11. Kapitel
Ein samtiges Spielfeld
Ihm fernbleiben?
Johann rang sich ein grimmiges Lächeln ab. Dieser Rat kam eindeutig zu spät. Er blickte zu Jen hinüber. Ihre Augenlider zuckten. Sie schnaufte ein wenig. Dennoch schien ihr Schlaf tief und friedlich. Was für ein Widerspruch! Neben ihm schlummerte das bezauberndste und entzückendste Mädchen der Welt. SEIN MÄDCHEN. Gleichzeitig hielt er einen zutiefst verstörenden Brief in den Händen.
Er schob die Blätter wieder in den Umschlag zurück. Dann fiel sein Blick auf das Päckchen, das er neben dem Sessel abgestellt hatte. Dort drin also würde er den Dolch finden. Er angelte sich das Päckchen vom Fußboden. Leise, um Jen nicht zu stören, begann er, die Verpackung zu lösen. Was auch immer in der Vergangenheit passiert sein mochte, sein Vater und sein Onkel hielten den Dolch für eine wirksame Waffe gegen den Hexenmeister. Möglicherweise war es gut, ihn griffbereit zu haben.
Johanns Finger lösten den ersten Knoten, dann machten sie sich am zweiten zu schaffen. Aber noch bevor sich die Schnüre lockerten, hielt Johann irritiert inne. Irgendetwas störte ihn. Er blickte noch einmal zu Jen hinüber. Sie schlief genauso entspannt wie noch vor wenigen Sekunden. Trotzdem war da etwas – und dann wusste er es. Er fühlte sich beobachtet. Es war, als er wäre er nicht mehr allein mit Jen! Er zwang sich zur Ruhe und ließ seinen Blick systematisch durch den Raum wandern. Würde sich jetzt sein gruseliger Kumpan zu Wort melden? Machte er einen Schlussstrich, um zu holen, was ihm laut Vertrag zustand? Oder war nun erst einmal Jen statt Wanda für eine Session à la Pelletier im verbotenen Raum vorgesehen?
Sein Magen krampfte sich zusammen, als hätte er auch gerade eine halbe Flasche der scheußlichen grünen Flüssigkeit, des „Waldmeister-Fruchtlikörs“, in sich hineingeschüttet. Eine Gänsehaut krabbelte seine Arme hoch. Es schien, als wäre die Temperatur im Zimmer schlagartig gesunken. Aber Jen schien nicht so zu empfinden. Sie strampelte gerade im Schlaf ihre Decke weg. Das Flanellnachthemd, das er für sie herausgesucht hatte, war eigentlich viel zu warm, dachte er unwillkürlich, und irgendwie brachte ihn dieser schlichte Gedanken zur Ruhe. Es war nicht kälter worden. Nicht ein Grad. Alles war gut. Er hatte nur gerade einen ziemlich beängstigenden Brief gelesen. Da konnte man sich schon einiges einbilden.
Trotzdem ließ er seine Augen weiter durch das Zimmer wandern. Schließlich entdeckte er sogar, was ihn nervös gemacht hatte. Johann lächelte schief. Es war einer der Köpfe von Motte, Stachel oder Stöckchen. Er musste ihn vorhin beim Aufräumen übersehen haben. Der Porzellan-Kopf lag unter dem Bett und irgendwie war er nach dem Sturz so durch die Gegend gerollt, dass er aufrecht gegen den Bettsockel lehnte. Das füllige, hübsche Gesichtchen blickte Johann an. Er starrte zurück. Sofort meldete sich das unbehagliche Gefühl wieder. Plötzlich hatte er die wahnwitzige Vorstellung, auf etwas zu schauen, das im nächsten Augenblick zum Leben erwachen würde. Ein dünnes Stimmchen würde schauerlich von dort zu ihm herüberdringen. Es würde ihn um den verlorengegangenen Körper anflehen. Keine Chance, Mädchen. Deinen Körper habe ich mit allen anderen Teilen im Müllschlucker entsorgt, dachte er absurderweise.
In gruseliger Faszination verharrten Johanns Augen auf dem Kopf. Er stand langsam auf, und während er Schritt um Schritt in Richtung Kopf tat, plapperte ein ziemlich kindischer Teil seines Verstandes: „Bleib leblos, bitte, bitte.“
Dann war er herangekommen, ließ sich in die Knie nieder und schnappte sich das Ding mit einer schnellen Bewegung. Als sich seine Finger darum schlossen, atmete er erleichtert auf, denn es fühlte sich genauso an, wie es zu erwarten war: ein totes Porzellan-Bruchstück. Im Müllschlucker mochte er es trotzdem nicht entsorgen. Er hatte das Gefühl, etwas Endgültigeres tun zu müssen. So trat er leise auf den Balkon und warf den Kopf mit aller Kraft in Richtung Fluss. Er glaubte sogar ein Platschen zu hören.
Danach blieb er noch eine Weile draußen stehen. Es war eine schöne Nacht mit einem klaren Sternenhimmel. Ein leichter Wind war aufgekommen und hatte herbstliche Kühle mitgebracht. Sie vertrieb die Müdigkeit, und er dachte nach. Ennos Brief enthüllte, wie eng die Verbindung zwischen Luc Pelletier und seinem Vater gewesen war. Was den Hexenmeister selbst betraf, so bestätigte Ennos Bericht noch einmal all die unglaublichen Fähigkeiten, die Johann selbst schon erfahren hatte. Auch das grausame, menschenverachtende Wesen Pelletiers wurde mehr als deutlich. Überraschen tat es Johann nicht wirklich, aber er musste zugeben, dass es dennoch verstörend war, so eindringlich davon zu lesen.
Er dachte auch an seinen dämonischen Pakt mit dem Hexenmeister. Es gab einen Punkt, der ihn unendlich erleichterte. Wenn die Zeit gekommen war, seine Gegenleistung zu erbringen, blieb Jen außen vor. Zwölf Monate von Johanns Lebenszeit hatte der Hexenmeister gefordert. Was auch immer dies bedeuten mochte – es war eine Sache zwischen ihm und Pelletier. Noch etwas war beruhigend. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es sogar dermaßen beruhigend, dass es überhaupt nicht lohnte, in kindische Panikattacken zu verfallen: Er hatte Zeit. Jede Menge Zeit. Sie hatten zwar nichts Ausdrückliches über die Dauer des Vertrags abgemacht, aber in den Fallbeschreibungen auf Pelletiers Internetseite waren Zeitangaben zu lesen gewesen. Es ging dabei jedes Mal um Monate, wenn nicht sogar um Jahre.
