I
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Ich stehe am Fenster dieses großen Hauses in Südfrankreich, während draußen die Nacht anbricht, die Nacht, die mich dem schrecklichsten Morgen meines Lebens entgegenführt. Ich halte ein Glas in der Hand, die Flasche ist in Reichweite. Ich betrachte mein Spiegelbild in der matt glänzenden Fensterscheibe: eine hochgewachsene Gestalt, schmal wie ein Pfeil, mit schimmerndem blonden Haar. Mein Gesicht unterscheidet sich in nichts von vielen anderen Gesichtern. Meine Vorfahren haben einen Kontinent erobert, sind über todesschwangere Ebenen vorgedrungen, bis sie an einen Ozean kamen, hinter dem, fern von Europa, eine dunklere Vergangenheit lag.
Wenn der Morgen graut, bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts ändern. Nach Paris werde ich auf jeden Fall fahren. Der Zug wird der Gleiche sein, die Menschen, die auf den harten Holzbänken der dritten Klasse Bequemlichkeit und Würde miteinander zu vereinen suchen, werden die Gleichen sein, und ich werde der Gleiche sein. Wir werden durch dieselben ländlichen Gegenden nach Norden fahren, fort von den Olivenbäumen, dem Meer und der Pracht des sturmzerzausten südlichen Himmels, mitten hinein in den Dunst und Regen von Paris. Jemand wird mich auffordern, sein Frühstücksbrot mit ihm zu teilen, jemand wird mich zu einem Schluck Wein einladen, jemand wird mich um ein Streichholz bitten. Menschen werden durch die Gänge streifen, aus dem Fenster schauen, zu uns hereinstarren. Auf jeder Station werden junge Rekruten in schlecht sitzenden braunen Uniformen die Abteiltür aufschieben und fragen: »Complet?« Wir alle werden nicken und dann, wenn sie weitergehen, wie Verschwörer lächeln. Zwei oder drei von ihnen werden sich schließlich vor unser Abteil stellen, mit lauter, rauer Stimme unflätige Bemerkungen austauschen und dabei ihre schauderhaften Militärzigaretten rauchen. Mein Gegenüber, ein junges Mädchen, das sehr enttäuscht ist, weil ich nicht mit ihr flirte, wird beim Anblick der Rekruten neue Hoffnung schöpfen. Alles wird sein wie immer, nur ich werde diesmal stiller sein.
Auch die Landschaft ist still heute Abend, die Landschaft, die ich durch mein Spiegelbild hindurch sehe. Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rande eines kleinen Badeortes, der jetzt, vor dem Beginn der Saison, noch leer ist. Vom Fenster aus kann man auf die Lichter im Ort hinabblicken und das Dröhnen der See hören. Hella und ich haben das Haus auf Fotografien hin vor ein paar Monaten in Paris gemietet. Nun ist Hella schon eine ganze Woche fort. Sie schwimmt auf hoher See, fährt zurück nach Amerika.
Ich sehe sie vor mir: sehr elegant, hoch aufgerichtet, glitzernd und lichtumflossen im Salon des Ozeanriesen, sie trinkt ein bisschen zu hastig, sie lacht und beobachtet die Männer. So war es auch, als ich sie in einer Bar in Saint-Germain-des-Prés kennenlernte. Sie trank und beobachtete. Mir gefiel das, und ich dachte, mit ihr zusammen zu sein, müsste Spaß machen. So fing es an, das war alles, was ich bei ihr suchte. Und sogar jetzt bin ich trotz allem nicht sicher, ob es mir mehr bedeutet hat als das. Ich bezweifle auch, dass es ihr jemals mehr bedeutet hat – jedenfalls nicht vor ihrer Reise nach Spanien. Dort, sich selbst und ihren Gedanken überlassen, hat sie sich vermutlich gefragt, ob das ewige Trinken und Männerbeobachten eigentlich das sei, was sie vom Leben erhoffe. Aber da war es zu spät: Ich war schon bei Giovanni. Bevor sie nach Spanien fuhr, hatte ich sie gebeten, mich zu heiraten; sie lachte darüber, und ich lachte auch, aber irgendwie machte das die Frage für mich nur noch schwerwiegender, und so ließ ich nicht locker, bis sie erklärte, sie müsse für eine Weile wegfahren und nachdenken. Und hier, an ihrem letzten Abend, als ich sie zum letzten Mal sah, sagte ich ihr, während sie den Koffer packte, dass ich sie einmal geliebt hätte, und ich glaubte auch selber daran. Aber habe ich sie je geliebt? Es war wohl die Erinnerung an unsere Nächte, die mich so sprechen ließ, die Erinnerung an die eigenartige Unschuld und Vertrautheit, an alles, was nie wiederkehren wird und was jene Nächte so wunderbar machte, so losgelöst von allem Bisherigen und allem Kommenden, so endgültig losgelöst von meinem Leben, weil ich dabei nicht mehr als eine mechanische Verantwortung auf mich zu nehmen brauchte. Und es waren Nächte unter einem fremden Himmel – wir hatten nichts zu fürchten, weder neugierige Blicke noch Verbote oder Strafen. Gerade das wurde unser Verderben, denn nichts ist unerträglicher als die Freiheit, sobald man sie besitzt. Vielleicht wollte ich Hella nur deshalb heiraten, weil ich Geborgenheit suchte, einen Ankerplatz. Auch sie ließ sich wohl von diesem Wunsch leiten, als sie in Spanien beschloss, meine Frau zu werden. Doch leider können sich die Menschen ihre Ankerplätze, ihre Liebhaber und Freunde ebenso wenig aussuchen, wie ihnen die Wahl ihrer Eltern freisteht. Das Leben schenkt sie und nimmt sie, und die große Schwierigkeit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen.
Als ich Hella versicherte, dass ich sie geliebt hätte, dachte ich an jene Tage, da mir noch nichts Schreckliches, Unwiderrufliches geschehen war, an die Zeit, als eine Affäre eben nur eine Affäre war. Ganz gleich, aber in wie vielen Betten ich bis zur Stunde meines Todes noch liegen werde – nach dieser Nacht, nach dem Morgen, der kommt, ist es für mich vorbei mit solchen knabenhaften, begeistert genossenen Affären, die, wenn man es recht bedenkt, nichts weiter sind als eine höhere oder zumindest anspruchsvolle Art der Masturbation. Die Menschen sind zu verschieden, als dass man sie so leichthin behandeln könnte. Und ich bin zu mannigfaltig, als dass man mir trauen könnte. Andernfalls wäre ich jetzt nicht allein in diesem Haus, würde Hella nicht auf hoher See schwimmen, wäre Giovanni nicht dazu verdammt, irgendwann in dieser Nacht auf der Guillotine zu sterben.
Wenn es auch nichts mehr nützt, so bereue ich doch eine bestimmte Lüge unter all den vielen Lügen, die ich ausgesprochen, gelebt und geglaubt habe. Ich meine die Lüge, die ich Giovanni erzählte und die er mir nicht so recht glauben wollte: dass ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hätte. Ich hatte es getan und mir geschworen, es nie wieder zu tun. In dem Bild meiner selbst, das ich vor Augen habe, liegt etwas seltsam Fantastisches: Nach einer wilden Flucht, die mich weit fort führte, bis über den Ozean, hat mich die Bulldogge abermals in meinem Garten gestellt – nur dass der Garten inzwischen kleiner und die Bulldogge größer geworden ist.
Ich habe lange nicht mehr an diesen Jungen gedacht, doch heute Abend sehe ich ihn deutlich vor mir. Die Sache liegt Jahre zurück, ich ging damals noch zur Schule, und Joey war in meinem Alter, vielleicht etwas älter oder jünger als ich. Ein netter Junge, lebhaft, dunkelhaarig, stets zum Lachen aufgelegt. Eine Zeit lang war er mein bester Freund. Später war mir der Gedanke, dass ein solcher Mensch mein bester Freund hatte sein können, Beweis genug für einen entsetzlichen Makel in mir. Also vergaß ich Joey. Aber heute Abend sehe ich ihn ganz deutlich vor mir.
Es war Sommer, wir hatten Ferien. Joeys Eltern waren übers Wochenende fortgefahren, und ihr Haus, das in Brooklyn lag, nicht weit von Coney Island, gehörte uns beiden allein. Ich wohnte damals auch in Brooklyn, allerdings in einer besseren Gegend. Joey und ich lagen am Strand, schwammen ein bisschen, beobachteten die halbnackten Mädchen, die vorbeigingen, pfiffen hinter ihnen her und lachten. Hätte eine von ihnen auf unsere Pfiffe reagiert, ich glaube, der Ozean wäre nicht tief genug gewesen, unser Entsetzen und unsere Scham zu verbergen. Aber die Mädchen schienen das zu spüren – vielleicht errieten sie es aus unserer Art zu pfeifen –, und so ignorierten sie uns. Als die Sonne zu sinken begann, zogen wir unsere Sachen über die feuchte Badehose und schlenderten die Uferpromenade entlang.
Zu Hause, beim Duschen hat es wohl angefangen. Ich erinnere mich jedenfalls, dass mich ein nie gekanntes Gefühl überkam, als wir in dem kleinen, dampfigen Raum herumtollten und mit nassen Handtüchern aufeinander einschlugen. Es war ein Gefühl, das auf eine geheimnisvolle, ziellose Weise mit Joey zu tun hatte. Ich weiß auch noch, wie sehr es mir widerstrebte, mich anzukleiden – damals schob ich das auf die Hitze. Schließlich zogen wir uns aber doch an, aßen aus dem Kühlschrank etwas Kaltes zum Abendbrot und tranken dazu eine Menge Bier. Dann gingen wir fort, wahrscheinlich ins Kino, denn ich finde keinen anderen Grund, aus dem wir das Haus hätten verlassen sollen. Ich erinnere mich nur noch, dass wir durch die abendlichen tropisch heißen Straßen von Brooklyn gingen, wo die Hitze aus dem Asphalt quoll und von den Mauern mit mörderischer Gewalt zurückgeschleudert wurde, wo sämtliche Erwachsenen der Welt ungekämmt und laut schwatzend vor den Haustüren hockten und sämtliche Kinder der Welt auf den Gehsteigen, im Rinnstein oder auf den Feuertreppen spielten. Ich hatte den Arm um Joeys Schultern gelegt und war sehr stolz, weil er mir mit dem Kopf nur bis zum Ohrläppchen reichte. So spazierten wir dahin, Joey riss schmutzige Witze, und wir lachten. Seltsam, dass ich heute zum ersten Mal nach so langer Zeit daran denke, wie wohl ich mich an jenem Abend fühlte, wie vernarrt ich in Joey war.
Als wir zurückgingen, war es still auf den Straßen; auch wir waren still. In der Wohnung machten wir keinen Lärm, wir entkleideten uns, müde, wie wir waren, in Joeys Zimmer und gingen zu Bett. Ich schlief gleich ein. Plötzlich – ich hatte wohl schon längere Zeit geschlafen – wachte ich auf. Das Licht brannte, und Joey untersuchte mit geradezu verbissener Sorgfalt das Kopfkissen.
»Was ist los?«
»Ich glaube, mich hat eine Wanze gebissen.«
»Mensch, habt ihr hier Wanzen?«
»Mir war jedenfalls so, als hätte mich eine gebissen.«
»Ist dir das vorher schon mal passiert?«
»Nein.«
»Na, dann schlaf weiter. Du träumst ja.«
Er starrte mich mit offenem Mund an, seine dunklen Augen waren weit aufgerissen, als hätte er soeben zu seiner größten Verblüffung entdeckt, dass ich Fachmann für Bettwanzen war. Ich musste lachen und packte ihn beim Kopf, wie ich das oft tat, wenn wir uns im Scherz oder im Ernst balgten. Doch als ich ihn diesmal berührte, geschah etwas in ihm und in mir, was bewirkte, dass sich diese Berührung von jeder anderen unterschied, die er oder ich je erlebt hatten. Er wehrte sich auch nicht wie sonst, sondern blieb dort liegen, wo ich ihn hingezogen hatte, an meiner Brust. Ich merkte, dass mein Herz schrecklich klopfte und dass Joey zitterte und dass es im Zimmer sehr hell, sehr warm war. Ich wollte mich bewegen, irgendeine scherzhafte Bemerkung machen, aber Joey murmelte etwas Unverständliches, und ich beugte mich vor, um zu hören, was er sagte. Im gleichen Augenblick hob Joey den Kopf, und so kam es wie von ungefähr, dass wir uns küssten. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich den Körper eines anderen Wesens, nahm bewusst den Geruch eines anderen Wesens wahr. Wir hielten uns in den Armen. Es war, als umfingen meine Hände einen seltenen, zu Tode erschöpften Vogel, den ich wie durch ein Wunder gefunden hatte. Ich war sehr erschrocken und er sicherlich auch, und wir schlossen beide die Augen. Die schmerzhafte Deutlichkeit, mit der ich mich daran erinnere, beweist mir, dass ich es nie vergessen habe. Noch jetzt spüre ich in mir eine schwache, eine furchtbare Regung von dem, was mich damals mit solcher Gewalt überfiel: eine große durstige Leidenschaft, ein Zittern und Beben, ein so quälendes Verlangen, dass ich glaubte, mein Herz werde zerspringen. Doch aus dieser unerträglich beklemmenden Pein entstand das Entzücken, wir schenkten einander Entzücken in jener Nacht. Ein ganzes Leben, so schien mir, würde nicht ausreichen, das Liebesspiel mit Joey zu spielen.
Aber das Leben war kurz, war begrenzt durch die Nacht – es endete am nächsten Morgen. Als ich aufwachte, schlief Joey noch fest, auf der Seite liegend, zusammengekrümmt wie ein Embryo, mit halb offenem Mund und geröteter Wange. Sein lockiges Haar verdunkelte das Kissen und verdeckte zur Hälfte die feuchte, runde Stirn; die langen Augenwimpern blinkten leicht in der Sommersonne. Wir waren beide nackt, das Laken, das wir als Decke benutzten, hatte sich um unsere Füße gewunden. Joeys Körper, braun und verschwitzt, war die schönste Schöpfung, die ich je gesehen hatte. Schon streckte ich die Hand aus, um ihn zu wecken, doch irgendetwas hemmte mich. Vielleicht zögerte ich, weil er so unschuldig, so vertrauensvoll dalag, vielleicht auch, weil er so viel kleiner war als ich; mein eigener Körper erschien mir in diesem Moment plump und ungeschlacht, und das in mir aufsteigende Verlangen kam mir ungeheuerlich vor. Vor allem jedoch war es Angst, die mich zurückhielt. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Aber Joey ist ja ein Junge. Ich sah auf einmal die Kraft in seinen Schenkeln, seinen Armen, seinen locker geballten Fäusten. Die Kraft, die Verheißung, das Geheimnis dieses Körpers jagten mir Angst ein. Plötzlich erschien mir Joeys Leib wie die dunkle Öffnung zu einer Höhle, in der man mich foltern würde bis zum Wahnsinn, in der ich meine Männlichkeit einbüßen würde. Und doch wollte ich dieses Geheimnis ergründen, diese Kraft spüren, diese Verheißung durch mich erfüllt sehen. Der Schweiß auf meinem Rücken kühlte ab. Ich schämte mich. Das Bett in seiner süßen Unordnung zeugte von Verderbtheit. Was würde wohl Joeys Mutter sagen, wenn sie die Laken sah? Dann dachte ich an meinen Vater, der außer mir niemanden auf der Welt hatte, denn meine Mutter war ja gestorben, als ich noch klein war. Wieder tat sich in meiner Vorstellung die Höhle auf, finster, voll von Gerüchten, Verdächtigungen, schmutzigen Worten und halb gehörten, halb vergessenen, halb verstandenen Geschichten. In dieser Höhle liegt meine Zukunft, dachte ich, und mir wurde angst und bange. Ich hätte weinen mögen, weinen vor Scham und Entsetzen, weinen vor Ratlosigkeit, weil ich nicht begriff, wie so etwas passieren konnte, mir passieren konnte. Und ich fasste einen Entschluss. Ich stieg aus dem Bett, nahm eine kalte Dusche und zog mich an. Als Joey aufwachte, hatte ich das Frühstück schon fertig.
Ich sagte ihm nichts von meinem Entschluss – das hätte meine Willenskraft gebrochen. Statt mit ihm gemeinsam zu frühstücken, trank ich nur eine Tasse Kaffee und ging dann unter irgendeinem Vorwand nach Hause. Meine Ausrede konnte Joey natürlich nicht täuschen, aber weder protestierte er, noch drängte er mich zu bleiben; er ahnte ja nicht, dass ein Wort von ihm genügt hätte, mich umzustimmen. Ich, der ich ihn in jenem Sommer fast täglich gesehen hatte, besuchte ihn von nun an nicht mehr. Auch er ließ sich nicht bei mir blicken. Wäre er gekommen, so hätte mich das sehr glücklich gemacht, aber die Art meines Abschiednehmens hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, die keiner von uns aufzuhalten wusste. Als ich ihn zufällig gegen Ende der Sommerferien auf der Straße traf, erzählte ich ihm eine ganz und gar unwahre Geschichte von einem Mädchen, mit dem ich jetzt ginge, und als die Schule wieder begann, schloss ich mich einer Gruppe älterer und recht rüpelhafter Jungen an und war sehr garstig zu Joey. Und je trauriger er wurde, desto schlechter behandelte ich ihn. Eines Tages zog er fort, verließ unsere Gegend, unsere Schule, und ich sah ihn nie wieder.
Vielleicht war jener Sommer der Beginn meiner Einsamkeit und meiner wilden Flucht, die mich bis an dieses immer dunkler werdende Fenster geführt hat.
Und doch – fängt man an, nach dem entscheidenden, dem kritischen Augenblick zu fahnden, dem Augenblick, der alle anderen veränderte, so gerät man unversehens in einen Irrgarten, wo falsche Wegweiser und jäh sich schließende Türen einen immer wieder zur Umkehr zwingen. Gewiss, meine Flucht könnte in jenem Sommer begonnen haben, aber das gibt mir noch keinen Aufschluss über den Ursprung des Dilemmas, das sich damals in Flucht auflöste. Die Antwort steht vor mir, eingeschlossen in dem Spiegelbild, das ich im Fenster betrachte, während draußen die Nacht herabsinkt. Die Antwort ist bei mir ein Zimmer, sie war immer da, sie wird immer da sein, und doch ist sie mir ferner als die Hügel am fernen Horizont.
Wir lebten damals in Brooklyn, wie ich schon sagte; wir hatten auch in San Francisco gelebt, wo ich geboren bin und wo meine Mutter begraben liegt, und wir lebten eine Zeitlang in Seattle und dann in New York – New York ist für mich Manhattan. Später zogen wir von Brooklyn zurück nach New York, und als ich nach Frankreich ging, waren mein Vater und seine zweite Frau gerade nach Connecticut übergesiedelt. Damals stand ich natürlich längst auf eigenen Füßen und hatte eine Wohnung in den Sechziger Straßen der New Yorker East Side.
Wir, das waren mein Vater, seine unverheiratete Schwester und ich. Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern, aber in meiner Kindheit erschien sie mir oft im Traum von Würmern zerfressen, mit Haaren, die spröde wie dürre Zweige und kalt wie Metall waren, und so presste sie mich mit aller Kraft an ihren Körper, einen faulenden, beängstigend weichen Körper, der sich, wenn ich mich schreiend und strampelnd wehrte, in einen Schlund verwandelte und mich lebendig zu verschlingen drohte. Kamen dann mein Vater oder meine Tante ins Zimmer gestürzt, um zu sehen, was mich erschreckt hatte, so wagte ich nicht, ihnen diesen Traum zu beschreiben, der mir wie ein Verrat an meiner Mutter erschien. Ich sagte, ich hätte von einem Friedhof geträumt, und sie schlossen daraus, dass der Tod meiner Mutter mein seelisches Gleichgewicht gestört habe und dass ich ihr nachtrauerte. Wenn das zutrifft – was durchaus möglich ist –, dann trauere ich ihr heute noch nach.
