18. Kapitel
Auf Opiumflügeln
Nicole, Karlin und Emilia waren seit einigen Stunden tot. Unnütz waren sie ihm geworden, seit er wusste, dass sie nicht schwanger waren und es wohl niemals werden würden. In seiner flimmernden und rätselhaften Optik hatte das Ultraschallgerät anscheinend nichts als Leere in ihren Bäuchen gezeigt. Ziemlich betreten hatten es ihm die beiden Ärzte gestanden. Sie hatten durchaus Grund, sich unwohl zu fühlen, denn sie waren die Ersten, die Luc Pelletiers Konsequenzen zu spüren bekamen. Mit eisiger Miene hatte er sie fortgeschickt. Wie auf Bestellung hatten sie gemeinsam den Rückweg im goldfarbenen Mercedes Coupé eines dieser eitlen Narren angetreten. Sie wollten zurück in ihre Praxis im Hamburger Stadtteil Klein Flottbek.
Luc Pelletier schwenkte das schwere Messingteleskop auf seinem dreibeinigen Ständer ein Stück nach links, nach Nordosten. Dorthin, wo hinter der Elbe und diversen Häuserzeilen Klein Flottbek lag. Das Teleskop stand auf einer Empore im Dachgeschoss seines Hauses an der Elbe. Dort hatte er damals auch Johann empfangen und ihm bei dieser Gelegenheit erzählt, was er aus dem leeren, riesigen Raum mache wollte.
Er hatte sich anders entschieden und keinen Spielplatz für lustvolle Vergnügungen daraus werden lassen. Dafür gab es in den anderen Stockwerken sowie auf den beiden Kellerebenen Platz genug. Die Dinge liefen prächtig und er konnte im großen Maßstab denken. Also hatte das gesamte Dachgeschoss zu seinem eigenen, ganz persönlichen Refugium gemacht. Hier umgab er sich mit all den Erinnerungsstücken und Kostbarkeiten, die ihm wichtig waren. An der Ostseite der Etage lag zudem jener spezielle Raum, in dem Pelletier die dunkelsten seiner Künste praktizierte. Er nannte ihn schlicht „das Kabinett“. Außer ihm hatte nur Darkness Zutritt. Es hatte sich gezeigt, dass selbst die härtesten seiner Anhänger schwer ertrugen, was sie im Kabinett zu sehen bekamen. Dennoch bekam der Raum des Öfteren „Gäste“ zu sehen. Wer ein Handwerk wie das seine betrieb, kam nun einmal nicht ohne rituelle Opfer aus. Von diesen bedauernswerten Kreaturen aber verließ keine lebend das Zimmer. Der angrenzende Fluss erwies sich als praktisch, um ihre sorgfältig zerstückelten Überreste zu entsorgen.
Luc Pelletier schwenkte das Teleskop über die nächtlich schwarzen Wassermassen der Elbe, die sich am Haus vorbeischoben und schließlich in die Nordsee strömen würden. Dann ließ er das kreisrunde Sichtfeld wieder zurück zum lebendigen und pulsierenden Häusermeer auf der anderen Flussseite wandern. Kurz fokussierte die Linse die Fensterfront einer Model-Agentur in Ottensen, dann die Schule für Sekretärinnen wenige Häuserblocks daneben. Alle Fenster waren dunkel. Dem Auge bot sich nichts von Interesse. Die Linse wanderte weiter.
In Altona fand sie schnell die Fensterfront einer Ballettschule im dritten Stock eines Altbaus direkt an der Elbe. „Ballettwerkstatt Number One“ stand in einem hellerleuchteten Schriftzug über den Fenstern. Eine kräftige Beleuchtung tauchte den Ballettsaal in gleißendes Licht. Gerade hüpfte und schwebte ein pinkfarbenes Trikot, getragen von schwarzbestrumpften Gazellenbeinen, quer durch den Saal. Ein kastanienbrauner Haarschopf flatterte wie eine kleine Fahne hinterher. Herrlich, wie weit das Mädchen die Beine spreizen konnte. Herrlich auch, mit welcher Leichtigkeit sich sein Körper in die schwierigsten Ballettfiguren bog. Wie würde er sich erst unter seinen fordernden Händen biegen und winden?
Er schaute des Öfteren dort hinüber, wenn er das Teleskop nutzte. Die staksige Unbeholfenheit der jungen Elevinnen fand er ebenso anregend wie die artistische Eleganz der Fortgeschrittenen. Auch der Anblick der wenigen bestrumpften Knaben, die dort ihre muskulösen Körper in Plié, Passé und Penché übten, erregte ihn durchaus. Beim Betrachten der „Ballettwerkstatt Number One“ war ihm auch die Idee gekommen, seine vier Bräute, Nicole, Karlin, Emilia und Jen, in schneeweiße Ballerinen-Kleider zu stecken. Bald würde er sich näher mit der „Ballettwerkstatt Number One“ beschäftigen. Vielleicht würde er mit diesen biegsamen, geschmeidigen Geschöpfen einen kleinen Wettbewerb um seine Gunst veranstalten. Ein Vortanzen um Leben, Sex und Tod.
Noch aber war die Zeit nicht gekommen. Es galt zunächst, seine Position in der Stadt weiter zu festigen. Tausenderlei Dinge waren noch zu erledigen. Pelletier richtete sich von seiner leicht nach vorn gebeugten Haltung hinter dem Teleskop auf und ließ seine Hand sanft über das polierte Messing des optischen Instruments gleiten. Das Gehäuse war alt und stammte aus der Zeit seiner Jugend, der Belle Époque, wie sie heute genannt wurde. Das Innenleben des Instruments aber entsprach dem neuesten Stand der Technik. Präzisionslinsen der Firma Zeiss ermöglichten eine bis zu 352-fache Vergrößerung des Erblickten.
Das Teleskop stand auf einer hölzernen Empore, die er vor einiger Zeit hatte einbauen lassen. Sie erhob sich direkt unter dem verglasten Teil des Dachs. Die Fensterfront reichte bis zum Boden der Empore herab. So bot sich von hier aus ein einzigartiger Anblick über weite Teile der Stadt. Pelletier schwenkte das Teleskop nach rechts, bis im Licht der Straßenlampen das asphaltgraue Band einer Autobahn zu erkennen war. Nur wenige hundert Meter weiter Richtung Norden war es passiert.
Natürlich waren die beiden Ärzte nie bis nach Klein Flottbek gekommen. Was mochten die beiden Idioten gedacht haben, als sich das Gaspedal ihres Wagens von selbst bis zum Anschlag heruntergedrückt hatte und sie von mehreren hundert PS gegen einen Brückenpfeiler am Autobahnzubringer katapultiert worden waren? Sofort tot waren sie nicht gewesen. Den Airbags sei Dank hatten ihre zertrümmerten Körper noch so viel Leben gehabt, dass sie die nächsten 30 Minuten recht intensiv mitbekamen. Während die Feuerwehrleute dabei gewesen waren, ihre Leiber aus dem Auto zu schweißen, hatten die beiden Stümper sicherlich seine letzten Grüße registriert.
Er war durchaus stolz auf diesen originellen Einfall und, mehr noch, auf die makellose Kunstfertigkeit, mit der er alles im Kabinett umgesetzt hatte. Kraft seiner Magie hatte er im Beton des Brückenpfeilers zahllose deutliche Abdrücke seiner sechsfingrigen Hand hinterlassen. So viele, dass es die beiden Schwerverletzten in jedem Fall sehen mussten. Wachsweich hatte der Beton unter seinen Händen nachgeben. Die körnige Konsistenz konnte er immer noch auf seinen prickelnden Handflächen spüren. Er war dort und doch nicht dort gewesen. Eine dreiste Verhöhnung aller Naturgesetze, die sich nur denken ließen. Es war großartig gewesen.
Pelletier wandte sich vom Teleskop ab und ging zu dem zierlichen Art-Nouveau-Tischchen aus Nussbaum herüber, auf dem sein Diener vor einigen Minuten den Tee abgestellt hatte. Daneben stand ein opulenter Sessel, in den er sich nun gleiten ließ. Der schwache Zimtgeruch des Tees stieg ihm in die Nase. Er nippte an der Flüssigkeit in der zierlichen Porzellan-Tasse. Ein chinesischer Geschäftspartner – im An- und Verkauf von Blutdiamanten ebenso versiert wie im Frauenhandel – hatte ihm vor Jahrzehnten in Kinshasa diese Art gezeigt, Opium zu konsumieren: Als Tee und mit einer kräftigen Prise Zimt, die den bitteren Geschmack des Rauschmittels milderte. Mit den Jahren hatte er immer mehr Gefallen an der Bitterkeit gefunden und immer weniger Zimt hinzufügen lassen.
Den Opiumgenuss mittels Pfeife hatte er schon etliche Jahre früher für sich entdeckt. „Die braune Fee“ wurde das Rauschmittel aus den Samenkapseln des Schlafmohns auch genannt. Einerseits wegen seiner gelblich-braunen Farbe im Rohzustand und andererseits, weil es feenhafte Zustände herbeizauberte. Pelletier lächelte. Der große Hexenmeister und die magische Opium-Fee – wenn das nicht eine standesgemäße Liaison war.