Er und Jen? Das war bis jetzt eine Sache von wenigen Tagen. Er lächelte. Gefühlt kam ihm das Ganze noch viel kürzer vor: eine Aneinanderreihung glitzernder, sekundenhafter Momente. Es war, als würde man mit seligem Lächeln der Augenblickspracht eines Feuerwerks folgen. Er blickte in den Sternenhimmel und es kostete ihn wenig Anstrengung, sich vorzustellen, wie Dutzende Raketen hinaufzischten und Jens Gesicht ins Firmament zauberten. Eines, das ihm hier unten im elften Stock der Alsterdorfer Straße ganz alleine zulächelte. Die Feuerwerke in seiner Phantasie hatten auch für das perfekte Drumherum gesorgt. Eine zauberhafte Wolke von Schmetterlingen umkreiste die Himmelsgöttin.
Johann schüttelte den Kopf und grinste selbstironisch. Es war höchste Zeit, schlafen zu gehen. Er drehte sich um und ging in die Wohnung zurück. Die Atmosphäre schien tatsächlich wieder völlig friedlich. Er ging ins Schlafzimmer. Dort nahm er die Aufzeichnungen seines Onkels an sich und ebenso den unausgepackten Dolch. Er hauchte Jen einen sanften Kuss auf die Stirn und kehrte in seine Wohnung zurück. Ennos Hinterlassenschaften verstaute er in einer Schublade seines Schlafzimmerschranks. Den Dolch würde er sich bei nächster Gelegenheit anschauen, nahm er sich vor. Wenige Minuten später, nach einer Stippvisite im Bad, sank er hundemüde in sein eigenes Bett. Eine blendende Idee hielt ihn dennoch noch einen Augenblick lang wach. Er beschloss, all das, was ihm derzeit Sorgen bereitete, in einem Winkel seines Verstands zusammenzutragen und dort abzulegen – zur späteren Klärung sozusagen. Die Tatsache, dass Jen immer noch den unheimlichen Ring Pelletiers am Finger trug, gehörte dazu. Die Erkenntnis, dass sein Vater und der Hexenmeister anscheinend engste Kumpane gewesen waren, ebenso. Sein Pakt mit Pelletier und alles, was daraus folgen mochte, hatten dort ihren Platz, ebenso alle Informationen aus Ennos Brief.
Das hieß ja nicht, die Dinge zu verdrängen, nur eben ein bisschen abseits zu lagern. Er würde sich, wenn es an der Zeit war, gründlich darum kümmern, aber nicht jetzt und auch nicht morgen oder übermorgen. Es gab so viel Wichtiges, was ihn derzeit beanspruchte.
Als sie am nächsten Tag ihren „stinknormalen“ Ausflug ans Meer planten, stellten sie zum Beispiel umgehend fest, dass ihnen das nächste Wochenende viel zu weit entfernt vorkam.
„Dann machen wir es eben morgen“, meinte Johann, und Jen stimmte begeistert zu. Aber dann begann sie, eine bedenkliche Miene zu machen. Sie wüsste nicht, ob die Chefin ihr freigeben würde. Sie wäre bei so etwas sehr streng. Da hatte Johann eine Idee. Auf gut Glück schaute er nach, wem das Gebäude gehörte, in dem die Verkaufsräume der Boutique lagen. Er landete einen Volltreffer. Die Hausnummer 23 war, wie praktisch der gesamte Straßenzug, im Besitz der EG-Immobilien AG. Also rief er bei Jens Chefin an. Er stellte sich vor – und der Rest war dann pures Vergnügen.
Man sprach über gewisse mögliche Vergünstigungen in Bezug auf die Ladenmiete und über eine gewisse Verkäuferin, die – was für ein Zufall! – ausgerechnet Johanns Nachbarin war. Man habe sich ein wenig angefreundet. Sie würde zuweilen im Haushalt helfen und gleichzeitig wäre sie fast so etwas wie… ja, wie sein Maskottchen geworden, säuselte Johann. Da sei es für ihn als vielbeschäftigten Firmenchef angenehm, jederzeit auf das Mädchen zurückgreifen zu können, sobald sein übervoller Terminkalender doch mal eine Lücke aufwies. Ob das ein Problem wäre, fragte Johann ins Telefon und blickte zu Jen herüber.
Es hatte sich ergeben, dass Johann von ihrer Wohnung aus anrief. Lässig saß er auf dem schmalen, weißen Schreibtisch im Wohnzimmer. Jens Laptop hatte er mit einer knappen Handbewegung beiseitegeschoben. Das Mädchen selbst stand neben ihm – allerdings nicht irgendwie. Er hatte sie in die Stöckchen-Position befohlen! Natürlich war sie dabei nackt. Ihre Hinterbacken aufreizend nach hinten geschoben, die Lippen geöffnet, die Brüste von den eigenen Händen dargeboten, die herrlichen Schmetterlingsaugen in eine wilde Mischung aus Zorn und Verlegenheit getaucht – so stand sie neben ihm.
Vor dem Telefonat hatte Johann ihr erklärt, dass diese Maßnahme eine allererste Strafe dafür war, dass sie Stöckchen, Stachel und Motte zerbrochen hätte. Stachels Hundepeitsche – das gute Stück hatte den Sturz natürlich unbeschadet überstanden – hatte er vorher gut sichtbar auf ihrem Wohnzimmertisch abgelegt. Der Anblick hatte genügt, Jen eilig seinem Befehl nachkommen zu lassen. Um dann genau in dieser Position mitanhören zu müssen, wie ausführlich über sie geredet wurde. Ihre Chefin zeigte sich sehr gesprächig. Sie betonte, wie sehr sie sich freue, einem so wichtigen Mann wie Herrn Gutenberg einen Gefallen tun zu können, auch wenn sie dabei auf eine ihre besten Mitarbeiterinnen verzichten müsse. Jen sei schon etwas Besonderes. Als Mitarbeiterin aber nicht einfach. Im verschwörerischen Tonfall fügte sie hinzu, dass sie gerne einige Tipps gäbe, wie die junge Dame zu handeln wäre.
Wie Jennifer Wagner zu handeln wäre? Das würde ihn sehr interessieren, hatte Johann geantwortet und grinsend zugesehen, wie Jen in hilflosem Zorn begann, mit den Augen zu rollen.