Zwischen meinem Vater und meiner Tante gab es oft Auseinandersetzungen, und obgleich ich meinen Verdacht nicht hätte begründen können, schien mir, dass ihre Streitigkeiten stets mit meiner Mutter zusammenhingen. Ich erinnere mich aus meiner frühen Kindheit, wie in dem großen Wohnzimmer unseres Hauses in San Francisco die Fotografie meiner Mutter, für sich allein auf dem Kaminsims stehend, den ganzen Raum beherrschte. Dieses Bild schien zu beweisen, in welchem Maße ihr Geist noch immer die Atmosphäre beeinflusste und uns alle in der Gewalt hatte. Ich erinnere mich auch an die dichten Schatten in den Ecken dieses Zimmers, in dem ich mich nie heimisch fühlte, und an meinen Vater, der im Lehnstuhl saß, vom goldgelben Licht der Stehlampe umflossen. Er las die Zeitung, und da das Blatt ihn meinen Blicken entzog, bemühte ich mich verzweifelt, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich reizte ihn dadurch mitunter bis zur Weißglut, und die Folge war, dass ich unter Tränen aus dem Zimmer getragen wurde. Bisweilen saß mein Vater regungslos da, weit vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und starrte auf das große Fenster, hinter dem die tintenschwarze Nacht stand. Ich fragte mich dann immer, woran er wohl denken mochte. Wenn ich sein Bild heraufbeschwöre, trägt er stets einen ärmellosen grauen Pullover, hat die Krawatte gelockert, und das sandfarbene Haar fällt in sein kantiges, rotwangiges Gesicht. Er gehörte zu den Menschen, die gern lachen und nicht so leicht in Harnisch geraten, die aber, wenn die Wut sie packt, umso heftiger aufbrausen – wie ein Feuer, das unvermutet aus einem Spalt auflodert und im Handumdrehen das ganze Haus verzehrt.
Und Ellen, seine Schwester, etwas älter als er, etwas dunkelhaariger, mit einem Gesicht und einer Figur, die im ersten Stadium der Verhärtung stehen, immer zu auffällig angezogen, zu stark geschminkt und mit zu viel Schmuck behängt, der im Licht klirrt und glitzert, Ellen sitzt auf dem Sofa und liest; sie las sehr viel, alle Neuerscheinungen, und sie ging sehr oft ins Kino. Oder sie strickt. Mir scheint, sie trug stets einen großen Beutel mit gefährlich hervorstehenden Stricknadeln bei sich oder ein Buch oder beides. Was sie eigentlich strickte, weiß ich nicht. Ich nehme an, sie hat zumindest gelegentlich etwas für meinen Vater oder für mich gestrickt, aber erinnern kann ich mich nicht mehr daran, ebenso wenig wie an die Bücher, die sie las. Mir ist, als wäre es immer dasselbe Buch gewesen, als hätte sie immer an demselben Schal oder Pullover gearbeitet in all den Jahren, die ich sie kannte. Manchmal – sehr selten – spielten sie und mein Vater Karten; manchmal unterhielten sie sich in freundlich neckendem Ton, doch das war gefährlich, denn es endete meistens mit einem Streit. Hin und wieder kamen Gäste, und ich durfte zusehen, wie sie Cocktails tranken. Dann war mein Vater in seinem Element. Jungenhaft fröhlich ging er in dem überfüllten Zimmer umher, versorgte die Gäste mit Drinks, lachte viel, behandelte die Männer wie seine Brüder und flirtete mit den Frauen. Oder nein, er flirtete nicht mit ihnen, sondern stolzierte wie ein Hahn vor ihnen auf und ab. Ellen ließ ihn nicht aus den Augen, als hätte sie Angst, er werde irgendetwas Dummes anstellen; sie beobachtete ihn und die Frauen und, jawohl, sie flirtete in einer befremdenden, auf die Nerven gehenden Art mit den Männern. Man stelle sie sich vor: unglaublich aufgeputzt, der Mund röter als Blut, in einem Kleid, das entweder die verkehrte Farbe hatte oder zu eng war oder zu jugendlich wirkte, das Cocktailglas so fest in der Hand, dass es jeden Augenblick zu zersplittern drohte, und dann diese Stimme, als ziehe man eine Rasierklinge auf Glas ab. Ich fürchtete mich vor ihr.
Ganz gleich, was sich im Wohnzimmer abspielte, meine Mutter sah zu. Sie blickte aus dem Bilderrahmen, eine blasse, zarte Frau, blond, dunkeläugig, mit hoher Stirn und einem weichen, nervösen Mund. Aber irgendetwas in der Art, wie ihre Augen im Kopf saßen und geradeaus schauten, irgendetwas kaum merklich Überlegenes und Wissendes um die Mundpartie verriet, dass sich unter dieser gespannten Zerbrechlichkeit eine unbeugsame Kraft verbarg, die ebenso gefährlich, weil unerwartet war wie die Wutausbrüche meines Vaters. Selten sprach mein Vater von ihr, und wenn, dann mit einem Gesicht, das sich auf geheimnisvolle Weise verhüllte; er sprach von ihr nur als von meiner Mutter, und nach seinem Tonfall zu urteilen, hätte es ebenso gut seine eigene Mutter sein können. Ellen dagegen sprach oft von ihr und betonte stets, sie sei eine außergewöhnliche Frau gewesen. Ich verspürte Unbehagen, wenn sie so redete, denn mir war, als hätte ich kein Recht, der Sohn einer solchen Mutter zu sein.
Viele Jahre später – ich war bereits erwachsen – wollte ich meinen Vater dazu bringen, dass er mir von meiner Mutter erzählte. Ellen war damals schon tot, und er stand im Begriff, wieder zu heiraten. Er sprach genauso von meiner Mutter, wie Ellen von ihr gesprochen hatte, ja eigentlich so, als spräche er von Ellen.
Ich war ungefähr dreizehn Jahre alt, als ich Zeuge eines Wortwechsels zwischen den beiden wurde. Sie hatten oft Streit miteinander, aber an diesen erinnere ich mich besonders deutlich, denn es drehte sich dabei um mich.
Es war in der Nacht. Ich lag im oberen Stockwerk im Bett und schlief. Plötzlich weckte mich ein Geräusch auf der Straße: die Schritte meines heimkehrenden Vaters. Klang und Rhythmus verrieten mir, dass er leicht betrunken war, und ich weiß noch, dass ich in diesem Augenblick eine gewisse Enttäuschung, eine unerklärliche Traurigkeit empfand. Ich hatte ihn schon oft betrunken gesehen und dabei nie dieses Gefühl gehabt – im Gegenteil, mein Vater konnte sehr charmant sein, wenn er betrunken war –, doch in dieser Nacht hatte ich sofort den Eindruck von etwas Verabscheuungswürdigem.
Ich hörte ihn hereinkommen, und gleich darauf hörte ich Ellens Stimme.
»Bist du noch nicht im Bett?«, fragte mein Vater. Er sprach freundlich und wollte offenbar eine Szene vermeiden, aber in seiner Stimme lag keine Herzlichkeit, nur mühsam unterdrückte Erbitterung.
»Ich bin aufgeblieben«, erwiderte Ellen kalt, »weil dir endlich mal jemand klarmachen muss, was du deinem Sohn antust.«
»Was tue ich meinem Sohn an?« Er war drauf und dran, noch mehr zu sagen, etwas Schreckliches, doch er beherrschte sich und sagte nur mit einer resignierten, trunkenen, verzweifelten Ruhe: »Wovon redest du eigentlich, Ellen?«
»Glaubst du wirklich«, fragte sie – ich war sicher, sie stand mitten im Zimmer, mit gefalteten Händen, aufrecht und unbeweglich –, »dass du die Art von Mann bist, die er sein sollte, wenn er erwachsen ist?« Und als mein Vater schwieg: »Er wird nämlich so langsam erwachsen. Was man von dir nicht behaupten kann.«
»Geh schlafen, Ellen«, sagte mein Vater müde.
Da sie über mich sprachen, hatte ich das Gefühl, ich müsste hinuntergehen und Ellen erklären, dass alles, was etwa zwischen meinem Vater und mir nicht stimmte, ohne ihre Hilfe in Ordnung gebracht werden könnte. Und vielleicht – so seltsam es klingt – betrachtete ich ihre Worte als beleidigend für mich, denn ich hatte ja zu ihr nie etwas gegen meinen Vater gesagt.
Ich hörte ihn mit schweren, unsicheren Schritten auf die Treppe zugehen.
»Bilde dir nur nicht ein, dass ich nicht weiß, wo du warst«, begann Ellen von Neuem.
»Ich war aus … trinken …«, murmelte mein Vater. »Und jetzt möchte ich schlafen. Hast du was dagegen?«
»Du bist wieder bei dieser Beatrice gewesen«, sagte Ellen. »Immer gehst du zu ihr, all dein Geld, all deine Männlichkeit und all deine Selbstachtung bleiben dort.«
Es war ihr gelungen, ihn aufzubringen. Er begann zu stammeln.
»Wenn du glaubst … wenn du wirklich glaubst, dass ich hier stehe … stehe … stehe … um mit dir über mein Privatleben, mein Privatleben zu streiten, wenn du glaubst, ich werde darüber mit dir streiten, dann bist du nicht recht bei Trost.«
»Dein Privatleben interessiert mich nicht im Geringsten«, erwiderte Ellen. »Wenn ich mir Sorgen mache, dann bestimmt nicht um dich. Hier geht es nur darum, dass du der einzige Mensch bist, den David als Autorität anerkennt. Mich erkennt er nicht an. Und eine Mutter hat er ja nicht. Auf mich hört er nur, wenn er denkt, dass er dir damit einen Gefallen tut. Meinst du wirklich, dass es gut für ihn ist, wenn er dich immer betrunken nach Hause kommen sieht? Und mach dir nichts vor«, fügte sie erregt hinzu, »er weiß ganz genau, wo du gewesen bist. Rede dir bloß nicht ein, er wüsste nichts von deinen Weibern!«
Damit hatte sie unrecht. Ich glaube kaum, dass ich damals schon von ihnen wusste – jedenfalls hatte ich nie darüber nachgedacht. Aber von da an dachte ich unaufhörlich darüber nach. Ich konnte kaum noch an einer Frau vorbeigehen, ohne mich zu fragen, ob mein Vater sich auch mit ihr ›eingelassen‹ hatte, wie Ellen es ausdrückte.
»Wenn das zutrifft«, sagte mein Vater, »dann ist mir klar, wem er dieses Wissen verdankt.«
Das Schweigen, in dem er die Treppe hinaufstieg, war das schlimmste Schweigen, das ich je erlebt habe. Ich überlegte, was die beiden wohl dachten, wie sie wohl aussahen. Und wie würde es sein, wenn ich ihnen am nächsten Morgen begegnete?
»Merk dir das eine«, rief mein Vater plötzlich mit einer Stimme, die mich erschreckte, »mein größter Wunsch ist, dass David zu einem Mann heranreift. Und wenn ich sage ein Mann, dann meine ich keinen Sonntagsschullehrer.«
»Ein Mann«, versetzte Ellen, »ist nicht dasselbe wie ein Bulle. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte er nach einer Pause.
Und ich hörte ihn an meiner Tür vorbeitorkeln.
Von da an verachtete ich meinen Vater und hasste Ellen mit der dunklen, schrecklichen, wissenden Intensität sehr junger Menschen. Schwer zu sagen, warum. Ich kann es nicht erklären. Aber es führte dahin, dass sich Ellens Prophezeiung bewahrheitete. Eines Tages, hatte sie gesagt, werde nichts und niemand mehr Einfluss auf mich haben, nicht einmal mein Vater. Und dieser Tag kam. Der Zwischenfall mit Joey hatte mich tief aufgewühlt, und die Folge war, dass ich hart und verschlossen wurde. Über das, was geschehen war, konnte ich mit keinem Menschen sprechen, ich konnte es nicht einmal mir selber eingestehen, und wenn ich mich auch zwang, nicht mehr daran zu denken, so lag es doch auf dem Grunde meiner Seele, grauenhaft still wie ein faulender Leichnam. Und es veränderte, es trübte, es verbitterte meinen Gemütszustand. Bald war ich es, der spätabends torkelnd heimkehrte, von Ellen erwartet und mit Vorwürfen überhäuft, auf die ich ihr die Antwort nicht schuldig blieb.
Mein Vater stellte sich auf den Standpunkt, dies sei nur eine Entwicklungsphase, und er tat so, als nehme er es nicht schwer. Aber hinter seiner kameradschaftlich unbekümmerten Art verbargen sich Ratlosigkeit und Furcht. Er hatte wohl gehofft, wir würden einander näherkommen, wenn ich heranwuchs – und nun, da er mich zu verstehen suchte, musste er erkennen, dass ich auf der Flucht vor ihm war. Ich wollte nicht, dass er mich verstand. Ich wollte von niemandem verstanden werden. Und dann kam jene Periode, die in den Beziehungen junger Menschen zu ihren Eltern unvermeidlich ist: Ich fing an, über meinen Vater zu Gericht zu sitzen. Und gerade die Härte des Urteils, die mir ans Herz ging, offenbarte mir – wenn ich es damals auch nicht in Worte hätte kleiden können –, wie groß meine Liebe zu ihm gewesen war, jene Liebe, die nun, zugleich mit meiner Unschuld, immer mehr dahinschwand.
Mein armer Vater war verwirrt und beunruhigt. Er wollte einfach nicht glauben, dass zwischen uns ernstlich etwas nicht stimmte. Und das kam nicht allein daher, dass er in diesem Fall nicht gewusst hätte, was er tun sollte; es lag hauptsächlich daran, dass er sich dann hätte eingestehen müssen, irgendetwas von äußerster Wichtigkeit unterlassen zu haben. Und da weder er noch ich die leiseste Ahnung hatten, worin diese so wesentliche Unterlassung bestand, und da wir überdies gezwungen waren, in schweigendem Bündnis gegen Ellen zu verbleiben, nahmen wir unsere Zuflucht zu gegenseitiger Herzlichkeit. Wir waren, so pflegte mein Vater stolz zu sagen, nicht wie Vater und Sohn, sondern wie zwei gute Kameraden. Vielleicht glaubte er sogar daran – wenigstens zeitweise. Ich nie. Ich brauchte keinen Kameraden, ich brauchte einen Vater. Das, was er als männliche Freimütigkeit bezeichnete, stieß mich ab und erschreckte mich. Väter sollten sich niemals vor ihren Söhnen völlig entblößen. Ich wollte nichts davon hören – jedenfalls nicht aus seinem Munde –, dass sein Fleisch genauso sündig war wie meines. Ein solches Wissen bewirkte keineswegs, dass ich mich in stärkerem Maße als sein Sohn – oder sein Kamerad – fühlte; ich kam mir nur vor wie ein Eindringling, noch dazu wie ein verängstigter Eindringling. Er dachte, wir wären gleich. Ich wehrte mich gegen diesen Gedanken. Ich wollte nicht glauben, dass mein Leben jemals dem seinen gleichen, dass es jemals so blass, ohne Härten und steile Abgründe sein werde. Er wünschte keine Distanz zwischen uns, ich sollte ihn als meinesgleichen betrachten. Ich aber sehnte mich nach der trostreichen Distanz zwischen Vater und Sohn, die es mir ermöglicht hätte, ihn zu lieben.
Eines Nachts – ich fuhr mit einigen Freunden von einer Gesellschaft nach Hause und war betrunken – überschlug sich der Wagen, den ich selbst lenkte. Es war ausschließlich meine Schuld. Ich war so betrunken, dass ich kaum noch gehen konnte, und hätte natürlich nicht fahren dürfen. Die anderen wussten das nicht, da ich zu den Leuten gehöre, die auch dann noch völlig nüchtern wirken, wenn sie praktisch dem Zusammenbruch nahe sind. Auf einer geraden, ebenen Strecke der Landstraße verlor ich plötzlich das Reaktionsvermögen und damit die Kontrolle über den Wagen. Ein Telegrafenmast, schaumweiß, kam kreischend aus der Dunkelheit auf mich zugerast; ich hörte Schreie, ein dumpfes Dröhnen, ein splitterndes Geräusch. Um mich herum wurde es scharlachrot, dann taghell, und ich versank in eine nie gekannte Finsternis.
Auf dem Transport ins Krankenhaus muss ich für einen Moment zu mir gekommen sein, denn ich erinnere mich undeutlich an Bewegung und Stimmen, die aber weit weg zu sein schienen. Später erwachte ich in einem Raum, der mir wie der Inbegriff des Winters vorkam, mit hoher weißer Decke, weißen Wänden, und einem Fenster, das wie ein Gletscher über mir aufragte. Ich glaube, ich versuchte mich aufzurichten, denn ich kann mich an ein schreckliches Brausen in meinem Kopf erinnern, an eine Zentnerlast auf meiner Brust, an ein riesenhaftes Gesicht über mir. Und als diese Zentnerlast, dieses Gesicht mich niederdrücken wollte, schrie ich nach meiner Mutter. Dann wurde es wieder dunkel.
Als ich die Augen zum zweiten Mal öffnete, stand mein Vater an meinem Bett. Ich wusste, dass er da war, bevor ich ihn wahrnahm und vorsichtig den Kopf zur Seite drehte. Er sah, dass ich wach war, trat behutsam einen Schritt näher und bedeutete mir mit einer Handbewegung, ganz still zu liegen. Er sah sehr alt aus. Ich hätte am liebsten geweint. Eine Zeit lang starrten wir uns schweigend an.
»Wie fühlst du dich?«, flüsterte er schließlich.
Bei dem Versuch zu sprechen, merkte ich, dass ich Schmerzen hatte, und ich erschrak heftig. Die Angst schien sich in meinen Augen widerzuspiegeln, denn er sagte leise, mit einer rührenden Intensität in der Stimme: »Nicht aufregen, David. Alles wird wieder gut, alles wird wieder gut.«
Sprechen konnte ich noch immer nicht. Ich blickte ihn nur an.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr Jungen habt mächtiges Glück gehabt. Dich hat’s am schlimmsten erwischt.«
»Ich war betrunken«, brachte ich endlich heraus. Es drängte mich, ihm alles zu gestehen – aber das Reden tat so entsetzlich weh.
»Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein, als wie ein Irrer durch die Gegend zu fahren, wenn du betrunken bist?«, fragte er mit einem Ausdruck äußerster Ratlosigkeit – in diesem Fall konnte er sich ja erlauben, seine Verwirrung offen einzugestehen. »So was Unvernünftiges«, fügte er streng hinzu und presste die Lippen zusammen. »Ihr hättet alle tot sein können.« Seine Stimme zitterte.
»Es tut mir leid«, sagte ich plötzlich. »Es tut mir leid.« Was mir leidtat, wusste ich nicht in Worten auszudrücken.
»Ist schon gut«, murmelte er. »Aber sei das nächste Mal vorsichtiger, ja?« Er glättete sein Taschentuch, das er in der Hand zerknüllt hatte, und wischte mir die Stirn ab.
»Du bist alles, was ich habe«, sagte er mit einem scheuen, schmerzlichen Lächeln. »Sei vorsichtig.«
»Daddy …«. Ich brach in Tränen aus. Sprechen war eine Qual, aber Weinen war noch viel, viel schlimmer. Und trotzdem konnte ich nicht aufhören.
Meines Vaters Gesicht veränderte sich. Es wurde schrecklich alt und gleichzeitig hilflos jung. Ich weiß noch genau, mit welchem Erstaunen ich entdeckte, dass mein Vater gelitten hatte und noch immer litt.
»Nicht weinen«, flüsterte er, »nicht weinen.« Er fuhr mit dem blödsinnigen Taschentuch über meine Stirn, als berge es einen heilenden Zauber. »Kein Grund zum Weinen. Alles wird wieder gut.« Er war selbst den Tränen nahe. »Ist doch alles in Ordnung, nicht wahr? Oder habe ich was falsch gemacht?« Und dabei strich er immerzu mit dem Taschentuch über mein Gesicht, sodass ich kaum noch Luft bekam.
»Wir waren betrunken«, sagte ich. »Betrunken waren wir.« Irgendwie schien dieses Wort alles zu erklären.
»Tante Ellen behauptet, es sei meine Schuld. Ich hätte dich nicht richtig erzogen.« Er steckte das Taschentuch ein, Gott sei Dank, und richtete sich mit einer müden Bewegung auf. »Du hast nichts gegen mich, nicht wahr? Oder doch?«
Meine Tränen trockneten, auf dem Gesicht und im Herzen. »Nein«, antwortete ich, »nein, wirklich nicht.«
»Ich habe mein Bestes getan«, sagte er. Ich sah ihn an. Schließlich meinte er in munterem Ton: »Na, eine Weile wirst du ja noch liegen müssen, auch zu Hause, wenn sie dich hier rauslassen, aber dann haben wir wenigstens Zeit, miteinander zu reden und uns ein paar Gedanken über die Zukunft zu machen. Okay?«
»Okay«, sagte ich.
