie weiter: „Fast wäre ich sogar gestürzt. Ich konnte mich gerade noch mit der Hand am Tisch festhalten. Der Arzt hat am Handgelenk später sogar eine leichte Zerrung festgestellt. Das ist jetzt natürlich alles für die Scheidungsverhandlungen dokumentiert. Dafür hat meine Anwältin gesorgt.“

„Haben Sie denn gar nicht versucht, sich mit ihrem Mann zu versöhnen?“, fragte ich.

„Versöhnen? Mit diesem Monster?“, zischte sie empört. „Ich habe mich in meinem Schlafzimmer verbarrikadiert und die Polizei angerufen. Dann ist übrigens alles ganz schnell gegangen. Die Polizisten kamen und haben gar nicht viele Fragen gestellt. Als sie mich so vollkommen unter Schock und in Tränen aufgelöst sahen, haben sie sich gleich den feinen Herrn Petersen geschnappt und mit aufs Revier genommen. Da konnte mein Mann noch so sehr jammern, dass eigentlich gar nichts passiert wäre. Ha, sie haben ihm sogar Handschellen angelegt, als er sich gesträubt hat.“

Da lachte Pelletier, und es klang so mitfühlend, dass Wanda Schlebusch ihm einen dankbaren Blick zuwarf. In einer warmen, zustimmenden Geste berührte Pelletier sie daraufhin kurz und leicht am Oberarm. Ich konnte sehen, wie sie unwillkürlich darauf reagierte und ihm einen noch innigeren Blick zuwarf. Sie rückte sogar ein wenig näher zu ihm hin. Wieder berührte seine Hand ihren Unterarm. Diesmal ließ er sie liegen. Sacht, zart und federleicht sah das aus. Fast wirkte es, als ob die Hand über ihrem Arm schweben würde. Als er dann sprach, klag seine Stimme ebenso federleicht: „Und wie hast du dich gefühlt, als dein Mann so brutal gegen dich war? Ich darf doch du zu dir sagen, Wanda?“

Wanda Schlebusch nickte zustimmend. Sie blickte auf das, was da auf ihrem Unterarm lag. Auch ich sah es. Pelletier hatte sechs Finger! Ich wusste allerdings, dass es Derartiges gab und schaute nur mit mäßigem Erstaunen auf diese Abnormität, denn noch erstaunlicher fand ich Wanda Schlebuschs Reaktion. Die sechsfingrige Hand irritierte sie kaum. Stattdessen schien sie plötzlich intensiv in sich hineinzulauschen, um Pelletiers unerwartete Frage zu beantworten. Sie schien wie in Trance, und als sie antwortete, tat sie es so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.

„Ich war sehr aufgewühlt. So wütend habe ich meinen Mann mir gegenüber noch nie erlebt. Eine Sekunde lang wurde mir richtig schummrig. Es war fast… fast erotisch, als er mich so hart gepackt hat. Wenn er mich nicht weggestoßen hätte, sondern stattdessen...“

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unwillkommenen Gedanken verdrängen. Dann lächelte sie verlegen.

„Gefällt es dir, wenn er ein wenig grob zu dir ist?“, wollte Pelletier wissen und Wanda Schlebusch nickte.

„Ja“, hauchte sie, „aber er hat es nie gemacht. Ich konnte noch so gemein und böse sein. Er ist ein guter Mensch und ich… ich…“

Nun mischte sich Gerrit in das bizarre Gespräch.

„Hast du schon einmal BDSM ausprobiert?“, wollte er wissen.

BDSM? Nun wusste ich endgültig Bescheid und mir wurde noch unwohler zumute. Was auch immer hier gerade passierte, es ging um Gerrits sexuelle Vorlieben. (Du weißt natürlich Bescheid. Allein schon wegen des grässlichen Raumes im Appartement an der Alsterdorfer Straße.)

Auch Wanda Schlebusch schien das Buchstabenkürzel nicht geheuer. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Davor habe ich ein wenig Angst.“

Ihre Stimme war jetzt die eines kleinen Mädchens. Sie schaute Gerrit an, als wäre er ein verdächtiger Fremder, der sie gerade überreden wollte, in sein Auto einzusteigen, um dann Unaussprechliches mit der kleinen Wanda anzustellen. Pelletier sah meinen Bruder an und schüttelte warnend den Kopf. Gerrit hielt sich von da an zurück und begnügte sich mit einer Rolle als Zuhörer.

Es war klar, dass Wanda Schlebusch ganz im Banne von Pelletier stand, wie auch immer er das angestellt hatte. Sie wirkte auf mich wie hypnotisiert. Dabei gab es keinen Gegenstand, den er vor ihren Augen hatte hin und her pendeln lassen. Er hatte auch keine beschwörenden Worte gemurmelt. Da waren nur seine Hand auf ihrem Unterarm und der wohltönende Klang seiner Stimme. Jetzt sagte er: „Aber gedacht hast du schon manchmal daran. Das sehe ich dir doch an der Nasenspitze an?“

Auch er redete, als hätte er es mit einem Kind zu tun, und wie ein Schulmädchen errötete Wanda Schlebusch jetzt. Sie nickte zaghaft. Wieder lachte Pelletier. Es klang väterlich und gutmütig. Im gleichen Tonfall erklärte er: „Liebe Wanda, wenn du nur wüsstest, was dir entgeht. Es ist ein prickelndes Vergnügen für Erwachsene. So harmlos wie ein heimliches Bad in einem geschlossenen Schwimmbad in einer Sommernacht oder wie… wie, wenn man einfach etwas in einem Kaufhaus mitgehen lässt. Hast du das schon mal gemacht, Wanda?“

„Ja, manchmal tue ich das“, hauchte sie und sah Pelletier plötzlich erschrocken an, so als könnte ihr Geständnis schwere Strafen wie Fernsehverbot, Hausarrest oder gar Schlimmeres nach sich ziehen. Dann aber hellte sich ihre Miene im kindlichen Glück auf, denn Pelletier lachte nur spitzbübisch.

Er sagte: „Wenn ich es mir recht überlege, ist BDSM eigentlich noch viel ungefährlicher als all das. Es gibt nämlich Safewords. Die legt man vorher fest. Mag jemand nicht mehr, sagt er einfach...“, Pelletiers Augen glitten über ihren Hosenanzug, „zum Beispiel ‚lila‘ und schon ist alles vorbei.“

Sie sah ihn mit großen schimmernden Augen an. „Lila, lila“, hauchte sie entrückt. Offensichtlich gefiel ihr diese Vorstellung und sie nickte schon eifrig, noch bevor Pelletier seine Fragen ganz ausgesprochen hatte: „Würde dir das gefallen, Wanda? Einmal ganz schwach und hilflos sein zu dürfen? Einmal nicht mit allem durchzukommen? Einmal eine strenge Hand zu spüren?“

Sie nickte und nickte. Dabei leckte sie sich über die Lippen, als würde der kleinen, schrecklich hungrigen Wanda gerade ein Teller mit ihrer Lieblingsspeise in Aussicht gestellt. Inzwischen war sie noch näher an Pelletier herangerückt. Mit feuchtglänzenden Lippen und bebendem Körper himmelte sie ihn an.

Was mochte jetzt kommen? Würde Pelletier ihr befehlen, sich hier und auf der Stelle ihres lilafarbenen Hosenanzugs zu entledigen und sich nackt zu seinen Knien niederzulassen? Mir wurde noch unbehaglicher zumute. Ich schielte zur ausgelassenen Runde um Eboué und wünschte mir sehnlich, mich dorthin gesellt zu haben. Plötzlich schien mir zwischen Wanda Schlebusch und Pelletier alles möglich.

Ich war sehr erleichtert, als sich die Dinge unversehens wieder normalisierten. Pelletier nahm seine Hand von Wanda Schlebuschs Unterarm und der Spuk schien auf der Stelle beendet. In einem fast unbeteiligten Tonfall fragte Pelletier: „Wie ging es denn mit Ihnen und Ihren Ehemann nun weiter?“

Verwirrt sah die Frau ihn an. Ich glaube nicht, dass sie noch wusste, was in den letzten Minuten passiert war. Möglicherweise hatte sie eine Ahnung, denn sie wurde noch einmal knallrot. Aber dann schien sie diese seltsamen Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf zu verdrängen. Wahrscheinlich kamen sie ihr einfach zu unglaubwürdig vor. Mit normaler Stimme antwortete sie auf Pelletiers Frage: „Oh, das ist schnell erzählt. Meine Anwältin hat eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt. Jetzt darf er sich mir nicht mehr als bis auf fünfzig Meter nähern. Er hat sich im Hotel Atlantik eingemietet. Da kann er sich ganz seiner Arbeit widmen. Das tut er ohnehin am liebsten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich dieser gefühlskalte Klotz in den letzten Jahren vernachlässigt hat. Ich wohne natürlich weiter in unserer Villa an der Elbchaussee.“

Sie hatte offensichtlich wieder in ihre ursprüngliche, aufgedrehte Stimmung zurückgefunden. Sie erzählte, dass ihr eigenes Schicksal als Gewaltopfer sie nun dazu veranlasst habe, sich ganz dem Kampf um die Gleichberechtigung der Frau zuzuwenden. Ihr Noch-Ehemann müsse jetzt büßen und solle kräftig zur Kasse gebeten werden. Mit dem Geld wolle sie feministische Initiativen unterstützen. Es gäbe ja noch so viel zu tun.

Schön anzusehen und vollkommen ahnungslos redete sie daher, immer wieder von Pelletiers Bemerkungen und Schmeicheleien in Fahrt gebracht. Gerrit wirkte dabei wie ein gläubiger Schüler, der den Meister bei einer Demonstration seiner unvergleichlichen Kunst beobachten durfte. So hatte ich meinen brillanten, selbstbewussten Bruder noch nie erlebt – und wollte es auch nicht.

Ich hatte genug von diesem beklemmenden Schauspiel. Unter einem Vorwand verabschiedete ich mich und war froh, im nächsten Augenblick den kräftigen Händedruck von Professor Eboué zu spüren. Er strahlte mich an und meinte, dass ich gerade rechtzeitig käme, denn man würde sich herrlich über die beiden Lieblingsthemen der Baubranche streiten – überflüssige Vorschriften und nicht nachvollziehbare staatliche Auftragsvergaben. Da würde ich doch bestimmt in das Klagelied aller Immobilien-Unternehmer einstimmen wollen. Ja, das tat ich dann auch und zwar mit Freude. Alles war mir recht, um auf andere Gedanken zu kommen. Wie ahnungslos ich doch war, denn die bizarren Ereignisse des Abends setzten sich nahtlos fort.