Er führte die Tasse wieder zu den Lippen und nahm diesmal einen größeren Schluck. Seine Leute hier in Hamburg – es waren vorwiegend Schwarzafrikaner und Rumänen – verstanden sich inzwischen gut darauf, ihm den Tee so zuzubereiten, wie er es schätzte. Er erlaubte sich noch ein dünnes Lächeln. Luc Pelletier konnte ein sehr motivierender Arbeitgeber sein. Versagen war jedenfalls keine Option für jemanden, der in seinen Diensten stand. Er dachte wieder an die verunglückten Ärzte. Die beiden hatten tatsächlich bis ins Krankenhaus durchgehalten. Aus dem OP-Saal allerdings waren sie nicht mehr lebend herausgekommen.
Schade war es nicht um sie. Ärzte, die bereit waren, ihm zu dienen, gab es genug. Es gab immer Ärzte – egal auf welchem Kontinent. Pelletier ließ sich noch etwas tiefer in das weiche Polster des Sessels sinken. Er fühlte, wie seine Atmung mit zunehmendem Opium-Genuss langsamer und tiefer wurde. Er spürte jetzt noch viel mehr. Mit jedem Atemzug flutete elektrisierender, wunderbar prickelnder Sauerstoff seine Lungen. Das Blut transportierte ihn weiter. Ein kraftvolles Herz pumpte ihn durch seinen Körper. Er meinte, jeden Herzschlag bis in die Haarwurzeln zu spüren.
Offensichtlich hatte ihn seine Gefährtin, die Opium-Fee, jetzt bei der Hand genommen. Gemeinsam erkundeten sie den einzigartigen und unvergleichlichen Körper des Luc Pelletier. Sie bestaunten die Muskeln eines Löwen, die Knochen eines Elefanten, die Sehnen einer Antilope und zwei sechsfingrige Hände, die den Kiefern eines Krokodils gleich zupacken konnten.
Aber nicht jetzt und nicht hier. Es war Zeit, sich zu entspannen und abzuwarten, was ihm die braune Fee noch bescheren würde. Vielleicht eine weitere Vision? Sie würde ihm willkommen sein.
Pelletier ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Sein Blick fiel auf das Art-Nouveau-Tischchen mit seinen verspielten Arabesken, die sich das mittlere Tischbein hochwanden. Einst hatte Leopold II, sein hochverehrter belgischer König, beide Möbelstücke besessen. Es gab ein Gemälde, das den Herrscher in diesem Sessel sitzend zeigte. Es hing im Königlichen Museum der Schönen Künste in Brüssel. Auf dem Bild stand neben dem Sessel, genau dort, wo auch Pelletier ihn platziert hatte, der zierliche Beistelltisch. Der Monarch in blauer Paradeuniform hatte auf dem Gemälde seine Beine auf geradezu feminine Weise übereinander geschlagen und schaute den Betrachter unter halbgesenkten Lidern schläfrig an. Der gelangweilte Herrscher eines unbedeutenden Landes.
Aber nichts da! Leo der Zweite war ein großer König gewesen, und wie alle von Pelletier verehrten Herrscher auch ein Großmeister des Todes. Zehn Millionen Schwarzafrikaner waren nach seriösen Schätzungen im Kongo gestorben, um das kleine Belgien reich zu machen. Der König hatte den Gewinn aus dem Kautschukhandel unter anderem in prächtige Staatsbauten investiert. Für exquisite Möbel war natürlich ebenfalls alles Geld der Welt dagewesen.
Ein Strohmann hatte das königliche Gestühl nebst Tisch vor kurzem für Pelletier auf einer Auktion in Brüssel erworben. Spielerisch setzte er sich so hin, wie es der Monarch auf dem Gemälde tat. Was mochte Leopold wohl bezweckt haben mit diesem Bild? Hatte er sich über all die säbelrasselnden, stocksteifen Engländer, Franzosen und Deutschen um ihn herum lustig gemacht? Er war klüger, staatsmännischer und skrupelloser gewesen als sie alle zusammen.
Pelletier verdankte ihm alles. In Leopolds Staatswesen war er in wenigen Jahren vom diebischen Straßenjungen in Gent zum hochrangigen Verwaltungsbeamten im fernen Afrika aufgestiegen. Ja, er war sogar zeitweise als Generalgouverneur des Kongo-Freistaats im Gespräch gewesen.
Natürlich halfen seine Talente. Niemand konnte den Abnehmern in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, so viel Rohkautschuk liefern wie er, denn niemand verstand es, unter den einheimischen Zwangsarbeitern so viel Terror zu verbreiten. In namenloser Furcht quälten sich die armen Teufel, um auch noch die unmenschlichste Kautschuk-Quote zu erfüllen. Sie hatten schnell gespürt, dass er anders als die anderen Weißen war. Er schindete sie nicht aus kühler Profitgier. Er tat es, weil es ihm Vergnügen bereitete.
Nur gegen das Virus, das man heute Ebola nannte, halfen weder Nilpferdpeitsche noch Buschmesser. Seine beiden jungen Söhne und seine Frau nahm ihm die Krankheit, und ihr Sterben war schrecklich. Auch ihn verschonte das Virus nicht. Sein damaliger Leibdiener bat darum, einen Medizinmann herbeirufen zu dürfen. Er sei ein großer Zauberer, der weit über 200 Jahre alt wäre und noch ein Afrika ohne Weiße erlebt habe, hörte Pelletier ihn sagen, als er zwischen Magenkrämpfen und Fieberschüben einen halbwegs klaren Moment hatte.
Weil er wusste, dass er ohnehin sterben würde, gab er sein Einverständnis. Dann kam der Heiler, und er sah jünger aus als Pelletier selbst. Aber seine Kräfte waren über alle Maßen erstaunlich. Er führte den sterbenden Pelletier binnen einer Woche ins Leben zurück.
Danach ergab sich alles beinahe wie von selbst. Pelletier wurde zum Schüler seines Retters. Gierig sog er das Wissen des Zauberers auf. Der Verlust von Frau und Kindern hatte ihn voller Zorn und Bitterkeit zurückgelassen. Sie waren die einzigen Menschen gewesen, denen er niemals mit Grausamkeit begegnet war. Und doch hatte das Schicksal sie ihm genommen. Nun eignete er sich die Fähigkeit an, auch das Schicksal seinem Willen zu beugen. Jede Skepsis gegenüber den magischen Künsten seines Lehrmeisters verflog schnell, denn Alesh, so nannte sich der Zauberer, beherrschte Dinge, die sich nie und nimmer auf natürliche Art erklären ließen. Wie hätte er sonst einen ganzen Fluss rückwärtsfließen lassen können, ein Löwenrudel dazu veranlassen, ein Antilopen-Kälbchen aufzuziehen, oder einen sterbenden weißen Mann von einer der tödlichsten Krankheiten Afrikas heilen können?
All das und noch mehr wollte Pelletier auch zu tun vermögen. Mit europäischer Gründlichkeit eignete er sich die dunkelsten Geheimnisse Afrikas an. Zudem zeigte sich, dass er große Begabung für die magischen Künste besaß. Vielleicht floss in ihm das Blut keltischer Druiden, jedenfalls war er bald zu Dingen fähig, die selbst Alesh überraschten, ja, sogar erschreckten.
Sie hatten ein seltsames Verhältnis zueinander. Der einheimische Zauberer verabscheute Pelletier und alles, wofür er als belgischer Kolonialherr stand. Dennoch hatte er ihn als Schüler akzeptiert, denn es war ihm vorhergesagt worden. Eine berühmte Seherin aus dem Volke der Tutsi hatte ihm vor vielen Jahren prophezeit, dass er irgendwann einen einzigartigen Meisterschüler haben würde. Ausgestattet mit Aleshs Wissen würde dieser Mann den Weißen all das Unheil zurückgeben, das sie über den Kongo gebracht hatten.
Ja, dieser zukünftige Zauberer würde sie sogar bis in ihre eigene kalte Heimat verfolgen. Die Seherin hatte ihm auch erklärt, woran er seinen vorherbestimmten Schüler erkennen würde. „Schau nicht auf die Farbe seiner Haut, sondern auf seine Hände“, hatte sie ihm gesagt. Eine Prophezeiung, die Alesh, ohne dass er wusste warum, stets mit Furcht erfüllt hatte. Dann, als er viele Jahre später am Krankenbett des weißen Mannes stand, hatte ein Blick auf dessen sechsfingrige Hände genügt, um zu sehen, dass sich die Prophezeiung nun erfüllen würde.
Also nahm Alesh den Weißen als seinen Schüler an. Aber wie anders war ihre Beziehung, als er es sich vorgestellt hatte. Der Schüler ließ den Lehrer schaudern und beben. Mit jeder Lektion, die Alesh Pelletier lehrte, wurde offenbar, dass er aus einem kleinen Teufel einen großen machte. So vergingen die Monate und schließlich stand das Ritual an, das Pelletier ebenso wie Alesh ewiges Leben garantieren würde. Die Überlieferung besagte, dass es aus einem Land am Nil stammte. In einer fernen Zeit, als die Menschheit noch jung und ihre Verbindungen zur Geisterwelt stark waren, hatte es eine kleine Gruppe von Priestern zum ersten Mal gewagt, das Ritual durchzuführen.