Wir hatten nie irgendwelche Aussprachen gehabt, und mir war klar, dass wir jetzt erst recht keine haben würden. Ich wusste jedoch, dass ich meinem Vater diese Erkenntnis verschweigen musste. Als ich wieder zu Hause war, sprach er mit mir über meine Zukunft, aber da stand mein Entschluss bereits fest. Ich wollte nicht das College besuchen, ich wollte nicht bei Ellen und ihm bleiben. Und ich ging mit meinem Vater so geschickt um, dass er tatsächlich glaubte, mein Wunsch, eine Stellung zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen, sei das unmittelbare Ergebnis seiner Ratschläge und seiner Erziehung. Ich machte mich also selbstständig, und nun war es natürlich viel einfacher, mit ihm fertig zu werden, und er brauchte sich nie mehr aus meinem Leben ausgeschlossen zu fühlen, da ich ihm immer genau das sagen konnte, was er zu hören wünschte. Wir kamen sogar recht gut miteinander aus, denn das Bild, das ich ihm von meinem Leben entwarf, entsprach genau dem Bild, an das ich selbst glauben wollte, ja unbedingt glauben musste.
Denn ich gehöre – oder gehörte – zu den Menschen, die stolz sind auf ihre Willenskraft, auf ihre Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen und sie auch durchzuführen. Diese Tugend ist, wie die meisten Tugenden, zweideutig. Menschen, die sich für willensstarke Herren ihres Geschicks halten, können diesen Glauben nur bewahren, wenn sie zu Spezialisten der Selbsttäuschung werden. Ihre Entscheidungen sind in Wirklichkeit gar keine Entscheidungen – eine echte Entscheidung macht einen demütig, man weiß, dass sie von ungezählten Einflüssen abhängig ist –, es sind vielmehr kunstvoll ausgeklügelte Systeme, dem Endgültigen geschickt auszuweichen, Illusionen, dazu bestimmt, die Welt und sich selbst als das erscheinen zu lassen, was sie nicht sind. So verhielt es sich zweifellos auch mit der Entscheidung, die ich vor langer Zeit in Joeys Bett getroffen hatte. Ich beschloss damals, dass im Weltall kein Platz sein dürfte für das, was mich mit Scham und Furcht erfüllte. Diese Elimination gelang mir sehr gut, und zwar dadurch, dass ich weder auf das Weltall noch auf mich blickte, sondern in ständiger Bewegung blieb. Allerdings schützt ständige Bewegung nicht vor gelegentlichen Flauten, einem Absinken wie bei einem Flugzeug, das in ein Luftloch gerät. Und solche Flauten gab es bei mir eine ganze Menge, alle trunken und schmutzig, in einem Fall überdies sehr erschreckend. Das war, als ich beim Militär mit einem Schwulen zusammentraf, der später vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Die Panik, die seine Bestrafung in mir auslöste, ließ mich mehr denn je das Entsetzen verstehen, das ich zuweilen in den Augen eines anderen las.
Mit der Zeit wurde ich der ständigen Bewegung überdrüssig. Ich ahnte nicht, was dieses Gefühl innerer Leere bedeutete, aber ich hatte alles so satt: die freudlosen alkoholischen Orgien, die stumpfsinnigen, plumpen und gänzlich unwichtigen Freundschaften, die Abenteuer mit draufgängerischen Frauen, die Arbeit, die mich ernährte, aber nicht befriedigte. Vielleicht wollte ich mich selbst finden, wie wir in Amerika sagen. Diese interessante Redewendung, die meines Wissens in keiner anderen Sprache gebräuchlich ist, darf natürlich nicht im wörtlichen Sinne verstanden werden; sie umschreibt den quälenden Verdacht, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, nämlich dass dieses Ich, dem ich nachspürte, dasselbe Ich war, dem zu entfliehen ich mich so sehr bemüht hatte, dann wäre ich wohl zu Hause geblieben. Und doch – ich glaube, im Grunde meines Herzens wusste ich genau, was ich tat, als ich mich nach Frankreich einschiffte.
2
Ich lernte Giovanni zu einer Zeit kennen, als ich kein Geld hatte. Es war während meines zweiten Jahres in Paris. Am Morgen des Tages, an dem wir uns begegneten, hatte man mich aus meinem Zimmer hinausgeworfen. Ich schuldete keinen Riesenbetrag, nur etwa sechstausend Francs, aber Pariser Hoteliers haben ein besonderes Talent, Armut zu wittern, und wie jeder, der einen schlechten Geruch wahrnimmt, beseitigen sie schleunigst das, was stinkt.
Mein Vater hatte auf seinem Bankkonto Geld, das mir gehörte, ließ sich jedoch immer lange bitten, bevor er mir etwas schickte. Er wollte, dass ich nach Hause käme, um – wie er sagte – ein sesshaftes Leben zu führen. Jedes Mal, wenn er das sagte, musste ich an den Bodensatz eines stagnierenden Teiches denken. Ich hatte damals nicht viele Bekannte in Paris, und Hella war in Spanien. Die wenigen Leute, mit denen ich verkehrte, gehörten fast alle zum milieu, wie die Pariser es bisweilen ausdrücken, und während dieses Milieu eifrig bestrebt war, sich meiner zu bemächtigen, war ich ebenso eifrig bestrebt, dem Milieu und mir selbst zu beweisen, dass ich nicht dazugehörte. Ich tat das, indem ich viel mit diesen Leuten zusammen war und sie mit einer Toleranz behandelte, die mich, wie ich glaubte, über jeden Verdacht erhaben machte. Ich hatte natürlich an Freunde in Amerika um Geld geschrieben, aber der Atlantische Ozean ist tief und breit, und Geld kommt nicht im Eiltempo vom anderen Ufer.
So ging ich denn bei einem lauwarmen Espresso in einem Boulevardcafé mein Adressenverzeichnis durch und beschloss, einen guten Bekannten namens Jacques anzurufen, der mir oft gesagt hatte, ich solle mich doch mal bei ihm melden. Er war ein ältlicher amerikanischer Geschäftsmann belgischer Herkunft, hatte eine große, komfortable Wohnung, eine Menge Geld, und es gab bei ihm sehr viel zu trinken. Wie ich vorausgesehen hatte, war er überrascht, von mir zu hören, und bevor der Reiz der Überraschung einem Gefühl des Misstrauens weichen konnte, hatte er mich schon zum Abendessen eingeladen. Hinterher wird er wohl geflucht und nach seiner Brieftasche gegriffen haben, doch da war es zu spät. Jacques ist im Grunde gar nicht so übel. Er mag ein Narr und ein Feigling sein – nun ja, das eine oder andere ist schließlich fast jeder, und die meisten sind beides. Irgendwie hatte ich ihn gern. Er war ein verrückter Kerl, aber er war so einsam; heute weiß ich, dass die Verachtung, die ich für ihn empfand, eng verbunden war mit der Verachtung meiner selbst. Er konnte unglaublich großzügig sein, und er konnte unglaublich knauserig sein. Er wollte jedem vertrauen und war doch unfähig, irgendeinem zu trauen; um das zu verschleiern, warf er sein Geld wahllos unter die Leute und wurde natürlich ausgenutzt. Dann klappte er die Brieftasche zu, verschloss seine Tür und überließ sich jenem heftigen Selbstmitleid, das vielleicht das Einzige war, was er wirklich besaß. Lange Zeit dachte ich, er habe mit seiner großen Wohnung, seinen gut gemeinten Versprechungen, seinem Whisky, seinem Marihuana, seinen Orgien dazu beigetragen, Giovanni umzubringen. Und vielleicht trifft das sogar zu. Aber an Jacques’ Händen klebt bestimmt nicht mehr Blut als an meinen.
Ich erinnere mich an meine letzte Begegnung mit Jacques, kurz nach Giovannis Verurteilung. »Er saß, in seinen Wintermantel gehüllt, vor einem Café und trank einen vin chaud. Als ich vorüberging, rief er meinen Namen.
Er sah nicht gut aus, sein Gesicht war fleckig, die Augen hinter den Brillengläsern glichen den Augen eines Sterbenden, der sich verzweifelt nach Hilfe umschaut.
»Hast du von Giovanni gehört?«, flüsterte er.
Ich nickte. Die Wintersonne schien, und ich fühlte mich so kalt und so weit entfernt wie die Sonne.
»Es ist schrecklich«, stöhnte Jacques. »Schrecklich, schrecklich, schrecklich.«
»Ja«, sagte ich. Mehr konnte ich nicht sagen.
»Warum hat er das nur getan?«, fuhr Jacques fort. »Warum hat er sich nicht an seine Freunde gewandt?« Er blickte mich an. Wir wussten beide, dass Jacques sich geweigert hatte, Geld herauszurücken, als Giovanni ihn das letzte Mal darum bat. Ich schwieg. »Es heißt ja, dass er angefangen hatte, Opium zu nehmen«, fügte Jacques hinzu, »und dass er das Geld dafür brauchte. Hast du davon gehört?«
Ja, ich hatte davon gehört. Es war nur ein Gerücht, von irgendeiner Zeitung aufgebracht, doch ich hatte guten Grund, ihm Glauben zu schenken. Ich kannte ja das Ausmaß von Giovannis Verzweiflung, die brennende Qual, die so ungeheuerlich gewesen war, dass er sie nur noch als Leere empfand. »Ich will dieser schmutzigen Welt, diesem schmutzigen Körper entrinnen«, hatte er zu mir gesagt. »Je veux m’évader. Und nie wieder will ich es bei der Liebe mit etwas anderem zu tun haben als mit dem Körper.«
Jacques wartete, aber statt ihm zu antworten, starrte ich auf die Straße. Ich dachte daran, dass Giovanni sterben musste – da, wo Giovanni gewesen war, würde nichts, für alle Zeit nichts mehr sein.
»Ich hoffe, es ist nicht meine Schuld«, sagte Jacques schließlich. »Weil ich ihm damals das Geld nicht gegeben habe … Ich ahnte ja nicht … Sonst hätte ich ihm doch alles gegeben, was ich besitze.«
Ich wusste ebenso gut wie er, dass er nichts dergleichen getan hätte.
»Und ihr beide«, forschte Jacques, »ihr wart nicht glücklich miteinander?«
Ich stand auf. »Nein. Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, wenn er sein italienisches Dorf nie verlassen hätte, wenn er Olivenbäume gepflanzt, eine Menge Kinder gezeugt und seine Frau jeden Abend verprügelt hätte. Er hat immer so gern gesungen«, fiel mir plötzlich ein. »Dort unten hätte er sich durchs Leben singen können und wäre im Bett gestorben.«
Darauf erwiderte Jacques etwas, was mich sehr überraschte. Die Menschen sind eben voller Überraschungen, sogar für sie selbst, wenn sie erst einmal aufgewühlt sind. Er sagte: »Niemand darf für immer im Garten Eden verweilen.« Und nach einer Pause: »Warum eigentlich nicht?« Ich ging nicht darauf ein, und gleich darauf verabschiedete ich mich. Hella war seit längerer Zeit aus Spanien zurück, wir planten bereits, dieses Haus zu mieten, und ich hatte eine Verabredung mit ihr.
Seither habe ich oft über Jacques’ Frage nachgedacht. Eine banale Frage. Aber auch das Leben ist banal, und gerade darin liegt eine seiner größten und echtesten Schwierigkeiten. Jeder von uns wandelt auf der gleichen dunklen Straße – und die Straße hat die Eigenheit, immer dann besonders dunkel und voller Fallstricke zu sein, wenn sie uns besonders hell und eben erscheint –, und es stimmt, dass niemand für immer im Garten Eden verweilen darf. Gewiss, Jacques’ Garten glich nicht dem von Giovanni. Bei Jacques ging es um Fußballspieler, bei Giovanni um jungfräuliche Mädchen – doch dieser Unterschied schien hier nicht viel auszumachen. Vielleicht hat jeder von uns einen eigenen Garten Eden – ich weiß es nicht –, aber kaum haben die Menschen einen Blick auf ihren Garten geworfen, da taucht schon das flammende Schwert vor ihnen auf. Und dann stellt das Leben sie vor die Wahl, sich entweder an den Garten zu erinnern oder ihn zu vergessen. Entweder oder. Das Erinnern erfordert Kraft, das Vergessen erfordert eine andere Art von Kraft, und beides vermag nur ein Held fertigzubringen; Menschen, die sich erinnern, beschwören den Wahnsinn durch Schmerz herauf, durch den Schmerz über den ständig wiederkehrenden Tod ihrer Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Art von Wahnsinn herauf, den Wahnsinn, der durch Schmerzverleugnung und Hass auf die Unschuld entsteht, und die Welt ist vorwiegend bevölkert mit Wahnsinnigen, die sich erinnern, und mit Wahnsinnigen, die vergessen. Helden sind selten.
Jacques hatte mich damals nicht in seine Wohnung zum Essen eingeladen, sondern ins Restaurant, weil ihm sein Koch davongelaufen war. Alle seine Köche liefen ihm davon. Es gelang ihm immer, Gott weiß, wie, junge Burschen aus der Provinz zu überreden, dass sie als Koch zu ihm kamen; sobald sie sich aber in der Hauptstadt zurechtgefunden hatten, stellten sie fest, dass Kochen das Letzte war, was sie tun wollten. Gewöhnlich endete es damit, dass sie in die Provinz zurückkehrten, abgesehen von denen, die in der Gosse, im Gefängnis oder in Indochina landeten.
Wir trafen uns in einem recht guten Restaurant in der Rue de Grenelle, und ich brachte es fertig, Jacques um zehntausend Francs zu erleichtern, bevor wir noch unseren Aperitif ausgetrunken hatten. Er war glänzend gelaunt, und ich natürlich auch. Das bedeutete, dass wir den Abend in Jacques’ Lieblingsbar beschlossen, einem lärmerfüllten, schlecht beleuchteten Keller von zweifelhaftem – oder vielmehr keineswegs zweifelhaftem, sondern durchaus eindeutigem Charakter. Von Zeit zu Zeit veranstaltete die Polizei dort eine Razzia, offenbar im Einvernehmen mit Guillaume, dem patron, der an solchen Abenden seine bevorzugten Gäste wissen ließ, dass es für Leute ohne Ausweispapiere ratsam sei, ein anderes Lokal aufzusuchen.
Ich erinnere mich, dass die Bar an jenem Abend noch voller als sonst war und dass es sehr laut herging. Sämtliche Stammgäste waren da und viele Fremde, manche beobachtend, manche nur verständnislos starrend. An einem Tisch saßen drei oder vier sehr schicke Pariser Damen mit ihren Gigolos oder ihren Liebhabern oder ihren Vettern vom Lande – wer weiß. Die Damen waren in äußerst angeregter Stimmung, ihre Begleiter dagegen wirkten ziemlich steif; die Damen schienen auch trinkfreudiger zu sein. Die üblichen dickbäuchigen, bebrillten Herren mit den gierigen, bisweilen verzweifelten Augen fehlten ebenso wenig wie die üblichen messerscharf schlanken Röhrenhosenboys. Bei diesen Jungen konnte man nie sicher sein, ob sie auf Geld, Blut oder Liebe aus waren. Sie schlenderten in der Bar herum, schnorrten Drinks und Zigaretten, und hinter ihren Augen stand etwas, was gleichzeitig furchtbar verletzlich und furchtbar gefühllos war. Natürlich waren auch les folles da, in den unwahrscheinlichsten Kostümzusammenstellungen. Kreischend wie Papageien, berichteten sie Details ihrer letzten Liebesaffären – für sie schien es nur heitere Affären zu geben. Mitunter konnte man erleben, dass einer von ihnen mitten in der Nacht hereingefegt kam, um die Neuigkeit zu verkünden, er – das heißt, sie sprachen voneinander immer als »sie« – sei soeben mit einem berühmten Filmschauspieler oder Boxer zusammen gewesen. Dann drängten sich die anderen dicht um den Glücklichen, und sie sahen aus wie ein Pfauengehege – es klang auch so. Mir war es einfach unverständlich, dass sich überhaupt jemand fand, der mit ihnen ins Bett ging, denn ein Mann, der eine Frau haben wollte, nahm doch gewiss lieber eine richtige, und ein Mann, der einen Mann haben wollte, hatte mit dieser Sorte bestimmt nichts im Sinn. Wahrscheinlich kreischten sie gerade deshalb so laut. Da war auch der Junge, der tagsüber bei der Post arbeitete und der sich nachts in der Bar zur Schau stellte, geschminkt, mit Ohrringen, das lange blonde Haar kunstvoll hochgekämmt. Manchmal trug er sogar einen Rock und Schuhe mit Stöckelabsätzen. Gewöhnlich stand er allein herum, bis Guillaume zu ihm hinging, um ihn zu necken. Man sagte, er sei sehr nett, doch ich muss gestehen, dass ich angesichts seiner übersteigerten Groteskheit Unbehagen empfand, etwa so, wie sich manchen Leuten beim Anblick von Affen, die ihre eigenen Exkremente verspeisen, der Magen umdreht. Sie würden vielleicht keinen Anstoß daran nehmen, wenn Affen nicht eine so groteske Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen hätten.
Die Bar lag in meinem quartier, und ich hatte oft, manchmal mit Hella, manchmal allein, in einem benachbarten bistro gefrühstückt, dem Zufluchtsort aller Nachtvögel der Umgegend, wenn die Bars schlossen. Auch in Guillaumes Bar war ich schon gewesen, und angeblich hatte ich hier einmal in völlig betrunkenem Zustand eine kleine Sensation verursacht, indem ich mit einem Soldaten flirtete. Zum Glück konnte ich mich nur dunkel an jene Nacht erinnern, und im Übrigen war ich der Meinung, dass ich selbst im Rausch nie fähig gewesen wäre, so etwas zu tun. Aber mein Gesicht kannte man in der Bar, und ich hatte das Gefühl, man schlösse bereits Wetten über mich ab. Der Ältestenrat eines strengen heiligen Ordens schien mich zu beobachten, um aufgrund von Anzeichen, die nur die Eingeweihten zu deuten wussten, das Urteil ›berufen‹ oder ›nicht berufen‹ zu fällen.
Jacques und ich steuerten auf die Theke zu, und es war, als seien wir in ein magnetisches Feld geraten, denn wir waren uns beide der Anwesenheit eines neuen Barmanns bewusst. Da stand er, anmaßend, dunkelhaarig, löwenhaft, den Ellbogen lässig auf die Registrierkasse gestützt, die Finger am Kinn, und betrachtete die Gäste, als schaue er von einem Vorgebirge aufs Meer hinaus.
Jacques war augenblicklich Feuer und Flamme. Ich spürte, wie er sich gewissermaßen zum Angriff rüstete, und ich hielt es für angebracht, mich tolerant zu zeigen.
»Ich nehme an«, sagte ich, »dass du den Barmann kennenlernen willst. Ein Wink genügt, und ich verschwinde sofort.«
In meiner Toleranz steckte ein solider Fonds boshaften Wissens, von dem ich bereits profitiert hatte, als ich Jacques aufsuchte, um ihn anzupumpen. Mir war klar, dass er nur hoffen konnte, den Barmann zu erobern, wenn er für Geld zu haben war, und da sich der Bursche mit solcher Arroganz zur Auktion stellte, würden sich gewiss Bieter finden, die reicher und attraktiver waren als Jacques. Mir war auch klar, dass Jacques das wusste. Und noch eines war mir klar: Jacques’ prahlerisches Werben um mich war mit einem Verlangen verbunden, dem Verlangen, mich bald loszuwerden, damit er mich dann verachten konnte, so wie er all die vielen Jungen verachtete, die ohne Liebe in sein Bett gekommen waren. Gegen dieses Verlangen behauptete ich mich, indem ich vorgab, Jacques und ich wären Freunde, und die Angst vor einer Demütigung bewog Jacques, das ebenfalls vorzugeben. Ich tat, als sähe ich nicht die lauernde Lust in seinen gescheiten, bitteren Augen, aber ich nutzte sie aus, und die raue männliche Offenheit, mit der ich ihm zu verstehen gab, dass sein Fall hoffnungslos sei, zwang ihn zu endlosem Hoffen. Außerdem wusste ich, dass ich in Lokalen dieser Art für Jacques eine Art Schutz war. Solange ich da war, konnte alle Welt und auch er glauben, er sei mit seinem Freund unterwegs, also nicht aus Verzweiflung; auf diese Weise war er nicht jedem Abenteurer preisgegeben, den Zufall, Grausamkeit, finanzielle Not oder emotionelle Armut ihm in den Weg führten.