Anfangs diskutierten wir noch angeregt in einem größeren Kreis. Nach und nach verließen uns dann immer mehr aus der Gruppe, um mit anderen Bekannten oder Geschäftspartnern zu reden. Schließlich waren nur noch Eboué und ich übrig. Eine Gesprächspause entstand, und auf der Suche nach einem Thema sah ich, dass sich mein Bruder, Pelletier und ihre gemeinsame Begleiterin immer noch angeregt unterhielten. Hin und wieder hörte ich Wanda Schlebuschs helles Lachen durch das Stimmengewirr und die Hintergrundmusik hindurchklingen.

Felix Eboué wandte ihnen den Rücken zu. Also deutete ich mit meiner Hand in Richtung Pelletier und erklärte ihm, dass dort drüben ein Landsmann aus dem Kongo stünde. Er sei erst vor wenigen Wochen mit dem Schiff angereist und hieße Luc Pelletier. Mit einem abrupten Ruck dreht sich der Architektur-Professor um und starrte in die Richtung, in die ich zeigte. Verzeih mir, Johann, wenn es sich seltsam anhört. Aber ich hätte niemals gedacht, dass eine tiefbraune Haut so aschfahl werden kann. Und niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass sich ein fröhliches Gesicht so schnell in eine Miene des Entsetzens wandeln kann.

„Er ist es. Er ist es. Le diable blanc“, flüsterte Eboué. Dann, fast panisch, drehte er sich wieder zurück. Seine Augen starrten mich geradezu flehend an.

„Bitte, hat er mich gesehen? Oh Gott, er hat mich doch nicht gesehen?“

Vollkommen verwirrt schüttelte ich den Kopf: „Bei dieser Beleuchtung ist die Entfernung mit Sicherheit zu groß, um ein Gesicht zu erkennen“, sagte ich. „Aber woher kennen Sie ihn? Wer ist er?“

Eboué lachte bitter und sagte jetzt etwas gefasster: „Dort, woher ich komme, kennt ihn jeder. So wie hier jedermann Adolf Hitler kennt.“

„Wer ist er? Was hat er getan?“, fragte ich. Meine Stimme klang plötzlich seltsam dünn. Die Furcht dieses ansonsten so rationalen, klugen Mannes steckte unwillkürlich auch mich an.

Aber Eboué schüttelte den Kopf. „Ich muss fort. Hier bin ich nicht sicher. Ich muss meine Frau und meine Kinder schützen. Er wird keine Zeugen haben wollen, niemanden, der ihn kennt. Er darf mich auf keinen Fall sehen.“

Hektisch trat er einen Schritt zur Seite, wandte sich in Richtung Ausgang um, und dabei passiert es. Er rempelte eine der Kellnerinnen an, die den Gästen die Getränke servierten. Ihr volles Tablett fiel klirrend zu Boden. Alle Welt fuhr herum und starrte auf das Malheur. Eboué aber blickte in eine andere Richtung. Glaub mir, Johann, er war jetzt sogar noch blasser als vorher, als er wie unter einem schrecklichen Zwang in Richtung Pelletier sah. Das Gesicht des Riesen am anderen Ende des Saales war aus dieser Entfernung nur ein heller Fleck. Aber ich sah, was auch Eboué sah. Die Gestalt dort drüben hob in einer grüßenden Geste die Hand und deutete dann in unsere Richtung. Nein, nicht in meine. Dafür stand ich in dem Augenblick zu weit rechts. Sie zeigte auf Eboué! Der Professor stieß einen leisen, klagenden Ton aus. Es war ein Geräusch, das ich niemals vergessen werde. Tiefste Verzweiflung lag darin. Aber noch einmal wandte er sich mir zu. Beschwörend erklärte er: „Meiden Sie ihn. Er ist der Teufel. Ein Mörder, ein Folterer. Ein Hexer!“

Im nächsten Augenblick drehte er sich um und bewegte sich, so schnell es die Menge zuließ, auf den Ausgang zu – ein strahlenförmiges Netz aus ratlosen, überraschten Blicken hinter sich herziehend. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah, und ich frage mich oft, wie viel Schuld ich an seinem Unglück habe. Hätte der Abend vorübergehen können, ohne dass Eboué seinem Schicksal begegnet wäre? Ich weiß es nicht. Ich versuche mir jedenfalls einzureden, dass ich mit meinem Fingerzeig auf Pelletier nur das Werkzeug eines unabwendbaren Verhängnisses war.

Damals auf dem Empfang ist mir natürlich nicht klar gewesen, was passieren würde. Ich war nur verwirrt und beschloss, nach Hause zu fahren. Gerade als ich aufbrechen wollte, wurde ich allerdings angesprochen. Es war ein reizender junger Mann. Gerade sechzehn Jahre alt und eigentlich noch deutlich jünger aussehend. Er musste sich wohl noch nicht einmal rasieren. Wissbegierig und gleichzeitig etwas schüchtern fragte er mich nach dem Architektenberuf aus. Er liebäugelte (mit kornblumenblauen Augen!) damit, ihn später einmal zu seinem Beruf zu machen.

Zum zweiten Mal an diesem Abend war ich dankbar dafür, abgelenkt zu werden. Der hübsche Knabe mit den weichen Gesichtszügen war nicht nur ungewöhnlich wissbegierig, er schien auch jenes gewisse Naturell zu haben, das meinen Neigungen entsprach. Wie entzückend war es, als er schüchtern fragte, ob er vielleicht sogar eventuell ein Praktikum bei der EG-Immobilien GmbH machen könnte.

Aber verzeih, Johann, dass ich diese – für Dich sicherlich abstoßende – Episode vor Dir ausbreite. Trotzdem glaube ich, dass es nötig ist. Das, was ich schildere, ist so ungewöhnlich und bizarr, dass ich en détail berichten muss, wenn ich überhaupt eine Chance haben will, dass Du mir glaubst. Aus dem Praktikum ist übrigens nichts geworden, falls es Dich beruhigt. Ich habe es abgesagt. Du wirst verstehen warum, wenn Du weiterliest.

Nachdem mein jugendlicher Gesprächspartner sich verabschiedete hatte, verließ auch ich die Veranstaltung. Es waren ohnehin kaum noch Leute zugegen. Auch Gerrit, Pelletier und Wanda Schlebusch waren schon längst fort. Im weitläufigen, fast menschenleeren Foyer des Museums, umgeben von den Artefakten ausgestorbener Völker, kam ich mir plötzlich sehr verloren vor. Rasch verließ ich das Gebäude und ging zu meinem Wagen. Wohin ich fuhr? Nein, nicht nach Hause, denn ich hatte während meiner Plauderei mit dem Jungen eine SMS bekommen.

„Sehen wir uns noch? Bitte! Luc, ich und Mr. Johnnie Walker (Blue Label!) heißen dich ab 1.00 Uhr herzlich willkommen“, hatte mein Bruder geschrieben.

„Okay, habe eine Menge Fragen“, hatte ich zurückgesendet.

Ich fuhr also in die Alsterdorfer Straße zu dem Appartement, das du jetzt bewohnst, und ich tat es tatsächlich mit einem Gefühl der Erleichterung, denn ich hoffte auf simple Erklärungen. Irgendwie klammerte ich mich zu diesem Zeitpunkt an die naive Vorstellung, dass alles, was passiert war, sich als Missverständnis erweisen würde. Als etwas, das genauso gut in meine normale Welt passen würde wie eine Darmspiegelung oder ein Anruf vom Finanzamt.

Mit diesem Gefühl bog ich schließlich in die Alsterdorfer Straße ein, mit diesem Gefühl registrierte ich auch die Gestalt, die mir auf dem Fußgängerweg entgegenkam. Es war auf der Seite, die am Flusslauf der Alster entlangführt. Zwischen Weg und Wasser lag ein dünner Streifen Wald, wie du natürlich weißt. Die wenigen Straßenleuchten ließen die Bäume wie drohende Schatten wirken. Nachts ist es eine ziemlich unheimliche Strecke bis der Weg schließlich zur S-Bahn-Station führt, finde ich – auch, weil sich gleich dahinter der Ohlsdorfer Friedhof erstreckt. Nur wenige wissen, dass es der größte Friedhof der Welt ist. Eine gigantische Metropole der Toten inmitten der Lebenden.

Ich verdrängte diese düsteren Gedanken und beobachtete wieder die Gestalt, die mir da entgegenkam. Sie trug einen ziemlich teuer wirkenden schwarzen Kapuzenmantel. Der Silhouette nach zu urteilen war es eine Frau. Ich könnte nicht genau sagen warum, aber sie wirkte auf mich verloren und ängstlich. Automatisch fuhr ich langsamer. Im nächsten Augenblick war mein Wagen allerdings schon an ihr vorbeigeglitten. Ich schaute in den Rückspiegel, und da sah ich es. Aus irgendeinem Grund war die Kapuze von ihrem Kopf gerutscht. Fast direkt unter einer Straßenlaterne leuchteten hochtoupierte hellblonde Haare auf. Es war Wanda Schlebusch.

Überrascht fuhr ich rechts ran und stoppte den Wagen. Noch einmal blickte ich in den Rückspiegel. Die Frau war stehengeblieben und hatte sich in Richtung meines Wagens umgedreht. Vielleicht brauchte sie Hilfe. Ich stieg aus.

„Frau Schlebusch?“, rief ich und ging auf sie zu. Sie wich vor mir zurück. Für jeden Schritt, den ich tat, tat sie einen zurück.

„Wir kennen uns doch von vorhin“, erklärte ich.

Endlich blieb sie stehen, aber ihre Haltung war die eines fluchtbereiten Tieres. Verzweifelt schien sie abzuwägen, ob ich Freund oder Feind war. Um sie weiter zu beruhigen, rief ich: „Ich bin es, der Bruder von Gerrit Gutenberg.“

Da stieß sie einen gequälten Schrei aus und weil sie dabei ihre Hände in einer abwehrenden Geste nach vorne hob, klaffte ihr Mantel auseinander. Weiße Haut schimmerte im Licht der Straßenlaterne. Sie war nackt unter dem Mantel!

