Liseby Bertrand hat keine Erinnerung an die Unabhängigkeit von Mauritius, weil diese niemals nach Peros Banhos oder zu irgendeinen Teil von Chagos gelangte. Sie war fünfzehn und arbeitete als Kindermädchen. »Ich kümmerte mich um die beiden Kinder von Monsieur Jean Guillemet, dem neuen Verwalter von Chagos«, erinnerte sie sich. »Seine Tochter Gilberte wurde auch auf Peros Banhos geboren. Sie lebt heute in Port Louis, wir haben immer noch Kontakt.«
Erst nach Unabhängigkeit und Zerstückelung, da lebte Liseby bereits in der neu geschaffenen Kolonie »BIOT «, begegnete sie zum ersten Mal einer englischen Person. »Es war vielleicht 1970 oder 1971, nachdem die Briten die Agalega Company gekauft hatten. Ein Mann, den man den ›Administrator‹ nannte, besuchte Peros Banhos, ich glaube, sein Name war Mr. Todd. Das war das erste Mal, dass ich eine weiße Person auf Peros Banhos sah. Tatsächlich war es überhaupt das erste Mal, dass ich irgendeine weiße Person sah.« (Ihre Erinnerung war richtig: John Rawling Todd, der 1955 in den Kolonialdienst eintrat und von 1965 bis 1974 als Administrator des »Britischen Territoriums im Indischen Ozean« fungierte, versah seine Amtsgeschäfte von den Seychellen aus und suchte die Chagos-Inseln nur selten auf.)
Etwa um die Zeit von Mr. Todds Besuch auf Peros Banhos begannen Gerüchte die Runde zu machen. »Es wurde gemunkelt, dass wir die Inseln verlassen müssten, wir alle, die wir dort lebten. Ich glaubte es nicht so richtig. Das war der Moment, wo ich begriff, dass es einen Unterschied gab zwischen weißen und Schwarzen Menschen. Wir würden fortgehen, weil wir Schwarz waren. Das begriffen wir.«
Im Jahr 1972 heiratete Liseby auf Peros Banhos ihre Sandkastenliebe, France Elysé, der ebenfalls von der Insel stammte. »Unsere Hochzeit war am 11. Dezember, ein Tag, an den ich mich sehr gut erinnere. Die Trauung wurde von dem Verwalter vollzogen. Ich erinnere mich an das Kleid, das ich trug, und die Feier in der ›Salle Verte‹, im grünen Saal. Wir tanzten und tanzten. Ich wurde Madame Elysé.«
Ob sie ein Foto von diesem besonderen Tag habe? »Nein, ich habe kein Foto von meiner Hochzeit. Wissen Sie, was? Ich habe aus meiner gesamten Kindheit kein einziges Foto. Das erste Foto von mir wurde gemacht, als ich schon 20 Jahre alt war, nachdem wir Peros Banhos verlassen hatten.«
Ihr Mann arbeitete als Schmied in der Schmiede der Agalega Company. »Nach der Hochzeit wohnte ich nicht mehr im Haus meines Vaters und zog bei meinem Mann ein, in das Haus, das wir uns mit seiner Mutter, meiner Schwiegermutter, teilten. Die Schwester meines Mannes ist die Mutter von Olivier Bancoult, er ist der Anwalt für die Chagossianer. Ich bin seine Tante.«
Binnen eines Jahres war sie schwanger mit ihrem ersten Kind. Vor der Geburt jedoch wurden die Gerüchte zur Tatsache: Man informierte die Bewohner von Peros Banhos, dass ihre Insel »Sperrgebiet« werden sollte, dass sie alle fortgehen müssten. Liseby war auf dem letzten Schiff, das die Inseln und Chagos verließ, eine aus einer Gruppe von etwa 400 Menschen, die zwangsumgesiedelt wurden.
