II
1
Wenn ich zurückdenke, so scheint mir, dass sich das Leben in jenem Zimmer auf dem Meeresgrund abspielte, während die Zeit gleichgültig über uns hinwegstrich. Stunden und Tage waren Begriffe ohne jede Bedeutung. Am Anfang war unser Leben von einer Freude, einem Staunen erfüllt, die jeden Tag neu geboren wurden. Unter der Freude lag natürlich Qual, und unter dem Staunen lag Angst, doch das machte sich erst bemerkbar, als wir unseren stolzen Anfang wie Aloe auf der Zunge schmeckten. Da aber waren Qual und Angst schon zu der glatten Oberfläche geworden, auf der unser Fuß keinen Halt fand, sodass wir Gleichgewicht, Würde und Stolz verloren. Giovannis Gesicht, das ich an so vielen Morgen, Mittagen und Abenden und in den Nächten auswendig gelernt hatte, verhärtete sich zusehends, begann an geheimen Stellen nachzugeben, rissig zu werden. Der Glanz in den Augen wurde zum Glitzern, die breite, schöne Stirn ließ den Schädel darunter ahnen. Die sinnlichen Lippen zogen sich nach innen, mit dem Schmerz beschäftigt, der aus seinem Herzen überfloss. Es war nicht mehr Giovannis Gesicht, sondern das eines Fremden – besser gesagt, sein Anblick rief in mir so starke Schuldgefühle hervor, dass ich wünschte, es wäre das Gesicht eines Fremden. All mein Auswendiglernen hatte mich nicht auf die Metamorphose vorbereitet, die herbeizuführen ich gerade durch dieses Auswendiglernen geholfen hatte.
Unser Tag begann in den frühen Morgenstunden, wenn ich zu einem Drink vor Lokalschluss in Guillaumes Bar kam. Waren die anderen Gäste gegangen, so forderte Guillaume manchmal Giovanni, mich und noch ein paar Freunde auf, mit ihm zu frühstücken und Musik zu hören. Meistens war Jacques dabei – seit er Giovanni kannte, stellte er sich immer häufiger in der Bar ein. Wenn wir mit Guillaume frühstückten, gingen wir gewöhnlich gegen sieben Uhr morgens fort. Jacques erbot sich stets, uns in dem Wagen nach Hause zu fahren, den er sich plötzlich und unerklärlicherweise gekauft hatte, aber so weit der Heimweg auch war, wir zogen es fast immer vor, zu Fuß am Ufer der Seine entlangzugehen.
Der Frühling war im Vormarsch auf Paris. Heute Abend, während ich in diesem Haus ruhelos auf und ab wandere, sehe ich wieder den Fluss vor mir, die kopfsteingepflasterten Kais, die Brücken. Flache Kähne fuhren unter den Brücken hindurch; an Deck standen mitunter Frauen, die Wäsche zum Trocknen aufhängten. Hin und wieder glitt auch ein Kanu vorüber, in dem ein energisch paddelnder junger Mann saß, der ziemlich hilflos und ziemlich albern wirkte. An den Kaimauern lagen Segeljachten, Hausboote und Lastkähne vertäut. Unser Weg führte an der Feuerwache vorbei, und mit der Zeit wurden wir für die Feuerwehrleute so etwas wie alte Bekannte. Als der Winter kam und Giovanni sich auf einem der Lastkähne verborgen hielt, war es ein Feuerwehrmann, der ihn eines Abends mit einem Brot in sein Versteck zurückschleichen sah und die Polizei verständigte.
Die Bäume wurden grün in jenen Vorfrühlingstagen, das Wasser des Flusses sank, der braune Winternebel verflog, und die Angler fanden sich ein. Giovanni hatte recht mit dem, was er über die Angler sagte: Wenn sie auch nie etwas zu fangen schienen, so waren sie doch wenigstens beschäftigt. Die Bücherstände an den Kais wirkten fast festlich; sie warteten auf ein Wetter, das den Passanten gestattete, geruhsam in eselohrigen Büchern zu blättern, und das in den Touristen das leidenschaftliche Verlangen weckte, mehr Farbdrucke in die Vereinigten Staaten oder nach Dänemark mitzunehmen, als sie sich leisten konnten – ganz davon zu schweigen, dass sie zu Hause mit dem Zeug nichts anzufangen wussten. Auch die jungen Mädchen auf ihren Fahrrädern erschienen, begleitet von ebenso ausgerüsteten jungen Männern, und wir sahen sie manchmal am Fluss, wenn das Licht zu verblassen begann und sie die Räder bis zum Morgen beiseite gestellt hatten. Das war zu der Zeit, als Giovanni seine Stellung verloren hatte und wir abends spazieren gingen. Es waren bittere Abende. Giovanni wusste, dass ich ihn verlassen wollte, aber er wagte nicht, danach zu fragen, aus Angst, dass ich es bestätigen könnte. Ich wiederum wagte nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Hella war auf der Rückreise von Spanien, und mein Vater hatte sich bereit erklärt, mir Geld zu schicken, das ich jedoch nicht dazu verwenden wollte, Giovanni zu helfen, der mir so viel geholfen hatte. Ich wollte es dazu verwenden, aus seinem Zimmer zu entkommen.