„So, man muss sie recht stark beaufsichtigen. Sie ist manchmal etwas faul.“ – Wie um sich selbst das Gesagte besser zu verdeutlichen, wiederholte Johann die Worte seiner Gesprächspartnerin, aber natürlich waren sie nur für das Mädchen neben ihm gedacht. Die Wirkung zeigte sich sofort. Schamhafte Röte begann Jens Wangen zu überziehen.
„Am Kunden ist sie eine Granate? Männer wickelt sie mühelos um den Finger und veranlasst sie derartig zum Geldausgeben, dass es fast unanständig ist? Da muss ich als Mann wohl auch aufpassen?“
Tiefrot war Jen jetzt geworden.
„Ich soll mir bloß nichts bieten lassen? Sie könnten mir wer weiß was für Geschichte erzählen? Da bin ich aber gespannt. Schießen Sie los.“
Nun wanderte die Röte sogar ihren Hals herunter. Aber Verlegenheit war offensichtlich nicht die einzige Empfindung, die sie gerade schwer beschäftigte. Stoßweise kam der Atem über ihre Lippen. Hin und wieder glaubte Johann sogar, leise einen ihren wohlbekannten, süßen Vogellaute zu vernehmen. Ihre Brustwarzen hatten sich wunderschön aufgerichtet.
All das hatte seinen Grund, denn zu den dreisten Worten ihrer Chefin hatten sich Johanns nicht minder dreiste Berührungen gesellt. Während er angeregt mit der Boutiquenbesitzerin plauderte, hielt seine rechte Hand intensive Zwiesprache mit Jens Körper. Ihr Nacken, ihre Flanken, ihr Po – dort, wo er sich besonders voll und weiblich rundete – und dann ihre Brüste bildeten das samtige Spielfeld seiner Finger.
Als Johanns Hand dann hinabglitt zu ihrer Scham, fühlte er sie bereit und willig seinen Fingern entgegenkommen. Vielleicht dachte sie wieder daran, was er im Fahrstuhl von ihr verlangt hatte und war jetzt nur allzu bereit, es zu wiederholen. Aber diesmal schüttelte er den Kopf und sah warnend zur Peitsche hin. Sie stöhnte ebenso leise wie frustriert auf, blieb aber unbeweglich stehen. Nur ihr Atem beschleunigte sich immer mehr, und wenn Johanns Finger in ihrem quälend-süßen Treiben auf besonders empfindsame Stellen stießen, sog sie scharf die Luft ein oder warf den Kopf nach hinten.
Johann blieb am Telefon jetzt weitgehend stumm. Nur manchmal streute er einen Kommentar ein: „So eine kleine, freche Hexe“, bekam Jen zu hören, oder: „Das ist ja geradezu schamlos.“
Johanns Finger selbst aber veranstalteten unterdessen auf nackter Haut und bebendem Fleisch die schamlosesten und frechsten Dinge. Mit durchschlagender Wirkung: Eingefroren in die Stöckchen-Position und entflammt durch seine Berührungen schien Jen in ihrer Lust kurz davor, zu zerbersten. In tausend Stücke zu zerspringen wie gestern die Porzellan-Figuren.
Das möge der liebe Gott, Luc Pelletier oder wer auch immer verhüten, dachte Johann voller Entzücken. Jen sah in all dem, was ihr gerade widerfuhr, hinreißend aus!
Und dann? Dann endlich beendete er das Gespräch. Ein letzter Gruß, ein Dankeschön und etwa zweieinhalb Sekunden später begrüßte Jens heiße, feuchte Enge restlos jeden Zentimeter seiner Männlichkeit. Die letzten Minuten hatten auch sein Verlangen beinahe ins Unermessliche gesteigert. Nicht eine Sekunde länger hätte seine Selbstbeherrschung gereicht, davon war er überzeugt. Mit einem Handgriff hatte er sich aus Jeans und Shorts befreit, mit einem zweiten Handgriff hob er Jen hoch und schob sie einfach über sein Glied. Schon wickelten sich ihre Beine um seine Hüften. Schon umklammerten ihre Arme seine Schulter.
Irgendwie fanden sie sich dann direkt an der Zimmerwand wieder. Angefeuert von Jens süßesten Vogellauten drängte und drückte er ihren Körper dagegen und erwartete verrückterweise jeden Augenblick, dass sich angesichts ihrer Leidenschaft Risse und Sprünge im Mauerwerk auftaten. Sei es drum. Es war die Wand zu seinem Appartement. Nur weg damit, schoss es ihm durch den Kopf. Sollte die Mauer doch fallen, dann hätte er jederzeit noch freieren Zugang zu Jen und zu allen ihren heißen, engen, feuchten Herrlichkeiten...
Wirklich keine schlechte Idee, dachte er, als sie später auf blumigem Flanell in Jens Schlafzimmer nebeneinanderlagen. Er könnte ihre Wohnung einfach der seinen angliedern und sich damit auch deren Bewohnerin noch viel stärker zu eigen machen. Wie weit konnte man darin gehen, ein Mädchen vollständig und restlos zu besitzen? Er wusste es nicht. Aber Jen war es allemal wert, es Punkt für Punkt herauszufinden.
Johann schaute neben sich. Sie lag ihm zugewandt auf der Seite. Ein Arm ruhte auf seiner Brust, der andere auf seinem Oberschenkel. Die Augen hatte sie halb geschlossen. Immer noch war sie außer Atem. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Jeder Atemzug ließ ihre Brüste leicht erzittern. Ein Effekt, der ebenso einfach wie anmutig war, stellte Johann fest. Seine Augen glitten weiter über ihren Körper. Es gab so viel zu entdecken. Johann bemerkte es wieder einmal voller Staunen. Hier war es ein eleganter Schwung im Übergang vom Hals zur Schulter, dort eine kleine Falte zwischen Hüfte und Oberschenkel, die ihm auf wunderbare Weise unendlich weiblich und begehrenswert erschien.
Als Jen seinen Blick bemerkte, räkelte sie sich ein wenig, schob ihren Körper, so schien es ihm, hierhin und dorthin, um sich ihrem Bewunderer noch ein wenig besser zu präsentieren. Ja, das Schmetterlingsmädchen wusste um seine Reize. Sie war eine betörende kleine Hexe. Wie recht Jens gesprächige Arbeitgeberin doch gehabt hatte!