»Du störst überhaupt nicht«, versicherte Jacques. »Ich werde mich mit dir unterhalten und von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihn werfen. Dadurch spare ich Geld – und bleibe außerdem glücklich.«
»Ich möchte wissen, wo Guillaume ihn aufgetrieben hat«, sagte ich.
Denn er entsprach so sehr dem Jungentyp, von dem Guillaume träumte, dass er unmöglich durch Zufall hierher geraten sein konnte.
»Was nehmen Sie?«, fragte er uns jetzt. Sein Ton deutete an, er sei zwar des Englischen nicht mächtig, wisse aber recht gut, dass wir über ihn geredet hätten, und hoffe nur, dass wir endlich damit fertig wären.
»Une fine à l’eau«, sagte ich. »Un cognac«, sagte Jacques, und wir brachten das so überstürzt heraus, dass ich rot wurde. An dem Anflug von Heiterkeit auf Giovannis Gesicht sah ich, dass er meine Verwirrung bemerkt hatte.
Jacques interpretierte Giovannis leises Lächeln bewusst falsch, denn er witterte eine Chance. »Sind Sie neu hier?«, fragte er auf Englisch. Giovanni hatte ihn höchstwahrscheinlich verstanden, hielt es jedoch für angebracht, fragend auf Jacques, auf mich und dann wieder auf Jacques zu blicken. Jacques wiederholte seine Worte auf Französisch.
Giovanni zuckte die Achseln. »Ich bin hier seit einem Monat.«
Ich wusste, wohin die Unterhaltung ging, und beschäftigte mich angelegentlich mit meinem Getränk.
»Das muss Ihnen doch alles sehr seltsam vorkommen«, meinte Jacques mit krampfhafter Ungezwungenheit.
»Seltsam?«, fragte Giovanni. »Wieso?«
Jacques kicherte. Mir war es auf einmal peinlich, in seiner Gesellschaft zu sein. »Nun ja, so viele Männer –«, wie gut ich diese Stimme kannte: atemlos, voller Anspielungen, höher als die eines Mädchens und schwül wie brütende Julihitze über sumpfigem Boden – »so viele Männer«, keuchte er, »und so wenige Frauen. Finden Sie das nicht seltsam?«
»Ach«, erwiderte Giovanni leichthin, bevor er sich einem anderen Gast zuwandte, »die Frauen sitzen gewiss zu Hause und warten.«
»Ich bin sicher, auf Sie wartet auch eine«, bohrte Jacques weiter, aber darauf bekam er keine Antwort.
»Na, lange hat das nicht gedauert«, sagte Jacques halb zu mir, halb zu der Stelle, wo Giovanni soeben noch gestanden hatte. »Sei froh, dass du hiergeblieben bist. Jetzt hast du mich ganz für dich.«
»Du fängst das falsch an«, erklärte ich. »Der Junge ist doch verrückt nach dir, er will bloß nicht zu bemüht erscheinen. Spendier ihm einen Drink. Erkundige dich, wo er seine Anzüge kauft. Erzähl ihm von dem schnittigen kleinen Alfa Romeo, den du so schrecklich gern einem verdienten Barmann vermachen möchtest.«
»Sehr witzig«, fauchte Jacques.
»Na ja«, sagte ich, »ein schwächliches Herz hat noch nie einen hübschen Athleten erobert, das dürfte wohl klar sein.«
»Außerdem schläft er bestimmt mit Mädchen. Das tun die doch alle.«
»Ja, es soll Jungen geben, die so was tun. Unanständige kleine Biester.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Vielleicht könntest du ihn zu einem Drink einladen«, schlug Jacques vor.
»Warum denn ich? Du wirst es kaum glauben, aber ich fliege nur auf Mädchen. Ja, wenn er eine Schwester hätte, die ebenso hübsch wäre wie er, dann würde ich sie mit Wonne zu einem Drink einladen. Aber für Männer gebe ich kein Geld aus.«
Ich sah ihm an, wie er mit sich rang, um die Bemerkung zu unterdrücken, dass ich gar nichts dagegen hätte, wenn Männer für mich Geld ausgäben. Dieser kurze Kampf belustigte mich sehr, denn ich wusste ja, dass Jacques es sich nicht leisten konnte, so etwas auszusprechen. Er zwang sich tapfer zu jenem heiteren Lächeln, das er so gern zur Schau trug.
»Selbstverständlich wollte ich dir nicht zumuten, deine –«, er stockte – »deine unbefleckte Männlichkeit aufs Spiel zu setzen, die doch dein Stolz und deine Freude ist. Ich hielt es nur für besser, dass du ihn einlädst, weil er höchstwahrscheinlich ablehnt, wenn ich es tue.«
»Mann Gottes«, sagte ich grinsend, »denk doch an die Konfusion, die das gibt! Er wird glauben, dass ich derjenige bin, der auf ihn scharf ist. Wie sollen wir da klarkommen?«
»Ich werde mich glücklich schätzen, im Falle einer Konfusion sofort einzugreifen«, versetzte Jacques mit Würde.
Wir maßen einander mit den Blicken. Dann brach ich in Lachen aus. »Warte nur, bis er wiederkommt. Hoffentlich bestellt er sich eine Mammutflasche vom teuersten Champagner.«
Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Theke. Irgendwie gefiel mir das alles. Jacques war sehr still, er wirkte verfallen und alt, und plötzlich durchzuckte mich ein beinahe angstvolles Gefühl des Mitleids. Giovanni, der inzwischen im Lokal bedient hatte, kam mit einem geschirrbeladenen Tablett zurück. Er lächelte grimmig.
»Vielleicht«, meinte ich, »macht es einen besseren Eindruck, wenn unsere Gläser leer sind.«
Wir tranken aus. Ich stellte mein Glas ab. »Barmann!«, rief ich.
»Das Gleiche?«
»Ja.« Bevor er sich abwenden konnte, sagte ich rasch: »Wenn Sie gestatten, würden wir Sie gern zu einem Drink einladen.«
»Eh bien«, rief eine Stimme hinter uns, »c’est fort ça! Nicht nur, dass du endlich – Gott sei Dank – diesen stattlichen Fußballspieler aus Amerika korrumpiert hast, jetzt benutzt du ihn auch noch dazu, meinen Barmann zu korrumpieren. Vraiment, Jacques! In deinem Alter!«
Es war Guillaume, der wie ein Filmstar strahlte und das große weiße Seidentuch schwenkte, ohne das man ihn in der Bar nie sah. Jacques drehte sich um, höchst entzückt, dass er so außerordentlicher Verführungskünste bezichtigt wurde, und die beiden fielen sich theatralisch wie alte Schauspielerinnen in die Arme.
»Eh bien, ma chérie, comment vas-tu? Du hast dich so lange nicht blicken lassen.«
»Ich hatte schrecklich viel zu tun«, sagte Jacques.
»O ja, das kann ich mir vorstellen. Schämst du dich nicht, vieille folle?«
»Et toi? Du scheinst deine Zeit auch nicht vergeudet zu haben.«
Jacques warf einen entzückten Blick auf Giovanni, beinahe so, als bewundere er ein wertvolles Rennpferd oder ein seltenes Stück Porzellan. Guillaume folgte seinem Blick.
»Ah, ça, mon cher, c’est strictement geschäftlich, tu comprends?«
Sie traten ein paar Schritte zurück. Unvermittelt umhüllte mich eine beklemmende Stille. Schließlich hob ich die Augen und sah, dass Giovanni mich beobachtete.
»Ich glaube, Sie wollten mich zu einem Drink einladen«, sagte er.
»Ja, das wollte ich.«
»Bei der Arbeit trinke ich keinen Alkohol, aber eine Coca-Cola nehme ich gern.« Er griff nach meinem Glas. »Und für Sie noch mal das Gleiche?«
»Das Gleiche.«
Ich stellte fest, dass es mir Freude machte, mit ihm zu sprechen, und diese Erkenntnis schüchterte mich ein. Seit Jacques nicht mehr an meiner Seite war, fühlte ich mich ohnehin unsicher. Und dann wurde mir klar, dass ich diese Runde bezahlen musste; ich konnte unmöglich Jacques am Ärmel zupfen und Geld verlangen, als wäre ich sein Mündel. Ich hüstelte und legte die Zehntausendfrancsnote auf die Theke.
»Sie sind aber reich«, sagte Giovanni und schob mir meinen Drink hin.
»Ach wo. Durchaus nicht. Ich habe einfach kein Kleingeld.«
Er grinste. Ich kam nicht dahinter, ob er grinste, weil er mich für einen Lügner hielt, oder weil er wusste, dass ich die Wahrheit sprach.
Schweigend nahm er den Geldschein, ließ die Registrierkasse aufspringen und zählte mir sorgfältig das Wechselgeld auf. Dann füllte er sein Glas und nahm wieder die Haltung an, in der er bei unserem Eintritt hinter der Kasse gestanden hatte. Ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog.
»A la vôtre«, sagte er.
»A la vôtre.« Wir tranken.
»Sie sind Amerikaner?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja«, antwortete ich. »Aus New York.«
»Ah, New York soll ja eine herrliche Stadt sein. Ist es schöner als Paris?«
»O nein«, versicherte ich, »keine Stadt ist schöner als Paris.«
»Die leiseste Andeutung, dass eine Stadt schöner sein könnte, genügt offenbar, Sie aufzubringen.« Giovanni lachte. »Verzeihen Sie, ich wollte nicht ketzerisch sein.« Dann sagte er etwas ernster und als wollte er mich versöhnen: »Sie müssen Paris sehr gern haben.«
»Ich habe New York auch gern«, erwiderte ich und bemerkte mit Unbehagen, dass etwas wie Selbstverteidigung in meiner Stimme mitschwang, »aber New York ist auf eine andere Art schön.«
Er runzelte die Stirn. »Auf welche Art?«
»Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat«, antwortete ich, »kann sich keine Vorstellung davon machen. New York ist sehr hoch und schrill, sehr neu und elektrisierend – aufregend.« Ich machte eine Pause. »Man kann das schwer beschreiben. Es ist ganz … Zwanzigstes Jahrhundert.«
»Sie finden, dass Paris nicht Zwanzigstes Jahrhundert ist?« Giovanni lächelte, und ich kam mir ein bisschen dumm vor.
»Paris ist alt«, sagte ich, »es verkörpert viele Jahrhunderte. In Paris spürt man die Vergangenheit, alles, was einmal war. In New York dagegen …« Er lächelte noch immer. Ich verstummte.
»Was spürt man in New York?«, forschte er.
»Nun, vielleicht die Zukunft, das Kommende. Alles ist so voller Kraft, alles ist in Bewegung. Man fragt sich unwillkürlich – ich frage mich das –, wie es später, in vielen Jahren dort aussehen wird.«
»In vielen Jahren? Wenn wir alle tot sind und New York alt ist?«
»Ja«, sagte ich. »Wenn alle müde sind, wenn die Welt für die Amerikaner nicht mehr so neu ist.«
»Ich weiß gar nicht, warum die Welt für die Amerikaner so neu sein soll«, meinte Giovanni. »Im Grunde seid ihr doch nur Emigranten, und ihr habt Europa vor nicht allzu langer Zeit verlassen.«
»Der Ozean ist breit«, erklärte ich. »Wir haben anders gelebt als ihr. Bei uns haben sich Dinge ereignet, die sich hier nie ereignet haben. Begreifen Sie nicht, dass wir dadurch andere Menschen geworden sind?«
»Andere Menschen?« Er lachte. »Ach, wenn es nur das wäre! Aber mir scheint, ihr habt euch in eine andere Spezies verwandelt. Schließlich lebt ihr ja nicht auf einem fremden Planeten. Oder doch? Das würde nämlich alles erklären.«
»Ich gebe zu«, sagte ich hitzig, denn ich lasse mich nicht gern auslachen, »dass wir manchmal diesen Eindruck erwecken. Aber wir leben nicht auf einem fremden Planeten, nein, und Sie, mein Freund, auch nicht.«
Er lachte wieder. »Diese bedauerliche Tatsache will ich nicht bestreiten.«
Wir schwiegen eine Weile. Giovanni bediente einige Gäste an beiden Enden der Theke. Guillaume und Jacques sprachen noch immer miteinander. Offenbar erzählte Guillaume eine seiner endlosen Anekdoten, die sich samt und sonders um die Gefahren im Geschäftsleben oder in der Liebe drehten. Jacques hatte den Mund zu einem krampfhaften Grinsen verzogen. Ich wusste, dass er darauf brannte, zu uns zurückzukehren.
Giovanni stellte sich wieder vor mich hin und wischte die Theke mit einem feuchten Lappen ab. »Die Amerikaner sind komisch. Ihr habt eine komische Auffassung von der Zeit – vielleicht auch gar keine Auffassung … das kann ich nicht entscheiden. Zeit, das klingt immer wie eine Parade chez vous – wie eine Siegesparade, mit Armeen, die im Triumph in eine Stadt einmarschieren. Als könnte mit genügend Zeit – und ihr Amerikaner seid ja fixe Leute, ihr würdet gar nicht so lange dazu brauchen, n’est-ce pas? – als könnte mit genügend Zeit und mit der geradezu furchterregenden Kraft und Energie, die ihr besitzt, alles geregelt, gelöst und in Ordnung gebracht werden.« Er blickte mich spöttisch herausfordernd an, doch ich schwieg. »Und wenn ich sage alles«, fügte er grimmig hinzu, »dann meine ich damit die ernsten, schrecklichen Dinge wie Schmerz und Tod und Liebe, an die ihr Amerikaner nicht glaubt.«
»Wie kommen Sie denn auf die Idee, dass wir nicht daran glauben? Und Sie? Woran glauben Sie?«
»Ich glaube nicht an diesen Unsinn mit der Zeit. Zeit ist etwas ganz Normales, sie ist wie das Wasser für den Fisch. Jeder schwimmt in diesem Wasser, niemand kommt raus, oder wenn einer rauskommt, passiert ihm das Gleiche wie dem Fisch: Er stirbt. Sie wissen doch, wie’s zugeht in diesem Wasser, genannt Zeit. Die großen Fische fressen die kleinen Fische, und der Ozean kümmert sich überhaupt nicht darum.«
»O nein«, sagte ich, »das glaube ich nun wieder nicht. Die Zeit ist heißes Wasser, und wir sind keine Fische, und jeder kann wählen, ob er gefressen werden will, und auch, ob er nicht fressen will. Ob er die kleinen Fische nicht fressen will«, verbesserte ich mich rasch und wurde rot, als ich sein entzücktes, sardonisches Lächeln bemerkte.
»Wählen!«, rief Giovanni und blickte zur Seite, als spräche er zu einem unsichtbaren Verbündeten, der unser Gespräch von Anfang an belauscht hatte. »Wählen!« Er wandte sich mir zu. »Ach, Sie sind wirklich ein Amerikaner. J’adore votre enthousiasme!«
»Und ich bewundere den Ihren«, erwiderte ich höflich, »wenn er auch anscheinend etwas dunkler gefärbt ist als meiner.«
»Jedenfalls«, sagte er sanft, »weiß ich nicht, was man mit kleinen Fischen anderes machen kann als sie aufessen. Wozu sind sie denn sonst gut?«
»In meinem Land«, erwiderte ich und fühlte bei diesen Worten eine Art Zwiespalt in mir, »haben sich die kleinen Fische zusammengerottet und nagen am Leib des Wals.«
»Davon werden sie noch lange keine Wale«, sagte Giovanni. »Das einzige Ergebnis dieser Nagerei wird sein, dass es nirgends mehr Größe gibt, nicht einmal auf dem Meeresgrund.«
»Also das werfen Sie uns vor? Dass wir keine Größe haben?«
Er lächelte mich an, lächelte wie jemand, der die völlige Unzulänglichkeit der Opposition erkannt hat und es für sinnlos hält, die Diskussion fortzusetzen. »Peut-être.«
»Ihr Leute seid unmöglich«, rief ich. »Wer hat denn die Größe mit Pflastersteinen zerschmettert? Niemand anders als ihr – jawohl, und sogar hier in dieser Stadt! Und da redet ihr über kleine Fische …«. Ich hielt inne, als ich sein Grinsen sah.
»Bitte weiter«, sagte er, noch immer grinsend. »Ich bin ganz Ohr.«
Ich leerte mein Glas. »Ihr Leute habt all diese merde über uns ausgeschüttet«, knurrte ich, »und jetzt behauptet ihr, wir wären barbarisch, weil wir stinken.«
Mein Unmut entzückte ihn. »Sie sind charmant«, stellte er fest. »Sprechen Sie immer so?«
»Nein.« Ich senkte den Blick. »Fast nie.«
Er sah mich mit einer gewissen Koketterie an. »Das ist sehr schmeichelhaft für mich«, sagte er und sprach plötzlich mit einem verblüffenden Ernst, in dem allerdings ein ganz klein wenig Ironie mitschwang.
»Und Sie«, fragte ich schließlich, »sind Sie schon lange in Paris? Gefällt es Ihnen hier?«
Er zögerte einen Moment. Dann lächelte er und wirkte auf einmal sehr knabenhaft und schüchtern. »Es ist kalt hier im Winter. Das gefällt mir nicht. Und die Pariser – nun ja, sie sind nicht gerade sehr umgänglich. Finden Sie das nicht auch?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Die Pariser sind ganz anders als die Menschen in meiner Heimat. Wir Italiener sind freundlich, wir tanzen und singen und lieben. Aber diese Leute –«, er blickte im Lokal umher, sah dann auf mich und trank seine Coca-Cola aus – »diese Leute hier sind kalt, ich verstehe sie nicht.«
»Die Franzosen behaupten dagegen«, sagte ich, um ihn zu necken, »dass die Italiener zu unbeständig, zu flatterhaft sind und dass sie nicht maßhalten können …«.
»Maßhalten!«, rief Giovanni. »Ach, diese Leute mit ihrem Maß! Sie messen alles aufs Gramm, auf den Zentimeter, und jedes bisschen, das sie hier und dort abzwacken können, wird gespart, wird in den Strumpf oder unter das Bett gesteckt – und was haben sie von diesem Maßhalten? Ein Land, das in Stücke zerfällt, Maß für Maß und vor ihren Augen. Maßhalten. Ich möchte Ihre Ohren nicht dadurch beleidigen, dass ich alles aufzähle, was diese Menschen messen, ehe sie sich gestatten, irgendetwas zu unternehmen. Darf ich jetzt Sie zu einem Drink einladen«, fragte er plötzlich, »bevor der alte Mann zurückkommt? Wer ist er eigentlich? Ihr Onkel?«
Ich wusste nicht, ob er das Wort ›Onkel‹ als Euphemismus gebrauchte oder nicht. Es drängte mich, in puncto Jacques völlige Klarheit zu schaffen – aber wie sollte ich das anfangen? Ich lachte. »Nein, er ist nicht mein Onkel. Nur ein Bekannter.«
Giovanni sah mich an. Und dieser Blick gab mir das Gefühl, noch nie in meinem Leben hätte mich jemand so direkt angeschaut. »Hoffentlich steht er Ihnen nicht sehr nahe«, sagte er lächelnd, »denn ich finde, er ist albern. Kein schlechter Mensch, verstehen Sie – aber ein bisschen albern.«
»Mag sein«, erwiderte ich und kam mir sogleich wie ein Verräter vor. »Schlecht ist er gewiss nicht«, fügte ich rasch hinzu, »und er ist ein sehr netter Kerl.« Das ist ja gar nicht wahr, dachte ich, Jacques ist alles andere als ein netter Kerl. »Jedenfalls«, schloss ich, »steht er mir nicht besonders nahe.« Wieder spürte ich, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog, und ich war erstaunt über den Klang meiner Stimme.
Sorgsam mischte Giovanni meinen Drink und stellte ihn vor mich hin. »Vive l’Amérique«, sagte er.