„Bitte, Sie müssen keine Angst…“

Es war zwecklos. Sie hatte sich umgedreht und rannte davon. Es dauerte nur wenige Schritte, nachdem sie aus dem Licht der Straßenlaterne heraus war, dass sie und ihr schwarzer Mantel vollständig mit der Dunkelheit verschmolzen. Wanda Schlebusch war nicht mehr zu sehen.

Ich sprang ins Auto, um hinterherzufahren. Dann wurde mir klar, dass das eine schlechte Idee war. Sie würde sich noch mehr ängstigen, wenn sie das Gefühlt bekam, verfolgt zu werden. Außerdem bräuchte sie sich nur hinter den Bäumen am Flussufer zu verbergen und ich würde sie niemals finden. Also fuhr ich die kurze Strecke zum Haus an der Alsterdorfer Straße 479. Vielleicht hatte mein Bruder ihre Handynummer, ihre Adresse oder einen Plan – oder wenigstens eine Erklärung, warum zum Teufel diese Frau so verängstigt war.

Ich bin nicht prüde oder zimperlich, Johann. Absolut nicht. Würde man mich für mein „Liebesleben“ anklagen, bräuchte es einen sehr wohlwollenden Richter, damit ich nicht ins Zuchthaus geschickt würde. Aber trotzdem: Was auch immer mit Wanda Schlebusch geschehen war – Gerrit und sein neuer Busenfreund hatten es zu weit getrieben.

Es war dann Pelletier, der mir die Tür des Appartements öffnete. Wütend drängte ich an ihm vorbei, zögerte dann aber kurz, als ich aus dem Wohnzimmer eine Frauenstimme hörte. Das klang unverkennbar nach der Reedersgattin. Verwirrt ging ich weiter. Ich musste dabei auch an Gerrits „speziellem“ Raum vorbei. Ich weiß nicht, wie du ihn jetzt nennst, aber für mich ist er nicht mehr als eine Folterkammer. Mein Bruder nannte sie ja meist nur „das Studio“.

Die Tür stand offen, als ich vorbeiging. Neben den, verzeih, Johann, abartigen Gerätschaften sah ich auch eine Kamera auf einem Stativ stehen. Dann war ich an der Tür vorbei.

„Lila, lila, lila“, hörte ich die Frau jetzt aus der Richtung des Wohnzimmers rufen. Ihre Stimme klang flehend. Dazwischen stöhnte sie schmerzerfüllt auf. Dann erklang Gerrits Stimme: „Aber Wanda, das Safeword? Jetzt schon? Unser Spaß fängt doch gerade erst an. Weißt du was? Heute spielen wir ohne solche langweiligen Abmachungen.“

In diesem Augenblick betrat ich das Wohnzimmer und sah meinen Bruder grinsend vor dem Fernseher sitzen. Der Bildschirm hing rechts neben mir an der Wand. Ich drehte mich zu ihm hin, aber fast im gleichen Moment hatte Gerrit ihn mit der Fernbedienung ausgeschaltet.

„Typisch, die besten Filme laufen immer erst im Nachtprogramm. Das war meine Lieblingsszene. Ich kann sie gar nicht oft genug sehen“, erklärte er immer noch grinsend. Ich wusste natürlich, dass es eine mehr als lahme Ausrede war. Sie hatten ihr Nachtprogramm selbst hergestellt, indem sie Wanda im Studio gefilmt hatten.

„Ich habe sie da draußen gesehen. Was habt ihr mit ihr angestellt?“, fragte ich wütend, ohne auf seine albernen Sprüche einzugehen.

Die Miene meines Bruders änderte sich umgehend. Er stand auf und kam auf mich zu. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Mit entwaffnender Unschuld erklärte er: „Sie wirkte etwas verwirrt? Etwas neben der Spur? Kein Grund zur Sorge. Frau Schlebusch hatte wohl ein wenig Lampenfieber. Wir haben unsere niedliche Feministin nämlich mit einem spannenden Auftrag fortgeschickt. Warte ein Weilchen und alles wird sich aufklären. Bis dahin bleibst du hoffentlich bei uns.“

Ja, das war mein Bruder. Ein unerreichter Meister darin, „Alles-wird-gut-Gefühle“ zu vermitteln. Halb grollend, halb beschwichtigt sah ich zu, wie er mir an der kleinen antiken Getränke-Bar aus Mahagoni – Du hast sie, glaube ich, immer noch im Wohnzimmer stehen – das Whisky-Glas großzügig drei Finger hoch mit dem Blue Label füllte.

Inzwischen war auch Pelletier ins Zimmer getreten. Er nahm in einem der Sessel Platz. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sich beide umgezogen hatten. Statt der Anzüge trugen sie jetzt schlichte Hosen und darüber ebenso bequeme, weit geschnittene Hemden. Alles in Schwarz. Ich wusste, dass dies Gerrits bevorzugte Kleidung war, wenn er sich bei seinen BDSM-Sessions vergnügte. Bei Pelletier mochte es wahrscheinlich ebenso sein. Er hatte sich in den Sessel gefläzt und schaute mich neugierig an.

Als ich ihn da so selbstgefällig und zufrieden sitzen sah, spürte ich, wie meine Wut zurückkehrte, ebenso die Sorge um die Frau da draußen. Aufgebracht wandte mich wieder meinem Bruder zu: „Was ist nun mit Wanda Schlebusch? Du willst doch nicht andeuten, dass sie hierher zurückkehren wird. Niemals!“

Es war Pelletier, der antwortete. Mit selbstgefälligem Grinsen sagte er: „Ich glaube, da unterschätzen Sie unsere Wirkung auf Frauen. Madame Schlebusch wird uns schon bald wieder Gesellschaft leisten, wenn sie ihren – momentanen – Verpflichtungen nachgekommen ist.“

„Verpflichtungen?“

„Nur eine kleine Strafe. Nach all dem, was sie ihrem Ehemann angetan hat, ist das nur gerecht.“

Er sah mich an, als müsste ich ihm jetzt wie selbstverständlich zustimmen. Als ich schwieg, sprach er weiter: „Keine Bange, sie wird zurückkommen. Sie wird um einige sexuelle Erfahrungen reicher sein, und dann werden wir uns hier noch ein bisschen mit ihr vergnügen.“

Vielsagend blickte er auf etwas, das neben dem Wohnzimmertisch lag. Ich hatte es bislang übersehen, nun erkannte ich es. Es war der lilafarbene Hosenanzug, und was auch immer im Appartement passiert war – Wanda Schlebuschs Haute-Couture-Statement zum Feminismus hatte merklich gelitten. Ich sah dunkle und helle Flecken auf dem Stoff. An einigen Stellen war er zerrissen. Ein zerknülltes weißes Höschen konnte ich inmitten des Kleiderhaufens ebenfalls entdecken.

Gerrit, der sich fast in der gleichen entspannten Haltung wie Pelletier auf dem Sofa niedergelassen hatte, fiel die Farbkombination ebenfalls auf. „Lila und Weiß. Sieht aus, als hätten wir gerade der Milka-Kuh das Fell abgezogen“, erklärte er lachend.

Ich bin nicht gewalttätig, Johann, aber in diesem Augenblick hätte ich deinem Vater am liebsten das feiste Grinsen aus dem Gesicht geprügelt und am liebsten noch alles Schlechte und Kranke aus seinem Verstand dazu.

Aber das war nur eine alberne Wunschvorstellung. Ich mag vielleicht ein erfolgreicher Geschäftsmann sein, aber mit Fäusten umgehen kann ich nicht. Ebenso wütend über die Situation wie über meine Hilflosigkeit fragte ich mit scharfer Stimme: „Was ist, wenn sie sich da draußen etwas antut? Sie war vollkommen verängstigt.“

„Die ist viel zu gierig auf das Leben. Da müsste man schon kräftig nachhelfen, damit sie es wirklich von selbst tut“, antwortete Pelletier. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „Eigentlich eine durchaus interessante Herausforderung“, fügte er hinzu. „Könnte man dieses lüsterne Weib dazu bringen, dem Leben Adieu zu sagen? Das wäre sicherlich einen Versuch wert.“

Ich starrte ihn an. Sprachlos über das, was er da von sich gab. Er aber redete weiter: „Jetzt schauen Sie mich nicht so betroffen an. Wäre ihr Tod denn in irgendeiner Weise tragisch? Sie ist attraktiv und hat ordentliche Titten, sicher, aber es gibt so viele Schönheiten und täglich werden neue geboren. Zehntausend Mädchen kommen allein in Hamburg jedes Jahr zur Welt. Wussten Sie das?“

„Wie schön, dass Sie sich mit unseren Geburtenraten so gut auskennen“, warf ich ein. Es sollte sarkastisch klingen, aber es klang, so befürchte ich, schwach und hilflos angesichts dieser obszönen Kaltherzigkeit. Pelletier jedenfalls ließ sich nicht beirren. „Ich verstehe nicht, wie man Skrupel wegen eines einzigen Menschenlebens haben kann. Unsere arme Erde hat Milliarden davon zu erdulden. Eigentlich würden wir ihr mit Wandas Ableben sogar einen Gefallen tun. Andere spenden für Greenpeace oder schaffen ihr Auto ab. Wir schaffen einfach ein energieverschwendendes, überflüssiges Lebewesen ab. Ein dickes Plus für unsere Umweltbilanz.“

Er lachte und Gerrit stimmte ein. Beide schienen sich köstlich zu amüsieren.

„Sie hat eine Mutter und einen Vater. Und mit Sicherheit Freunde und Freundinnen. Es ist unmenschlich, wovon Sie reden“, stieß ich wütend hervor.

Pelletier belächelte mich, als wäre ich ein Kind.