Jeden Morgen war es, als stünden der Himmel und die Sonne ein wenig höher, als breite sich der Fluss in seinem Dunst verheißungsvoller vor uns aus. Jeden Tag schienen die Büchertrödler ein weiteres Kleidungsstück abgelegt zu haben, sodass sich ihre Körperformen ständig und in recht auffälliger Weise veränderten. Man fragte sich unwillkürlich, wie die endgültige Gestalt aussehen würde. Ein Blick in die offenen Fenster auf den Kais und in den Nebenstraßen zeigte, dass die hôteliers ihre Räume streichen ließen; die Frauen in den Milchgeschäften hatten die blauen Pullover ausgezogen und die Kleiderärmel hochgerollt, sodass man ihre kräftigen Arme sah; das Brot in den Bäckereien schien wärmer und frischer als sonst zu sein. Die Schulkinder tragen keine Capes mehr, und ihre nackten Knie waren nicht mehr blaurot vor Kälte. Ich hatte den Eindruck, dass jetzt besonders lebhaft geschwatzt wurde – in dieser seltsam gemessenen und dabei ungestümen Sprache, die mich bald an geschlagenes Eiweiß, bald an Saiteninstrumente, immer jedoch an den Nachhall, das Abklingen der Leidenschaft erinnert.
Aber wir frühstückten nicht oft in der Bar, weil Guillaume mich nicht mochte. Gewöhnlich saß ich nur so unauffällig wie möglich in einer Ecke und wartete, bis Giovanni Ordnung gemacht und sich umgezogen hatte. Dann wünschten wir gute Nacht und gingen. Die Stammgäste hatten uns gegenüber eine seltsame Haltung entwickelt, in der sich eine höchst unangenehme Mütterlichkeit mit Neid und versteckter Antipathie mischte. Sie brachten es einfach nicht fertig, so mit uns zu sprechen, wie sie untereinander sprachen, und sie nahmen uns den Zwang übel, den sie sich unseretwegen auferlegen mussten. Und es erboste sie, dass sie in diesem Fall kein Recht hatten, dem toten Mittelpunkt ihres Lebens nachzuspüren. Sie wurden sich ihrer Armut bewusst, und selbst die Narkotika des Geschwätzes, der Eroberungsträume und der gegenseitigen Verachtung konnten dieses Gefühl nicht übertäuben.
Wo wir auch frühstückten und wohin wir auch gingen, wenn wir nach Hause kamen, waren wir immer viel zu müde zum Schlafen. Wir machten uns Kaffee und tranken manchmal Cognac dazu; wir saßen auf dem Bett, unterhielten uns und rauchten. An Gesprächsstoff fehlte es nie – Giovanni jedenfalls erzählte mir alles. Ich dagegen verschwieg ihm manches, selbst wenn ich am offensten war, selbst wenn ich ehrlich versuchte, ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Von Hella zum Beispiel sprach ich erst, als ich schon einen Monat in dem Zimmer gelebt hatte. Und auch dann erwähnte ich sie nur, weil ihre Briefe so klangen, als käme sie sehr bald nach Paris zurück.
»Was macht sie da, so ganz allein in Spanien?«, erkundigte sich Giovanni.
»Sie reist gern«, antwortete ich.
»Ach was«, meinte Giovanni, »niemand reist gern, besonders Frauen nicht. Bestimmt steckt etwas anderes dahinter.« Er hob vielsagend die Augenbrauen. »Vielleicht hat sie einen spanischen Geliebten und will nicht, dass du es erfährst. Aus Angst, weißt du? Vielleicht lebt sie mit einem Torero zusammen.«
Vielleicht, dachte ich. »Aber sie hätte keine Angst, mit mir darüber zu reden.«
Giovanni lachte. »Also wirklich, ihr Amerikaner seid mir ein Rätsel.«
»Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Wir sind doch nicht verheiratet.«
»Aber sie ist deine Geliebte, nicht wahr?«, fragte Giovanni.