»Danke.« Ich hob mein Glas. »Vive le vieux continent.«
Wir schwiegen.
»Kommen Sie oft hierher?«, fragte Giovanni unvermittelt.
»Nein«, antwortete ich, »sehr oft nicht.«
»Aber von nun an werden Sie öfter kommen?«, forschte er, und in seinen Augen war ein hinreißend spöttisches Leuchten.
Ich stammelte: »Warum?«
»Ah«, rief Giovanni, »merken Sie denn nicht, dass Sie einen Freund gewonnen haben?«
Ich muss recht dumm dreingeschaut haben, und auch meine Frage war dumm: »So rasch?«
»Na ja«, meinte er ganz sachlich und blickte auf seine Uhr, »wenn Sie wollen, können wir noch eine Stunde warten, und dann Freundschaft schließen. Wir können auch bis zur Polizeistunde warten. Oder bis morgen. Dann müssten Sie allerdings morgen wiederkommen, und wer weiß, vielleicht haben Sie da etwas anderes vor.« Er steckte die Uhr ein und stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke. »Erklären Sie mir doch bloß, wie sich das mit der Zeit verhält. Warum ist es besser, zu spät als zu früh zu kommen? Immer sagen die Menschen, wir müssen warten, wir müssen warten. Worauf warten sie denn?«
Ich hatte das Gefühl, von Giovanni in tiefe und gefährliche Gewässer gesteuert zu werden. »Nun, ich glaube, man wartet, um sich selbst zu prüfen, um sicherzugehen.«
»Um sicherzugehen!« Wieder wandte er sich an seinen unsichtbaren Verbündeten, und wieder brach er in Lachen aus. Sein Phantom ging mir ein wenig auf die Nerven, doch sein Lachen hatte in diesem luftlosen Keller einen unglaublichen Klang. »Sie sind ein echter Philosoph, das ist klar.« Er deutete mit einem Finger auf mein Herz. »Und wenn Sie gewartet haben – sind Sie Ihrer Sache dann sicher?«
Darauf konnte ich einfach keine Antwort finden. Aus dem dunklen, überfüllten Lokal rief jemand »Garçon!«, und Giovanni richtete sich auf.
»Jetzt haben Sie Zeit zu warten«, bemerkte er lächelnd. »Und wenn ich wieder da bin, sagen Sie mir, wie sicher Sie geworden sind.«
Damit nahm er sein rundes Metalltablett und schlängelte sich durch die Menge. Ich folgte ihm mit dem Blick. Und dann sah ich, wie die Blicke der anderen ihm folgten. Und dann wurde mir angst. Ich begriff, dass sie uns beide die ganze Zeit belauert hatten. Sie wussten, dass sie Zeugen eines Anfangs geworden waren, und nun würden sie uns bis zum Ende nicht mehr aus den Augen lassen. Es hatte einige Zeit gedauert, aber jetzt hatte sich das Blatt gewendet: Ich war das Tier im Zoo, und sie beobachteten mich.
Ich stand geraume Zeit allein an der Theke, denn Jacques war zwar Guillaume entronnen, aber dafür hatten sich zwei Röhrenhosenboys des Ärmsten bemächtigt. Giovanni kam für einen Moment zurück und zwinkerte mir zu.
»Na, schon etwas sicherer?«
»Sie haben gewonnen. Der Philosoph sind zweifellos Sie.«
»Oh, Sie müssen noch ein Weilchen warten. So gut kennen Sie mich noch nicht, dass Sie so etwas sagen könnten.«
Er füllte sein Tablett und verschwand.
Nun kam jemand aus dem Halbdunkel auf mich zu, ein Geschöpf, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Es glich einer Mumie oder einem Zombie, einem aus dem Grabe Zurückgeholten – so jedenfalls war der erste überwältigende Eindruck. Und es bewegte sich wie ein Schlafwandler oder wie jene Figuren, die man mitunter im Zeitlupentempo über die Kinoleinwand gleiten sieht. Es hielt ein Glas in der Hand, es ging auf Zehenspitzen, es wiegte sich mit einer scheußlich leblosen Laszivität in den flachen Hüften. Es schien keinerlei Geräusch zu machen, was dem Stimmengewirr in der Bar zuzuschreiben war, das wie das ferne Tosen des nächtlichen Meeres klang. Es glitzerte in der trüben Beleuchtung; das dünne schwarze Haar glänzte ölig und war in Schmachtfransen in die Stirn gekämmt, auf den Lidern schimmerte dick aufgetragene Mascara, und der Mund war grellrot lackiert. Das Gesicht, weiß und völlig blutleer, war mit einem flüssigen Make-up behandelt worden. Und wie es nach Puder und Gardenienparfum stank, dieses Wesen! Das Hemd stand kokett bis zum Nabel offen; es enthüllte eine haarlose Brust und ein silbernes Kruzifix und war besetzt mit runden, papierdünnen Pailletten in Rot, Grün, Orange, Gelb und Blau, die im Lichte gleißten, sodass man den Eindruck hatte, die Mumie könne jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Eine rote Schärpe war um die Hüften gebunden, die eng anliegenden Hosen waren von einem überraschend dunklen Grau. Auf den Schuhen funkelten Schnallen.
Ich war nicht sicher, ob er auf mich zusteuerte, aber ich konnte die Augen nicht abwenden. Er blieb vor mir stehen, eine Hand in die Hüfte gestemmt, musterte mich von Kopf bis Fuß und lächelte. Er hatte Knoblauch gegessen, und seine Zähne waren sehr schlecht. Seine Hände waren, wie ich mit ungläubigem Staunen bemerkte, ungemein breit und kräftig.
»Eh bien«, sagte er, »il te plaît?«
»Comment?«, brachte ich hervor.
Ich wusste tatsächlich nicht, ob ich recht gehört hatte, wenn auch die hellen, stechenden Augen, die irgendetwas Amüsantes in meinem Schädel zu beobachten schienen, kaum einen Zweifel daran ließen.
»Gefällt er dir – der Barmann?«
Was sollte ich tun, was sagen? Ein derart irreales Geschöpf zu ohrfeigen schien unmöglich, und wütend zu werden schien ebenso unmöglich. Außerdem, ganz gleich, was ich sagte, diese Augen würden alles verspotten. So trocken wie möglich fragte ich: »Geht dich das was an?«
»Aber nein, Liebling, ganz und gar nicht. Je m’en fous.«
»Dann mach, dass du fortkommst.«
Statt dieser Aufforderung zu folgen, lächelte er freundlich. »Il est dangereux, tu sais. Und für einen Jungen wie dich ist er sehr gefährlich.«
Ich blickte ihn scharf an. Beinahe hätte ich ihn gefragt, was er damit meinte. »Geh zur Hölle«, zischte ich und kehrte ihm den Rücken.
»O nein«, sagte er, und ich fuhr herum. Er lachte jetzt, zeigte alle seine Zähne – viele waren es nicht mehr. »O nein, ich gehe nicht zur Hölle«, verkündete er, und seine Riesenhand umklammerte das Kruzifix. »Aber du, mein lieber Freund, du wirst in einem sehr heißen Feuer braten.« Wieder lachte er. »In einem schrecklichen Feuer. Hier …«. Er berührte seinen Kopf und krümmte sich wie unter Qualen. »Und hier …«. Er griff an sein Herz. »Überall.« Und er blickte mich an, boshaft, spöttisch und dabei mit einem Ausdruck, als wäre ich sehr weit fort. »O mein armer Freund, so jung, so kräftig, so hübsch – willst du mir nicht einen Drink spendieren?«
»Va te faire foutre.«
Der Kummer, den sein Gesicht widerspiegelte, war der von Säuglingen und Greisen, oder auch der von gewissen alternden Schauspielerinnen, die einstmals für ihre fragile, kindhafte Schönheit berühmt waren. Hass und Wut verfinsterten seine Augen, und der scharlachrote Mund war zusammengepresst wie der einer antiken tragischen Maske.
»T’auras du chagrin«, prophezeite er. »Sehr unglücklich wirst du werden. Denke daran, dass ich’s dir vorausgesagt habe.«
Er wandte sich ab und schritt durch die Menge, hoch aufgerichtet wie eine Prinzessin, gleichsam von Flammen umlodert.
Kurz darauf fand sich Jacques wieder ein. »Die ganze Bar«, teilte er mir mit, »spricht darüber, wie großartig ihr euch versteht, du und der Barmann.« Er lächelte rachsüchtig. »Ich hoffe, es hat keine Konfusion gegeben.«
Ich blickte auf ihn herunter. Hätte ich doch diesem strahlenden, abscheulich genusssüchtigen Gesicht etwas antun können, was verhinderte, dass es je wieder so lächelte wie jetzt. Ich wollte fort aus dieser Bar, ich wollte an die frische Luft, vielleicht zu Hella, meiner plötzlich so schwer bedrohten Hella.
»Nein«, fuhr ich ihn an, »Konfusion hat’s keine gegeben. Und du, mein Lieber, brauchst dich auch nicht verwirren zu lassen.«
»Ich glaube kaum«, meinte Jacques, »dass ich je in meinem Leben weniger verwirrt war als in diesem Moment.« Sein Lächeln war erloschen; er sah mich mit einem Blick an, der bitter und unpersönlich war. »Und selbst auf die Gefahr hin, dass ich deine so bemerkenswert reine Freundschaft für immer verliere, will ich dir eines sagen: Verwirrung ist ein Luxus, den sich nur sehr, sehr junge Menschen leisten dürfen, und so jung bist du nicht mehr.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte ich. »Komm, lass uns noch einen trinken.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts Besseres tun könnte als mich betrinken. Giovanni nahm seinen Platz hinter der Kasse wieder ein und blinzelte mir im Vorbeigehen zu. Jacques ließ mich nicht aus den Augen. Ich wandte mich mit einem Ruck um, sodass ich nun mit dem Gesicht zur Theke stand. Er trat neben mich.
»Das Gleiche«, bestellte Jacques.
»Sehr wohl«, sagte Giovanni, »so muss man’s machen.« Er schenkte ein. Jacques bezahlte. Ich sah wohl ziemlich mitgenommen aus, denn Giovanni rief mir neckend zu: »He, schon betrunken?«
Ich lächelte. »Amerikaner können eine Menge vertragen. Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«
»David ist keineswegs betrunken«, warf Jacques ein. »Ihn quält nur der Gedanke, dass er sich neue Hosenträger kaufen muss.«
Ich hätte Jacques totschlagen können, und doch kostete es mich Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Mit einer Grimasse bedeutete ich Giovanni, dies sei ein privater Witz des alten Mannes. Mittlerweile war die Stunde gekommen, da ganze Rudel von Gästen aufbrachen, während andere hereinströmten. Sie alle würden sich später in der letzten noch geöffneten Bar wiedersehen – jedenfalls alle, deren Suche bis dahin vergeblich geblieben war.
Jacques anzublicken war mir einfach unmöglich. Und er wusste das. Er stand neben mir, lächelte ins Leere und summte eine Melodie vor sich hin. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Ich wagte nicht, die Rede auf Hella zu bringen. Nicht einmal mir selbst konnte ich vormachen, ich sei traurig, weil sie in Spanien war. Ich war glücklich. Ich war schrecklich glücklich, unsagbar glücklich. Gegen die wilde Erregung, die wie ein Sturm in mir wütete, vermochte ich nichts zu tun. Ich konnte nur trinken, trinken in der schwachen Hoffnung, dass sich der Sturm auf diese Weise austoben werde, ohne weiteren Schaden auf meinem Grund und Boden anzurichten. Aber ich war glücklich. Nur dass Jacques Zeuge all dessen geworden war, behagte mir nicht. Seine Anwesenheit war mir peinlich. Ich hasste ihn, weil er jetzt das gesehen hatte, worauf er – zuletzt schon fast ohne Hoffnung – seit so vielen Monaten wartete. Wir beide hatten miteinander ein tödliches Spiel gespielt, und er war Sieger. Er war es, obgleich ich versucht hatte, durch Betrug zu gewinnen.
Und doch wünschte ich, als ich da an der Bar stand, dass ich die Kraft hätte, mich umzudrehen und fortzugehen – zum Montparnasse vielleicht, um mir ein Mädchen zu angeln. Irgendeines. Ich brachte es nicht fertig. Ich redete mir allerlei vor, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Und das kam zum Teil daher, dass ich wusste, wie unabänderlich das Ganze war. Ich konnte nicht mehr zurück, selbst wenn ich nie wieder ein Wort mit Giovanni wechselte, denn meine erwachenden, meine gebieterischen Möglichkeiten waren nun sichtbar geworden, so sichtbar wie die Pailletten auf dem Hemd der flammenden Prinzessin.
So bin ich Giovanni begegnet, und ich glaube, wir waren vom ersten Augenblick an miteinander verbunden, trotz unserer späteren séparation de corps, trotz der Tatsache, dass Giovannis Leib bald in ungeweihter Erde, irgendwo bei Paris, zerfallen wird. Bis zur Stunde meines Todes wird es solche Momente geben, die wie die Hexen des Macbeth aus dem Boden aufsteigen, Momente, da mir sein Gesicht erscheint, dieses Gesicht mit all seinen Veränderlichkeiten, Momente, da der Klang seiner Stimme, die Eigenarten seiner Sprechweise mir fast die Ohren sprengen und sein Geruch mich überwältigt. In den Tagen, die kommen – Gott gebe mir Kraft, sie zu ertragen – werde ich Giovanni zuweilen wiedersehen, wenn ich im grauen Morgenlicht, die Augenlider gerötet, die Haare vom stürmischen Schlaf feucht und zerzaust, bei Kaffee und Zigaretten dem undurchdringlich ausdruckslosen Jungen der letzten Nacht gegenübersitze, der wenig später aufstehen und wie der Rauch verschwinden wird. Dann werde ich Giovanni wiedersehen, so wie er war in jener Nacht, so gewinnend, so lebendig, umflossen von all dem Licht des düsteren Kellers.
3
Um fünf Uhr morgens verließen wir als Letzte die Bar. Guillaume schloss von draußen ab. Die Straßen waren öde und grau. Der Metzger an der Ecke hatte seinen Laden bereits aufgemacht und hackte, schon mit Blut bespritzt, kräftig drauflos. Einer der großen grünen Pariser Autobusse ratterte fast leer vorüber; der elektrisch erleuchtete Winker wedelte ungestüm. Ein garçon de café schüttete Wasser auf den Bürgersteig und fegte es dann in den Rinnstein. Etwas seitlich der langen, gewundenen Straße, über den Bäumen des Boulevards und den Korbstühlen, die vor den Cafés gestapelt waren, ragte der berühmte Kirchturm von Saint-Germain-des-Prés auf – für Hella und mich der schönste Kirchturm in ganz Paris. Vor uns, jenseits der place erstreckte sich die Straße bis an die Seine, hinter uns führte sie in Schlängellinien zum Montparnasse. Der Abenteurer, nach dem diese Straße benannt ist, hat über Europa eine Saat ausgestreut, die heute noch abgeerntet wird. Ich war oft hier gegangen, manchmal mit Hella in Richtung des Flusses, manchmal allein zu den Mädchen vom Montparnasse. Das war noch gar nicht so lange her, und doch schien mir an jenem Morgen, es sei in einem anderen Leben gewesen.
Wir wollten zu den Hallen fahren, um dort zu frühstücken. Zu viert quetschten wir uns in ein Taxi. Der Umstand, dass wir eng zusammengedrängt saßen, wurde von Jacques und Guillaume mit schlüpfrigen Bemerkungen kommentiert, die umso abstoßender wirkten, als sie jeglichen Witzes entbehrten. Nur Verachtung und Selbstverachtung kamen darin zum Ausdruck; das sprudelte heraus wie schmutziges Wasser aus einem geborstenen Abflussrohr. Es war klar, die beiden litten Tantalusqualen wegen Giovanni und mir, und das reizte mich. Giovanni aber lehnte sich an das Taxifenster und drückte seinen Arm leicht gegen meine Schulter, als wollte er mir bedeuten, wir würden diese alten Männer bald los sein und brauchten uns nicht über die Spritzer ihrer schmutzigen Reden zu ärgern – so etwas lasse sich mühelos abwaschen.
»Sieh mal«, sagte Giovanni, als wir die Seine überquerten, »wenn diese alte Hure Paris aus dem Schlaf erwacht, hat sie doch etwas sehr Rührendes.«
Ich blickte hinaus, vorbei an seinem schläfrigen Profil, das grau war, grau von Müdigkeit und von den Wolken über uns. Die Seine war angeschwollen. Nichts bewegte sich auf dem gelblichen Wasser. An den Kaimauern waren Boote festgebunden. Die Ile de la Cité weitete sich in der Ferne; schweigend trug sie das Gewicht der Kathedrale. Dahinter, verschwimmend durch unsere schnelle Fahrt und den Dunst, zeichneten sich die Dächer von Paris ab, ungezählte gedrungene Schornsteinkästen, die schön und vielfarbig vor dem perlgrauen Himmel standen. Der Nebelschleier über dem Fluss verlieh dem Gestrüpp der Bäume und den nackten Steinen weiche Konturen, nahm den Korkenziehergassen ihre Hässlichkeit und hing wie ein Fluch jenen Männern an, die unter den Brücken hausten – einer von ihnen, eine schwarze, einsame Gestalt, wanderte dort unten am Wasser entlang.
»Manche Ratten sind untergetaucht«, sagte Giovanni, »und andere kommen jetzt ans Licht.« Er sah mich mit einem trüben Lächeln an. Zu meiner Überraschung ergriff er meine Hand und hielt sie fest. »Hast du schon mal unter einer Brücke geschlafen?«, fragte er. »Oder stehen etwa bei euch in Amerika unter den Brücken weiche Betten mit warmen Decken?«
Ich überlegte, was ich mit meiner Hand tun sollte. Am besten gar nichts. »Bis jetzt noch nicht«, antwortete ich, »aber was nicht ist, kann noch werden. Man will mich gerade aus meinem Hotel rausschmeißen.«
Diese Erklärung, die ich leichthin und mit einem Lächeln vorbrachte, entsprang dem Wunsch, mich mit ihm auf die gleiche Stufe zu stellen, indem ich durchblicken ließ, dass mir die Härten des Daseins nicht fremd waren. Aber die Tatsache, dass ich es sagte, während er meine Hand hielt, gab den Worten für mein Gefühl einen unglaublich hilflosen und weichlichen Klang. Und ich konnte diesen Eindruck durch nichts verwischen: Jedes weitere Wort hätte ihn nur noch bestätigt. Ich zog meine Hand zurück, um nach einer Zigarette zu suchen.
Jacques reichte mir Feuer.
»Wo wohnen Sie denn?«, fragte er Giovanni.
»Oh«, sagte Giovanni, »weit draußen, fast nicht mehr in Paris.«
»In der Nähe der Place de la Nation«, erläuterte Guillaume, »in einer grässlichen Straße, mitten unter der grässlichen Bourgeoisie und ihren ferkeligen Kindern.«
»Du hast eben diese Kinder noch nie im richtigen Alter gesehen«, meinte Jacques. »Die machen nämlich eine bestimmte, wenn auch – hélas – sehr kurze Periode durch, wo ein Schwein vielleicht das einzige Tier ist, an das sie nicht erinnern.« Und wieder Giovanni zugewandt: »In einem Hotel?«
»Nein.« Giovanni schien sich zum ersten Mal ein wenig unbehaglich zu fühlen. »Ich wohne in einer Dienstmädchenkammer.«
»Mit dem Dienstmädchen zusammen?«
Giovanni lachte. »Nein, das Mädchen ist Gott weiß wo. Wenn Sie mein Zimmer sähen, wäre Ihnen sofort klar, dass es da kein Mädchen gibt.«
»Liebend gern würde ich es sehen«, hakte Jacques ein.
»Dann werden wir mal eine Party für Sie geben«, sagte Giovanni.