So hatte es Aleshs eigener Lehrer berichtet, und dieser hatte es wiederum aus dem Munde seines Meisters erfahren. Ins Land am Kongofluss war das Ritual gekommen, als die Priester aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie waren ihrem Herrscher, der im Land am Nil Pharao hieß, zu mächtig geworden, und so wanderten sie weit fort, um ein Volk zu finden, das sie aufnahm und ihre Gabe zu schätzen wusste. Am Kongofluss fanden sie es und sie teilten mit den Menschen ihrer neuen Heimat bald auch das Wissen um das Ritual.
Es war kompliziert und gefährlich. Mehrere erschöpfende Tage dauerte es an. Wer es an Körper und Geist unversehrt überstand, bekam allerdings eine wundersame Gabe: Er konnte ewig leben. Um stark und bei Kräften zu bleiben, brauchte er fortan allerdings mehr als nur die Luft zum Atmen, mehr als nur Essen und Trinken. Er wurde gierig und hungrig nach etwas, das ihm nur andere Menschen geben konnten: Er hungerte nach ihren Gefühlen. Das war ein wundersames Ding, aber Alesh liebte es von Anfang an. Sie waren ja nicht nur Zauberer, sondern vor allem Heiler. Die Menschen, die er von ihren Krankheiten befreite, gaben ihm das, was er brauchte. Wie Pflanzen im Licht sonnten sich die Unsterblichen im Glück ihrer Mitmenschen. Wer kannte nicht den seligen Ausdruck in den Augen eines Genesenden, wenn die Schmerzen auf dem Rückzug waren und sich eine neue lebenswerte Zukunft für ihn auftat. Für Alesh kamen diese Augenblicke einem Festmahl gleich. Wunderbar gesättigt und gestärkt ließen sie ihn zurück. Blieb das Gefühl über längere Zeit aus, fühlte er sich dagegen schwach und alt. Das aber kam so gut wie niemals vor, denn Aleshs Fähigkeiten waren im ganzen Land gefragt.
Bei Pelletier aber war alles auf entsetzliche Art anders. Zunächst einmal vollzog er das Ritual ohne die Hilfe seines Meisters. Das hatte bislang niemand gewagt. Alesh nicht und alle seine Vorgänger ebenso wenig. Pelletier zog sich in ein abgelegenes Tal tief in den Ruwenzori-Bergen zurück. Mit sich führte er eine Reihe Mädchen und Knaben, die ihn fast wie einen Gott anbeteten. Man hörte und sah nie wieder etwas von ihnen.
Alesh mochte nicht daran denken, wie Pelletier das Ritual abgewandelt hatte, damit es so vollkommen anders wirkte. Denn als sein Schüler zurückkehrte – kraftstrotzend und zufrieden wie ein Löwe nach einer blutigen Mahlzeit –, zeigte sich schnell, wonach es dem neuen Unsterblichen hungerte. Um sich zu sättigen, verlangte es Luc Pelletier nach Schmerz, Wollust, Scham und Tod. Dem entsetzten Alesh erklärte er grinsend wie ein Lach-Dämon des Hutu-Volks, dass alles andere ihm entsetzlich langweilig vorkäme. Die Ewigkeit wolle er doch auf anregende und unterhaltsame Weise verbringen. Er hätte nun einmal schon von Natur aus gewisse Vorlieben.
So hatte Alesh nun offensichtlich jenes Geschöpf erschaffen, das Unheil über die Welt der Weißen bringen würde. Froh wurde Alesh darüber nicht. Düsterkeit und Selbsthass überkamen ihn. Sogar das zufriedene Glück der Genesenden konnte ihm seinen Lebensmut nicht wiederherstellen. Er rief zwei Geschöpfe herbei, um sein Dasein zu beenden. Eine Nashornviper und eine Schwarze Mamba versenkten ihre Zähne in seiner Halsschlagader.
Pelletier fand ihn sterbend, und weder er noch Alesh selbst waren willens, diesen Tod aufzuhalten. Mit seinen letzten Worten erzählte der Heiler von der Prophezeiung. Vielleicht wollte er Pelletier dadurch anspornen, möglichst rasch nach Europa zurückzukehren und seine Heimat zu verlassen.
Es war sicherlich barmherzig, dass der Zauberer nicht mehr erlebte, wie viele Jahrzehnte Pelletier noch im Kongo blieb. Er ließ sich Zeit, denn er wollte seine neuerworbenen Künste zunächst gründlich erproben. Noch war er ein tapsiger junger Löwe, der die Kraft seiner Krallen und Fangzähne erst kennenlernen musste. In den Ruwenzori-Bergen ließ er seinen Söhnen und seiner Frau ein Grabmal errichten. Es war der prächtigen, mittelalterlichen St.-Bavo-Kathedrale in seiner Heimatstadt Gent nachempfunden. Dort hatten sie sich das Ja-Wort gegeben – er und jenes berückend schöne Mädchen, das sich in den bitterarmen, dürren Jüngling mit dem unstillbaren Ehrgeiz verguckt hatte. Vielleicht hatte die Genter Schönheit damals schlicht und einfach erkannt, dass einzig ihre Zuwendung dem düsteren Charakter ihres Verehrers ein wenig Wärme und Güte verleihen konnte. Vielleicht hatte sie gespürt, dass die Welt mit ihr an Luc Pelletiers Seite ein bisschen weniger schlimm dran war.
Niemand außer Pelletier selbst durfte die Grabstätte seiner Frau und seiner beiden Kinder betreten. Hätte es doch jemand gewagt, wäre er überwältigt gewesen von der Pracht, die ihn empfing. Gold, Juwelen und Elfenbein schmückten den Innenraum. Christliche Symbole aber fehlten. Aller Zierrat war in seltsamen Mustern angeordnet. Noch seltsamer aber war ihre Wirkung. Denn sobald sich das Auge in den gewundenen Strukturen verlor, keimte im Betrachter eine unerklärliche, kaum zu ertragende Beklemmung auf. Eine Geometrie der Furcht, wie sie kein Mathematiker jemals ersonnen hatte. Dies war Zauberwerk, und es hielt sogar alle Arten von Tieren fern, die sich aus dem Dschungel hierher verirrten.
Wäre der wagemutige Eindringling trotzdem weiter vorgedrungen, hätte er am Kopfende des Raums, wo sonst in einer Kirche der Altar zu finden war, schließlich die Statue aus ägyptischem Rosengranit erblickt. Luc Pelletier selbst wachte hier über seine verstorbenen Angehörigen. Überaus naturgetreu war sie ihm nachempfunden. Zwei Dinge aber waren hinzugefügt. Sie sollten symbolisieren, was jetzt sein Wesen ausmachte. Als Zeichen des Übernatürlichen spreizte die Statue zwei mächtige, fledermausartige Schwingen, und als Zeichen des Bösen blitzten aus dem leicht geöffneten Mund zwei spitze, fingerlange Fangzähne hervor. Das schaurige Monument wirkte bestürzend lebensecht. Wie viel Leben wirklich in ihm schlummerte, hätte der unwillkommene Besucher dann als Nächstes erfahren, kurz bevor er – seine Neugier verfluchend – eines gewaltsamen Todes gestorben wäre.
Ein paar Gräber nahe dem Mausoleum kündeten von den Wenigen, die es tatsächlich betreten hatten. Sie waren auf der Rückseite des Gebäudes verscharrt, während auf der Vorderseite eine kurvige, baumbestandene Allee hinab zu Luc Pelletiers prächtigem neuem Anwesen führte. Er ließ es kurz nach Aleshs Tod errichten. Es wurde von Anfang an ein Bauwerk, in dem stets die neuesten technischen Errungenschaften der modernen Welt zu finden waren. Ein Palast, wie ihn niemand in dieser abgelegenen Wildnis erwartet hätte.
Dort erprobte Luc Pelletier sich in den Künsten, die Alesh ihn gelehrt hatte. Neue dunklere Magie kam hinzu, denn bald war sein Anwesen ein Treffpunkt für die gefürchtetsten Hexenmeister und Zauberer des schwarzen Kontinents. Sie alle brachten eigenes Wissen mit, das sich Pelletier im Austausch gegen seine Künste aneignete. Außerdem machte er sich dort in aller Ruhe mit den Bedürfnissen und Möglichkeiten seines verwandelten Körpers vertraut.
Schnell sprach sich herum, was für eine mächtige Person tief im Norden des Kongos herrschte. Häuptlinge, Warlords und Diktatoren mieden die Gegend entweder, oder sie baten ehrfürchtig und gegen enorme Summen um Pelletiers Unterstützung. So wechselten Diamanten, Elfenbein, Schürfkonzessionen und etliche Millionen Dollar unterschlagener Entwicklungshilfegelder den Besitzer. Ein Schwung Rohdiamanten von einer Bürgerkriegspartei aus Liberia war es auch gewesen, die Pelletier mit dem Edelsteinhändler aus China zusammengebracht hatte. Jener hatte ihm dann nicht nur den besten Preis für die Ware geboten, sondern ihm nebenbei auch gezeigt, wie man das Opium als Tee genoss.