„Ihr seid ja ein infernalisches Duo, meine Chefin und du“, erklärte Jen, so als hätte sie seine Gedanken gelesen. In ihrer Stimme lag die schnurrende Weichheit einer Frau nach dem Sex.
„Hab dir doch nur einen freien Tag verschafft“, antworte er unschuldig. „Aber sie ist eine interessante Person. Ich werde sie jetzt regelmäßig anrufen“, fügte er hinzu und lachte dann über Jens erschrockenen Blick.
Johann selbst musste natürlich niemanden fragen, ob er den Tag freibekommen würde. Dafür hatte er allerdings ein schlechtes Gewissen. Er war erst so kurze Zeit in dieser herausgehobenen Position. Es gab noch unendlich viel zu lernen und in Erfahrung zu bringen. Aber als er mit Bernadette Segura, seiner Geschäftsführerin, sprach, schien sie sogar erfreut darüber.
„Wurde auch endlich Zeit, dass du dir mal freinimmst“, erklärte sie. „Du fährst hier im Unternehmen schon viel zu lange Vollgas.“
Als er sie wenig überzeugt anschaute, fügte sie hinzu: „Du machst das alles prima, Johann. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass jemand diese Position in so kurzer Zeit so perfekt ausfüllt. Manchmal bist du mir richtig unheimlich. Aber ich brauche einen Chef, der auf Dauer ausgeruht ist und der mir mit ganzer Kraft beisteht, wenn ich mal ordentlich Mist baue. Also, nimm dir um Gottes willen die Zeit und wenn es sein muss auch einen zweiten und dritten Tag“, riet sie ihm.
Das war nett gesagt, fand Johann, auch wenn die Vorstellung, dass die Halbspanierin Fehler machen könnte, ziemlich abwegig war. Er hatte den Entschluss, ihr den Posten als Geschäftsführerin zu übertragen, nicht eine Sekunde lang bereut. Sie bewies immer wieder aufs Neue Weitsicht, Durchsetzungskraft und ein enormes Wissen über die Firma und die Branche. Außerdem verstanden sie sich ausgezeichnet. Johann hatte das Gefühl, dass sie mittlerweile auf einer fast geschwisterlichen Basis zusammenarbeiteten. Er wusste inzwischen, dass Bernadette mit einer Frau zusammenlebte. Zu beneiden war ihre Partnerin allerdings nicht, denn das Arbeitspensum seiner Geschäftsführerin lag, wie es ihm schien, noch deutlich über dem seinen.
Trotzdem hatte Bernadettes Beifall zu seinem Vorhaben Johanns Gewissen beruhigt – zumindest so weit, dass er an diesem Tag nur den frühen Morgen im Büro verbrachte. Kurz vor zehn fuhr er nach Hause und zog sich um – Jeans und Polohemd statt des englischen Edelzwirns. Dann war er bereit für einen „stinknormalen“ Ausflug.
Sekunden später öffnete ihm ein strahlendes Nachbarmädchen die Tür zu ihrer Wohnung. Johann hatte Jen noch nie so ausgelassen und quirlig erlebt. Sie tänzelte um ihn herum, klimperte mit ihren Augen und klatschte vor Aufregung in die Hände. Zwischendurch eilte sie immer wieder auf den Balkon, um zu sehen, ob der Himmel immer noch so strahlend blau war wie vor einer Minute und ob auch wirklich keine Regenwolken ihren Ausflug bedrohen würden.
Irgendwoher hatte sie außerdem einen stilechten Picknickkorb organisiert. Wenn sie doch einmal stillstand, hob sie einen der beiden Deckel, linste hinein und tat dabei sehr geheimnisvoll.
Ob als Wetterfee oder Picknickkorb-Behüterin – Johann konnte kaum die Augen von ihr abwenden. Zwischen der blonden Haarmähne schimmerten wieder ihre goldenen Kreolen hindurch. Zur hellblauen Jeans – weit ausgestellt im 70er-Jahre-Look – trug sie ein pinkfarbenes Top. Oben zierten es drei wellenförmige Linien aus glitzernden Strass-Steinchen, unten schmückte es – da kurz geschnitten – die Ansicht ihres Bauchnabels inklusive eines exquisiten Streifens zarter Schmetterlingsmädchen-Haut rechts und links davon. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihn dieser Anblick schon bei ihrer allerersten Begegnung entzückt hatte, als sie ebenfalls ein bauchfreies Oberteil getragen hatte. Die Wirkung hatte in keinster Weise nachgelassen, stellte er fest.
„Du siehst umwerfend aus“, erklärte er bewundernd.
„Blond, blau und rosé gehen immer“, antwortete sie in koketter Bescheidenheit.
„Darf ich auch etwas sagen? Darf ich etwas sagen, Herr Gutenberg?“, platzte es im nächsten Augenblick aus ihr heraus.
Er musste lachen und erklärte, dass er die Sprech-Regeln für heute, während ihres Ausflugs, aufheben würde. Sie erzählte, dass sie leider noch tanken müsse und dass er sich überhaupt keine Sorgen wegen ihres Autos machen solle. Der Twingo sei zwar uralt und sehe furchtbar klapprig aus, aber er würde sie schon sicher hin und wieder zurückbringen.
„Oh, wir werden meinen Wagen nehmen. Ich habe mir inzwischen auch einen zugelegt“, antwortete er. Jen runzelte die Stirn: „Der Chauffeur wird doch nicht mitkommen?“, fragte sie.
„Er würde uns sicherlich viel gekonnter durch die Gegend kutschieren als ich, aber zu einem ‚stinknormalen’ Strandausflug passt einfach kein Chauffeur. Oder was meinst du?“
„Nein, Johann Gutenberg, zu einem ‚stinknormalen’ Ausflug gehören nur wir beide und allenfalls ein Picknickkorb“, antwortete sie lächelnd. Schnell – als hätte sie Angst, dass Johann doch noch den Chauffeur bestellen würde – schlüpfte sie in ein Paar hellgraue Sneakers. Dann war sie abmarschbereit und wenig später standen sie vor seinem Porsche Cayenne.
„Das ist wirklich deiner?“
Jen flüsterte fast vor Aufregung und Johann grinste stolz, auch wenn er sich ein bisschen albern dabei vorkam. Zwar hatte er den Wagen ursprünglich genau zu diesem Zweck erworben. Er wollte Jen imponieren. Aber seitdem waren tausend Dinge geschehen und jetzt kam ihm diese Aktion beinahe kindisch vor. Trotzdem: Ihre Bewunderung gefiel ihm.