Diese ebenso höflich wie unumwunden geäußerte Bemerkung ließ keinen Raum für weitere Fragen, und doch hätte sie mir beinahe eine Frage entlockt. Guillaume warf einen raschen Blick auf Giovanni, der ihn nicht ansah, sondern vor sich hinpfeifend in den anbrechenden Morgen hinausschaute. Und ich, der ich in den letzten sechs Stunden Entschlüsse über Entschlüsse gefasst hatte, fasste nun noch einen: diese ganze Sache klarzustellen, sobald ich mit Giovanni allein war. Ich musste ihm verständlich machen, dass er sich geirrt hatte, dass wir aber trotzdem Freunde bleiben konnten. Allerdings – wer sagte mir, dass nicht ich es war, der sich täuschte, der blindlings alles missdeutete, und zwar aus Gründen, die auszusprechen die Scham mir verbot? Ich saß in der Klemme. Ganz gleich, wie ich mich drehte und wendete, die Stunde des Bekennens stand bevor, und ich konnte mich ihr nicht entziehen; es sei denn, ich sprang aus dem Taxi, was die unangenehmste Beichte von allen gewesen wäre.
Der Chauffeur erkundigte sich, wo er uns absetzen sollte, denn wir hatten die vollgestopften Boulevards und unpassierbaren Seitenstraßen nahe den Hallen erreicht. Berge von Porree, Zwiebeln, Kohlköpfen, Orangen, Äpfeln, Kartoffeln und Blumenkohl türmten sich überall, auf den Gehsteigen, auf dem Fahrdamm, vor den riesigen Markthallen, diesen hohen schwarzen Eisenkonstruktionen, die mehrere Straßenblocks lang sind. In den Hallen lagerte noch mehr Obst und Gemüse, in einigen Schuppen war Käse aufgestapelt, in anderen Fisch, und in wieder anderen frisch geschlachtete Tiere. Dass dies alles je aufgegessen werden konnte, schien fast unmöglich. Aber in wenigen Stunden würde nichts mehr da sein, und dann würden wieder Lastwagen aus allen Teilen Frankreichs anrollen, um über einen Bienenschwarm von Zwischenhändlern den Hunger der brüllenden Massen zu stillen. Übrigens brüllten die Massen auch jetzt. Rechts und links, vor uns und hinter uns herrschte ein Geschrei, das ohrenbetäubend und doch nicht ohne Reiz war. Unser Taxifahrer und Giovanni schrien kräftig zurück. Die Bevölkerung von Paris scheint sich in allen Tagen blau zu kleiden, außer am Sonntag, wenn sie zum größten Teil ein unglaublich festliches Schwarz anlegt. Hier trat sie nun in Blau auf und tat ihr Möglichstes, uns mit Lastwagen, Lieferautos und Handkarren, mit Kiepen und Körben den Weg zu versperren. Eine mit Obst beladene, rotgesichtige Marktfrau bedachte Giovanni, den Fahrer, die ganze Welt mit einer besonders würzigen cochonnerie, auf die Giovanni und der Fahrer gleichzeitig mit Stentorstimme antworteten, obwohl die Dame bereits unseren Blicken entschwunden war und ihre ausgesprochen obszöne Verdächtigung gewiss längst vergessen hatte. So krochen wir dahin, denn über das Ziel unserer Fahrt war bisher nichts bekannt. Giovanni und der Chauffeur schienen sich unter dem Einfluss der Hallen in Brüder verwandelt zu haben: Sie tauschten recht anzügliche Bemerkungen über Hygiene, Sprache, Geschlechtsteile und Angewohnheiten der Pariser aus. (Jacques und Guillaume tauschten inzwischen sehr viel weniger gutartige Bemerkungen über jedes vorbeikommende männliche Wesen aus.) Die Bürgersteige waren glitschig von Abfällen: welke Blätter, Gemüsereste, weggeworfene Blumen, Früchte, die entweder langsam verfault waren oder sich bei einem jähen Aufprall in Brei verwandelt hatten. Die Ecken und die Häuserfronten waren gespickt mit pissoirs, trübe brennenden Kohlenbecken, Cafés, Restaurants und verräucherten kleinen bistros, einige so winzig, dass sie eigentlich nur rautenförmige Winkel mit einer verzinkten Theke und ein paar Flaschen waren. Und überall Männer: jung, alt, in mittleren Jahren, leistungsfähig sogar noch in den mannigfaltigen Arten, in denen sie ihrem mannigfaltigen Ruin begegneten; und Frauen, die durch Scharfsinn und Geduld, durch die Fähigkeit, zu berechnen und abzuwägen – und durch Geschrei – überreichlich den Mangel an Muskelkraft wettmachten, von dem allerdings bei den meisten kaum die Rede sein konnte. Nichts hier erinnerte mich an zu Hause, während Giovanni sichtlich in seinem Element war.
»Ich weiß, wo wir hingehen«, sagte er. »Ein Lokal très bon marché.« Er beschrieb dem Fahrer den Weg. Der Mann wusste sofort Bescheid und erklärte, er sei dort Stammgast.
»Wo ist denn das?«, fragte Jacques verdrießlich. »Ich dachte, wir fahren zu …«. Er nannte ein anderes Lokal.
»Sie scherzen wohl.« Aus Giovannis Stimme klang Verachtung. »Das ist nur was für Fremde, schrecklich schlecht und schrecklich teuer. Wir sind doch keine Touristen.« Und zu mir gewandt fügte er hinzu: »Als ich noch neu war in Paris, habe ich in den Hallen gearbeitet – ziemlich lange sogar. Nom de Dieu, quel boulot! Ich bete zu Gott, dass ich’s nie wieder zu tun brauche.« Er betrachtete die Straßen, durch die wir fuhren, mit einem Ausdruck der Trauer, der trotz einer gewissen theatralischen Selbstironie zweifellos echt war.
Guillaume meldete sich aus seiner Ecke: »Du kannst ihm auch ruhig verraten, wer dich da herausgeholt hat.«
»Ach ja«, sagte Giovanni, »hier siehst du ihn vor dir, meinen Retter, meinen Gönner.« Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Aber du bereust es nicht, Guillaume, wie? Oder habe ich dich etwa geschädigt? Du bist doch ganz zufrieden mit meiner Arbeit, nicht wahr?«
»Mais oui«, versicherte Guillaume.
Giovanni seufzte. »Bien sûr.« Er schaute wieder aus dem Fenster und pfiff vor sich hin.
»Ici«, rief der Fahrer.
»Ici«, echote Giovanni.
Ich wollte die Brieftasche hervorziehen, aber Giovanni fing meine Hand hastig ab und gab mir mit einem scharfen Blick zu verstehen, bezahlen sei wohl das Mindeste, was man von den widerlichen alten Männern erwarten könne. Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Guillaume machte keine Anstalten, nach seiner Brieftasche zu greifen, und so entlohnte Jacques den Chauffeur.
»Pfui Teufel«, rief Guillaume und betrachtete angeekelt den Eingang des Cafés, vor dem wir standen. »Hier wimmelt es bestimmt von Ungeziefer. Willst du uns vergiften?«
»Du sollst ja nicht die Außenseite essen«, erwiderte Giovanni. »Die Gefahr, dass du dich vergiftest, ist viel größer in diesen scheußlich schicken Lokalen, die du so gern besuchst. Die Fassade ist da zwar sauber, aber mon Dieu, les fesses!« Er grinste. »Fais-moi confiance. Warum sollte ich dich vergiften wollen? Dann wäre ich ja arbeitslos, und gerade jetzt ist mir klargeworden, dass ich leben will.«
Noch immer lächelnd, wechselte er mit Guillaume einen Blick, den zu deuten mir unmöglich gewesen wäre, selbst wenn ich gewagt hätte, es zu versuchen. Jacques trieb uns vor sich her wie eine Henne ihre Küken und sagte ungeduldig: »Los, los, keine langen Diskussionen in dieser Kälte. Essen können wir da drinnen vielleicht nicht, auf jeden Fall aber trinken. Alkohol tötet alle Bakterien.«
Guillaumes Miene hellte sich plötzlich auf – es war, als trüge er, irgendwo verborgen, eine mit Vitaminen gefüllte Injektionsspritze bei sich, die automatisch in Aktion trat, sobald seine Stimmung abzusinken drohte. »Il y a des jeunes dedans«, sagte er. Wir gingen hinein.
Richtig, an der Theke, vor Gläsern mit rotem oder weißem Wein, standen junge Leute, ein halbes Dutzend etwa, in Gesellschaft von anderen, die keineswegs jung waren. Ein pockennarbiger Bursche und ein ziemlich verkommen aussehendes Mädchen vergnügten sich am Fenster mit einem Spielautomaten. An den Tischen im Nebenzimmer saßen ein paar Leute, die von einem erstaunlich sauber aussehenden Kellner bedient wurden. Seine weiße Jacke hob sich leuchtend wie Schnee von den schmutzigen Wänden und dem mit Sägemehl bestreuten Fußboden ab. Im Hintergrund konnte man durch die halboffene Küchentür den korpulenten Koch mit seiner hohen weißen Mütze erspähen. Missmutig, eine erloschene Zigarre zwischen den Lippen, bewegte er sich mit einer Schwerfälligkeit, die an die hochbeladenen Lastautos auf der Straße erinnerte.
Hinter der Theke thronte eine jener unverwechselbaren und unüberwindbaren Damen, wie nur Paris sie hervorbringt, und zwar in beträchtlichen Mengen hervorbringt. In jeder anderen Stadt würden sie so deplaciert und verwirrend wirken wie eine Seejungfrau auf einem Berggipfel. Sie sitzen überall in Paris hinter ihrer Theke wie ein Muttervogel im Nest und brüten über der Registrierkasse, als wäre sie ein Ei. Ihren Augen entgeht nichts, was sich im Umkreis ihres Thrones zuträgt, und wenn sie je befremdet oder erstaunt waren, dann nur im Traum – in einem Traum, den sie schon lange nicht mehr träumen. Sie sind weder besonders boshaft noch besonders gutartig, wenn sie auch ihre Launen haben, und niemand kann ihr Reich betreten, ohne dass sie sofort alles über ihn wissen – aus Erfahrung wahrscheinlich, so wie andere Leute wissen, wann es Zeit ist, auf die Toilette zu gehen. Obwohl einige von ihnen weißhaarig sind und andere nicht, einige dünn, andere dick, einige bereits Großmütter und andere noch junge Mädchen, haben sie alle den gleichen ausdruckslosen, dabei aber verschlagenen und alles erfassenden Blick. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie jemals nach Milch geschrien oder in die Sonne geschaut haben; sie scheinen vielmehr banknotenhungrig zur Welt gekommen zu sein, hilflos umherblinzelnd, bis ihre Augen eine Registrierkasse fanden und sich auf sie konzentrierten.
Diese hier hat schwarzes, mit Grau gemischtes Haar und das Gesicht einer Bretonin; wie fast jeden an der Theke kennt sie Giovanni, und auf ihre Art mag sie ihn gern. Sie hat einen üppig gewölbten Busen, an den sie Giovanni jetzt drückt; ihre Stimme ist laut und tief.
»Ah, mon pote!«, ruft sie. »Tu es revenu! Endlich sieht man dich wieder! Salaud! Jetzt, wo du reich bist und reiche Freunde gefunden hast, besuchst du uns überhaupt nicht mehr! Canaille!«
Und sie strahlt uns, die ›reichen‹ Freunde, mit einer vagen Freundlichkeit an, die ebenso köstlich wie wohlüberlegt ist; es würde ihr gewiss nicht schwerfallen, jedes Detail unserer Lebensgeschichte von der Geburt bis zu diesem Morgen zu rekonstruieren. Sie erkennt sofort, wer reich ist – und wie reich jemand ist –, und ihr ist klar, dass ich es nicht bin. Daher wahrscheinlich der kurze, zwielichtige Blick, mit dem sie mich streift. Sie bezweifelt nicht, dass sie gleich alles verstehen wird.
»Sie wissen doch, wie das ist –«, Giovanni befreit sich aus ihrer Umarmung – »wenn der Mensch erst arbeitet und seriös wird, hat er keine Zeit mehr zum Spielen.«
»Tiens«, sagt sie spöttisch. »Sans blague?«
»Aber ja«, beteuert Giovanni. »Auch wenn man so jung ist wie ich, wird man müde –«, sie lacht – »und geht früh zu Bett –«, sie lacht noch lauter – »und zwar allein«, schließt Giovanni mit Nachdruck, als beweise das alles, und sie schnalzt mitfühlend mit der Zunge.
»Na, was ist?«, erkundigt sie sich. »Kommst du oder gehst du? Bist du zum Frühstück hier oder zu einem Schlummertrunk? Nom de Dien, aussehen tust du aber nicht sehr seriös. Mir scheint, du brauchst einen Drink.«
»Bien sûr«, ruft jemand von der Theke herüber, »nach so schwerer Arbeit braucht er eine Flasche weißen Bordeaux – und dazu vielleicht ein paar Dutzend Austern.«
Alle lachen. Alle beobachten uns verstohlen, und ich komme mir vor wie einer vom Wanderzirkus. Alle scheinen stolz auf Giovanni zu sein.
»Eine ausgezeichnete Idee, mein Freund«, antwortet Giovanni der Stimme an der Theke. »Genau das, was ich im Sinn hatte.« Er wendet sich wieder zu uns. »Sie kennen meine Freunde noch nicht«, sagt er und sieht zuerst mich an, dann die Frau. »Dies ist Monsieur Guillaume«, stellt er vor und fügt in kaum merklich verändertem Ton hinzu: »Mein Chef. Er kann Ihnen sagen, ob ich seriös bin.«
»Aber«, wagt sie zu bemerken, »ich kann nicht sagen, ob er seriös ist«, und sie verdeckt ihre Dreistigkeit mit einem Lachen.
Guillaume reißt sich mühsam von dem Anblick der jungen Männer an der Theke los, streckt die Hand aus und lächelt. »Sie haben ganz recht, Madame, er ist so viel seriöser als ich, dass ich befürchte, eines Tages wird meine Bar ihm gehören.«
Ja, wenn die Löwen fliegen gelernt haben, denkt sie. Laut aber versichert sie, sehr erfreut zu sein, und sie schüttelt ihm kräftig die Hand.
»Und das ist Monsieur Jacques«, sagt Giovanni, »einer unserer Stammgäste.«
»Enchanté, madame.« Jacques verneigt sich mit seinem strahlendsten Lächeln, das sie ganz unbefangen parodiert.
»Und dies ist monsieur l’américain«, fährt Giovanni fort, »auch unter dem Namen Monsieur David bekannt. Madame Clothilde.«
Er tritt ein wenig zurück. In seinen Augen brennt etwas, es erhellt sein Gesicht: Freude und Stolz.
»Je suis ravie, monsieur.« Sie blickt mich an, reicht mir die Hand und lächelt.
Ich lächle ebenfalls und weiß eigentlich gar nicht, warum. Alles in mir ist in Aufruhr. Giovanni legt lässig den Arm um meine Schultern. »Was gibt’s denn hier Gutes zu essen?«, fragt er. »Wir sind hungrig.«
»Zuerst müssen wir was trinken«, ruft Jacques.
»Gut, aber das können wir doch im Sitzen tun«, meint Giovanni.
»Nein«, sagt Guillaume, dem es widerstrebt, jetzt schon die Theke zu verlassen – für ihn käme das einer Vertreibung aus dem Gelobten Land gleich. »Lasst uns erst mal hier an der Theke einen Drink nehmen, mit Madame.«
Es war, als hätte ein Wind über die Szene geblasen oder ein Licht sich unmerklich verstärkt: Guillaumes Vorschlag bewirkte, dass aus den Leuten an der Theke gewissermaßen Mitglieder einer Truppe wurden, die sich nun anschickten, ihre Rollen in einem Theaterstück zu spielen, das ihnen gut bekannt war. Für Madame Clothilde sah das so aus: ein paar Einwendungen erheben – was sie auch sogleich tat –, nach kurzem Zögern dankend akzeptieren, dann an ihrem Glas nippen – natürlich musste es etwas Kostspieliges sein, in diesem Fall Champagner –, und dabei eine ganz unverbindliche Konversation machen, sodass sie jederzeit in Sekundenschnelle verschwinden konnte, wenn Guillaume mit einem der jungen Burschen Kontakt aufnahm. Auch die jungen Burschen kannten ihre Aufgabe und waren für sie bestens gerüstet: Jeder von ihnen hatte bereits kalkuliert, wie viel Geld er und sein copain in den nächsten paar Tagen brauchen würden; jeder hatte Guillaumes finanzielle Möglichkeiten haargenau taxiert; jeder hatte abgeschätzt, wie lange diese Geldquelle fließen würde, das heißt, wie lange er Guillaume ertragen könnte. Das Einzige, woran sie alle noch herumrätselten, war die Frage, ob sie vache mit ihm sein sollten oder chic, aber sie waren schon halb und halb entschlossen, vache zu sein. Auch Jacques musste berücksichtigt werden, von dem sie nicht wussten, ob er sich als Prämie oder als Trostpreis entpuppen würde. Und dann war da noch ich, aber das stand natürlich auf einem anderen Blatt. Appartements, weiche Betten und erlesene Speisen konnten sie von mir nicht erhoffen; ich war also einer zum Gernhaben, jedoch als Giovannis môme leider tabu. Ihre Sympathie für Giovanni und mich konnte sich praktisch nur darin äußern, dass sie uns die beiden alten Männer vom Halse schafften. Damit wurde den Rollen, die sie zu spielen hatten, eine gewisse Überzeugungskraft verliehen und ihren selbstsüchtigen Interessen ein altruistischer Glanz aufgesetzt.
Ich bestellte schwarzen Kaffee und einen Cognac, einen großen. Giovanni war weit weg, er trank Branntwein zwischen einem alten Mann, der eine Sammelstelle für jeglichen Schmutz der Welt zu sein schien, und einem rothaarigen Burschen, der alle Chancen hatte, eines Tages genauso auszusehen wie der Alte. Gegenwärtig hatte er noch etwas von der verwegenen Schönheit eines Pferdes und etwas von einem Sturmtruppler; er beobachtete heimlich Guillaume und wusste genau, dass Guillaume und Jacques ihn beobachteten. Offiziell widmete sich Guillaume indessen Madame Clothilde. Beide stimmten darin überein, dass die Geschäfte schlecht gingen, dass die nouveaux riches das Niveau herabdrückten und dass Frankreich einen Mann wie de Gaulle brauche.
Zum Glück hatte jeder von ihnen dieses Gespräch schon so oft geführt, dass es wie von selbst von den Lippen floss, also keine besondere Konzentration erforderte. Jacques würde in Kürze einen der Burschen zu einem Drink einladen, doch im Augenblick gefiel er sich noch in der Rolle meines Onkels.
»Na, wie geht’s?«, fragte er mich. »Heute ist ein sehr wichtiger Tag in deinem Leben.«
»Mir geht’s prima. Und dir?«
»Ich komme mir vor wie ein Mensch, der gerade eine Vision gehabt hat.«
»So?«, sagte ich. »Was für eine Vision? Erzähl mal.«
»Ich scherze nicht«, wies er mich zurecht. »Ich spreche von dir. Du warst die Vision. Du hättest dich vorhin in der Bar sehen sollen, und du solltest dich jetzt sehen.«
Ich blickte ihn schweigend an.
»Du bist – wie alt? Sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig? Ich bin beinahe doppelt so alt, und ich kann dir nur sagen, du hast Glück. Du hast Glück, weil dir diese Geschichte jetzt passiert und nicht erst, wenn du vierzig bist, denn dann wäre es einfach hoffnungslos und du würdest daran zugrunde gehen.«
»Was für eine Geschichte passiert mir denn?« Ich bemühte mich, mit überlegener Ironie zu sprechen, aber es klang weder überlegen noch ironisch.
Er antwortete nicht, sondern seufzte und sah flüchtig zu dem Rothaarigen hinüber. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Wirst du an Hella schreiben?«
»Ich schreibe oft an sie«, erwiderte ich. »Vermutlich werde ich das auch weiterhin tun.«
»Damit ist meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Oh, ich hatte den Eindruck, du wolltest wissen, ob ich mit Hella im Briefwechsel stehe.«
»Na schön, dann eben so herum: Wirst du Hella von dieser Nacht und diesem Morgen erzählen?«
»Ich weiß wirklich nicht, was es da zu erzählen gibt. Außerdem kann’s dir doch egal sein, ob ich es tue oder nicht.«
In seinem Blick las ich eine Verzweiflung, wie ich sie nie zuvor bei ihm wahrgenommen hatte. Mir wurde unbehaglich zumute.