Mit diesem Gedanken kehrte Pelletier in das Hamburg von hier und heute zurück. Er nahm die ziegelrote chinesische Zisha-Teekanne aus dem 16. Jahrhundert und schenkte sich mehr von der rotbraunen Flüssigkeit ein. Dann prostete er mit der vollen Porzellantasse einem imaginären Leopold II und einem ebenso eingebildeten Alesh zu. Wie verschieden die beiden doch waren, und wie sehr jeder auf seine Art sein Leben beeinflusst hatte.
„Santé, euch beiden“, erklärte er salbungsvoll ins Leere hinein und nahm noch einen zweiten und dritten Schluck. Jedes Mal nickte er den beiden erdachten Gesellschaftern majestätisch zu.
Wohlige Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Mit lässigem Bedauern dachte er nun an seine drei nunmehr verblichenen Bräute. Jetzt blieb nur noch Jen. Süße kleine, entzückende Jen. Natürlich wusste sie im Augenblick nichts vom Schicksal der anderen Bräute. Das hätte sie nur verwirrt.
Ihren Brief an Johann hatte er vor einigen Tagen mit großem Vergnügen gelesen. Wie viel Wahrheit und wie viel Angst vor der Peitsche in ihren Liebesbeteuerungen für den unnachahmlichen und einzigartigen Luc Pelletier steckte, das wusste sie wahrscheinlich selbst noch nicht einmal.
Etwas in ihm – die Opium-Fee? – widersprach. Er sei viel zu bescheiden sich selbst gegenüber. Jennifer Wagners Zeilen verströmten keinerlei Heuchelei. Das Mädchen gehörte ihm – nicht nur als Beute, sondern auch als Liebende. Auf jeden Fall war es très amusant, ihre glühenden Bekenntnisse für Mon Seigneur in den Händen ihres traurigen Verehrers in der Alsterdorfer Straße zu wissen. Oh ja, er war noch längst nicht fertig mit Gerrit Gutenbergs Sohn. Er hatte Pläne. Wieder einmal hatte ihn die Ballettschule dazu angeregt.
Was das Mädchen anbelangte, verstand er Johanns Liebesraserei gut. Die Hochhausschönheit mit den Schmetterlingsaugen war ein faszinierendes Geschöpf. Erstaunlich, wie lange sie ihm widerstanden hatte bei ihrem Zusammentreffen im verbotenen Raum und wie mutig es von ihr gewesen war, ihm die verrückte Sache mit dem Safeword vorzuschlagen. IHM!
„Mes compliments, Mademoiselle Wagner“ säuselte seine Saxophon-Stimme ins Leere hinein.
Sie würde eine prächtige Mutter seiner Kinder abgeben. Er konnte es kaum erwarten, sie zu besteigen und mit seinem göttlichen Samen zu füllen. Sie würde ihm geben, was ihm die anderen versagt hatten. Die Visionen hatten es ihm gezeigt.
Eigentlich war seine Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, begrenzt. Wenn er einen Blick über die Gegenwart heraustat, geschah dies in Bildern. Wann und wo ihn die Visionen erreichten, blieb auch ihm rätselhaft. Oft kamen sie in der grauen Morgenstunde, wenn er ganz alleine war oder – noch öfter – wenn seine Phantasie auf Opiumflügeln in die Ferne flog. Allerdings war die Zukunft, die seine Visionen zeigten, nicht die einzig mögliche. Er könnte sie anstreben oder vermeiden. Manchmal warnten ihn die Bilder vor Ereignissen, die ihm gefährlich werden konnten, manchmal zeigten sie eine erstrebenswerte Zukunft.
In jedem Fall waren diese Ausblicke ins Kommende recht selten. Anfangs, vor allem direkt nach seiner Transformation, hatte er versucht, auch diese Gabe zu perfektionieren. Dann hatte er die Visionen irgendwann genommen, wie sie kamen. Er hatte festgestellt, dass er gar nicht das Bedürfnis hatte, allzu viel über die Zukunft zu wissen. Er mochte sich nicht zum Sklaven dieser Bilder machen. Er war der Herr der Gegenwart.
Dennoch hatte ihn seine letzte Vision entzückt. Sie zeigte Jen in freudiger Erwartung! Sie trug einen beachtlichen Babybauch vor sich her. Dabei hatte er den Zeugungsakt noch nicht einmal vollzogen. Immer noch suchte er nach dem rechten Augenblick und der passenden Umgebung. Aber das würde sich finden, sicherlich schon bald.
Pelletier lächelte ebenso opiumselig wie trunken vom Gedanken an seine Vaterschaft. Er dachte an seinen zukünftigen Sohn, denn er war sich sicher, einen männlichen Nachkommen zu zeugen. Ein zukünftiger Herrscher würde seinen Lenden entspringen. Ein Mensch, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Oh, wie er ihn umsorgen und behüten wollte. SEINEN SOHN.
Er gefiel sich schon jetzt in der Rolle des liebevollen Vaters. Auch deswegen war er besonders milde zu Nicole, Karlin und Emilia gewesen. Im Gegensatz zu den Ärzten hatten sie nicht lange leiden müssen. Er hatte sie sich eine nach der anderen kommen lassen. Während seine Hände mit ihren Brüsten spielten, hatte sein Geist nach ihren Herzen gegriffen. Kräftig und erregt hatten sie anfangs noch geschlagen. Schließlich war es ihr göttlicher Herr, der da ihre Körper liebkoste, und es war ihr Herr, an dessen starke Schulter sie sich lehnen durften, als sie plötzlich schwach und müde wurden. Ihr letzter Blick hatte Mon Seigneur gegolten, und dieser hatte gesehen, wie sich Liebe, Leben und Tod in ihren brechenden Augen zärtlich miteinander vereinigten.
Emilia, die als Letzte zu ihm kam, hatte als Einzige etwas geahnt. Schon als sie den Raum betrat, konnte er es spüren. Sie schaute ihn so traurig und gleichzeitig so ergeben an, dass er sie fast verschont hätte. Nicht ein Wort der Angst kam über ihre Lippen. Tapfere kleine Emilia. Wie herrlich böse sie gegen Jen gewesen war, und wie geschickt sie ihre Lippen und ihre Zunge an seinem Zepter einzusetzen wusste.
Beinahe so gut wie Hanna Andersson. Das feine Lächeln kehrte auf Pelletiers Gesicht zurück. Er war sich bewusst, dass ihn die braune Fee wieder bei der Hand genommen hatte. Diesmal führte sie ihn in die jüngste Vergangenheit zurück. Er nahm einen weiteren Schluck Opiumtee, um seine Vorstellungskraft noch ein wenig stärker zu beflügeln.
Hanna Andersson war eine schwedische Entwicklungshelferin, die ihm vor einigen Jahren beim National Congress of Black Women in Kinshasa aufgefallen war. Vor allem aber war sie der Grund für seine Rückkehr nach Europa. In einem Zeitungsartikel des kongolesischen L’Observateur hatte er damals von ihr gelesen und ihr Foto gesehen. 34 Jahre war sie alt. Eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die anscheinend eine Expertin für Kleinkredite war. Das waren jene Entwicklungshilfe-Darlehen, die vor allem Frauen aus armen Bevölkerungsschichten zugutekommen sollten. Das Geld diente als Startkapital für ein eigenes Unternehmen, mit denen sich diese Menschen dann – mir nichts, dir nichts – aus der Armut herauswirtschaften würden. So glaubte man jedenfalls und die gesamte westliche Welt hielt das Ganze für eine wunderbare Idee. Nun war also ein besonders westliches Geschöpf hierher gereist, um auch dem rückständigen Kongo diese formidable Sache näherzubringen.
Er studierte damals die Fotos im L’Observateur mit wachsendem Interesse. Langbeinig, in weißen Shorts und hellgrünem Khakihemd posierte die Frau vor der Kamera. Das sah ebenso tropentauglich wie sexy aus. Dr. Hanna Andersson, – Namen, Alter und Titel las er im Artikel – war offensichtlich auch beim Einsatz für die Armen auf ihr Aussehen bedacht. Und sie wusste sich in Szene zu setzen: Ein bunter Papagei saß dekorativ auf ihrer Schulter.
Das Foto war entstanden, als sie gerade eine kleine Gärtnerei nahe Kinshasa besuchte. Ein Vorzeigebetrieb, den eine fleißige Kongolesin mit einem Kleinkredit aufgebaut hatte. So stand es jedenfalls im L’Observateur. Wahrscheinlich war die Frau in Wirklichkeit eine Verwandte oder Konkubine des dortigen Distriktkommandeurs. Aber das spielte keine Rolle.
Der Papagei sei „das Maskottchen der Gärtnerei“ und hätte „zu der westlichen Besucherin sofort Vertrauen gefasst“, schmeichelte der Schreiber des Textes. Die Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern hatte Hannah Andersson lässig nach oben ins kurzgeschnittene blonde Haar geschoben. Der Vogel zupfte mit seinem Schnabel am Brillengestell herum und die schwedische Madame lachte entzückt.