Sie standen links neben der mächtigen schwarzen Motorhaube und Jen ließ ihre Hand fast andächtig über der Porsche-typischen Rundung über dem Scheinwerfer schweben.
„Eine Sonderlackierung?“, fragte sie und berührte vorsichtig mit den Fingerspitzen den Lack.
„Hände weg!“, zischte er sie im gleichen Augenblick böse an. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und verschränkte sie wie ein kleines Mädchen schnell hinter ihrem Rücken. Johann grinste und Jen zog einen Schollmund, als sie begriff, dass er sich nur über sie lustig gemacht hatte.
„Ich dachte, Frauen interessieren sich nicht für Autos?“, fragte er immer noch breit grinsend.
„Aber es ist ein Porsche.“
„Du bist ja ein richtiges Luxusgirl.“
„Es ist ein Porsche“, beharrte sie. „Mein Bruder wollte immer bei denen arbeiten. Er wollte sich im Porsche-Werk in Leipzig bewerben. Als KFZ-Mechaniker. Er hatte selbst einen alten 911er. Er hat ihn geliebt. Und er war vollkommen fertig, als er ihn verkaufen musste.“
„Du hast einen Bruder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Hatte“, verbesserte sie ihn. Überrascht sah er, dass sie plötzlich ernst war.
„Können wir über etwas anderes reden?“, fragte sie vorsichtig.
Er nickte. „Natürlich, komm, steig ein.“
Keiner von beiden sprach, während sie durch die Stadt fuhren. Erst als Johann auf die Autobahn A1 in Richtung Lübeck einbog, schien der seidenweich dahingleitende Cayenne nicht nur die Stadtgrenze hinter sich zu lassen, sondern auch Jens getrübte Stimmung.
„Der Wagen fährt bestimmt noch schneller“, erklärte sie mit einem herausfordernden Blick auf den Tacho. Die Nadel zeigte 150 Stundenkilometer an.
„Sogar viel schneller, aber ich habe schließlich kostbare Fracht an Bord.“
Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu und sah, dass sie zufrieden grinste. Das Kompliment hatte ihr gefallen. Dann blickte sie wieder ernst drein und schließlich begann sie, zu seiner Überraschung, doch von ihrem Bruder zu reden: „Er war… Dennis war… Weißt du, mein Bruder war fast sechs Jahre älter als ich und wie ein Vater für mich. Eigentlich sogar auch wie eine Mutter.“
Sie schwieg und schaute nach draußen, aber er wusste, dass sie nicht auf Windräder, Maisfelder und schwarzbunten Kühe sah. Sie blickte in die Vergangenheit zurück.
„Wir hatten keine besonders gute Mutter“, erzählte sie weiter. „Sie hat getrunken und sich kaum um uns gekümmert. Das Sozialamt war immer kurz davor, uns Kinder meiner Mutter wegzunehmen. Irgendwie hat sie dann doch jedes Mal die Kurve gekriegt und die treusorgende Mom gegeben. Ja, einem etwas vormachen – das kann sie gut. Auch heute noch. Wenn ich sie manchmal besuche – sie wohnt jetzt in Berlin – dann können wir uns sogar beide etwas vormachen. Zum Beispiel, dass sie eine passable Mutter war. Dass alles nur passiert ist, weil sie riesiges Pech hatte, und natürlich haben immer die anderen Leute Schuld.“
Jen lachte, aber es klang nicht fröhlich
„Was war mit eurem Vater?“, fragte Johann.
„Es waren zwei. Dennis und ich sind von verschiedenen Vätern, aber wir haben sie nie kennengelernt. Meine Mutter hat sich zweimal schwängern lassen. Wahrscheinlich im Suff und das war’s. Die Typen wollten dann nichts mehr mit ihr zu tun haben. Das ist so typisch. Was meine Mutter auch macht, sie kriegt nichts auf die Reihe. Dennis, mein Bruder, war ganz anders. Anders als Mom und anders als ich, seine dumme kleine Schwester. Ich bin meiner Mutter so schrecklich ähnlich. Manchmal bin ich mir sicher, dass ich alle ihre schlechten Eigenschaften geerbt habe. Es ist fast wie ein Zwang. All das, was ich an ihr hasse, muss ich irgendwie selber tun. Manchmal stelle ich mir eine Gehirnoperation vor. Alles, was meiner Mutter ähnlich ist, wird aus meinem Kopf geschnitten, und wenn dann nur noch Leere bleibt, ist mir das auch egal. “
Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. Zuletzt hatte ihre Stimme zornig geklungen. Jetzt redete sie sanfter weiter:
„Möchtest du das wirklich hören?“, fragte sie. „Es so dumm, so schwach, so asozial.“
„Bitte, Jen, rede weiter.“
„Mein Bruder war anders. Er war klug und verlässlich und lieb… und so furchtbar ernst. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals lachen gesehen zu haben. Das ist schrecklich, Johann. Kannst du dir das vorstellen? Nicht ein Mal.“
Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Dann fuhr sie fort: „Er war fast sechs Jahre älter als ich und seit ich mich erinnern kann, hat er sich um mich gekümmert. Immer dann, wenn Mom betrunken war, wenn sie einen neuen Lover hatte, oder wenn sie einfach keinen Bock auf uns hatte. Das kam oft vor. Aber dann war Dennis da. Ein Zwölfjähriger, der mit seinen Freunden Fußball spielen sollte und stattdessen Tag für Tag versucht, seiner faulen Schwester die Hausaufgaben einzutrichtern. Ein Sechzehnjähriger, der nächtelang bei seiner elfjährigen Schwester wacht, weil sie Angst hat, allein zu sein.“
Zögernd redete sie weiter. Wie oft mochte sie schon jemandem davon erzählt haben? Johann glaubte zu spüren, dass sie es noch nicht oft getan hatte.