»Es geht nicht darum, was es für mich bedeutet«, sagte er. »Es geht darum, was es für dich bedeutet. Und für sie. Und für den armen Jungen da drüben, der nicht ahnt, dass er seinen Kopf in den Rachen des Löwen steckt, wenn er dich so ansieht. Wirst du die beiden auch so behandeln, wie du mich behandelt hast?«
»Dich? Was hast du damit zu tun? Wie habe ich dich denn behandelt?«
»Du warst sehr unfair zu mir«, sagte er. »Du warst nicht ehrlich.«
Diesmal gelang es mir, Ironie in meine Stimme zu legen. »Mit anderen Worten, du meinst, dass es fair und ehrlich gewesen wäre, wenn ich … wenn ich …«.
»Ich meine, es wäre fair gewesen, wenn du mich etwas weniger verächtlich behandelt hättest.«
»Das tut mir leid. Aber da du das Thema nun einmal angeschnitten hast, muss ich dir offen sagen, dass vieles in deinem Leben tatsächlich verachtenswert ist.«
»Das Gleiche könnte ich von dir behaupten«, versetzte Jacques. »Es gibt so viele Möglichkeiten, Verachtung hervorzurufen, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Das Verächtlichste jedoch ist, wenn sich jemand anmaßt, geringschätzig über den Schmerz anderer zu urteilen. Bist du denn noch nie auf die Idee gekommen, dass der Mensch, den du vor dir hast, einmal jung war, sogar jünger, als du jetzt bist, und dass er nach und nach, ganz unmerklich, in seinen jetzigen erbärmlichen Zustand hineingeraten ist?«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, das aus einiger Entfernung durch Giovannis Lachen bedroht wurde.
»Jacques, gibt es für dich wirklich keinen anderen Weg als diesen: immer wieder vor irgendeinem Burschen knien und ihn um fünf schmutzige Minuten im Dunkeln anflehen?«
»Denke an die Männer, die vor dir auf den Knien gelegen haben, während du an etwas ganz anderes dachtest und so tatest, als ginge da im Dunkeln zwischen deinen Beinen nichts vor sich.«
Ich starrte auf den bernsteinfarbenen Cognac und auf die Zinkplatte mit den feuchten Ringen. Tief unten, gefangen im Metall, entdeckte ich die Umrisse meines Gesichts, aus dem meine Augen mich hoffnungslos anstarrten.
»Du glaubst«, sprach er beharrlich weiter, »mein Leben sei schändlich, weil meine … meine Bekanntschaften schändlich sind. Zugegeben, das sind sie. Aber du solltest dich einmal nach dem Grund fragen.«
»Warum sind deine Bekanntschaften schändlich?«
»Weil die Zuneigung fehlt, die Freude. Es ist, als ob man einen elektrischen Stecker in eine stromlose Steckdose presst. Berührung, aber kein Kontakt. Nur Berührung, kein Kontakt und kein Licht.«
»Warum nicht?«
»Das musst du dich selber fragen«, erwiderte Jacques. »Dann wird vielleicht eines Tages dieser Morgen in deinem Munde nicht zu Asche werden.«
Ich blickte hinüber zu Giovanni, der den Arm um das verkommen aussehende Mädchen gelegt hatte, das vielleicht einmal sehr hübsch gewesen war, aber es nie mehr sein würde.
Jacques folgte meinem Blick. »Er ist schon jetzt verliebt in dich, und das sollte dich eigentlich glücklich und stolz machen. Stattdessen schämst du dich und hast Angst. Wovor fürchtest du dich?«
»Ich verstehe ihn nicht«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Ich weiß nicht, was seine Freundschaft bedeutet. Ich weiß nicht, was er unter Freundschaft versteht.«
Jacques lachte. »Du weißt nicht, was er unter Freundschaft versteht, aber du hast das Gefühl, es könnte gefährlich werden. Du hast Angst, es könnte dich verändern. Was für Freundschaften hast du denn bisher gehabt?«
Ich antwortete nicht.
»Oder, um genau zu sein«, fuhr er fort, »was für Liebesaffären?«
Ich schwieg so lange, dass er mir schließlich neckend zurief: »Los, los, komm raus aus deinem Versteck!«
Und ich grinste, während ich innerlich erstarrte.
»Liebe ihn«, sagte Jacques heftig. »Liebe ihn und lass dich von ihm lieben. Glaubst du, irgendetwas anderes unter dem Himmel ist von Bedeutung? Wie lange kann es denn bestenfalls dauern, da ihr doch beide Männer seid und noch einen weiten Weg vor euch habt? Nur fünf Minuten, bestimmt nicht mehr als fünf Minuten, und die meiste Zeit – hélas – im Dunkeln. Und wenn du denkst, diese fünf Minuten sind schmutzig, dann werden sie schmutzig – schmutzig, weil du nichts gibst, weil du deinen Körper und seinen verachtest. Aber es liegt nur an euch. Ihr könnt euer Zusammensein von jedem Schmutz freihalten, ihr könnt einander etwas geben, was euch besser macht – für immer –, wenn ihr euch nicht schämt und wenn ihr nicht auf Nummer sicher geht.« Er hielt inne, beobachtete mich und blickte dann auf seinen Cognac. »Geh lange genug auf Nummer sicher«, fügte er in verändertem Tonfall hinzu, »und du wirst ein Gefangener deines eigenen schmutzigen Körpers werden, für immer und immer und immer – wie ich.« Er trank den Cognac aus und klopfte leicht mit dem Glas auf die Theke, um Madame Clothildes Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie eilte sogleich strahlend herbei, und Guillaume nahm die Gelegenheit wahr, den Rothaarigen anzulächeln. Madame goss Jacques einen neuen Cognac ein, näherte dann die Flasche meinem halbvollen Glas und sah mich fragend an. Ich zögerte.
»Et pourquoi pas?«, meinte sie und lachte. Ich trank also aus, und sie füllte mein Glas von Neuem. Dabei ließ sie sich für den Bruchteil einer Sekunde von Guillaume ablenken, der ausrief: »Et le rouquin-là! Was trinkt denn der Rotkopf?«
Mit der Miene einer Schauspielerin, die endlich die letzten Sätze einer gewaltigen und erschöpfenden Rolle vortragen kann, wandte Madame Clothilde sich um und sagte würdevoll: »On t’offre, Pierre. Was willst du haben?«
Sie hielt die Flasche mit dem teuersten Cognac des Hauses ein wenig in die Höhe.
»Je prendrai un petit cognac«, murmelte Pierre zaghaft und brachte es sogar fertig, rot zu werden, was ihn im Licht der blassen, soeben aufgehenden Sonne einem gefallenen Engel ähneln ließ.
Madame Clothilde füllte Pierres Glas; dann, inmitten einer harmonisch abklingenden Spannung – es war wie das langsame Verlöschen der Rampenlichter –, stellte sie die Flasche in das Regal und schritt zur Kasse zurück, verschwand gewissermaßen in den Kulissen, wo sie sich mit dem restlichen Champagner stärkte. Sie seufzte befriedigt, trank winzige Schlucke und blickte hinaus in den immer heller werdenden Morgen. Guillaume, der ein »Je m’excuse un instant, madame«, gemurmelt hatte, war schon auf dem Weg zu dem Rothaarigen.
Ich lachte. »Das sind Sachen, die mir mein Vater nie gesagt hat.«
»Ob dein Vater oder meiner«, erwiderte Jacques, »irgendjemand hätte uns darüber aufklären müssen, dass nur die wenigsten Menschen an zu viel Liebe sterben. Aus Mangel an Liebe dagegen gehen täglich, stündlich – und an den seltsamsten Orten – unzählige Menschen zugrunde.« Und dann: »Da kommt dein Baby. Sois sage. Sois chic.«
Er trat einen Schritt zur Seite und fing ein Gespräch mit dem Burschen neben ihm an.
Ja, da kam mein Baby durch das Sonnenlicht auf mich zu, mit flatternden Haaren, geröteten Wangen und Augen, die wie der Morgenstern strahlten. »Es war nicht sehr nett von mir, dich so lange allein zu lassen«, rief er. »Hoffentlich hast du dich nicht gelangweilt.«
»Jedenfalls hast du dich bestimmt nicht gelangweilt«, versetzte ich. »Du siehst aus wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.«
Er spitzte schelmisch den Mund, ein Zeichen, dass er entzückt, ja geschmeichelt war. »So kann ich unmöglich aussehen. Weihnachten war immer eine Enttäuschung für mich.«
»Ich meine ja auch, sehr früh am Weihnachtsmorgen, bevor du wusstest, was unter dem Baum lag.«
Irgendwie gab sein Blick meiner Bemerkung einen Doppelsinn, ein double entendre, und wir mussten beide lachen.
»Bist du hungrig?«, fragte er.
»Vielleicht. Um es genau zu wissen, müsste ich ausgeschlafen und nüchtern sein. Und du?«
»Ich finde, wir sollten unbedingt etwas essen«, sagte er, und es klang so wenig überzeugt, dass wir von Neuem in Lachen ausbrachen.
»Und was wollen wir essen?«
»Ich wage zwar kaum noch, Weißwein und Austern zu empfehlen, aber nach einer solchen Nacht ist das wirklich das Beste.«
»Gut«, erwiderte ich, »dann komm, solange wir noch die Kraft haben, in den Speiseraum zu gehen.«
Ich hielt Ausschau nach den anderen. Guillaume und der Rothaarige hatten anscheinend ein interessantes Thema gefunden – ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, worüber sie sprachen –, und Jacques unterhielt sich angeregt mit einem sehr jungen, lang aufgeschossenen, pockennarbigen Burschen, den der schwarze Rollkragenpullover noch blasser und dünner erscheinen ließ, als er schon war. Ich erkannte in ihm den Jungen, der vorhin an dem Spielautomaten gestanden hatte; wie sich herausstellte, hieß er Yves. »Ob sie nicht auch etwas essen wollen?«, fragte ich Giovanni.
»Wahrscheinlich erst später«, antwortete er, »aber essen wollen sie ganz bestimmt, denn sie sind alle sehr hungrig.«
Ich bezog diese Bemerkung mehr auf die jungen Burschen als auf Jacques und Guillaume. Wir gingen hinüber in den Raum mit den Tischen, der jetzt leer war. Auch der Kellner hatte sich entfernt.
»Madame Clothilde!«, rief Giovanni. »On mange ici, non?«
Dieser Ruf, den Madame ebenso lautstark beantwortete, hatte eine mehrfache Wirkung: Er lockte den Kellner herbei, dessen weiße Jacke von Nahem weniger fleckenlos war, als sie von Weitem gewirkt hatte; er informierte Jacques und Guillaume über unsere Anwesenheit im Speiseraum, und er verstärkte in den Augen der Jungen, mit denen sie sprachen, den Ausdruck tigerhaft gieriger Zuneigung.
»Wir werden rasch essen und dann gehen«, sagte Giovanni. »Schließlich muss ich heute Abend wieder arbeiten.«
»Hast du Guillaume hier kennengelernt?«, erkundigte ich mich.
Ohne aufzublicken, verzog er das Gesicht. »Nein. Das ist eine lange Geschichte. Stell dir vor –«, er lachte – »ich habe ihn in einem Kino getroffen.« Wir lachten beide. »C’était un film du far west – ein Western, sagt man wohl bei euch. Mit Gary Cooper.« Das fanden wir entsetzlich komisch, und wir lachten darüber, bis der Kellner mit unserer Flasche Weißwein kam.
Giovanni kostete den Wein. »Ja, das war so«, berichtete er mit feuchten Augen. »Als der letzte Pistolenschuss abgefeuert war und die Musik aufbrandete, um den Sieg des Guten zu feiern, stand ich auf, und in dem Gedränge stieß ich mit einem Mann zusammen, mit Guillaume. Ich entschuldigte mich und ging weiter. Im Vestibül kam er mir nach und erzählte mir des Langen und Breiten, er hätte sein Halstuch auf meinem Platz liegengelassen, weil er hinter mir saß und seine Sachen über die Lehne des Sessels vor ihm gelegt hatte, verstehst du, und ich sollte das Tuch beim Hinsetzen heruntergezogen haben. Ich sagte natürlich, da müsse er sich schon an einen Angestellten des Kinos wenden, denn ich hätte mit seinem dämlichen Halstuch nichts zu schaffen – aber richtig wütend auf ihn war ich eigentlich nicht, weil er mich eher zum Lachen reizte. Darauf behauptete er, alle Kinoangestellten seien Diebe, und wenn einer von ihnen das Tuch fände, würde er es nie zurückgeben, und es sei ein sehr teures Tuch und ein Geschenk von seiner Mutter – wirklich, nicht mal die Garbo hätte das überzeugender hingekriegt. Ich ging also zurück, und natürlich war kein Halstuch da, und als ich ihm das sagte, stellte er sich an, als wollte er mitten im Vestibül tot umfallen. Inzwischen bildeten sich schon alle ein, dass wir zusammengehörten, verstehst du, und ich wusste nicht recht, wem ich einen Fußtritt geben sollte, ihm oder den Leuten, die uns anstarrten. Aber er war sehr gut angezogen und ich nicht, deshalb dachte ich mir, erst mal raus aus dem Kino, dann kann ich ihn abwimmeln. Also gingen wir in ein Café, und als er fertig war mit seinem Gejammer über das Tuch und was seine Mutter sagen würde und so weiter und so weiter, lud er mich zum Abendessen ein. Natürlich sagte ich Nein, denn ich hatte mehr als genug von ihm, aber ich konnte eine neue Szene, diesmal mitten im Café, nur dadurch verhindern, dass ich versprach, ein paar Tage später mit ihm zu essen. Ich wollte erst gar nicht hingehen«, schloss Giovanni mit einem halben Lächeln, »nur … als es dann so weit war, hatte ich seit einer Ewigkeit nichts gegessen und war sehr hungrig.«
Er sah mich an, und wieder bemerkte ich in seinem Gesicht etwas, was ich in den letzten Stunden schon mehrmals flüchtig wahrgenommen hatte: Unter seiner Schönheit und seiner Bravour verbargen sich Angst und der brennende Wunsch, zu gefallen. Entsetzlich rührend war das, und am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und ihn gestreichelt.
Unsere Austern kamen, wir begannen zu essen. Giovanni saß in der Sonne. Sein schwarzes Haar schien dort, wo das Licht es traf, den gelben Glanz des Weines und die trüben Farben der Austern zu reflektieren.
Mit heruntergezogenen Mundwinkeln berichtete er weiter: »Das Abendessen mit ihm war scheußlich, er bringt es sogar fertig, bei sich zu Hause Szenen zu machen. Immerhin erfuhr ich, dass ihm eine Bar gehört und dass er französischer Staatsbürger ist. Ich bin es nämlich nicht, und damals hatte ich keine carte de travail, also auch keine Stellung. Mir war klar, dass er mir von Nutzen sein konnte, allerdings nur, wenn ich einen Weg fand, ihn mir vom Leibe zu halten. Ich muss gestehen –«, wieder dieser Blick – »dass es mir nicht so ganz geglückt ist, von ihm unberührt zu bleiben, er hat nämlich mehr Greifarme als ein Tintenfisch und keinerlei Würde, aber –«, Giovanni schluckte grimmig eine Auster und füllte unsere Gläser nach – »aber dafür habe ich jetzt eine carte de travail und eine Stellung.« Er grinste. »Sogar eine sehr gut bezahlte Stellung, denn anscheinend steigere ich den Umsatz. Deshalb lässt er mich auch meistens ungeschoren.« Er blickte zur Theke hinüber. »Weißt du, er ist ja gar kein Mann«, sagte er mit einem Ausdruck bekümmerter Verwirrung, der ihn kindlich und zugleich uralt erscheinen ließ. »Ich weiß nicht, was er ist, er ist widerlich. Aber meine carte de travail behalte ich jedenfalls. Ob ich auch die Stellung behalte, ist nicht so sicher. Immerhin –«, er klopfte an Holz – »hat es seit fast drei Wochen keinen Ärger gegeben.«
»Meinst du, es wird wieder welchen geben?«, fragte ich.
»Na klar.« Giovanni sah mich an, als bezweifle er, dass ich auch nur ein Wort von seinem Bericht verstanden hatte. »Natürlich werden wir bald wieder ein bisschen aneinandergeraten. Nicht gleich jetzt, denn das ist nicht seine Art, aber er wird sich schon etwas ausdenken, was er mir vorwerfen kann.«
Eine Zeit lang saßen wir schweigend vor den leeren Austernschalen, rauchten Zigaretten und tranken den restlichen Wein. Ich wurde auf einmal entsetzlich müde. Ich starrte hinaus auf die schmale, wunderlich verkrümmte Straße, die jetzt von Sonnenlicht überflutet war und von Menschen wimmelte – Menschen, die ich nie begreifen würde. Jäh überkam mich das schmerzliche Verlangen, nach Hause zu gehen; nicht in jenes Hotel in der Pariser Seitenstraße, wo mir die Concierge den Weg mit einer unbezahlten Rechnung versperrte, sondern heimwärts über den Ozean, zu Dingen und Menschen, die ich kannte und verstand, zu all den Dingen, Orten und Menschen, die ich trotz vieler bitterer Erinnerungen hilflos liebte und immer lieben würde. Nie zuvor hatte ich etwas Ähnliches empfunden, und es erschreckte mich. Ich sah mich selbst klar und deutlich: ein Wanderer, ein Abenteurer, der haltlos durch die Welt schaukelt. Ich blickte Giovanni an, aber das half mir nicht weiter. Er gehörte zu dieser fremden Stadt, die nicht zu mir gehörte. Ich fing an zu begreifen: Das, was mit mir geschah, so unglaublich es sein mochte, war dennoch nicht so unglaublich, wie ich es mir zu meinem Trost gern eingeredet hätte. Nein, es war gar nicht so seltsam, so beispiellos, wenn auch tief in mir eine Stimme dröhnte, die mir zurief, es sei eine Schande, sich so abrupt, in so widerlicher Weise mit einem Jungen einzulassen. Seltsam war nur eines: dass dies lediglich ein winziger Aspekt der ungeheuren menschlichen Verwirrung war, die überall, immer, für alle Zeiten herrscht.
»Viens«, sagte Giovanni.
Wir erhoben uns und gingen zur Theke, wo Giovanni unsere Rechnung bezahlte. Inzwischen hatte man eine weitere Flasche Champagner entkorkt, und Jacques und Guillaume waren schon ziemlich betrunken. Es versprach grausig zu werden, und ich fragte mich, ob diese armen geduldigen Burschen wohl je etwas zu essen bekommen würden. Giovanni verhandelte kurz mit Guillaume und erklärte sich bereit, am Abend die Bar zu öffnen; Jacques war viel zu sehr mit dem blassen, schlanken Jungen beschäftigt, als dass er Zeit für mich gehabt hätte; wir wünschten ihnen guten Morgen und verließen sie.
»Ich muss nach Hause«, sagte ich zu Giovanni, als wir draußen waren. »Wegen meiner Hotelrechnung.«
Giovanni sah mich verwundert an. »Mais tu es fou«, erwiderte er sanft. »Was hat das für einen Sinn, jetzt nach Hause zu gehen, einer hässlichen alten concierge zu begegnen, dann ganz allein ins Bett zu kriechen und später mit Katzenjammer und Selbstmordgedanken aufzuwachen? Komm mit zu mir. Wir werden zu einer zivilisierten Zeit aufstehen, irgendwo in aller Ruhe einen Aperitif trinken und hinterher nett zu Abend essen. Du wirst sehen, auf diese Weise wird alles viel erfreulicher.«
»Ich muss doch meine Sachen holen«, wandte ich ein.
Er nahm mich am Arm. »Bien sûr, aber nicht ausgerechnet jetzt.« Und als ich noch immer zögerte: »Komm schon, ich bin viel hübscher anzuschauen als deine Zimmertapete oder deine concierge. Und die werden dich auch bestimmt nicht so freundlich anlächeln wie ich, wenn du aufwachst.«
»Ah, tu es vache«, war alles, was ich entgegnen konnte.