»Ja.«
»Und sie ist noch immer deine Geliebte?«
Ich sah ihn an. »O ja, gewiss.«
»Nun«, sagte Giovanni, »dann möchte ich bloß wissen, was sie in Spanien macht, wenn du in Paris bist.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Wie alt ist sie?«
Ich war ziemlich verblüfft über diese Frage. »Sie ist zwei Jahre jünger als ich. Was hat denn das damit zu tun?«
»Ist sie verheiratet? Ich meine natürlich, mit jemand anders?«
»Aber nein«, rief ich lachend. Auch Giovanni lachte.
»Na ja, ich dachte, sie wäre vielleicht eine ältere Frau«, erklärte er. »Eine Frau, die irgendwo einen Ehemann hat, mit dem sie von Zeit zu Zeit wegfahren muss, um das Verhältnis mit dir fortsetzen zu können. Das wäre eine nette Sache. Solche Frauen sind manchmal sehr reizvoll, und meistens haben sie auch Geld. Wenn so eine Frau in Spanien wäre, würde sie dir ein schönes Geschenk mitbringen. Aber ein junges Mädchen, das sich ganz allein in einem fremden Land herumtreibt – nein, da stimmt irgendwas nicht. Du solltest dir eine andere Geliebte suchen.«
Mir kam das alles so komisch vor, dass ich in lautes Lachen ausbrach. »Hast du denn eine Geliebte?«, fragte ich.
»Jetzt nicht«, antwortete er, »aber vielleicht werde ich eines Tages wieder eine haben.« Er sah mich mit einem nachdenklichen Lächeln an. »Irgendwie bin ich im Augenblick nicht sehr an Frauen interessiert – ich weiß nicht, warum. Früher war’s anders. Vielleicht wird’s auch mal wieder so.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich liegt es daran, dass Frauen etwas mehr Schwierigkeiten machen, als ich gerade jetzt vertragen kann. Et puis …«. Er verstummte.
Ich unterdrückte die Bemerkung, dass er meines Erachtens einen höchst sonderbaren Weg gewählt hatte, aus seinen Schwierigkeiten herauszukommen; nach kurzem Zögern sagte ich nur vorsichtig: »Mir scheint, du hast keine sehr hohe Meinung von Frauen.«
»Ach, Frauen! Über die braucht man Gott sei Dank keine Meinung zu haben. Frauen sind wie Wasser. Sie können alles sein: verführerisch, tückisch, unergründlich tief – verstehst du? – oder auch seicht. Und maßlos dreckig. Genau wie Wasser.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich bin nicht besonders scharf auf Frauen, das stimmt. Allerdings hat mich das nicht gehindert, mit vielen zu schlafen und eine oder zwei zu lieben. Aber meist – meist liebte ich sie nur mit dem Körper.«
»Das kann einen sehr einsam machen.« Ich sagte das, obgleich ich nicht erwartet hatte, dass ich es sagen würde.
Er hatte nicht erwartet, dass er es hören würde. Er sah mich an, streckte die Hand aus und berührte meine Wange. »Ja«, sagte er. Dann: »Ich habe wirklich nicht die Absicht, méchant zu sein, wenn ich über Frauen spreche. Ich achte Frauen – sehr sogar – wegen ihres inneren Lebens, das nicht wie das Leben eines Mannes ist.«
»Das ist eine Feststellung, die den Frauen nicht zu behagen scheint«, warf ich ein.
»Na ja«, meinte Giovanni, »diese albernen Weiber, die heutzutage herumlaufen, haben nichts als dumme Ideen im Kopf und bilden sich ein, sie könnten es in allem mit den Männern aufnehmen – quelle rigolade! Man müsste sie halb tot prügeln, damit sie sehen, wer die Welt regiert.«
Ich lachte. »Haben sich die Frauen, die du kanntest, gern verprügeln lassen?«
»Ich weiß nicht, ob sie es gern mochten. Aber weggelaufen ist mir deswegen keine.« Wir lachten beide. »Jedenfalls waren sie nicht wie deine kleine Freundin, die in Spanien herumreist und Postkarten nach Paris schickt. Wie stellt sie sich das eigentlich vor? Will sie dich oder will sie dich nicht?«
»Um sich darüber klarzuwerden, ist sie nach Spanien gefahren«, sagte ich.