„Ich habe genommen und genommen, was er mir an Liebe und Fürsorge geben konnte. Dann war ich irgendwann selbst sechzehn und alles wurde nur noch schlimmer. Als er seinen Porsche verkauft hat, war es, um meine Schulden zu bezahlen. Ich bin ohne Führerschein Auto gefahren und habe einen Unfall gebaut. Ausgerechnet mit dem Wagen von irgendwelchen Unterwelt-Typen. Die sind gar nicht erst zur Polizei. Die hätten wer weiß was mit mir angestellt. Dennis hat mich da rausgeholt. Um mich auszulösen, musste er den 911er verkaufen. Er hat’s getan und ich glaube, diese Geschichte hat ihm das Herz gebrochen. Wahrscheinlich war der Verlust des Autos gar nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war es für ihn, zu sehen, dass ich unserer Mom immer ähnlicher wurde. Nach der Geschichte mit dem Auto war ich allerdings eine Weile ziemlich brav. Ich habe fleißig in der Schule gelernt, mich von den Typen ferngehalten und ebenso von Alkohol und dem ganzen anderen Zeugs. Zwei Jahre lang war alles gut. Dann fing es wieder an. Die falsche Clique, tausenderlei Versuchungen und eine schrecklich eingebildete Achtzehnjährige, die sich für nichts außer sich selbst interessierte. Ich war ein böses Mädchen, Johann“
„Was ist dann passiert? Wie ist er gestorben?“, fragte er.
„Er ist mit seinem Wagen gegen einen Baum gerast. Getrunken hatte er auch. Für alle Welt war das natürlich ein Unfall, aber ich weiß, dass es nicht so war. Er war kurz vorher bei mir gewesen. Er hat von meiner Zukunft geredet. Dass ich mich ändern sollte. Wieder zur Schule gehen. Einen Beruf lernen.“
Sie schwieg und Johan spürte, dass sie Kraft sammelte, um preiszugeben, was sie besonders belastete. Schließlich sagte sie: „Er hat sich von mir verabschiedet. Und ich habe es nicht einmal gemerkt. Ich war nur genervt von seinen Ermahnungen und am Ende war ich froh, als er ging.“
Johann sah, dass Jen ihm einen bittenden, fast flehenden Blick zuwarf, dann sagte sie: „Ich habe viel zu büßen. Nicht nur einen hundsgemeinen Scherz über jemanden, der mal gestottert hat. Also tu dir keinen Zwang an mit mir.“
Johann zögerte. Sollte er jetzt etwas Mitleidiges sagen? Irgendwelche Gründe anführen, die sie entlasteten und alles halb so schlimm erscheinen ließen? Sie hatte getan, was sie getan hatte, und das war böse. Es war grausam und selbstsüchtig. Oh ja, er kannte sich aus mit der Schuld und dem Gefühl, Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. Und er wusste ebenso, wie man Buße tat – mit jeder Faser seines Körpers, Tag und Nacht. Jahrelang. Sie war eindeutig an den Richtigen geraten, wenn sie für ihre Verfehlungen büßen wollte.
Wenn sie nur nicht so unendlich traurig geschaut hätte. Dem Schmerz in ihren Augen ließ sich nicht das Geringste abgewinnen. Da konnte man noch so sehr auf BDSM stehen.
„Wenn du so mies wärst, wie du glaubst, würdest du dich niemals so sehr um Luna kümmern“, erklärte er schließlich.
„Ach, das.“ Sie schüttelte verächtlich den Kopf.
„Du gehst mindestens zweimal in der Woche für sie einkaufen. Wenn es ihr richtig schlecht geht, schläfst du bei ihr unten. Einmal hat sie eine Woche lang bei dir oben gewohnt und du hast in dieser Zeit ihre Wohnung gestrichen. Pulitza hat es mir erzählt. “
„Was du alles weißt! Du bist ja ein richtiger Stalker, Johann Gutendorf! Außerdem gehe ich meist nur einmal pro Woche für sie einkaufen.“
„Lenk jetzt nicht ab, Fräulein. Ich habe gesehen, wie sie strahlt, wenn sie dir die Tür aufmacht, und ich habe sie schon so oft anders erlebt – traurig, ängstlich, verwirrt.“
Jen nickte mitfühlend.
„Sie ist wirklich übel dran. Kannst du dir das vorstellen, niemals das Haus zu verlassen? Immer in Furcht zu leben? Sie hat tausend Phobien. So kommt es mir jedenfalls vor. Wenn eine geht, kommt eine andere. Die arme Maus. Die Sache, als ich ihre Wohnung gestrichen habe, war besonders schlimm“, sagte sie.
Johann sah sie fragend an.
„Sie hatte Handwerker in der Wohnung, irgendwelche groben Kerle, die Heizkörper bei ihr ausgetauscht haben. Unser toller Hausmeister hatte sie engagiert.“
„Was haben sie getan?“, wollte Johann wissen. Er spürte, wie er zornig wurde. Luna in all ihrer Verletzlichkeit Böses zuzufügen, war einfach nicht in Ordnung. Grollend erklärte er: „Ich kann Pulitza zur Rede stellen. Ich kann noch ganz andere Sachen mit ihm machen. Ich bin sein Chef.“
Jen schüttelte den Kopf.
„Eigentlich haben sie nichts getan, aber sie haben natürlich gespürt, dass mit Luna etwas nicht stimmt. Sie hat Angst vor Männern, oder genauer gesagt vor Männerhänden, musst du wissen. Das ist eine ihre Phobien. Vielleicht sogar ihre schlimmste. In der Vergangenheit ist ihr irgendetwas passiert, aber da redet sie nicht drüber.“
Johann nickte unwillkürlich. Jetzt verstand er, warum das Mädchen auf Abstand ging, wenn sie miteinander sprachen. Eigentlich war es ja auch gar nicht unklug, sich vor dem männlichen Teil der Menschheit in Acht zu nehmen. Schlimme Dinge hatten die Herren der Schöpfung im Sinn – besonders, wenn sie sich mit kongolesisch-belgischen Hexenmeistern einließen. Er schüttelte den Gedanken rasch ab und konzentrierte sich wieder auf Jens Bericht. Sie erzählte: „Als die beiden Monteure anrückten, ist Luna auf ihren Balkon ausgewichen. Das Ganze muss eine ziemlich schräge Geschichte gewesen sein, aber für Luna war es entsetzlich. Da hatte sie diese fremden Typen in ihrer eigenen Wohnung, ihrem einzigen Zufluchtsort, während sie auf dem Balkon stand und vor Angst kaum ein Wort herausgebracht hat. Sie hat sogar die Tür zum Balkon von außen zugedrückt und einen Stuhl dagegengestellt.“
„Haben die Männer sich nicht angemeldet?“, fragte Johann.
