Liseby Bertrand war im Herbst 1960 sieben Jahre alt, ein kleines Kind in einer sich weiterentwickelnden Welt. »Der Wind des Wandels weht durch diesen Kontinent. Ob es uns gefällt oder nicht, dieses Wachstum des nationalen Bewusstseins ist eine politische Tatsache«, erklärte der britische Premierminister Harold Macmillan in Kapstadt, Südafrika, da immer mehr Länder die Unabhängigkeit erhielten. »Wir alle müssen das als Tatsache akzeptieren, und unsere nationale Politik muss dem Rechnung tragen.«
In jenem Jahr traten 16 afrikanische Länder den Vereinten Nationen bei, wenngleich Mauritius nicht zu ihnen gehörte. In der Generalversammlung prüften Komitees zur Dekolonisierung ellenlange Berichte der Kolonialmächte über die Maßnahmen, die sie nach eigener Aussage für die Bewohner von »Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung« trafen, wie die Kolonien genannt wurden. Großbritanniens Bericht über Mauritius enthielt Informationen über Chagos und seine sogenannten »Ölinseln«, darunter Peros Banhos – Großbritannien hatte nicht vor, Mauritius in naher Zukunft aufzugeben.
Die Dekolonisierung war nicht nach jedermanns Geschmack, als die Kolonialangelegenheiten auf der Tagesordnung der internationalen Politik immer weiter nach oben rückten. Ein britischer UN -Delegierter beklagte sich, dass die Debatten vielfach auf Gefühlen beruhten, statt vernunftgeleitet zu sein. Dies spiegele, vermerkte er in einem Bericht nach London, eine Form von »umgekehrtem farbigen Vorurteil« wider, ein ungerechtfertigter »Groll der dunkleren Völker gegen die frühere Beherrschung der Welt durch europäische Nationen«.
Die Vereinigten Staaten behaupteten öffentlich, die Abwicklung der alten Kolonialmächte zu befürworten, doch hinter den Kulissen vertraten sie eine andere Position. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges galten die Sowjets als wachsende Bedrohung, was dazu führte, dass man in Washington eine Verbindung zwischen »kolonialen Fragen« bei den UN und Angelegenheiten der nationalen Sicherheit zog. Ende der 1950er-Jahre begannen die USA im Rahmen eines »globalen Kampfs zwischen der freien und der kommunistischen Welt« mit Planungen für neue Militärstützpunkte überall auf der Welt, von denen einige auf unbedeutenden Atollen errichtet werden könnten. Solche Stützpunkte mussten in den Händen von Freunden bleiben, womit die Kolonialmächte in Afrika gemeint waren.
Im Herbst 1960 erreichte das Thema »Selbstbestimmung« den Plenarsaal der UN -Generalversammlung. Inspiriert durch die Worte der von Ralph Bunche ausgearbeiteten UN -Charta, erhielt die Thematik zusätzlichen Schub durch die fünf Jahre zuvor in Bandung, Indonesien, abgehaltene asiatisch-afrikanische Konferenz: Damals hatten 29 Staaten, deren Vertreter sich als die neu gegründete »Bewegung der Blockfreien« (auch »Bewegung der Blockfreien Staaten« oder »Blockfreien-Bewegung«) trafen, erklärt, der Kolonialismus sei »ein Übel«, eines, das »zügig« beendet werden müsse. Sie verlangten, das Prinzip der Selbstbestimmung auf alle Völker und Nationen anzuwenden.
Von dieser sogenannten Bandung-Erklärung führte ein direkter Weg zur UN -Generalversammlung in New York. Im Sommer 1960 kursierten unter den Fittichen von Frederick H. Boland, einem irischen Diplomaten, der in jenem Jahr als Präsident der Versammlung amtierte, mehrere Entwürfe einer Resolution. In eine britische Kolonie hineingeboren – Irland erhielt im Mai 1921 die Unabhängigkeit, als die Insel geteilt wurde, wobei Großbritannien Nordirland behielt –, war Boland ein unerschrockener Befürworter der Dekolonisierung. Seine Tochter Eavan wurde später eine berühmte Autorin. »Was ist eine Kolonie?«, fragte sie in einem ihrer Gedichte.
Die Weltenlenker reisten nach New York, um über die Dekolonisierung zu debattieren. Nikita Chruschtschow, der sowjetische Führer, unterbreitete einen weitreichenden Entwurf. Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower verstand den Drang nach Selbstbestimmung, ließ der Idee aber keine eindeutige Unterstützung zuteilwerden. Der britische Premierminister Harold Macmillan war zurückhaltend, vermochte zwar »politische Unabhängigkeit« als Ziel für Afrika anzuerkennen, ohne jedoch irgendwelche spezifischen Details zu nennen oder Zusagen anzubieten. Man befand sich inmitten einer Zeit der Erhebungen und nationalen Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika, aber auch in Europa. Iran, Zypern, Algerien und Kenia gehörten zu den vielen Ländern, wo innere Unruhen geschürt wurden.
Delegierte aus Afrika und Asien sprachen sich entschieden für die Dekolonisierung aus, unterstützt von einer Handvoll Europäer, die durch Delegierte aus Zypern und Irland angeführt wurden. »Mein Land hat seine ›historische Einheit‹ noch nicht wiedererlangt«, erklärte der irische Vertreter und bekundete Unterstützung für die territoriale Integrität kolonialer Gebiete, den Gedanken, dass in der Phase vor der Unabhängigkeit keine Kolonie zerstückelt werden dürfe. Er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass Irland bald seine Einheit wiedererlangen werde (sechs Jahrzehnte später ist es noch immer ein Wunsch, obwohl seine Erfüllung in Sicht sein mag).
Amerikanische, honduranische und sowjetische Resolutionsentwürfe blieben auf der Strecke, und am Ende war nur ein einziger Text übrig, einer, der von 43 afrikanischen und asiatischen Staaten für eine »Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker« vorgeschlagen worden war. Die Abstimmung fand am Nachmittag des 14. Dezember 1960 statt: Für Resolution 1514 stimmten 89 Staaten, neun votierten dagegen. Neun Staaten enthielten sich der Stimme (größtenteils die Kolonisatoren, wie Großbritannien und Frankreich, aber auch ehemalige Kolonien: Australien, Südafrika und die Dominikanische Republik). Das US -Außenministerium hoffte, den Entwurf zu unterstützen, aber in letzter Minute schritt Präsident Eisenhower ein und ordnete eine Enthaltung an, angeblich auf Ersuchen des britischen Premiers Harold Macmillan.
Resolution 1514 war kurz, bestand nur aus ein paar Paragraphen. »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung«, erklärte sie: »Die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar.« Die Resolution proklamierte ein Prinzip der »territoriale[n] Integrität«: »Jeder Versuch, die nationale Einheit und die territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerstören, ist mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar.«
Ein gedemütigter Delegierter erläuterte die Stimmenthaltung Großbritanniens: Sein Land könne Selbstbestimmung als Prinzip anerkennen, aber nicht als gesetzliches »Recht«. Zur »territoriale[n] Integrität« sagte der Brite nichts. Doch Mr. Boland aus Irland konnte es sich nicht verkneifen, seine Zufriedenheit über Resolution 1514 zu bekunden, und schloss die Sitzung mit einer optimistischen Bemerkung: »Die Versammlung kann sich durchaus beglückwünschen zu dieser Leistung.«