»Nein, du bist es, der vache ist«, sagte er. »Du willst mich in dieser einsamen Gegend allein lassen, wo du doch weißt, dass ich zu betrunken bin, um ohne Begleitung nach Hause zu finden.«
Lachend setzten wir das prickelnde Neckspiel fort, bis wir den Boulevard de Sébastopol erreichten. »So, und jetzt ist Schluss mit diesem betrüblichen Thema. Kein Wort mehr darüber, dass du Giovanni zu so gefährlicher Stunde mitten in einer feindseligen Stadt seinem Schicksal überlassen wolltest«, rief er, und plötzlich wurde mir klar, dass er genauso nervös war wie ich. Vor uns kam ein Taxi den Boulevard entlanggeschaukelt, und Giovanni hob die Hand. »Ich will dir mein Zimmer zeigen«, sagte er. »Irgendwann musst du’s ja doch sehen, warum also nicht gleich?« Das Taxi hielt neben uns, und Giovanni, als hätte er Angst, ich könnte ihm davonlaufen, schob mich hinein. Er nahm neben mir Platz und nannte dem Fahrer das Ziel: »Place de la Nation.«
Die Straße, in der er wohnte, war breit und bot mit ihren Mietshäusern, die aus neuerer Zeit stammten, ein Bild solider Bürgerlichkeit. Am Ende der Straße befand sich ein kleiner Park. Wir gingen durch den Hausflur, am Fahrstuhl vorbei, und gelangten in den dunklen Korridor, an dem Giovannis Zimmer lag. Das Zimmer war klein, sonst fiel mir nur eine allgemeine Unordnung auf. In der Luft hing der Geruch des Spiritusofens. Giovanni schloss die Tür ab. Eine Zeit lang standen wir da und starrten uns in dem trüben Licht an, bestürzt, erleichtert, mühsam atmend. Ich zitterte. Wenn ich nicht sofort die Tür aufmache und gehe, dachte ich, dann bin ich verloren. Aber ich wusste, dass ich die Tür nicht aufmachen konnte, ich wusste, es war zu spät und bald konnte ich nur noch stöhnen. Er zog mich an sich, überließ sich meinen Armen, als sollte ich ihn tragen, und zog mich langsam auf das Bett hinunter. Während alles in mir Nein schrie, seufzte mein wahres Ich Ja.
Hier in Südfrankreich schneit es nicht oft, aber seit einer halben Stunde fallen weiße Flocken, zuerst sanft rieselnd, jetzt dichter und ungestümer. Es sieht so aus, als würde es mit einem Schneesturm enden. In diesem Jahr ist der Winter hier unten sehr kalt, obgleich es von den Einheimischen als Taktlosigkeit angesehen wird, wenn ein Ausländer auf diese Tatsache anzuspielen wagt. Die Leute strahlen vor Fröhlichkeit wie Kinder am Strand, selbst dann noch, wenn ihre Gesichter brennen in diesem Wind, der von allen Seiten zugleich zu blasen scheint und alles durchdringt. »Il fait beau, bien?«, sagen sie und blicken zum wolkenverhangenen Himmel hinauf, an dem sich die vielgerühmte Sonne des Südens seit Tagen nicht mehr gezeigt hat.
Ich wende mich von dem Fenster des großen Wohnzimmers ab und wandere durch das Haus. In der Küche bleibe ich vor dem Spiegel stehen. Ich habe gerade beschlossen, mich zu rasieren, bevor das Wasser kalt wird, als ich ein Klopfen an der Haustür höre. Eine Sekunde lang flammt eine wilde Hoffnung in mir auf, doch dann wird mir klar, dass es nur die Hausverwalterin sein kann, die herübergekommen ist, um sich zu vergewissern, dass ich kein Silber gestohlen, kein Geschirr zerschlagen, keine Möbel verheizt habe. Richtig, sie rüttelt an der Tür, und ich höre ihre krächzende Stimme: »M’sieu! M’sieu! M’sieu l’américain!« Ich frage mich ärgerlich, warum in aller Welt sie wohl so aufgeregt ist.
Aber sie lächelt, als ich ihr die Tür öffne, ein Lächeln, das mütterlich ist und doch ein wenig kokett. Sie ist schon recht alt und eigentlich keine Französin; sie stammt aus Italien, nicht weit von der Grenze, und ist vor vielen Jahren ins Land gekommen – »als ich ein ganz junges Mädchen war, Monsieur«. Wie die meisten Frauen der Gegend ist sie schwarz gekleidet; hier scheinen die Mütter Trauer anzulegen, sobald das letzte Kind dem Kindesalter entwachsen ist. Hella hielt anfangs diese Frauen samt und sonders für Witwen, doch wie sich herausstellte, waren ihre Männer fast alle noch am Leben. Wir sahen die Männer oft, wenn sie auf einer Wiese hinter unserem Haus belote spielten, und ich beobachtete, dass ihre Augen bei Hellas Anblick einen Ausdruck bekamen, in dem sich väterliches Wohlwollen mit männlicher Herausforderung mischte. Manchmal habe ich mit ihnen im tabac Billard gespielt und Rotwein getrunken. Aber sie machten mich nervös mit ihren Zoten, ihrer gutmütigen Art, ihrer Kameradschaftlichkeit. Das Leben stand ihnen auf den Händen, im Gesicht und in den Augen geschrieben. Sie behandelten mich wie einen erst kürzlich zum Manne gewordenen Sohn, wahrten dabei aber eine gewisse Distanz, denn ich gehörte ja in Wirklichkeit nicht zu ihnen. Auch mochten sie etwas in mir wittern, etwas, dem nachzuspüren ihnen geraten schien. So glaubte ich es in ihren Augen zu lesen, wenn ich mit Hella auf der Straße an ihnen vorüberging und sie uns sehr ehrerbietig ihr salut, monsieur – ’dame entboten. Sie hätten ebenso gut die Söhne dieser Frauen in Schwarz sein können, heimgekehrt nach einem stürmischen, der Welteroberung gewidmeten Leben, heimgekehrt, um auszuruhen, angekeift zu werden und auf den Tod zu warten, heimgekehrt zu den längst ausgetrockneten Brüsten, die ihnen am Anfang ihres Lebens Nahrung gespendet hatten.
Schneeflocken haben das Kopftuch der Alten weiß getüpfelt, hängen an ihren Wimpern und in den teils schwarzen, teils grauen Haarsträhnen, die unter dem Tuch hervorschauen. Sie ist noch sehr rüstig, wenn auch ein wenig kurzatmig und gebeugt.
»Bonsoir, monsieur. Vous n’êtes pas malade?«
»Nein, ich bin nicht krank«, antworte ich. »Kommen Sie herein.«
Sie schließt die Tür hinter sich und lässt das Tuch auf die Schultern gleiten. Ich halte noch immer meinen Drink in der Hand. Sie nimmt das schweigend zur Kenntnis.
»Eh bien«, sagt sie, »tant mieux. Aber wir haben Sie tagelang nicht gesehen. Sind Sie denn gar nicht ausgegangen?«
Ihre Augen forschen in meinem Gesicht.
Ich bin ärgerlich und verlegen, und doch bringe ich es nicht fertig, grob zu werden. In ihrem Blick und in ihrer Stimme liegt etwas Gütiges, Weises, das mich wehrlos macht. »Nein«, erwidere ich, »das Wetter war ja so schlecht.«
»Nun ja«, meint sie, »wir haben nicht mehr Mitte August. Aber Sie sind doch kein Invalide. Immer allein im Haus herumzusitzen, das tut nicht gut.«
»Morgen früh reise ich ab«, sagte ich verzweifelt. »Wollen Sie das Inventar aufnehmen?«
»Ja.« Sie holt aus ihrer Rocktasche die Liste der Haushaltsgegenstände hervor, die ich bei unserer Ankunft unterschreiben musste. »Lange wird es ja nicht dauern. Am besten fange ich mit den Nebenräumen an.«
Auf dem Weg zur Küche setze ich im Schlafzimmer mein Glas auf dem Nachttisch ab.
»Mir macht’s nichts aus, wenn Sie trinken«, bemerkt sie, ohne sich umzuwenden. Ich lasse das Glas trotzdem stehen.
Wir betreten die Küche, die verdächtig sauber und aufgeräumt ist. »Wo haben Sie denn gegessen?«, fragt sie scharf. »Die Leute vom tabac sagen, Sie sind seit Tagen nicht mehr dagewesen. Waren Sie in der Stadt?«
»Ja, einige Male«, antwortete ich lahm.
»Zu Fuß? Der Autobusfahrer hat Sie nämlich auch nicht gesehen.«
Während sie spricht, geht sie in der Küche umher und hakt jeden Gegenstand mit einem gelben Bleistiftstummel auf ihrer Liste ab.
Ich muss die letzte Stichelei schweigend hinnehmen, denn ich habe nicht bedacht, dass sich in einem so kleinen Dorf jeder Schritt, jede Bewegung, von wachsamen Augen registriert, in kürzester Zeit herumspricht.
Sie wirft einen Blick in das Badezimmer. »Hier mache ich heute Abend noch Ordnung«, sage ich.
»Das will ich hoffen«, versetzt sie. »Bei Ihrem Einzug war alles sauber.« Wir gehen durch die Küche zurück. Sie hat nicht bemerkt, dass zwei Gläser fehlen, die ich zerbrochen habe, und ich bringe nicht die Kraft auf, es ihr zu sagen. Ich werde etwas Geld in den Küchenschrank legen.
Sie schaltet das Licht im Gästezimmer ein. Meine schmutzigen Kleidungsstücke sind über den Boden verstreut.
»Die nehme ich mit.« Ich versuche zu lächeln.
»Sie hätten doch nur über die Straße zu gehen brauchen«, sagt sie. »Ich hätte Ihnen gern was zu essen gegeben. Ein bisschen Suppe, etwas Nahrhaftes. Ich koche jeden Tag für meinen Mann, was macht einer mehr da schon aus?«
Das rührt mich, wenn ich auch kein Wort des Dankes finde. Ich kann ihr natürlich nicht sagen, dass es meine Nerven bis zum Zerreißen strapaziert hätte, mit ihr und ihrem Mann zu essen.
Sie untersucht ein Paradekissen. »Fahren Sie morgen zu Ihrer Verlobten?«, erkundigt sie sich.
Ich weiß, dass ich jetzt lügen müsste, aber irgendwie ist es mir unmöglich. Ihre Augen schüchtern mich ein. Hätte ich doch meinen Drink mitgenommen! »Nein«, antworte ich tonlos, »sie ist nach Amerika gefahren.«
»Tiens«, sagt sie. »Und Sie – bleiben Sie in Frankreich?« Sie blickt mir ins Gesicht.
»Fürs Erste ja.« Ich fange an zu schwitzen. Mir ist plötzlich eingefallen, dass diese Frau, eine einfache Landfrau aus Italien, in vieler Hinsicht Giovannis Mutter ähneln muss. Ich versuche krampfhaft, nicht ihre Klageschreie zu hören. Ich versuche krampfhaft, nicht das in ihren Augen zu sehen, was sicherlich zu sehen wäre, wenn sie wüsste, dass ihr Sohn den Morgen nicht mehr erleben wird, wenn sie wüsste, was ich ihrem Sohn angetan habe.
Aber sie ist ja nicht Giovannis Mutter.
»Es ist nicht gut«, meint sie, »es ist nicht richtig, wenn ein junger Mann wie Sie ganz allein in einem großen Haus sitzt und keine Frau hat.« Ihre Miene ist traurig; sie scheint noch etwas hinzufügen zu wollen. Ich weiß, sie möchte eine Bemerkung über Hella machen, die weder bei ihr noch bei den anderen Frauen im Ort beliebt war. Aber sie dreht wortlos das Licht im Gästezimmer aus, und wir gehen in das große Schlafzimmer, das Hella und ich benutzt haben (es ist nicht das, in dem ich meinen Drink abgestellt habe). Auch hier ist alles sauber und ordentlich. Die Alte schaut sich um, sieht mich an und lächelt.
»Sie haben das Zimmer gar nicht mehr benutzt«, sagt sie.
Ich fühle, wie ich vor Verlegenheit rot werde. Sie lacht.
»Aber Sie werden bestimmt noch einmal sehr glücklich. Sie müssen sich eine neue Frau suchen, eine gute Frau, und sich verheiraten und Kinder haben. Doch, doch, das müssen Sie tun.« Sie sagt das in einem Ton, als hätte ich ihr widersprochen, und bevor ich etwas erwidern kann, fragt sie: »Wo ist Ihre maman?«
»Sie ist tot.«
»Oh!« Sie schnalzt mitleidig mit der Zunge. »Wie traurig! Und Ihr Papa – ist der auch tot?«
»Nein. Er lebt in Amerika.«
»Pauvre bambino!« Sie blickt mir in die Augen. Ich stehe hilflos vor ihr, und wenn sie nicht bald geht, werde ich in Tränen ausbrechen oder sie anschreien. »Sie können doch nicht die Absicht haben, immer nur wie ein Seemann durch die Welt zu fahren. Ihre Mutter wäre bestimmt sehr traurig darüber. Wollen Sie nicht irgendwann ein Heim gründen?«
»Ja, gewiss. Irgendwann.«
Sie legt ihre kräftige Hand auf meinen Arm. »Selbst wenn Ihre arme maman nicht mehr lebt, Ihr Vater wird glücklich sein, Enkelkinder von Ihnen zu haben.« Sie zögert, der Blick ihrer schwarzen Augen wird weich; sie sieht mich an und scheint doch durch mich hindurchzusehen. »Wir hatten drei Söhne. Zwei von ihnen sind im Krieg gefallen. Auch unser Geld haben wir im Krieg verloren. Das ist schlimm, nicht wahr, wenn man sein Leben lang schwer gearbeitet hat, um im Alter ein bisschen Frieden zu haben, und auf einmal ist alles weg. Meinen Mann hat das fast umgebracht, seither ist er nicht mehr derselbe.« Jetzt entdecke ich in ihren Augen nicht nur Klugheit, sondern auch Kummer und Bitterkeit. Sie zuckt die Achseln. »Ach, was hilft’s? Besser, man denkt nicht mehr daran.« Sie lächelt. »Aber unser letzter Sohn ist noch da. Er lebt im Norden. Vor zwei Jahren hat er uns besucht und seinen kleinen Sohn mitgebracht. Vier Jahre war er damals, der Kleine, und so hübsch! Mario heißt er.« Sie unterstreicht ihre Worte durch Gesten. »Das ist der Name meines Mannes. Zehn Tage sind sie bei uns geblieben, und wir fühlten uns beide ganz jung.« Wieder lächelt sie. »Vor allem mein Mann.« So steht sie einen Augenblick da, in Erinnerung versunken. Dann fragt sie unvermittelt: »Beten Sie?«
Wie lange soll ich das nur noch ertragen? »Nein«, stammle ich. »Nein, nicht oft.«
»Aber Sie sind doch gläubig?«
Ich lächle. Es ist ein herablassendes Lächeln – wenn ich auch wünschte, es wäre so. »Ja.«
Das Lächeln scheint nicht sehr überzeugend gewesen zu sein. »Sie müssen beten«, sagt sie sehr sachlich. »Das ist nötig, glauben Sie’s mir. Und wenn es nur ein kleines Gebet ist, so von Zeit zu Zeit. Zünden Sie eine kleine Kerze an. Ohne die Fürbitte der Heiligen könnte ich in dieser Welt überhaupt nicht leben. Ich spreche jetzt zu Ihnen –«, sie richtet sich ein wenig auf – »als wäre ich Ihre maman. Seien Sie mir deswegen nicht böse.«
»Aber ich bin Ihnen doch nicht böse. Es ist sehr nett … sehr nett, dass Sie so zu mir sprechen.«
Sie lächelt befriedigt. »Alle Männer – nicht nur Babys wie Sie, auch alte Männer – brauchen eine Frau, die ihnen die Wahrheit sagt. Les hommes, ils sont impossibles.« Ihr Lachen zwingt mich, ebenfalls über die ›unmöglichen Männer‹ zu lachen. Nun schaltet sie das Licht im großen Schlafzimmer aus, und wir gehen den Korridor entlang – Gott sei Dank in Richtung meines Drinks. Der kleine Schlafraum ist in furchtbarer Unordnung: Die Lampe brennt; mein Bademantel, Bücher, schmutzige Socken, schmutzige Gläser, eine Tasse mit einem Rest Kaffee – das alles steht und liegt bunt durcheinander. Dazu das ungemachte Bett mit den zerknüllten Laken.
»Hier räume ich natürlich auch noch auf«, versichere ich.
»Bien sûr.« Sie seufzt. »Wirklich, Monsieur, Sie sollten meinem Rat folgen und bald heiraten.« Darüber müssen wir beide lachen, und ich komme endlich dazu, mein Glas zu leeren.
Die Bestandsaufnahme ist fast erledigt. Wir betreten den letzten Raum, das große Wohnzimmer, wo die Flasche auf dem Fensterbrett steht. Die Alte sieht die Flasche an, dann mich.
»Morgen früh sind Sie bestimmt betrunken«, sagt sie.
»O nein, die Flasche nehme ich mit auf die Reise.«
Das ist nicht wahr, und zweifellos weiß sie genau, dass ich lüge. Aber sie begnügt sich mit einem Achselzucken. Dann bindet sie sich das Tuch um den Kopf und wird auf einmal sehr förmlich, sogar ein wenig scheu. Jetzt, da ich sehe, dass sie gehen will, überlege ich verzweifelt, wie ich sie zurückhalten könnte. Wenn sie erst die Straße überquert hat, wird diese Nacht noch schwärzer, noch länger werden. Ich möchte ihr – ihr? – etwas sagen, doch wird es unausgesprochen bleiben. Ich sehne mich nach Vergebung, ich möchte, dass sie mir vergibt. Aber wie soll ich ihr erklären, worin meine Schuld besteht? Meine Schuld besteht im Grunde darin, dass ich ein Mann bin, und das weiß sie bereits. Es ist entsetzlich, wie nackt ich mich ihr gegenüber vorkomme. Als wäre ich ein halb erwachsener Junge, der nackt vor seiner Mutter steht.
Unbeholfen ergreife ich die Hand, die sie mir hinstreckt.
»Bon voyage, monsieur. Ich hoffe, dass Sie zufrieden waren und dass Sie uns vielleicht eines Tages wieder besuchen.« Sie lächelt und sieht mich freundlich an, doch das Lächeln ist reine Formsache, der huldvolle Abschluss einer geschäftlichen Unterredung.
»Ich danke Ihnen«, sage ich. »Vielleicht komme ich im nächsten Jahr wieder.« Sie lässt meine Hand los, und wir gehen zur Haustür.
»Ach ja –«, ihr ist noch etwas eingefallen – »bitte wecken Sie mich morgen früh nicht. Werfen Sie die Schlüssel in meinen Briefkasten. Ich hab’s ja jetzt nicht mehr nötig, vor Tau und Tag aufzustehen.«
»Gewiss.« Lächelnd öffne ich die Tür. »Gute Nacht, Madame.«
»Bonsoir, monsieur. Adieu!« Sie tritt hinaus in die Dunkelheit.
Aus meinem Haus und dem ihren auf der anderen Straßenseite dringt ein matter Lichtschein. Unten im Ort flimmern die Lichter, und jetzt höre ich auch wieder das Meer rauschen.
Sie geht ein paar Schritte, dann wendet sie sich um. »Souvenezvous«, ruft sie. »Man muss von Zeit zu Zeit ein kleines Gebet sprechen.«
Und ich schließe die Tür.
Der Gang durch das Haus hat mir vor Augen geführt, wie viel ich bis morgen früh noch zu tun habe. Ich werde mir also den nächsten Drink erst genehmigen, wenn das Badezimmer sauber ist, und ich mache mich gleich an die Arbeit. Zuerst scheuere ich die Wanne aus, dann lasse ich Wasser in den Eimer laufen, um den Fußboden aufzuwischen. Das Badezimmer ist ein winziger quadratischer Raum mit einem Milchglasfenster. Es erinnert mich an jene beängstigend kleine Dienstmädchenkammer in Paris. Giovanni hatte immer kühne Umbaupläne, und einmal ging er sogar daran, sie zu verwirklichen. Das war die Zeit, als bei uns alles mit Gipsbrocken übersät war und die Ziegelsteine sich auf dem Fußboden türmten. Nachts schleppten wir die Steine paketweise aus dem Haus und warfen sie irgendwohin.
Wahrscheinlich werden sie ihn sehr früh am Morgen holen, vielleicht schon vor Sonnenaufgang, sodass seine Augen als Letztes den grauen, lichtlosen Himmel über Paris sehen werden, unter dem wir an so vielen verzweifelten und trunkenen Morgen heimwärts gestolpert sind.
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