„Doch, aber Luna dachte, dass sie das Ganze durchstehen könnte. Es sollte so etwas wie eine Übung sein. Sie hat sogar ausführlich mit ihrer Psychologin darüber gesprochen und vorher irgendwelche Beruhigungsmittel genommen. Aber als die beiden Typen dann da waren, hat es alles nichts genützt. Da gibt es nämlich noch so ein schräges Ding. Luna glaubt fest an Zauberei und diesen ganzen okkulten Kram. Wahrscheinlich steht sie deswegen auch so auf die Gothic-Szene. Jedenfalls ist sie überzeugt, dass sie manchmal die Aura eines Menschen sehen kann. Das muss man sich so wie eine wabernde Wolke rund um den Kopf eines Menschen vorstellen. So hat sie es mir beschrieben. Bei den beiden Typen wäre das alles grau, schwarz und giftgrün gewesen. Wie Schimmelfäden, die um sie herumwaberten. Das wären die bösen und schlechten Gedanken der beiden gewesen.“
„Schlechte Gedanken?“, fragte Johann etwas ratlos.
„Ich glaube, die beiden waren einfach nur zwei richtig unsympathische Kerle. Aber Luna ist das ganze Auren-Zeug einfach nicht auszureden. Sie beharrt darauf, dass sie manchmal so etwas sieht.“
Jen schüttelte ungläubig den Kopf über so viel Aberglauben. Johann war da weniger skeptisch. Wenn es einen Menschen wie Pelletier gab, mochte es auch genauso gut jemanden geben, der Auren wahrnahm.
„Wie ging es weiter?“, wollte er wissen.
„Miese Schweine waren die beiden Kerle auf jeden Fall“, erklärte Jen erzürnt. „Während Luna auf den Balkon stand und zugeschaut hat, haben sich die beiden benommen, als würde die Wohnung ihnen gehören. Irgendwie müssen sie gemerkt haben, dass es Luna furchtbar fand, wenn sie Dinge in der Wohnung berührten. Vielleicht ist es ihnen noch nicht einmal bewusst geworden, aber sie haben alles befingert und betatscht. Luna hat es mir später erzählt.“
„Ich werde Pulitza anweisen, diese Firma nie wieder zu beauftragen. Diese Typen hätten sofort verschwinden müssen, als sie gesehen haben, dass mit dem Mädchen was nicht in Ordnung war“, knurrte Johann.
„Irgendwann sind sie ja auch abgerückt. Aber als sich die beiden endlich verpisst haben, konnte Luna nicht mehr in die Wohnung zurück. Sie behauptet, dass dieser eklige Auren-Schimmel nun überall zu sehen war. Auf allem, was die Männer berührt hatten, würde er haften. Ziemlich gruselig, diese Vorstellung, nicht?“
Johann sah, wie Jen schauderte, dann erzählte sie weiter: „Als ich abends von der Arbeit gekommen bin, habe ich Luna auf dem Balkon stehen sehen. Ganz in der rechten Ecke, wo es relativ windgeschützt ist. Sie hat praktisch den ganzen Tag dort zugebracht. Im März! Es war richtig kalt. Nicht einmal eine Jacke hatte sie an. Ich bin natürlich sofort in ihre Wohnung. Ich habe ja einen Schlüssel. Sie war schrecklich durchgefroren und wollte gar nicht mehr aufhören zu zittern. Vom Balkon konnte ich sie zuerst trotzdem nicht herunterlotsen. Dann habe ich den ganzen Weg zwischen Balkon und Haustür mit Plastikfolie ausgelegt. Darüber habe ich sie hinausgeführt und erstmal in meiner Wohnung untergebracht. Sie war überzeugt, dass sie nie wieder zurückkönnte. Aber ich habe mich einfach solange mit ihr unterhalten, bis wir geklärt hatten, wie wir alles wieder bewohnbar machen. Ich bin zum Baumarkt und habe jede Menge Putzmittel gekauft und natürlich die weiße Farbe. Als Nächstes…“
Sie warf Johann einen raschen Blick zu. „Du darfst jetzt nicht lachen, ich habe das alles für Luna getan“, erklärte sie etwas verlegen und fuhr fort: „Als Nächstes bin ich zu dieser Frau auf St. Pauli gefahren. Luna hat mir die Adresse genannt und gesagt, dass sie eine Art Hexe wäre, aber eine, die nur Gutes tue. – Na ja, da ich bin mir da nicht so sicher. Sie wohnte im Kellergeschoss eines ziemlich heruntergekommenen Altbaus. Eine richtige Hexenhöhle war das. Mit all dem Zeug, was man so erwartet. Ausgestopfte Vögel, ’ne Glaskugel, tote Tiere in Alkohol und jede Menge schwarzer Katzen. Die Frau sah aus wie ’ne Zigeunerin, aber ich glaub, das war gar keine, jedenfalls hieß sie ganz normal – Ingrid Müller oder so. Aber du hättest sehen sollen, wie sie sich die Farbeimer vorgenommen hat. Jede Menge Hokuspokus hat sie drumherum gemacht, mit Räucherstäbchen, Trommelmusik vom Band und irgendeiner ziemlich streng riechenden Flüssigkeit, die sie darüber versprengt hat. All das sollte die Farbe...“, Jen machte Anführungszeichen in der Luft, die zeigen sollten, was sie selbst von der Sache hielt, „magisch aufladen, so dass sie alles Böse überdecken würde.“
Sie machte eine kleine Pause in ihrem Redefluss.
„Ein kleines bisschen hat sie ehrlich gesagt sogar mich überzeugt. Irgendwie hatte Lunas Schimmel-Gerede mich auch ganz wuschig gemacht. Ich habe mich sogar selbst ein bisschen geekelt und irgendwie gefürchtet in ihrer Wohnung. Aber zu sehen war natürlich nicht das Geringste. Die beiden Typen hatten höchstens ein bisschen Schmutz an ihren Schuhen hereingetragen. Am Ende habe ich jedenfalls trotzdem Wohnzimmer, Flur und Küche – im Schlafzimmer waren sie zum Glück nicht – gründlich übergestrichen. Die Möbel und alles andere habe ich ordentlich geschrubbt und mit allen möglichen Putzmitteln behandelt. Das Sofapolster hat ein bisschen drunter gelitten und ist jetzt an einigen Stellen ziemlich ausgebleicht durch das Putzmittel. Aber Luna meint, dass ihr die hellen Stellen nur zeigen, dass alles wieder in Ordnung ist.“
Jen sah Johann strahlend an.