»Der 27. April 1973, das war der Tag, an dem wir alle weggingen. Ich. Mein Mann. Mein Vater. Meine Brüder und Schwestern. Ich war fast 20 Jahre alt. Ich war schwanger.«
Sie durften nicht viel mitnehmen auf ihrer Reise. »Sie sagten uns, wir müssten alles zurücklassen. Wir durften unsere Hunde nicht mitnehmen. Jedem von uns wurde ein Schrankkoffer erlaubt, den wir mit unseren wichtigsten Sachen füllten. Wir hatten keinen Handkoffer, wir hatten hölzerne malles , Überseekoffer. Man erlaubte jedem von uns ungefähr 25 oder 30 Kilo. Ich habe meinen Überseekoffer noch.«
Sie versammelten sich auf dem Landungssteg, dem, den ich von der alten Schwarz-Weiß-Fotografie kannte. Einer nach dem anderen gingen sie an Bord eines Schiffes, der 1958 in Elmshorn gebauten MS Nordvær . Jahrelang war sie die norwegische Küste rauf und runter gefahren, zwischen Trondheim und den Lofoten, mit sehr wenigen Passagieren an Bord, vornehmen englischen Touristen. Sie wurde von der Verwaltung des »Britischen Territoriums im Indischen Ozean« gekauft, und eines Tages, viele Jahre später, setzte man sie bei den Seychellen, vor Desnœufs, auf Grund, damit sie fortan als Wellenbrecher diente.
Die englischen Passagiere des Schiffs wurden durch Chagossianer ersetzt. »Die Bedingungen waren nicht gut«, erinnerte sich Liseby. »Die Fahrt über den Ozean dauerte vier Tage. Wir kamen am 2. Mai 1973 in Mauritius an. Wir waren traurig. Wir hatten das Gefühl, wie Tiere oder Sklaven behandelt zu werden.« Bei der Ankunft weigerten sich die Passagiere zunächst, von Bord zu gehen, da sie nicht wussten, wohin, ohne Geld oder Unterkunft. »Von der Regierung von Mauritius oder von der katholischen Kirche war niemand dort, um sie abzuholen«, erzählte mir ein Chagossianer, der in Crawley lebte, »und der Kapitän des Schiffes, Ronny Saminaden, sagte, er hätte noch nie Menschen unter so schrecklichen Umständen befördert.« Diese entsetzlichen Umstände sollten eine dauerhafte Altlast bedeuten, eine, die viele Chagossianer daran zweifeln lassen würde, ob sie darauf bauen konnten, dass Mauritius sich in Zukunft ihrer Interessen annähme. Sie würde Unstimmigkeiten unter den in der Diaspora Lebenden schüren, darüber, wie ihre Interessen am besten zu schützen seien und ihrem Willen Ausdruck und Wirkung zu verleihen wäre.
Am Ende besorgte die Regierung von Mauritius Liseby und ihren Mann France eine einfache Unterkunft in der Nähe des Hafens von Port Louis, in einer Gegend namens Baie du Tombeau. »Bald nach unserer Ankunft verlor ich das Kind, mein erstes«, sagte Liseby. »Ich nehme an, es waren das Trauma und die Traurigkeit.« Etwa um diese Zeit wurden Liseby und France zum ersten Mal fotografiert, beide blicken ein wenig verlegen in die Kamera.
»Das Gebäude, in dem wir wohnten, war groß, mit drei Stockwerken, jedes aufgeteilt in Wohnungen. Ich glaube, sie waren für Hafenarbeiter gebaut worden. Ein oder zwei Blocks standen leer, und dort hinein steckten sie uns, die Chagossianer. Die Verhältnisse waren alles andere als angenehm. Es gab keine Fenster, keine Türen, überall war Schutt und Müll. Wir räumten alles auf und machten sauber, und dort wohnten wir dann, 14 Jahre lang, bis 1987. Wir waren zu viert oder fünft in jedem Zimmer.«
Liseby fing beinahe sofort an zu arbeiten. »Ich musste, da wir das Geld brauchten. Wir hatten nichts. Ich fing in einem Laden an, später arbeitete ich als Hausangestellte. Bald war ich wieder schwanger. Mein erstes Kind wurde dort geboren, 1977, ein Junge. Wir nannten ihn Desiré. Er starb 2016, in England. Nach ihm bekam ich noch fünf Kinder, ein Mädchen, das wir Anesa nannten, und dann noch vier Jungs. Jimmy. Ivan. Brian. Andy.«
Drei der Söhne leben heute in Manchester, England, der vierte Sohn und die Tochter auf Mauritius. »Sie alle wollen gern zurück nach Peros Banhos«, fügte sie hinzu. »Genau wie meine Brüder und Schwestern. Alle von ihnen sind am Leben, obwohl zwei von ihnen, France und Toto, in England wohnen, in Crawley. Wir alle dachten an Peros Banhos, jeden Tag. Wir alle fragten uns, was daraus geworden war. Wir tun es immer noch, jeden Tag.«