„Was genau ist denn menschlich, Herr Gutenberg?“, fragte er. Seine Stimme war ein seidenweiches Kissen, auf das er seine bösartigen Argumente bettete. „Ist es menschlich, wenn sich euresgleichen wie dummes Vieh zerquetscht, sobald es auf einer Massenveranstaltung in Panik gerät? Wenn ihr feige wegschaut, während ein Anderer in der U-Bahn zu Tode geprügelt wird? Wenn ihr euch abschlachtet, weil ihr an den falschen Gott glaubt? Gib euresgleichen ein paar fadenscheinige Argumente und ihr verwandelt euch umgehend in mordlüsterne Henker. Ist das menschlich?“

Euresgleichen? Was zum Teufel meinte er damit? Irgendwie verhakte sich dieses Wort in meinem Kopf. Was hatte Eboué gesagt? Pelletier sei ein Hexenmeister? Hielt er sich für etwa Besseres als einen normalen Menschen? Aber ich mochte an dieser Stelle einfach nicht weiterdenken.

„Kennen Sie einen Professor Felix Eboué?“, fragte ich Pelletier stattdessen. „Er stammt ebenfalls aus dem Kongo“, schob ich nach.

„Sie meinen den großen Schwarzen, mit dem Sie sich im Museum unterhalten haben?“

Ich nickte, aber Pelletier schüttelte den Kopf.

„Ich habe niemals von ihm gehört.“

„Aber sie haben ihm doch zugewinkt.“

„Ich? Nein. Das müssen Sie verwechseln. Erwarten Sie ernsthaft, dass sich alle Bewohner meines Landes untereinander kennen? Die Demokratische Republik Kongo ist sechsmal so groß wie Deutschland.“

Zweifelnd sah ich ihn an. „Er war nicht nur überzeugt, Sie zu kennen, sondern schien große Angst vor Ihnen zu haben“, erwiderte ich.

„Angst? Die Schwarzen haben vor allem Möglichen Angst. Sogar, dass ihnen eine Tages die Hilfsgelder der Vereinten Nationen gestrichen werden könnten.“ Er lächelte mich freundlich an. „Jetzt halten Sie mich wohl auch noch für einen Rassisten?“

„Ich halte Sie für einen Dreckskerl“, erwiderte ich, angefeuert von meinem vierten und fünften Schluck Blue Label. Zufrieden registrierte ich, wie erschrocken mein Bruder dreinschaute. Als ob ich eine Gotteslästerung getan hätte. Würde eine sechsfingrige Hand jetzt Blitze auf mich schleudern?

Sie tat es nicht. Aber dafür passierte etwas anderes, kaum weniger Beängstigendes. Pelletier beugte sich auf dem Sofa sitzend vor, streckte seinen langen Arme aus und berührte mit dem Zeigefinger mein Knie. Das konnte man als eine etwas seltsame aber doch versöhnliche Geste verstehen. Die Wirkung allerdings war eine andere. In dem Augenblick, als mich seine eklige Gliedmaße berührte, hörte ich auch seine Stimme. Absolut klar und wohlmoduliert. Aber er hatte nicht wirklich gesprochen. Sein Mund blieb verschlossen. Das schwöre ich! Was Pelletier mir zu sagen hatte, ertönte direkt in meinem Kopf, und es war nur ein Wort: „Kinderficker.“

Nein, Johann, ich werde nichts zu diesem Ausdruck sagen. Ich werde ihn so stehen lassen und mich nicht verteidigen. Das gehört nicht hierher. Darüber mögen andere richten. Es geht mir darum, die Macht und Fähigkeiten von Pelletier zu beschreiben, und glaub mir, dies ist nur ein winziger Teil dessen, wozu er fähig ist.

Aber es genügte mir, den Schneid gründlich abzukaufen. Als Pelletier wieder redete, war ich unendlich froh, dass er es tat wie Du und ich. Ich sah ihn sprechen und meine Ohren hörten seine Worte. Sie waren offenkundig versöhnlich gemeint: „Ich bin kein Rassist, Herr Gutenberg“, erklärte er zu mir gewandt. Seine Hände, auch dies registrierte ich mit Erleichterung, lagen ruhig auf seinen Oberschenkeln. Er fuhr fort: „Ich hatte einst einen wunderbaren Lehrmeister, der Schwarzer war. Meine liebste Mitarbeiterin ist eine Stammesangehörige aus dem Kongo. Sie ist eine der klügsten Personen, die ich kenne.“

Er machte eine Pause, dann fragte er: „Also, wollen wir Frieden schließen?“

Ich weiß nicht, was ein mutigerer Mann als ich getan hätte. Aber in diesem Augenblick gab ich gerne nach und nickte zustimmend. Ohne zu wissen, ob Wanda Schlebusch wohlauf war, wollte ich nicht gehen. Also verbrachte ich die Zeit mit dieser unheimlichen Person lieber ohne offene Feindseligkeiten.

Und tatsächlich entspannte sich unser Zusammensein. Der Mann, der so viel Schrecken verbreiten konnte, gab sich liebenswürdig. Auch das beherrschte er gut. Seine Wirkung lässt sich dabei nur schwer beschreiben. Da ist natürlich die Stimme. Ich fand sie bald ebenso angenehm und süffig wie den Whisky in meinem Glas. Dazu war er klug und bestens informiert. Beides auf eine angenehm zurückhaltende Art. Nicht mehr stechend, sondern forschend und mitfühlend blickten seine Augen. Er kann dir mühelos das Gefühl geben, der wichtigste Mensch der Welt zu sein.

Als wir auf das Thema Sex kamen, hatte ich tatsächlich das Gefühl, eine verwandte Seele zu treffen. Feinfühlig und verständnisvoll ging er auf mich ein. Ob ich mir nicht vorstellen könne, meine Neigungen noch viel intensiver auszuleben, frei von all den gesellschaftlichen Zwängen, fragte er mich und sah mich mit der unschuldigsten Miene an. Er würde da einiges regeln können.

War das ein Angebot? Eine Art Pakt? Ja, ich war in diesem Augenblick nah dran, mich darauf einzulassen. Aber dann fiel mein Blick wieder auf den traurigen Kleiderhaufen neben dem Tisch. Wanda Schlebuschs zerrissener Hosenanzug, während sie selbst nackt und ängstlich da draußen war.

„Wenn Frau Schlebusch nicht bald auftaucht, werden wir sie suchen müssen“, erklärte ich schroff.

Gerrit schaute gelassen auf die Uhr. Es war die Breitling, die Du jetzt trägst. „Es ist kurz vor drei Uhr“, sagte er. „Wetten, dass es gleich klingelt?“

Aber die Zeit verstrich und es wurde 3.30 Uhr, ohne dass etwas passierte.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“, fragte ich schließlich, als ich es satt hatte, immer wieder auf meine Uhr zu schauen und die beiden so untätig und anscheinend seelenruhig dasitzen zu sehen.

Mein Bruder lachte selbstgefällig. Er erklärte: „Nach dem, was sie dem armen Ronald angetan hat, fanden wir, dass sie bei uns Männern eindeutig etwas gutzumachen hatte. Also haben wir die feine Dame zum Steindamm geschickt mit einem ganz speziellen Auftrag.“

Pathetisch hob er seine Hand und zeigte vier Finger, während mir langsam dämmerte, warum sie ausgerechnet zum Steindamm sollte. Es war der Hamburger Straßenstrich.

Gerrit erklärte unterdessen: „Vier Blowjobs und mindestens vier aussagekräftige Beweisfotos davon auf ihrem Smartphone. Für jede Nummer, die sie schiebt, soll sich die liebe Wanda noch zehn Euro geben lassen. Wir möchten nämlich eine kleine Bearbeitungsgebühr dafür, dass wir unseren Nachtprogrammfilm löschen und ihn nicht einem breiten Publikum im Internet zugänglich machen. Obwohl das wirklich schade ist. Unsere Wanda spielt darin die Rolle ihres Lebens, wenn du mich fragst. Möchtest du ihn sehen?“

Angewidert schüttelte ich den Kopf, aber Gerrit schien keine andere Antwort erwartet zu haben. Ungerührt redete er weiter: „Eigentlich haben wir ihr befohlen, bis drei Uhr wieder hier zu sein. Ich schätze mal, sie hat sich so fleißig an die Arbeit gemacht, dass sie darüber einfach die Zeit vergessen hat.“

Mein Bruder? War das noch mein Bruder, der da sprach? Hasserfüllt sah ich Pelletier an und schämte mich dafür, eben noch mit ihm auf diese freundliche, fast intime Art gesprochen zu haben. Dieser Teufel hatte in meinem Bruder etwas hervorgebracht, das abartig und widerwärtig war.

„Ihr seid völlig krank“, stieß ich hervor. „Niemals wird sie sich das antun. Sie wird euch wegen Erpressung anzeigen.“

Gerrit lächelte geringschätzig: „Halt dich lieber an deine Knaben, Bruder. Du hast keine Ahnung von BDSM. Diese Frau ist eine Sklavennatur, auch wenn sie es bis heute wohl selbst nicht geahnt hat. Aber Luc kann so etwas spüren. Er riecht es. Es schmeckt es. Er ist ein richtiger Schatzgräber. Sie wird kommen und uns stolz ihre Fotos präsentieren.“

In diesem Augenblick klingelte es. Gerrit stand auf und ging an mir vorbei. Ich starrte auf das Whisky-Glas in meiner Hand, denn ich konnte seine triumphierende Miene in diesem Augenblick einfach nicht ertragen. Dann hörte ich, wie er die Tür öffnete, und einen Augenblick später betrat Wanda Schlebusch das Zimmer. Als sie mich sah, zuckte sie unwillkürlich zurück, aber Gerrit, der hinter ihr folgte, schob sie unbarmherzig nach vorne, und so ging sie, mir einen scheuen Blick zuwerfend, auf Pelletier zu. Den Mantel hatte sie eng um ihren Körper gewickelt. Klein und verletzlich wirkte sie in diesem Augenblick auf mich. Ihr einst perfektes Makeup war verschmiert. Ihre Frisur in Auflösung begriffen. Eine gefallene Schönheit, die sich in den Ausschweifungen einer düsteren Nacht verloren hatte.

„Nun?“, fragte Pelletier, als sie vor ihm stand.

„Bitte, dürfte ich erst einmal ins Bad?“

„Sprich, wie du es vorhin gelernt hast. Mach uns deine Huren-Stimme. Dann darfst du ins Bad.“

Sie leckte sich über die Lippen und setzt noch einmal an. Jetzt ließ sie ihre Stimme hoch und kieksend klingen. So sprachen manche der Prostituierten, die ihre Dienste in nächtlichen TV-Werbespots anboten. Es klang auf billige und dümmliche Art erotisch, wie ich fand. Pelletier stellte es anscheinend zufrieden.