Sie war eine beinahe makellose Schönheit. Ihr durchtrainierter Körper war sicherlich das Produkt Dutzender Trainingseinheiten in einem teuren Fitnessstudio im heimatlichen Stockholm. Ihr Gesicht erinnerte ihn an die Filmschauspielerin Grace Kelly.
Hanna Andersson habe an einer englischen Elite-Universität studiert und eine vielversprechende Bankenkarriere abgebrochen, um sich der Entwicklungshilfe zu widmen, hieß es im Artikel. Ihre Eltern waren beide Politiker, ihr Vater war der Erbe eines großen Vermögens.
Seine Augen studierten das zweite Foto im L’Observateur. Es zeigte sie nun während des Kongresses an einem Rednerpult. Hanna Anderssons schönes, gepflegtes Gesicht blickte wichtig und entschlossen drein – galt es doch so vielen darbenden Menschen endlich ein Auskommen zu bescheren. Tatsächlich machten die mit Krediten ausgerüsteten Frauen vor allem den alteingesessenen Kleinunternehmern Konkurrenz. Wo eine Familie emporkam, stürzte eine andere in die Armut zurück. Ob die schwedische Madame das wusste?
Kaum hatte Pelletier diesen Gedanken im Kopf, tat sich ein weiterer auf, und er war herrlich. Er würde Madame Andersson seine Bedenken persönlich vortragen – und zwar überaus gründlich. Sofort hatte er eine Erektion. Sein Glied, das durch die Transformation größer, ausdauernder und auf köstliche Weise noch empfindsamer geworden war, schob sich begierig durch den seidenen Faltenwurf seines Morgenmantels.
Automatisch glitt seine Hand herab, um es zu begrüßen. Dieser heilige Pfahl in der Mitte seines Leibes war jetzt sein Lebensquell. Schmerz, Leid, Lust und Scham – all diese erquickenden Seelenzustände, die ihn nährten, erreichten ihn mittels seines lieben Freundes dort unten. Wie es genau funktionierte, konnte selbst Pelletier nicht sagen, aber dies – seine Fingerkuppen berührten heißes, verlangendes Fleisch – war sein Zepter, seine Inspiration, seine Kraft, seine Freude.
Einem lustvollen Stromstoß gleich, wurde ihm beim Blick auf die Fotos plötzlich noch etwas anderes klar. Die Frauen aus dem Westen waren vollkommen anders geworden. Als hätten auch sie ein geheimnisvolles Ritual vollzogen, hatten sie sich gewandelt. Stark, klug und selbstbewusst waren sie jetzt. Jede eine kleine Prinzessin, die sich nahm, was sie wollte. Nicht im Geringsten scherten sie sich anscheinend um die Ansprüche des männlichen Teils der Menschheit.
Sein großartiger Freund dort unten verriet ihm, was das bedeutete: Wenn er diese stolzen und unabhängigen Frauen brach und zu seinen Sklavinnen machte, versprach dies Rausch und Ekstase in höchster Form. Diese Frauen würden unendlich tief fallen, und ihr Leiden darüber wäre wunderbar. Sie würden seiner vampirischen Existenz mehr Macht verleihen, als er es sich auch nur vorstellen konnte.
So keimte in ihm zum ersten Mal seit Jahren die Idee auf, zurückzukehren. Was für ein Gedanke! Sofort fiel ihm noch ein weiterer Grund ein. In Europa warteten nicht nur die Verlockungen des modernen Westens auf ihn, sondern ebenso die Mysterien des alten Abendlandes. Auch dort hatten einst große Zauberer gewirkt. Sie hatten Aufzeichnungen und andere Spuren hinterlassen. Da diese Artefakte ebenso verborgen wie verrätselt waren, hatten sie nie ihren Weg ins Internet gefunden. Ihr Wissen offenbarten sie dem Kundigen nur vor Ort. Es könnte für einen „bildungshungrigen“ Hexenmeister wie ihn die aufregendsten Erkenntnisse bereithalten.
Aber zunächst einmal würde er sich auf Hanna Anderssonn konzentrieren. Die entscheidende Frage war, ob er es wagen durfte, eine Europäerin zu entführen. Das war kein Mädchen aus einer verängstigten Bauernsiedlung in den Ruwenzori-Bergen. Hatte er sich dort eine Dorfschönheit erwählt, wurde sie ohne jeden Widerstand dem bösen weißen Teufel geopfert, und man pries die Götter, dass es nur eine war.
Bei einer Europäerin aber war die Situation anders – vor allem bei einer wie Hanna Andersson. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin war nicht nur selbst eine wichtige Person, auch ihre Eltern waren aller Wahrscheinlichkeit nach einflussreiche Leute. Polizisten, Diplomaten und alle möglichen anderen unwillkommenen Personen würden Nachforschungen anstellen. Zwei Tage lang wog er seine Macht gegen die ihre ab. Am Ende wusste er, wessen Fähigkeiten die überlegenen waren.
Als die Frau kurz nach Abschluss des Kongresses einen Ausflug zum großen Zentralmarkt in Kinshasa tat, war ihr Schicksal besiegelt. Sie schlenderte zu jenen Verkaufsständen, die Papageien und kleine grellbunte Singvögel als Haustiere anboten. Die schwedische Madame hatte anscheinend ein Faible für exotische Vögel, stellte er – in einem dunklen Hauseingang lauernd – amüsiert fest. Er wurde ihr zum Verhängnis. Dort, im dichtesten Gedränge, bemächtigte sich Pelletier ihrer. In Erinnerung an den Ort ihrer Gefangennahme nannte er sie „Oiselet“ – das Vögelchen.
Und ja, alle seine Erwartungen in Bezug auf Madame Andersson wurden erfüllt. Mehr noch: Als das Vögelchen Bekanntschaft mit einigen Gerätschaften machte, die ihm arg die Federn zausten, waren zudem unerwartete Talente zutage getreten. Sein Oiselet konnte wunderbar schnäbeln. Sie wusste bald hervorragend mit ihrem Mund umzugehen, wenn er sein Zepter zwischen ihre Lippen schob. Vor allem, als er ihre vorderen Scheidezähne entfernt hatte.
„Oh Hanna Andersson, ich bin sehr stolz auf dich“, sprach er wieder in die Leere seines Hamburger Dachgeschosses hinein. Furchtbar klug war das Vögelchen. Es beherrschte fünf Sprachen und natürlich wusste es auch, wie man das Problem mit den Kleinkrediten hätte lösen können. Lispelnd – die fehlenden Vorderzähne! – und ein wenig scheu – die Gerätschaften! – trug sie ihm ihre Lösungsvorschläge vor. Er war wirklich beeindruckt und verfügte, dass sie fürs Erste beinahe wie ein Gast auf seinem Anwesen behandelt wurde. Außerdem gewährte er ihr sogar eine ganze Nacht mit ihm – und dann noch eine und noch eine...
Sie wusste wunderbar von Europa zu erzählen. Von ihrer Heimat Schweden, aber auch von anderen Ländern und Städten, die sie im Studium und danach kennengelernt hatte. Ihr Wissen war immens. Es reichte von wirtschaftlichen Fakten über gesellschaftliche Entwicklungen bis hin zu den Nichtigkeiten der Klatschpresse. Natürlich brachte das Heimweh ihre Erinnerungen besonders zum Funkeln. Das wusste er und er liebte es, wenn die Tränen liefen, während das gefangene Vögelchen das bittersüße Lied der Heimat anstimmte. Sie beschrieb ihm den Geschmack der belgischen Waffeln im teuersten Restaurant Stockholms ebenso wie die flirrende Atmosphäre bei einer Modenschau in Berlin. Über die Frauen des Westens wollte er alles von ihr wissen und sie berichtete von Botox, Geschlechterquoten und Geschlechtsumwandlungen, von Girlsdays und Radikalfeministinnen.
All dies ergab ein Bild, das auf ihn ebenso exotisch wie verlockend wirkte. Ein ganzer Kontinent schien nur auf ihn zu warten. Aus der vagen Idee, zurückzukehren, wurde ein fester Entschluss. Luc Pelletier begann zu planen.
Es gab Hinweise und Erkenntnisse, die ihn vom Fliegen abhielten. Das hing mit der Biologie seines transformierten Körpers zusammen. Er entschied sich, per Schiff zu reisen, wohl wissend, dass auch dies Gefahren barg. Wollte er nicht kraftlos dahinsiechen, brauchte er eine gewisse Atmosphäre, einen Kokon aus Grausamkeit und Lust, von dem er sich nähren konnte.
Alles hing von einer gründlichen Vorbereitung ab. Lange überlegte er, welches Land, welche Stadt er für seine Rückkehr wählen sollte. Natürlich hatte er anfangs an Belgien gedacht. Aber Brüssel und Gent standen für eine Zeit in seinem Leben, die längst zu einer fernen Geschichtsepoche geworden war. Es hätte schmerzlich werden können, sich dessen bewusst zu werden. Die eigene Vergangenheit war ein nicht ganz ungefährliches Terrain für jemanden, der so viel davon vorzuweisen hatte. Man konnte sich schnell darin verlieren.