„Du hättest sehen sollen, wie glücklich sie war, als sie wieder in ihre Wohnung zurückkonnte. Ich sei ihr Akte-X-Team und ihr Van Helsing, hat sie gesagt.“
„Van Helsing?“
„Van Helsing ist der Typ, der Dracula im Roman zur Strecke bringt. Auf solche Ideen kommt echt nur Luna. Sie ist einfach etwas ganz Besonderes. Sie kann so klug und witzig sein. Wenn es ihr gut geht, ist sie die aufmerksamste Zuhörerin, die ich kenne. Sie ist unglaublich einfühlsam.“
Jen machte eine Pause. Johann kurvte an diversen PKWs, Lastwagen und Wohnwagen-Gespannen vorbei. Dann fiel ihm auf, wie lange Jen schon geschwiegen hatte. Als er zu ihr herüberschaute, sah er, dass sie die Stirn runzelte. Alle Begeisterung war fort. Neben ihm hatte gerade, so schien es, wieder das traurigste Mädchen der Welt Platz genommen. Vielleicht verglich sie sich in Gedanken gerade mit Luna. Vielleicht dachte sie daran, wie wenig Aufmerksamkeit sie ihrem Bruder geschenkt hatte. Wie gedankenlos und grausam sie zu ihm gewesen war.
„Jen!“
Sie sah zu ihm hin.
„Was du für Luna tust ist großartig. Du bist ein hilfsbereiter, selbstloser und großzügiger Mensch.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Aber…“, begann sie.
„Ah, ah, keine Widerrede, Mädchen. Glaub mir einfach. Und das ist ein jetzt ein Befehl.“
Immer noch schauten sie sich an und irgendwie schien sie in seinem Blick zu erkennen, wie ernst es ihm mit dem war, was er gesagt hatte.
„Du bist einfach schrecklich, Johann Gutenberg“, erklärte sie schließlich mit zaghaftem Lächeln. „Und schau bitte wieder nach vorne auf die Fahrbahn. Du weißt doch – ‚kostbare Fracht‘.“
„Das tue ich nur, wenn dein nächstes Lächeln nicht so eine dürftige Angelegenheit wird wie das letzte.“
Eine Sekunde später schaute er selbst breit grinsend und wie gewünscht geradeaus. Eine Gruppe polnischer LKWs tauchte vor ihnen auf. Er ließ den Cayenne in mittlerer Geschwindigkeit daran vorbeiziehen, ebenso an einem gelben Postbus, der wahrscheinlich am nächsten Autobahnkreuz in Richtung Berlin abbiegen würde. Er fragte sich plötzlich, wie es wohl wäre, in so einem Bus zu sitzen und über allen Mitfahrern eine flimmernde Wolke zu sehen. Wenn jede Aura etwas über den Charakter der entsprechenden Person verriet, war das sicherlich nützlich, dennoch war die Vorstellung nicht angenehm. Im Übermaß mochte dieses Wissen ziemlich verstörend sein.
Ein anderer Gedanke kam ihm: „Ob Luna bei mir auch eine Aura sieht?“, wollte er wissen.
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, bereute er sie schon wieder. Wenn Luna tatsächlich diese Gabe hatte, war das, was um seinen Kopf herumflirrte, vielleicht genauso abstoßend wie bei den beiden Monteuren. Rasch blickte er zu Jen und sah erleichtert, dass sie ihn angrinste. Sie kicherte sogar ein bisschen, als sie erklärte: „Ich schätze mal, dass deine rosarot oder himmelblau ist. Luna steht nämlich auf dich.“
„Was?“
Jen schüttelte den Kopf über so viel männliche Ignoranz. „Ist dir nie aufgefallen, wie sie dich ansieht und wie gern sie mit dir spricht? Kaum hört sie deine Stimme im Treppenhaus, taucht sie auf.“
„Aber sie hat doch Angst vor Männern?“
„Vor dir anscheinend ein kleines bisschen weniger als vor den anderen. Jedenfalls hat sie mir gestanden, dass sie dich mag. Sie findet dein Lächeln total süß und deine strubbeligen Haare ebenso. Deine Augen seien süß, deine Ohren, dein Kinn und deine Nase irgendwie auch, hat sie gesagt.“
Jen machte eine Pause, um Luft zu holen.
„Süß. Süß. Süß – wenn die arme Maus wüsste, wen sie da anhimmelt, würde sie glatt einen Zuckerschock bekommen“, erklärte sie schnippisch. Irgendwie spürte Johann dann, dass sie noch mehr sagen wollte. Er drehte den Kopf und sah zu ihr hin. In einer kindlichen Geste hatte sie ihre Finger zu einer Faust geballt und hielt sie vor dem Mund, so als wäre da etwas, was ganz gegen ihren Willen unbedingt noch über ihre Lippen schlüpfen wollte. Er sah sie forschend an. Da platzte es aus ihr heraus: „Das Schlimme ist, dass sie mit diesem ganzen süßen Zeug über dich auch noch recht hat!“
Abrupt wandte sie den Kopf ab. Zarte Röte überzog ihre Wangen.
„Wenn du mich so ansiehst, plappere ich einfach das dümmste Zeug“, stieß sie hervor.
Wie unrecht sie damit hatte, dachte Johann. War es doch aus ihrem Mund einer der schönsten Sätze, den er jemals gehört hatte. Er trat das Gaspedal tief herunter. Die Abfahrt Bad Oldesloe hatten sie gerade hinter sich gelassen. Je weiter sie nach Norden kamen, desto weniger Autos waren unterwegs. Der schwere Cayenne bekam endlich den Platz, den er brauchte, um mit 500 Pferdestärken und zwei Tonnen Masse den Asphalt zu dominieren. 180 zeigte die Tachonadel, dann wanderte sie weiter. Es tat gut, Hamburg mit 200 Stundenkilometern und mehr hinter sich zu lassen. Nicht nur die Stadt blieb zurück, sondern auch ihr spezieller Bewohner. Jener Mann, der sich der Devotmacher nannte. Jener echte, wirkliche Hexenmeister, der sich anscheinend nicht im Geringsten um ein Menschenleben scherte, und der Johann dennoch und genau wie es in seinem Brief stand, „ein Dauer-Abonnement auf dem Erfolg, eine Flatrate zum Sieg“ beschert hatte.