„Bitte, darf ich ins Bad?“, kiekste sie.

Mit einem knappen Kopfnicken entließ er sie. Kaum hatte sie sich umgedreht, ertönte dann seine Stimme: „Lass den Mantel hier.“

Wieder warf sie mir einen scheuen, verlegenen Blick zu. Dann ließ sie gehorsam den Mantel von ihren Schultern gleiten. Nackt stand sie im Raum und ja – sogar ich war in diesem Augenblick auf perverse Art fasziniert und sogar erregt von ihrem Anblick.

Wie tief war sie an diesem Abend gefallen. Die eitle, garstige und reiche Wanda Schlebusch. Sie war auf den Strich geschickt worden, um sich wie eine billige Straßenhure anzubieten. Ein kleiner böser Teil von mir beharrte darauf, dass ihr recht geschah. Er weidete sich an diesem nackten Körper mit den voluminösen Brüsten. Er zählte gierig die dunklen Striemen, die sich auf ihren Oberarmen, dem Po und ihren Schenkeln abzeichneten. Er sah mit grausamer Genugtuung, wie sie gedemütigt in Richtung Bad verschwand. Wahrscheinlich würde sie sich jetzt voller Scham und Abscheu den Mund ausspülen. Wieder und wieder. Um wegzuwaschen, was in ihrer Erinnerung doch unauslöschliche Flecken hinterlassen hatte.

Vielleicht war es dieser Gedanke, der mich ernüchterte. Nein, das war nicht meine Welt. Ich empfand Mitleid mit der Frau. Vor allem, wenn ich meinem Bruder und Pelletier zuhörte. Sie unterhielten sich darüber, wie der weitere Abend abzulaufen hatte. Natürlich musste Wanda auf das Strengste bestraft werden, denn sie war 30 Minuten zu spät gekommen. Der vierte Mann hätte darauf bestanden, dass sie auch seinen drei Kumpels zu Diensten wäre. Daher habe sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft, hatte sie Gerrit an der Tür erzählt.

Mein Bruder und Pelletier fanden das sehr belustigend. Nichtdestotrotz musste Wanda ihre Verfehlung natürlich sühnen. Bald entspann sich zwischen den beiden Foltermeistern eine fachkundige Diskussion, mit welchen Instrumenten und Vorgehensweisen dies am besten anzustellen wäre. Ich war froh, dass ich keine Ahnung hatte, worüber sie sprachen.

Dann kehrte Wanda aus dem Bad zurück. Sie musste ihr Handy mit den Fotos und das Geld aus der Tasche ihres Mantels holen. Gerrit nahm ihr das Smartphone ab und verband es mit dem Fernsehgerät. Wanda wurde angewiesen, die Scheine vor uns auf dem Tisch auszubreiten. Es waren nicht vierzig Euro sondern siebzig. Auch die Gefährten des vierten Mannes hatten ihre Dienste belohnt. Pelletier lächelte amüsiert. Er sagte: „Du bist ja ein richtiges Naturtalent, kleine Wanda. Da haben wir doch endlich eine nützliche Beschäftigung für die gelangweilte Reedersgattin gefunden. Du wirst deinen hübschen Mund von jetzt an öfter anbieten. Deine Möse allerdings wird mir gehören und deinen Hintereingang dürfte mein lieber Freund Gerrit beanspruchen. Du hast seine Vorlieben ja vorhin schon kennengelernt.“

Ich hörte sie bei seinen Worten leise aufstöhnen, aber sie wagte nicht zu widersprechen. Wie ihr befohlen worden war, kniete sie – immer noch vollkommen nackt – rechts neben dem TV-Bildschirm. Über den Bildschirm flimmerten unterdessen die Beweise ihrer Tätigkeit am Steindamm.

Es waren wesentlich mehr als vier Aufnahmen, und nachdem Gerrit die ersten angeschaut hatte – nicht ohne höhnische Kommentare in Richtung Wanda abzugeben –, stand er auf und ging, um im „Studio“ einige „Umbaumaßnahmen“ vorzunehmen. Man habe sich wirklich etwas für sie einfallen lassen, erklärte er Wanda Schlebusch im Hinausgehen und genoss offensichtlich ihren angstvollen Blick.

Pelletier blieb unterdessen sitzen und schaute weiter auf die Fotos, die jetzt als eine Art Diashow über den Großbildschirm huschten. Die Männer am Steindamm hatten offenbar Spaß daran gefunden, ihre willige Liebesdienerin in den unterschiedlichsten Posen und Einstellungen zu fotografieren. Einer war besonders kreativ gewesen und ließ sein Model alberne Dinge mit Lippen und Zunge an seinem erigierten Glied anstellen. Ein anderer hatte sie wohl angewiesen, auch mit seinem Penis im Mund begeistert in die Kamera zu lächeln.

Aus dem Studio waren unterdessen Hammerschläge zu hören. Dazu das Geräusch von schweren Gegenständen, die über den Boden geschoben wurden. Eine Kette rasselte und klirrte. Ich sah, wie Wanda erschauderte.

Auch Pelletier hatte ihre Reaktion gesehen. Es schien ihn zu erregen. Er winkte sie zu sich heran. Sie stand auf, aber seine Stimme – ein tiefes Grollen jetzt – ließ sie innehalten.

„Du weißt, wie du dich mir zu nähern hast“, sagte die Stimme, und da ließ sich Wanda auf die Knie nieder und kroch mit pendelnden Brüsten und wogenden Hinterbacken auf ihren dämonischen Herrn zu. Ja, Pelletiers wundersamer Spürsinn schien tatsächlich eine Sklavennatur entdeckt zu haben. Denn die Frau war erregt bei dem, was sie tat. Geschwollen und feucht glänzend schimmerten ihre Schamlippen bei jeder Bewegung zwischen Po und Oberschenkeln hindurch. Arme benutzte, lüsterne Wanda. Sie musste neben Pelletier knien und ihm ihre Brüste darbieten. Ein Angebot, von dem seine Hände weidlich und grob Gebrauch machten.

Als uns Wanda wenig später – auf Pelletiers Geheiß – Whisky nachschenkte und direkt neben mir stand, nutzte ich dennoch die Gelegenheit. Ich stand auf, klaubte Wandas schwarzen Mantel vom Boden auf und griff sie bei der Hand. Ich wollte sie mitnehmen, fort aus dieser Wohnung, weg von diesen Unholden. Ich kam nicht einmal einen Schritt weit, denn plötzlich stand er vor mir und das war eigentlich unmöglich. Kein Mensch kann sich derartig schnell bewegen.

Dennoch war das Ganze keine Einbildung. Auch Wanda sah es. Sie schrie panisch auf und riss sich von mir los. Kein Wunder – vor mir ragte etwas auf, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Es war Pelletier, und er war es auch nicht. Da stand etwas Ungeheuerliches. Lange, spitze Zähne füllten einen grinsenden Mund. Alle seine Gesichtszüge waren seltsam verformt, so als hätte ein Bildhauer seine ganze Kunst darauf verwandt, sie in etwas unsagbar Böses zu verwandeln. Zudem wirkte dieses Wesen noch einmal deutlich größer, als Pelletier ohnehin schon war. Es musste sich vorbeugen, damit der Kopf nicht an die Decke stieß. Am schrecklichsten aber war was zwischen seinen Beinen aufragte. Denn dieses Wesen war nackt und erregt. Es präsentierte einen feuerroten, fast unterarmlangen Pfahl, der pulsierend und tropfend nach Zuwendung verlangte.

Zu meinem Entsetzen spürte ich dann plötzlich die schweren Hände des Wesens auf meiner Schulter. Sie wollten mich herabdrücken und heranziehen zu diesem monströsen Organ! Er wollte meine Lippen an dieser Widerwärtigkeit.

Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich riss mich los. Ich stürmte aus dem Zimmer heraus. Aus den Augenwinkeln sah ich dabei seltsamerweise Pelletier immer noch in seinem Sessel sitzen. Er lachte, aber das war mir alles egal. Ich rannte durch den Flur, riss die Haustür auf und war schon im Treppenhaus, als mein Bruder hinter mir hereilte.

„Warte, warte“, rief er und ich blieb stehen, auch wenn alles in mir schrie, davonzurennen.

„Hat er dir etwas von seiner Magie offenbart?“, fragte mein Bruder, als er mich erreicht hatte. Ich brachte keinen Ton heraus, sondern schaute nur angstvoll zur Tür.

„Du bist jetzt erschrocken, aber du wirst begreifen, wie wunderbar er ist. Er hat wirklich Macht, Enno. Unglaubliche Macht, und ich werde von ihm lernen. Wir haben schon alles abgesprochen.“

Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln, und als ich dann durch die offene Tür Wanda wie ein waidwundes Tier stöhnen hörte, war es zu viel. Ich rannte davon, ohne mich noch einmal umzublicken. Wie ich dann in meinem Auto nach Hause gekommen bin? Irgendwie. Ich erinnere mich kaum noch daran. Ich hatte viel zu viel Alkohol im Blut und ich fuhr ohne Abblendlicht, denn ich vergaß in meiner Panik, die Scheinwerfer einzuschalten. Dennoch hatte ich Glück und erreichte trotz allem unbehelligt meine Wohnung an der Außenalster.

Noch während meiner nachtdunklen Fahrt und trotz meiner Furcht wusste ich aber eines: Ich würde Pelletier von nun an mit allen Mitteln bekämpfen. Vor allem galt es, meinen Bruder aus seinem Einfluss zu befreien. Natürlich sorgte ich mich auch um Dich, Johann. Jeder Mensch im Einflussbereich dieser Kreatur schien mir gefährdet. Du warst damals 16 Jahre alt und als wacher, neugieriger junger Mensch besonders beinflussbar. Ich hoffte allerdings, dass mein Bruder noch so viel Verstand hatte, dich von Pelletier fernzuhalten.