Kurzzeitig hatte er dann sogar Stockholm erwogen, nachdem das Vögelchen so anschaulich – und tränenreich – davon berichtet hatte. Dann aber ergab sich das Ziel wie von selbst. Der Container-Frachter, der ihm ideal für die Reise erschien, verkehrte regelmäßig zwischen der kongolesischen Hafenstadt Matadi und Hamburg – Deutschland also. Warum nicht? Er hatte die Sprache von einer Truppe früherer SS-Männer gelernt, die er nach dem großen Krieg als Wachleute für sein Anwesen angeheuert hatte. Je mehr er sich dann mit dem Land und der Stadt beschäftigte, desto geeigneter erschien es ihm.
Über Mittelsmänner erwarb er das Frachtschiff, und es wurde eine herrliche Fahrt. Der Kapitän und seine Mannschaft – er hatte sie sorgfältig ausgewählt – waren für jede Abscheulichkeit zu haben. Gelegenheit gab es genug. Sie hatten Frauen am Bord. Wunderbare blutjunge Geschöpfe. Wie hoffnungsvoll sie dem reichen Deutschland entgegensahen und wie hoffnungslos entfernt ihr Reiseziel blieb. Keine überlebte die Fahrt. Ja, irgendwann uferte das Ganze ein wenig aus. Meuterei, Sittenlosigkeit und Verfall machten sich breit. Amüsant war es trotzdem. Der Kapitän schrie wie ein kleines Kind, als sie ihn ins Meer warfen. Die Zähne eines meterlangen Tigerhais brachten ihn zum Verstummen. Das Tier war dem Schiff viele Tage ein treuer Begleiter, seit es gemerkt hatte, dass immer wieder zappelnde Körper über die Reling segelten.
Natürlich gab es dann in Hamburg eine Untersuchung. Zwar hatten sie die Frauen spurlos beseitigt, aber die Behörden fragten sich, warum das Schiff den Hafen in einem so desolaten Zustand erreicht hatte und warum gleich mehrere Besatzungsmitglieder über Bord gegangen waren. Pelletier selbst ließ man weitgehend in Ruhe. Die Tatsache, dass er Eigner des Schiffs war, blieb unerkannt. Alles war über diverse Briefkastenfirmen verschleiert worden. Er war einfach nur ein verängstigter Passagier. Unschuldig in das Ganze hineingeraten und froh, es überlebt zu haben.
Nur Einer spürte, dass die Dinge anders lagen. Schnell hatte er das Exquisite und Extravagante an der Geschichte entdeckt. Gerrit Gutenberg, Johanns Vater, war ein brillanter Kopf, und wenn es um seine Neigung ging, übersah er nichts. Er hatte als Anwalt mit dem Fall zu tun. Eine Speditionsfirma, die einen Großteil ihrer Frachtgüter mit dem Schiff transportieren ließ, hatte ihn beauftragt.
So lernte man sich kennen und fasste Vertrauen zueinander. Als Gutenberg merkte, mit was für einer bemerkenswerten Person er es zu tun hatte, war er voller Faszination und Wissbegier. Pelletier seinerseits schätzte die schneidende Intelligenz des Hamburgers, seinen Mut und die Tatsache, dass er völlig bedenkenlos war. Sie hatten viel Spaß miteinander, und der Anwalt, so erschien es ihm, war die ideale Person, einen uralten Hexenmeister aus dem Kongo in das Hier und Jetzt einer Millionenmetropole des Westens zu geleiten. Gutenberg wiederum vertraute ihm sogar seinen Sohn an. Johann hatte offensichtlich die grundsätzliche Neigung seines Vaters geerbt. Nun sollte Pelletier ihn weiter formen und schulen. Skrupel, Verklemmtheit und einen etwas enervierenden Hang zum Gutmenschentum galt es dem jungen Mann abzugewöhnen.
Das war schon zu jener Zeit, als sie ihren speziellen Pakt ins Auge fassten. Drei kostbare Fähigkeiten begehrte Gerrit Gutenberg von seinem Zauberer-Freund: die Erkenntnis, die Kontrolle und die Macht. Er wollte die Macht besitzen, jederzeit ungestraft töten zu können. Es wollte die perfekte Kontrolle, indem er spürte, ob jemand die Wahrheit sprach oder log, und als Letztes begehrte er die Erkenntnis, auf einen Blick zu erkennen, ob ein Mensch devot und masochistisch veranlagt war.
Pelletier willigte ein. Er tat es nicht uneigennützig, denn es lag in der Natur solcher dämonischen Vereinbarungen, dass auch derjenige, der gab, davon stärker wurde. Wer das Böse weiterreichte, wuchs daran. Das gehörte zu den Grundsätzen der schwarzen Magie. Weil man so gut befreundet war, verlangte Pelletier zudem einen lächerlich geringen Preis. Vier vollständige Lebenszeiten begehrte er.
Drei Opfer wählten sie gemeinsam aus. Sie hatten sich in einer übermütigen Laune vorgenommen, die Stadt nach Frauen zu durchsuchen, die vollkommen unschuldig und mädchenhaft wirkten. Liebreizende Geschöpfe, vor denen – so stellten sie es sich vor – selbst der ärgste Serienmörder oder Vergewaltiger zurückschrecken würde. Die kleinen Engelchen würden dem, was sie mit ihnen anstellten, ein besonders verworfenes und ruchloses Flair verleihen. Pelletier erinnerte sich gut daran, was für ein beinahe lausbubenhaftes Vergnügen sie hatten, drei Madonnen auszuwählen, um diesen dann ein hübsches, langsames Ende zu bereiten, während sie ihr kompliziertes Ritual vollzogen. Erstaunlicherweise hielt eine von ihnen fast zwei Tage durch. Eine überaus zähe Person. Dabei sah sie am zerbrechlichsten aus.
Das vierte Opfer wäre dann eine Überraschung, hatte Pelletier seinem Vertragspartner noch vorab erklärt. Der reagierte erstaunlich gelassen. Ob Gutenberg wirklich geglaubt hatte, dass ein Pakt mit Luc Pelletier so eine Art vergnüglicher Spieleabend unter Freunden war? Der Zauberer fand ihn zu dieser Zeit ohnehin längst viel zu selbstsicher und allzu dreist in seiner Gegenwart. Es war Zeit, ihm eine Lektion zu erteilen. Also eröffnete er ihm, dass Johann die Nummer vier wäre.
In seiner Güte hätte Pelletier sogar darauf verzichtet, ihm das Leben zu nehmen. Darkness begehrte Johann und wollte den Knaben zu ihrem Sklaven abrichten. Eigentlich eine logische Konsequenz, denn Pelletiers Umgang mit Johann hatte gezeigt, dass er niemals so werden würde, wie es sein Vater wünschte. Darkness zu dienen – das war seine wirkliche Bestimmung.
Aber offensichtlich konnte sich Gerrit Gutenberg mit diesem Gedanken wenig anfreunden. Was die Bedenkenlosigkeit anbelangte, hatte Pelletier ihn eindeutig überschätzt. Sicher, er hatte ihm auch erzählt, wie es einigen der Sklaven von Darkness ergangen war. Das mochte ein Fehler gewesen sein. Jedenfalls redete und redete „Monsieur le Staranwalt“ in dieser Lagerhalle, in der sie das Ritual vollzogen, atemlos auf ihn ein. Während um sie herum drei Menschen mit dem Tode rangen und um ein paar Moleküle Sauerstoff mehr in ihren Lungen beteten, versuchte sich Monsieur le Staranwalt mit einem geschliffenen Plädoyer aus der Affäre zu ziehen. So ein Narr. Pelletier blieb hart, und da passierte es. Gutenberg hatte plötzlich diesen hässlichen Dolch in der Hand. Es geschah das Unfassbare. Die Ameise besiegte den Ameisenbär, das Lamm die Hyäne. Gutenberg besudelte seinen Körper mit diesem widerlichen Messer und bereitete ihm schreckliche Pein. Als er endlich von ihm abließ, rannte er fort und versuchte, mit seinem Sohn die Stadt zu verlassen.
Pelletier war zu diesem Zeitpunkt dem Tode näher als dem Leben und entsetzlich schwach. Nur eines half. Es war dieses zähe gefesselte Mädchen, das mit einem Nichts an Luft einfach nicht totgehen wollte. Was für ein Glück, denn ihre Qual nährte ihn und minderte seine Schwäche. Noch bevor Gerrit Gutenberg aus dem Einflussbereich des Zauberers verschwand, war er stark genug, ihm einen Gruß hinterherzuschicken – eine Erscheinung geformt aus Staub, Wind und Terror.