Ich selbst wandte mich am nächsten Tag an eine ziemlich renommierte Hamburger Detektei. Großzügig stattete ich sie mit finanziellen Mitteln aus. Wenn nötig sollten sie in der ganzen Welt Nachforschungen über Pelletier anstellen. Insbesondere natürlich im Kongo. Von meinen eigenen Beobachtungen berichtete ich ihnen allerdings nur in einer abgeschwächten Version. Alles Übernatürliche ließ ich weg. Ich selbst mochte ja kaum glauben, was passiert war.

Wie gerne hätte ich mir alles mit sachlichen, rationalen Ursachen erklärt. Vielleicht hätte ich es sogar geschafft, wenn ich mir die Argumente nur gründlich genug zurechtgeschoben hätte. Aber ich wusste gleichzeitig, dass es falsch gewesen wäre. Der Horror, den ich erlebt hatte, war möglicherweise nicht von dieser Welt. Real war er aber trotzdem.

Ein Ereignis zwei Tage später bestätigte mich darin. Ein grausamer Mord erschütterte die Stadt. Es ging um einen farbigen Architekturprofessor, der das Opfer eines brutalen Verbrechens geworden war. Felix Eboué war es, der da auf tragische Weise in die Schlagzeilen geriet. Die Bande, die ihn überfiel, war stadtbekannt und im Drogengeschäft tätig. Ihre Mitglieder stammten wie Eboué aus dem Kongo. Aber sie gehörten einem befeindeten Stamm an. In ihrer Heimat hatten beide Ethnien blutige Kriege gegeneinander geführt. Es war einer der Gründe, warum Eboué geflohen war.

Dem Hass war er trotzdem nicht entkommen. Eboué trug Narben im Gesicht. Sie waren ihm als Kind in einer rituellen Zeremonie beigebracht worden und zeigten seine Stammeszugehörigkeit an. Ein Uneingeweihter bemerkte sie kaum. Dennoch wurden sie ihm zum Verhängnis. Als er eines Tages alleine in der Stadt unterwegs war, kreuzten sich zufällig die Wege von ihm und den afrikanischen Drogendealern. Sie erkannten ihn als Abkömmling des anderen Stammes, und ihr Hass war auch in der Fremde unversöhnlich. Sie hetzten ihn durch die halbe Stadt. Am Ende haben sie ihn am Eingang einer U-Bahnstation in Billbrook zu Tode geprügelt. Viele Menschen sahen zu, keiner versuchte, Felix Eboué zu retten.

Was mich zusätzlich bestürzte, war die Aussage eines der Täter. Er gab an, von einem merkwürdigen Weißen mit missgestalteten Händen und hetzenden Worten auf raffinierte Weise angestachelt worden zu sein. Natürlich glaubte ihm niemand. Bei mir sah das allerdings anders aus.

Was in der folgenden Nacht passierte, machte mir dann auf schreckliche Weise deutlich, dass ich selbst ein Leben auf Pelletiers Gnaden führte. Es war etwa zwei Uhr morgens, als ich in meinem Appartement an der Außenalster aus schwerem Schlaf erwachte. Angst und Sorge hatten mich in den vorherigen Nächten kein Auge zu tun lassen. An diesem Abend war die Müdigkeit so groß, dass ich schon frühzeitig zu Bett gegangen und fast sofort eingeschlafen war.

Ich kann nicht genau beschreiben, warum ich dann mitten in der Nacht aufwachte. Eine namenlose, seltsame Sorge trieb mich zu den Fenstern meines Penthouse. Ebenso ängstlich wie neugierig eilte ich von einem zum anderen, um hinauszuspähen, denn ich wusste plötzlich, dass dort draußen irgendetwas meine Aufmerksamkeit verlangte. Als ich dann durch eines der Wohnzimmerfenster blickte, sah ich es.

Die Fenster in diesem Raum lassen – über den Harvestehuder Weg hinaus – auf die Außenalster blicken. Tagsüber bieten sie einen malerischen Ausblick auf den schimmernden See inmitten der Stadt. Nachts wirkt die Alster dagegen meist tiefschwarz. Die Lichter der Stadt werden von dieser Wasserfläche förmlich aufgesogen und verschluckt.

Am Ufer der Außenalster, fast direkt vor meinem Haus, befindet sich ein langer Bootssteg, der tagsüber von einer Segelschule genutzt wird. Jetzt stand dort, ganz hinten und direkt am Rand zur Wasserfläche, eine Gestalt. Sie trug einen dunklen Mantel. Seine Kapuze beschattete das Gesicht, so dass es nicht zu erkennen war. Aber die vermummte Person musste mein Fenster beobachtet haben. Denn als ich erschien, tat sie eine rasche Bewegung mit dem Kopf, so dass die Kapuze nach hinten glitt. Blonde hochtoupierte Haare leuchteten auf.

Ich wusste sofort, was Wanda Schlebusch tun würde und nahm mir nicht einmal die Zeit, nach meinem Morgenmantel zu greifen. Was hatte das Monster an jenem Abend gesagt? Es wäre eine interessante Herausforderung, dieser Frau die Lust am Leben zu nehmen?

Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich sie an jenem höllischen Abend allein in der Alsterdorfer Straße zurückgelassen hatte. Daher hatte ich in den folgenden Tagen sogar vorsichtige Erkundigungen eingezogen, ob sie zumindest nach außen hin weiter ein normales Leben führte. Die Informationen, die ich erhielt, hatten mich beruhigt. Ich hoffte, dass Pelletier und mein Bruder von ihr abgelassen hatten, um sich anderen Vergnügungen zuzuwenden. Ich lag völlig falsch. Pelletier ließ nicht von jemandem ab. Er vertilgte ihn wie ein Raubtier seine Beute.

Nur mit meiner Pyjamahose bekleidet raste ich in dieser schwarzen Nacht aus der Wohnung, rannte über den Harvestehuder Weg und dann auf den Pier hinaus. Zwei dicke Holzsplitter bohrten sich in meinen rechten Fuß. Ich bemerkte sie nicht. Erst viel später, als ich wieder meine Wohnung betrat, wurde mir bewusst, dass ich blutige Fußspuren hinterließ. In diesem Augenblick aber nahm ich nur den Bootssteg wahr. Er lag vollkommen leer und verlassen vor mir.

Wanda Schlebuschs Leiche wurde am Vormittag des nächsten Tages im Wasser treibend gefunden. Dafür, dass sie in Hamburg eine recht bekannte Persönlichkeit war, wurde erstaunlich wenig Aufheben um ihren Tod gemacht. Vor allem, wenn man bedenkt, unter welch bizarren Umständen sie ums Leben gekommen war. Sie trug Handschellen und Fußfesseln, so dass sie sich unmöglich schwimmend über Wasser halten konnte. Weil beide Schlüssel an einer Kette um ihren Hals hingen, ging die Polizei aber davon aus, dass sie sich selbst gefesselt hatte, bevor sie ins Wasser sprang. Die Striemen an ihrem Körper und die Tatsache, dass sie unter ihrem Mantel nackt war, wiesen auf einen eventuellen Zusammenhang mit der BDSM-Szene hin. Die sei ja gerade en vogue in der Hamburger Gesellschaft, hieß es. Möglicherweise hatte aber auch die Trennung von ihrem Mann zum Selbstmord geführt.

Je länger man darüber nachdachte, desto überspannter und unberechenbarer kam Wanda Schlebusch jedermann vor. Gut möglich, befanden die meisten Leute aus ihrem Umfeld, dass so Eine sich das Leben nahm. Ihr Beinahe-Ex-Mann und nunmehriger Witwer Ronald Petersen schien tatsächlich der Einzige zu sein, der ehrlich um sie zu trauerte. Er ließ ihr ein opulentes Grabmal auf dem Ohlsdorfer Friedhof errichten. Die beiden Rosensträucher, die ihre letzte Ruhestätte schmücken, tragen tatsächlich lila Blüten.

Ja, Johann, ich glaube, sie hat tatsächlich Selbstmord begangen, aber er hat sie dazu gebracht. Er hat sie so lange manipuliert, bis sie bereit war, ihm alles zu geben. Auch ihr Leben. Ahnst du, warum sie sterben musste? Er hat ein Menschenleben geopfert, um meines zu bedrohen. Weil ich der Bruder deines Vaters war, durfte ich am Leben bleiben, aber er hat Wanda in die Alster geschickt, um mich zu warnen. „Bleib still, Kinderficker, und misch dich nicht in meine Angelegenheiten, wenn du leben willst“, lautete die Botschaft, die ich von den kalten Lippen einer Wasserleiche ablesen sollte.

Dennoch erreichte er das Gegenteil. Auch, um den Tod von Wanda Schlebusch zu sühnen, schwor ich mir, Pelletier von nun an unerbittlich zu bekämpfen.

Allerdings ging ich von da an noch vorsichtiger vor. Deinen Vater mied ich weitgehend. Er gehörte, so wie ich es sah, bis auf weiteres zur Gegenseite. Wenn wir uns doch einmal über den Weg liefen, bei gesellschaftlichen Veranstaltungen oder bei Familienfeiern, sprachen wir nur über unverfängliche Themen. Es ging ihm anscheinend glänzend. Seine Kanzlei florierte. Seine Fälle mochten noch so aussichtslos sein, er gewann sie oder er arrangierte besonders vorteilhafte Vergleiche für seine Klienten.

Es war dann auf Deinem siebzehnten Geburtstag, dass wir doch noch einmal über Pelletier redeten. Gerrit erschien mir an diesem Tag so stolz auf Dich und auf fast jungenhafte Weise unbeschwert, dass ich mein Glück einfach versuchen musste. Wir standen oben im Arbeitszimmer eures Hauses in Blankenese und beobachteten draußen im Garten all die jungen Menschen, die zu Deiner Feier gekommen waren. Es waren so viele, Johann. Die smarten Jungen, meist Mitschüler von Christianeum-Gymnasium, gaben sich in Deiner Gegenwart noch naseweiser und lässiger als sonst. Ich glaube, Du warst so etwas wie ihr Wortführer und Vorbild. Die lachenden Mädchen in ihren weißen und bunten Sommerkleidern schienen alle ein bisschen verliebt in Dich zu sein.