Ach ja, mitten auf der Autobahn erstarb vorher der V12-Motor des 200.000-Euro-Sportwagens, in dem der Verräter und sein Sohn unterwegs waren. Das war allerdings sogar in Pelletiers erbärmlichem Zustand leicht zu bewerkstelligen. Die Technik eines deutschen oder japanischen Produkts hätte seiner destabilisierenden Kraft mehr Schwierigkeiten bereitet. Aber der Aston Martin war ‚Made in England‘. Keine gute Wahl, wenn man Luc Pelletier fragte. Er hatte die faden Briten schon zu glorreichen Kolonialzeiten für ihre schlaffe und halbgare Afrika-Politik verachtet.
Gutenberg gelang es gerade noch, den Wagen auf diese trostlose, menschenleere Autobahnrasttäte zu lenken. Während er langsam ausrollte, hämmerte sein Herz, als wollte es den Wagen mit eigener Kraft über die Autobahn jagen. Ja, Pelletier spürte, was Gutenberg fühlte, denn er war bei ihm. Er sah mit seinen Augen und fühlte mit seinen zitternden, fahrigen Händen. Obwohl sie das Ritual abgebrochen hatten, war ihre geistige Verbindung fürs Erste bestehen geblieben. So empfand der Zauberer zu seiner Genugtuung auch das grenzenlose Entsetzen, als Gutenberg das Staubgesicht erblickte. Der verzweifelte Mann griff zur Pistole und schoss zunächst auf seinen Sohn.
Pelletier war in diesem Moment vor Schmerz und Schwäche kaum noch bei Sinnen, aber es gelang ihm mit letzter Kraft, die Kugel abzulenken. Nicht ausreichend, um Johann unverletzt zu lassen, aber genug, damit er überleben konnte. Damals mochte er keinem aus der Gutenberg-Sippe einen schnellen Tod gewähren. Später stellte sich heraus, wie weise sein Eingreifen bei Johann gewesen war. Aber das zeigte sich erst Wochen später. Zunächst einmal schwanden nach dieser letzten Kraftanstrengung auch Pelletier die Sinne.
Was danach kam? Schlimm und erbärmlich war es. Irgendwann kam er wieder zu sich. Sterbenskrank machte er sich davon. Ganz unten war er zu diesem Zeitpunkt. Fast so wie der Genter Straßenjunge, der er einmal gewesen war. Er hatte zu der Zeit nur wenige Gefolgsleute in Hamburg, und sie waren keinesfalls vertrauenswürdig. Aber auch eine Rückkehr nach Afrika war in seinem Zustand unmöglich. Darkness hätte helfen können, aber sie war zu diesem Zeitpunkt nicht bei ihm, sondern auf seinem Anwesen in den Ruwenzori-Bergen. Der allgegenwärtige Bürgerkrieg im Kongo hatte zu jener Zeit besonders chaotische Formen angenommen und sie war vollauf damit beschäftigt, Pelletiers Besitz zu hüten. Außerdem hätte es Tage gedauert, bis sie nach Hamburg gelangt wäre.
Gleichzeitig spürte Pelletier, wie schlimm es um ihn stand. Die Verletzungen waren so schwer, dass sein gepeinigter Körper in den nächsten Tagen und Wochen genauso gut sterben wie genesen konnte. Bei einer Frau, die sich als Domina auf St. Pauli verdingte, fand er schließlich Unterschlupf und Pflege. Auch sie gehörte zu seiner kleinen Anhängerschar und er wusste, dass sie ihn bedingungslos verehrte. Es war eine alte Hure, die in einem schmutzigen Kellerloch in einer Nebenstraße der Reeperbahn ein Studio betrieb. Dort gab sie den Stumpfsinnigsten unter den Freiern, wonach es sie verlangte. Sie nannte sich „Mistress Victoria“ und ihr Können war ebenso einfallslos wie plump. Irgendwann in den Monaten zuvor hatte er sie kennengelernt und nicht weiter beachtet. Aber sie verehrte ihn und konnte ihr Glück kaum fassen, als der waidwunde Dämon ausgerechnet bei ihr Einlass begehrte.
Sein Leben bei Mistress Victoria? Es war kaum der Rede wert. Seine Wunden heilten langsam und er war schrecklich schwach. Allerdings gelang es ihm, die Fertigkeiten seiner Wohltäterin in ungeahnte Höhen zu steigern. Ihr Studio wurde zu einem Gourmet-Tempel für wohlhabende Masochisten. Davon gab es viele in Hamburg. Die vornehmen Pfeffersäcke aus den Elbvororten und in ihren Alstervillen standen darauf, wenn man sie hart rannahm.
Irgendwann fühlte er sich gesund genug, das Haus in Wilhelmsburg zu erwerben, und weil die Welt so gierig nach seinen Künsten verlangte, begann er, all diese netten Spielsachen zu vertreiben, ohne die der BDSM-Fan von heute anscheinend nichts zustande brachte: Plugs, Paddel, Gag-Balls, Peitschen, Fesseln und vieles mehr sandte er in die Welt hinaus. Alle Produkte waren ein wenig modifiziert und sozusagen mit seinem Spirit aufgeladen. Kongo-Toys hatten das besondere Etwas, das jede Session zum prickelnden Vergnügen werden ließ. Natürlich wusste nur ein kleiner Kreis von Leuten, dass tatsächlich echte Magie im Spiel war. Nicht jeder der ahnungslosen Anwender kam damit zurecht. Manche schossen ein wenig über das Ziel hinaus. Es gab immer wieder Tote und Verletzte, sobald Kongo-Toys im Spiel der Leidenschaften zum Einsatz kamen. Es waren krasse Fälle darunter, die selbst Pelletier manchmal in Staunen versetzten. Er wertete sie allesamt und nicht ohne Stolz als Beweis für die Qualität seiner Produkte.
Dennoch war das Ganze für ihn nicht mehr als ein oberflächlicher Zeitvertreib, der ihn von dem ablenkte, was ihn quälte. Seine Kräfte waren nicht vollständig zurückgekehrt. Er schaffte es nicht einmal, für längere Zeit aus dem Haus zu gehen. Immer drohte ihm diese erbärmliche Schwäche, als ob er einer von dieser behinderten Krüppeln wäre, die im Westen so verhätschelt wurden.
Aber so war die schwarze Magie. Ein berechnendes Flittchen, das nur den Starken und Mächtigen zu Diensten sein mochte. In jener Zeit war er viel zu schwach, um sie richtig zu vögeln, allenfalls für ein bloßes Betatschen reichte es. Er hatte bald herausgefunden, dass es nur eine Person gab, die das ändern konnte. Es war Johann Guttenberg, denn er war vom Blute des Messerstechers – jenes Mannes, der ihm die Kraft genommen hatte.
Wegen Johanns Kopfverletzung und deren Folgen blieb Pelletiers Einfluss auf den jungen Mann verschwindend gering. Aber mit aller Magie, die ihm noch zur Verfügung stand, legte er Köder aus. Die Visitenkarten und die Devotmacher-Seite im Internet gehörten dazu. Sie würden den Knaben mit Glück irgendwann zu ihm führen, hoffte er.
Pelletier erlaubte sich ein zufriedenes Grinsen. Wer hätte gedacht, dass beide so eine phänomenale Wirkung entfalten würden? Karte und Internetseite köderten nicht nur den Gesuchten, sondern führten ihm Dutzende williger Anhänger zu. Die meisten waren nun über einen dämonischen Pakt fest an ihn gebunden. In dieser westlichen Welt, in der man sich so viel auf die Freiheit einbildete, wünschten anscheinend zahllose Menschen, sie jemand anderem vollständig zu nehmen. Sicher, auf seinem speziellen und einzigartigen Sklavenmarkt – „Willst du sie, kriegst du sie“ – wurden hohe und höchste Preise bezahlt. Aber kaum jemand schreckte zurück. Zu verlockend war die Aussicht auf ein williges Geschöpf für den allzeitigen Gebrauch.
Dann schließlich erklärte ein ebenso schönes wie garstiges Mädchen, wohnhaft in einem Ohlsdorfer Hochhaus, dass jemand nicht ihr „Ty… Ty… Typ“ sei, und wenige Stunden später saß ihm ein tödlich gekränkter Johann Gutenberg gegenüber.
Was für ein Rausch und eine Wonne an diesem Abend, als er seinen Geist mit Johanns Geist verschmolz. Die Kraft, die er Johann verlieh, gab dieser ihm tausendmal zurück. Aus einem flüchtigen Geisterwesen wurde wieder ein machtvoller Dämon – mit nichts vergleichbar auf dieser Welt. Geboren und genährt aus Grausamkeit, Schmerz und Lust.
Außerdem war da noch mehr. Er sah das Foto von Jen und zum ersten Mal seit seiner Transformation vor mehr als hundert Jahren hatte er in diesem Augenblick das Gefühl, wirklich einen Nachkommen zeugen zu können. Sein Geist, sein Blut, sein Samen strotzten nur so vor Kraft.
Und dabei war es geblieben. Stark wie nie zuvor fühlte er sich. Es war trotz allem kein Fehler gewesen, Afrika zu verlassen und sich genau diesen Ort als neue Heimstätte zu wählen. Er atmete die Stadt und die Stadt atmete ihn. Ein Spinnennetz aus Magie hatte er über ihre Lebensadern gewoben. Alles lief herrlich.