„Wirst du Johann aus allem heraushalten?“, fragte ich Gerrit, und seine ausweichende Antwort ließ mich erschrecken. Du wärst fast erwachsen, erklärte er. Nun müsstest Du selber entscheiden, was gut für Dich sei. Als Vater wolle er Dir aber helfen, Deine wahre Natur zu erkennen. Gerrit sagte, dass er selbst viel zu lange gebraucht habe, bis er frei und ohne lästige Skrupel seinen Neigungen nachgegangen sei. Das alles wolle er seinem Sohn ersparen. Zumal Du, Johann, anscheinend einen ähnlichen Sinn für die spannendste Art der sexuellen Vergnügungen entwickelt hättest.

Wollte er andeuten, dass Du ebenfalls eine Vorliebe für BDSM hattest? Wahrscheinlich, aber es war mir gleichgültig. Mich interessierte nur eines: „Wird Johann ihn kennenlernen?“, fragte ich.

Mein Bruder hörte wohl an meiner Stimme, wie besorgt ich war, denn statt einer Antwort ging er zur hinteren Wand des Arbeitszimmers. Sie war getäfelt, und er drückte, soweit ich sehen konnte, auf eines der Holzpaneele. Es glitt geräuschlos beiseite und dahinter zeigte sich ein kleiner Safe.

Gerrit war schon immer ein großer Geheimniskrämer gewesen und so war ich überrascht, dass er mir dieses verborgene Versteck offenbarte. Aber, wie gesagt, er spürte wohl, wie wichtig mir die Angelegenheit war, und hatte sich daher entschieden, mir etwas zu zeigen.

Während ich näher heranging, tippte er eine lange Reihe von Zahlen auf einer Tastatur an der Tür des Safes ein. Dann öffnete er ihn und ich blickte auf einen flachen Stapel mit Dokumenten. Obendrauf aber lag ein längliches Kästchen aus dunklem Holz. Er nahm es heraus und öffnete den Deckel. Auf einem roten Stoffbett lag ein Dolch. Er mochte etwa 30 Zentimeter lang sein. Die matt schimmernde Klinge war leicht nach vorne gekrümmt. Der Griff – anscheinend aus hellem Bernstein – bog sich im gleichen Schwung nach hinten. Das gab ihm eine exotische Form, wie sie wohl im Orient gebräuchlich sein mochte. Gleichzeitig wirkte der Dolch aber äußerst handlich. Ich verspürte selbst fast den Drang, ihn zu berühren und meine Faust um seinen Griff zu schließen.

In seiner ganzen Machart sah diese Waffe ebenso schön wie gefährlich aus. Ein garstiges Stück Handwerkskunst, denn es war offensichtlich, dass dieser Gegenstand weder rituellen Zwecken noch dem Einsatz im Haushalt diente. Er war zum Töten gefertigt. Ein reines Mordwerkzeug. Trotzdem enttäuschte mich sein Anblick in diesem Augenblick.

„Was soll das? Wenn du dich unbedingt bewaffnen musst, würde ich etwas Wirksameres empfehlen. Wir leben inzwischen im Zeitalter der Feuerwaffen“, erklärte ich gereizt.

Aber dein Vater ließ sich nicht beirren. „Es gibt nichts Wirksameres“, entgegnete er. „Diese Waffe ist meine Rückversicherung gegen den werten Herrn, der dir so einen Schrecken eingejagt hat.“

„Ein simpler Dolch? Oh Gerrit!“

Er antwortete in einem ebenso selbstsicheren wie ernsten Ton: „Ich weiß was ich tue und ich würde niemals zulassen, dass Johann etwas passiert. Aber Zauber lässt sich nur mit Zauber bekämpfen. Dieses hier“, er zeigte auf die Waffe im Kästchen, „ist ein starker, mächtiger Zauber.“

Noch bis vor kurzem hätte ich Gerrits Gerede von einem „mächtigen Zauber“ niemals ernst genommen und ihm dringend empfohlen, einen Psychiater aufzusuchen. Aber nach allem, was ich mit Pelletier erlebt hatte, erschien es mir ganz und gar nicht abwegig. Außerdem wirkte Gerrit so überzeugt von dem, was er sagte, dass es auch mich zumindest etwas beruhigte. So gingen wir nach unserem Gespräch wieder hinunter in den Garten zurück.

Ich ließ mich von den Mädchen zum Tanz auffordern und führte noch bis spät abends mit den jungen Leuten tiefschürfende Gespräche über das Leben, die Liebe und die Karriere. Nur die Jugend kann so unbeschwert argumentieren und wunderbar radikale Ansichten vertreten. Es war eine gelungene Feier und sie ist mir in der Erinnerung kostbar, denn es war das letzte Mal, dass ich Deinen Vater lebend sah. Wenige Monate später warst Du schwerverletzt und rangst mit dem Leben. Dein Vater war tot. Sein Dolch, welche Kräfte ihm auch innewohnen mögen, hatte ihm nichts genützt.

Ich selbst setzte nach dem Gespräch mit Deinem Vater meine Hoffnungen vor allem auf die Detektei, die ich beauftragt hatte. Sie besaß einen exzellenten Ruf. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in dieser Sache versagen würde. Als mich dann eines Tages der Geschäftsführer der Detektei um einen Termin bat, sah ich dem Treffen mit einiger Erwartung entgegen. Er wollte mir den aktuellen Zwischenbericht ihrer Nachforschungen übergeben und hätte einiges zu besprechen, teilte er mir vorab mit.

Der Mann war ein erfahrener Ex-Polizist. Bislang hatte ich ihn als jemanden kennengelernt, den anscheinend keine menschliche Verfehlung jemals aus der Ruhe bringen konnte. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte ein hartes, fast ausdrucksloses Gesicht.

Aber als Bernadette Segura ihn dann in mein Büro führte, wirkte er komplett verändert. Er sah blass und übernächtigt aus. Wenn er sprach, zitterte seine Stimme sogar ein wenig. Ich schenkte ihm zunächst einen Whisky ein. Er stürzte den Inhalt fast in einem Zug herunter. Man habe den Fall „Luc Pelletier“ im Prinzip mit dem letzten Zwischenbericht ausrecherchiert, erklärte er dann. Er wolle nicht länger mein Honorar in Anspruch nehmen, ohne ausreichende Gegenleistungen erbringen zu können. Zumal man leider im Augenblick sehr knapp an Personal sei. Da wären nämlich diese Todesfälle.

Schockiert sah ich ihn an. Fast wünschte ich in diesem Augenblick, dass er nicht mehr weitersprechen würde. Aber jetzt schien er sogar erleichtert über die Gelegenheit, sich alles von der Seele zu reden. Die ersten Todesfälle passierten, als zwei seiner Mitarbeiter für Nachforschungen im Fall Pelletier in den Kongo gereist waren. Für Auslandseinsätze speziell in Afrika wären es seine erfahrensten Leute gewesen. Gerade deswegen habe er es ja für ein kalkulierbares Risiko gehalten, sie in ein Bürgerkriegsland wie die Demokratische Republik Kongo zu schicken.

Eine Woche nach der Ankunft in Kinshasa seien sie ins Landesinnere aufgebrochen. Zu letzten Mal lebend gesehen habe man sie bei einer Militärkontrolle auf der Straße nach Kabinda. Tage später wurden ihre Leichen zufällig in einen Straßengraben entdeckt – oder zumindest das, was von ihnen übrig war.

„Ich habe Fotos gesehen. Leider“, sagte er und berichtete, dass die kongolesischen Behörden davon ausgingen, dass seine Leute einer besonders extremen Rebellengruppe in die Hände gefallen wären. Gewisse Zeichen würden daraufhin deuten. Der Detekteichef zögerte, dann sprach er so leise weiter, dass ich mich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Sie haben sie teilweise gegessen. Das Fleisch weißer Männer schütze vor Kugeln, glauben diese Leute. Ritueller Kannibalismus. In manchen Gegenden des Kongo ist er fast alltäglich.“

Er sah mich jetzt direkt an: „Thomas war der Patenonkel meiner Tochter. Mike hatte gerade geheiratet.“

Ich sprach ihm mein tiefes Beileid aus und musste dann erfahren, dass es noch weitere Tote gab. Der nächste seiner Mitarbeiter sei in Hamburg gestorben. Er sei in seinem Auto von einem Güterzug erfasst worden. Niemand könne sich erklären, warum die Schranken an dem Bahnübergang genau im falschen Augenblick hochgegangen waren. Der Körper des Mannes wäre förmlich mit den Wrackteilen seines Wagens verschmolzen, als ihn der Güterzug mehrere hundert Meter mitschleifte. Rein zufällig wäre auch dieser Mitarbeiter mit dem Fall beschäftigt gewesen.

Ja, und jetzt habe er seine junge Sekretärin verloren. Sie wollte unbedingt auch als Detektivin arbeiten. Als Einstieg in das Gewerbe hatte er ihr daher manchmal kleinere Teilaufträge gegeben. Sie hätte sich dann in den Fall Pelletier verbissen und sogar in ihrer Freizeit daran gearbeitet. Sie wäre geradezu besessen gewesen, „auch wenn sie rein gar nichts herausfand“, wie er – etwas zu eilig, wie ich fand – versicherte.

Vor zwei Tagen habe ihn dann ein befreundeter Ermittler von der Hamburger Mordkommission angerufen und ihm mitgeteilt, dass seine Sekretärin verstorben sei. Man habe den Verlobten festgenommen. Er stehe im Verdacht, sie getötet zu haben. Irgendwas muss bei einem Sexspielchen aus dem Ruder gelaufen sein. Er habe sie fast zu Tode gepeitscht. Am Ende wäre sie aber an dem Knebel erstickt, den er ihr zu tief in den Rachen geschoben hätte. Ein seltsamer Fall, denn der Tatverdächtige wäre ansonsten völlig unauffällig und habe geschworen, niemals zuvor BDSM praktiziert zu haben. Er sei aber geständig und gebe alles zu, auch wenn er darauf bestünde, dass seine Verlobte die Idee zu allem gehabt hätte.

Wieder schaute mich der Detektiv an, und diesmal lag so etwas wie eine Schuldanklage in seinem Blick. Ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Ich war der Auftraggeber und hatte ihn in etwas so Düsteres und Dunkles verstrickt, dass es sein wohlgeordnetes Weltbild in Trümmer legte. Aber er schwieg und sprach das Offensichtliche nicht aus. Er murmelte dann nur etwas von einer unglaublichen Pechsträhne.

Also ließ ich ihn ziehen und blieb mit dem letzten Bericht der Detektei zurück. Er war so dünn und inhaltsleer wie fast alle vorangegangenen. Bis auf eine Tatsache: Man hatte Dich, Johann, mit Pelletier gesehen! Auf einem Foto wart ihr beide offensichtlich bei einem nächtlichen Ausflug in einer heruntergekommenen Gegend im Hafen abgebildet. Der Privatdetektiv, der wenig später bei dem tödlichen Unfall am Bahnübergang sein Leben ließ, hatte es geschossen. Es war nur unscharf, aber eure Konturen ließen sich deutlich erkennen. Der Bericht gab zudem an, dass man euch noch bei mehreren anderen Gelegenheiten zusammen beobachtet hatte.

Fieberhaft zermarterte ich mir in den nächsten Tagen das Gehirn, was angesichts dieser Entwicklung zu tun war. Glaub mir, Johann, wenn ich dabei eine Idee nach der anderen verwarf, ging es mir nicht um meine eigene Sicherheit. Aber kein Weg erschien mir tauglich, um Dich und Deinen Vater aus Pelletiers unheilvollem Einfluss zu befreien. Dann passierte das, was unsere beiden Leben für immer veränderte: Dein Vater wurde zum Mörder. Er tötete sich selbst und brachte Dich beinahe um.

Ich ließ meine Beziehungen spielen und scheute keine Kosten. So gelang es mir, einige der besten Gehirnchirurgen der Welt an Dein Krankenbett zu holen. Alle waren sich einig, dass Du unfassbares Glück hattest. Nachdem die ersten bangen Tage vorüber waren und mir die Mediziner versicherten, dass Du überleben würdest, erkannte ich plötzlich die Chance, die in Deinem Gedächtnisschwund lag. Du konntest Dich nicht im Geringsten an eine Person namens Luc Pelletier erinnern. War dies nicht die allerbeste Möglichkeit, Dich seinem Einfluss zu entziehen?

Zumal Pelletier selbst von diesem Zeitpunkt an verschwunden blieb. Wie herrlich wäre es gewesen, herauszufinden, dass auch er das Geschehen an jenem Tag nicht überlebt hatte. Aber derlei Beweise blieben aus. Im Gegenteil – irgendetwas in mir beharrte darauf, dass die Gefahr nicht vorüber war und dass ich weiterhin wachsam bleiben müsste.

Also brachte ich selbst auch ein schweres Opfer: Ich kam zu dem Schluss, dass ich Dir fortan fernbleiben musste. Sonst bestünde immer die Gefahr, Erinnerungen zu wecken, die Dir gefährlich werden konnten. Das mochte ganz unabsichtlich geschehen, aber ich wusste einfach zu viel und war zu tief in die Geschichte verstrickt.

Daran, dass Pelletier auf immer verschwunden bleibt, wage ich bis heute nicht zu glauben. Nicht einmal in diesem Moment, wo ich in meinem friedlichen Haus in Kampen auf Sylt sitze, ein freies Wochenende vor mir habe und einen unerschrockenen Augenblick nutze, um Dir endlich diesen Brief zu schreiben. Irgendetwas warnt mich, dass er noch immer da draußen ist. Verschlagen und böse wie zuvor.

So halte ich mich seitdem von Dir fern. Aus Deiner Sicht bin ich wahrscheinlich zu einem gefühlskalten Ekel geworden, das sich nicht im Geringsten für das Schicksal seines Neffen interessiert. Glaub mir, Johann, das ist mir alles unendlich schwer gefallen. Wie sehr ich Dich in Wirklichkeit schätze und liebe, mag vielleicht die Tatsache zeigen, dass ich Dich zu meinem Erben und Nachfolger in der EG-Immobilien GmbH eingesetzt habe. Ich weiß, dass Du das Unternehmen leiten kannst. Du wirst es mindestens ebenso gut tun wie ich selbst. Es gibt in meinen Augen keinen besseren Nachfolger.

Noch etwas sei mir an dieser Stelle gestattet: ein paar Worte zu meinen schändlichen Neigungen. Sie sind stark, Johann. Du ahnst nicht, wie sehr sie an einem zerren und einen bedrängen. Seit jenem Vorfall in der Alsterdorfer Straße aber habe ich ihnen nicht mehr nachgegeben. Wenn du so willst, ist es sogar ein Verdienst des Hexenmeisters. Du musst wissen, dass Pelletiers teuflische Erscheinungsform, als ich mit Wanda verschwinden wollte, nicht einfach dazu diente, mich aus der Wohnung zu jagen. Es war seine Art, mich zu bestrafen und für den Rest meines Lebens zu quälen. Das ist ihm perfekt gelungen.

Als seine Hände auf meinen Schultern lagen, um mich zu jenem Unaussprechlichen hinabzudrücken, da hatte ich eine Eingebung. Einen Augenblick unerbittlicher Klarheit, wenn Du so willst. Ich wusste plötzlich, dass die Panik und der Abscheu, die ich in diesem Augenblick empfand, auf eine schreckliche Weise auf mich zurückfielen. Genauso, wie es mir im Angesicht dieser Kreatur erging, erlebten es all die Knaben, die ich mir selbst gefügig gemacht hatte. Sie fanden nicht den geringsten Gefallen an dem, was sie taten. Sie waren nicht erregt, willig oder voller Hingabe, so wie ich es mir immer eingeredet hatte. Sie waren nur von mir missbraucht. All die Jahre hatte ich mir schöngeredet, was doch nur ein perverses Verbrechen war.

Pelletiers missgestaltete Hände auf meinen Schultern sind, wenn Du so willst, seitdem dort liegengeblieben. Schwer lasten sie auf mir und wollen mich unablässig in die Knie zwingen. So habe ich in den Jahren danach nicht ein Gramm weiterer Schuld hinzugefügt. Nein, stolz bin ich darauf nicht und ich will auch nicht um Vergebung für etwas bitten, das sich nicht vergeben lässt. Dennoch ist es mir wichtig, dass Du es weißt.

Nun aber zu dem, was Du hoffentlich niemals benötigen wirst. Es sind meine Kenntnisse über unseren unheimlichen Feind. Leider sind es erschütternd wenig. Sie ergeben sich aus den Dossiers des Detektivbüros ebenso wie aus meinen eigenen vorsichtigen Nachforschungen. Manches fand ich in Archiven zur Geschichte des Kolonialismus, anderes habe ich mir zusammengereimt, als ich mich mit afrikanischen Zauberkulten beschäftigt habe. Am schwersten war wohl der Besuch bei der Witwe von Felix Eboué. Das Wenige, was sie wusste, hat sie mir mitgeteilt. Sie ist eine starke, tapfere Frau.

So lies also schon allein um ihretwillen das Folgende, auch wenn es sich ebenso phantastisch wie unwirklich anhört (Ich wünschte, es wäre so):

 

1. Luc Pelletier ist ein mächtiger afrikanischer Hexenmeister. Er hat die Fähigkeit, Dinge so zu manipulieren, dass sie sich zu seinem Vorteil wenden. Wie er dazu gekommen ist? Eboués Ehefrau berichtete mir von einer Legende aus der Katanga-Provinz des Kongo. Sie handelt von einer uralten Kaste mächtiger Medizinmänner. Ein weißer Mann erschlich sich das Vertrauen des mächtigsten dieser Zauberer, so die Legende. Das gelang ihm, weil seine Hände anders waren als die aller anderen Menschen (Denk an Pelletiers sechs Finger!). Der Zauberer hielt diese Anomalie für ein göttliches Zeichen und nahm den Weißen als Schüler auf. Dieser lernte schnell und eignete sich selbst das geheimste Wissen an. Als er das Gefühl hatte, alle Geheimnisse zu kennen, tötete er seinen Lehrmeister, damit dessen Macht vollständig auf ihn überginge.

 

2. Gleich, wie viel Wahrheit in dieser Legende enthalten ist, Luc Pelletiers Macht kann trotz allem nicht unbegrenzt sein. Dafür gibt es verschiedene Hinweise. Außerdem handelt er meist vorsichtig und überlegt. Er muss in irgendeiner Weise verletzlich sein.

 

3. Er ist ein großer Lügner. Nicht alles liegt in seiner Macht, aber wo sie anfängt und wo sie endet, weiß er geschickt zu verschleiern. Er manipuliert Menschen fast genauso leicht wie die Dinge um sich herum. Vielleicht stimmt es aber auch, was manche zauberkundigen Afrikaner behaupten: Es gebe immer Frauen und Männer, denen der Einfluss eines Hexenmeisters wenig oder nichts anhaben könne.

 

4. Er ist böse. Durch und durch. Der Schmerz und das Leid anderer Menschen bereiten ihm Vergnügen. Es scheint fast sein einziger Lebensinhalt zu sein. Vielleicht zieht er sogar, ähnlich wie ein Vampir, seine Lebensenergie aus Qual und Tod.

 

5. Denn er ist alt und scheint der Zeit zu widerstehen. Im Kongo fürchtet man ihn seit Generationen, auch wenn niemand es wagt, über ihn zu sprechen. Dennoch fanden die beiden Männer der Detektei, bevor ihre Afrika-Reise so grausam endete, einige Personen, die beteuerten, dass sogar ihre Urgroßeltern schon von Pelletier gewusst hätten.

 

6. Es besteht die Möglichkeit, dass ihm der Dolch Deines Vaters tatsächlich schaden kann. Ich habe einiges über ähnliche Waffen herausgefunden. Die Form ist uralt und stammt ursprünglich aus dem alten Ägypten. Die Waffen werden gefertigt, um bösartige Geisterwesen zu töten. Heilige Frauen haben sie in einem geheimen Opferritual geweiht.

 

7. Nun mein wichtigster Rat: Die Polizei hat mir den Dolch überlassen. Dein Vater trug ihn am Tag seines Todes bei sich. Nun übergebe ich ihn Dir zusammen mit diesem Brief. Dennoch: Die Chance, Luc Pelletier damit zu töten, erscheint mir gering. Bitte, Johann, tue das einzig Richtige: BLEIB IHM FERN!

 

In aufrechter Liebe, Dein Onkel

 

Enno Gutenberg