Mit einem tiefen Aufseufzen kehrte Pelletier in die Gegenwart zurück – und war sofort hellwach. Irgendwas ging vor. Sein ganzer Körper vibrierte vor angespannter Erwartung. Er sprang auf und eilte – mit opiumleichten Schritten – zum Teleskop hinüber. Immer noch war es auf „Ballettwerksatt Number One“ gerichtet. Aber diese Ansicht kam ihn nun fad und falsch vor. Anderswo passierte Entscheidendes. Aber wo? Unruhig ließ er das Teleskop über die Häuser und Straßen hinwegwandern. Gleichzeitig versuchte er, sich auf seine Ahnung zu konzentrieren. Eine barbusige Schönheit mit flammend roten Haaren stand rauchend auf dem Balkon eines Hochhausappartements und schien ihn direkt anzublicken. Pelletier ließ das Teleskop weitergleiten. Dann hielt er abrupt inne, richtete sich auf und blickte zum Sessel hinüber.
Er bemerkte, dass seine Augen diesen Ort im Raum seltsamerweise nicht erfassen konnten. Ein waberndes, vollkommen unscharfes Bild zeigte sich ihm und machte ihn unsicher. Stand er tatsächlich an seinem Teleskop oder saß er immer noch in Leopolds Sessel? Das eine schien ihm plötzlich ebenso wirklich wie das andere. Hatte er nicht gerade die Tasse zum Mund geführt für einen letzten Schluck Tee? Spürte er nicht die angenehm bittere Flüssigkeit auf seiner Zunge? Ruhte sein Körper nicht immer noch vollkommen entspannt auf den plüschigen Sesselpolstern?
Er schob diesen verwirrenden Eindruck beiseite und ließ die Linse wieder über die Häuser jenseits der Elbe gleiten. Plötzlich hörte er mitten in der Bewegung auf. Er veränderte einige Einstellungen über ein kleines Rädchen, dann hatte er das Bild scharfgestellt. Was er jetzt erblickte, war ebenso deutlich wie unmöglich. Nicht aus dieser Perspektive und schon gar mit hunderten Häuserblocks dazwischen ließ sich bis ins ferne Ohlsdorf schauen.
Aber dies war eine Vision. Das wusste er jetzt, und sie zeigte noch einen dritten Pelletier. Dort, an jenem allzu bekannten Ort, bewies er seine Manneskraft und zeugte einen Sohn. Es war der spezielle Raum in Johanns Appartement – mit allen seinen exquisiten Gerätschaften. Die süße Jen bog sich in höchster Lust unter seinen kräftigen Stößen, wie es auch die Schülerinnen aus der Ballettschule sicherlich nicht besser gekonnt hätten. Auch Johann war dabei. Er war herbeigeordert worden, um ihm zu assistieren und mitanzusehen, wie seine Liebste geschwängert wurde. Nackt und beschämt stand der Sohn seines größten Feindes da. Was für ein erregender Anblick!
Dann fing die Linse eine vierte Person ein. Natürlich! Es war seine völlig unerwartete Entdeckung im Haus an der Alsterdorfer Straße. Das zauberkundige Mädchen, dessen Geist so furchtsam war und dessen Körper so gierig auf seine Hände reagiert hatte. Auch sie durfte nicht fehlen. In seiner Vision unterstützte sie ihn mit ihrer – nicht unerheblichen – Magiekraft. Sie war ein erstaunliches Persönchen und gehörte zweifelsohne zu den bemerkenswertesten Entdeckungen, die er hier in Hamburg getan hatte. Wie seltsam, dass er sie in den letzten Wochen so aus dem Fokus verloren hatte. Nun, jetzt würde sie seinem Vorhaben zum endgültigen Erfolg verhelfen. Ob aus freien Stücken oder nicht. Man würde sehen. Allerdings war er sich sicher, dass er eine Menge für diese kleine sonderbare Hexe würde tun können. Auf jeden Fall würden sie ein paar herrliche Orgasmen miteinander teilen.
Seine beiden sechsfingrigen Hände fanden sich auf seinem pulsierenden Glied wieder, als er nun endgültig aus Vision und Versunkenheit in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er fühlte sich ungemein erfrischt. Die Fehlschläge mit Nicole, Karlin und Emilia schienen kaum noch der Rede wert. Neues und Besseres würde entstehen. An diesem Abend hatte er erfahren, wie es zu bewerkstelligen war.
Um den Tag angemessen und entspannt zu beenden, beschloss er, noch ein wenig mit Hanna Andersson zu plaudern. Ja, es gab die Schwedin, die ihn so sehr inspiriert hatte, immer noch. Er hatte sie nach wie vor in seinem Anwesen in den Ruwenzori-Bergen im Norden des Kongos untergebracht und er genoss es, regelmäßig ihre Gesellschaft zu suchen. Mit jener Technik, die man Skype nannte, war das heutzutage einfach, und es gab für sie beide immer etwas zu erzählen. Er hatte ihr in den vorangegangenen Jahren noch einiges mehr genommen als nur die Schneidezähne. Die Arme zum Beispiel. Das war schließlich gute belgische Tradition im Kongo. Dafür hatten ihr seine kongolesischen Ärzte wunderbare Brüste modelliert. Zwei regelrechte Kilimandscharos durfte sie nun vor sich hertragen.
Sogar Darkness brachte der Art, wie Hanna Andersson ihr Martyrium ertrug, inzwischen Respekt entgegen. Andere wären über all dem wahnsinnig geworden, Hanna Andersson ertrug es mit stoischem Willen und bei klarem Verstand. Natürlich hasste sie ihn. Mit jeder Faser ihres – noch verbliebenen – Körpers tat sie es. Er kannte sie inzwischen so gut, dass er ihre Gefühlswelt nahezu bis auf den Grund ausloten konnte. Was ihn bei anderen mit der Zeit gelangweilt hätte, tat es bei Hanna Andersson allerdings nicht. Vor allem, als er entdeckte, dass sich zu ihrem Grauen ihm gegenüber ein zweites, fast noch tieferes Entsetzen vor sich selber gesellt hatte. Es war die schockierende Erkenntnis, dass sie bei allem Hass gleichzeitig von glühender Liebe zu ihrem Peiniger durchdrungen war. Hanna Anderssons Seelenzustand fand er sehr amüsant und er liebte es, damit zu spielen. Je vernarrter sie sich ihm gegenüber gab, desto grausamer verhielt er sich. Von verliebten Blicken und gehauchten Liebesbekenntnissen hielt es sie trotzdem nicht ab – im Gegenteil.
Wenn er dieser Tage per Skype mit ihr sprach, ließ er sich ihre neuesten Tätowierungen vorführen. Sie wurde nämlich gerade tatsächlich in ein Vögelchen verwandelt. Er hatte verfügt, dass ihr an jedem Tag eine neue Feder tätowiert würde. Oberhalb der Knie wurde damit begonnen. Ein alte Kongolesin, die ebenso geldgierig wie skrupellos war, hatte die Aufgabe übernommen, nachdem Pelletier sich davon überzeugt hatte, dass ihre Tätowierkünste ausreichend waren. Sie war sogar ziemlich gut, wie er nach Begutachtung der ersten Federn fand. Mit Genugtuung erfuhr er zudem, dass sie eine Technik verwandte, die sich nicht mehr entfernen ließ. Auch nicht per Laser, wie es heutzutage üblich war.
Hanna Anderssons Beine unterhalb der Knie blieben weiß – so würden sie umso mehr an richtige Vogelfüße erinnern. Oberhalb der Knie aber schraubte sich die bunte Federpracht nun Tag für Tag weiter nach oben. Schon bedeckte sie Bauch und Rücken. Am Ende würde sie schließlich auch das kluge und hübsche Köpfchen vollständig verschlungen haben. Sobald das Kunstwerk fertig war, würde er das Vögelchen einfliegen lassen, hatte er sich vorgenommen. Seine Vogelfrau würde einen prächtigen Blickfang auf seinen Partys abgeben.
Dieser Gedanke brachte auch Johann wieder ins Spiel. Einmal hatte er in der Ballettwerkstatt den Auftritt eines Tänzers verfolgt, der mit einer Art Hundemaske über dem Gesicht anscheinend eine Art Tiermenschen darstellte. Mit seinen Sprüngen, Schritten und Bewegungen hatte er eine nahezu perfekte Illusion erschaffen. Pelletier war sofort fasziniert gewesen und voller Ideen. Johann zum Beispiel gäbe sicherlich einen ausgezeichneten Hundemenschen ab. Es würde jede Menge Freude bereiten, ihn entsprechend zu dressieren. Er würde ihn verspielt und possierlich wollen. Ein ewiger Welpe mit tapsigen Pfoten und unterwürfigem Blick.
Einige medizinische Eingriffe wären nötig, sicherlich auch der Einsatz ziemlich extremer Magie. Aber dann wäre sein kleiner Zoo schon um ein zweites Wesen angewachsen. Weitere könnten folgen. Er sah schon das glückliche Gesichtchen seines Sohnes vor sich, wenn er mit ihm durch sein Bestiarium spazieren würde. Kinder liebten Zoobesuche über alles.