Giovanni starrte mich verblüfft an. Er war sichtlich empört. »Nach Spanien? Warum nicht nach China? Was macht sie denn da? Probiert sie etwa alle Spanier aus und vergleicht sie mit dir?«
Ich wurde ein bisschen ärgerlich. »Das verstehst du nicht. Hella ist ein sehr intelligentes, sehr kompliziertes Mädchen. Sie wollte verreisen, um in Ruhe nachdenken zu können.«
»Was gibt es da nachzudenken? Deine Hella scheint ziemlich blöde zu sein, das muss ich schon sagen. Sie kann sich einfach nicht entschließen, in welchem Bett sie schlafen will. Sie möchte das eine tun und das andere nicht lassen, wie?«
»Wenn sie jetzt in Paris wäre«, erwiderte ich schroff, »dann wäre ich nicht mit dir in diesem Zimmer.«
»Du würdest vielleicht nicht hier wohnen«, gab er zu, »aber wir würden uns doch bestimmt sehen. Warum nicht?«
»Warum nicht? Stell dir vor, sie fände es heraus?«
»Heraus? Ja, was sollte sie denn herausfinden?«
»Ach, hör auf«, sagte ich. »Du weißt genau, was ich meine.«
Er sah mich ruhig an. »Deine kleine Freundin scheint ja absolut unmöglich zu sein. Will sie dir etwa auf Schritt und Tritt nachlaufen? Oder wird sie Detektive beauftragen, unter unserem Bett zu schlafen? Und was geht sie das überhaupt an?«
»Du weißt offenbar nicht, was du redest«, sagte ich.
»O doch«, versicherte er, »ich weiß es sogar sehr gut. Unverständlich ist hier nur einer, nämlich du.« Er stöhnte, goss sich noch etwas Kaffee ein und nahm die Cognacflasche vom Boden auf. »Chez toi klingt alles so grässlich überhitzt und kompliziert, genau wie in einem dieser englischen Kriminalromane. Herausfinden, herausfinden! Das hört sich ja an, als wären wir Verbrecher. Wir haben aber kein Verbrechen begangen.« Er goss Cognac in unsere Gläser.
»Es ist nur … Weißt du, für sie wäre es ein schrecklicher Schlag, das ist alles. Die Leute haben sehr schmutzige Ausdrücke für … für diese Situation.« Ich hielt inne. Seine Miene verriet mir, dass meine Argumente ihn nicht überzeugt hatten, und so fügte ich hinzu: »Außerdem ist es ein Verbrechen – jedenfalls in meinem Land. Und schließlich bin ich dort aufgewachsen, nicht hier.«
»Wenn du dich an schmutzigen Ausdrücken stößt, weiß ich wirklich nicht, wie du es fertiggebracht hast, so lange zu leben«, erwiderte Giovanni. »Die Leute sind voll von schmutzigen Ausdrücken. Sie gebrauchen sie nur dann nicht, die meisten Leute, meine ich, wenn sie etwas Schmutziges beschreiben.« Wir wechselten einen Blick. Ich stellte fest, dass er trotz allem recht verängstigt aussah. »Wenn es in den Augen deiner Landsleute verbrecherisch ist, ein Privatleben zu haben – na schön, umso schlimmer für dein Land. Und was deine Freundin betrifft – bist du immer an ihrer Seite, wenn sie hier ist? Ich meine, den ganzen Tag, jeden Tag? Du gehst doch gewiss mal allein aus, um ein Glas zu trinken, nicht wahr? Sicherlich machst du auch hin und wieder einen Spaziergang ohne sie – um nachzudenken, wie du sagst. Die Amerikaner scheinen ja sehr viel nachzudenken. Und während du vor deinem Glas sitzt und nachdenkst, beobachtest du vielleicht ein Mädchen, das draußen vorbeigeht, nicht wahr? Möglicherweise siehst du sogar zum Himmel auf und fühlst dein Blut pulsen. Oder hört das alles auf, wenn Hella kommt? Trinkst du dann nie mehr allein, existiert dann nichts mehr für dich, kein anderes Mädchen, kein Himmel? Eh? Antworte mir.«
»Ich habe dir schon gesagt, dass wir nicht verheiratet sind. Aber anscheinend kann ich dir heute überhaupt nichts begreiflich machen.«
»Nun, wie dem auch sei, wenn Hella hier ist, siehst du doch manchmal andere Leute – ohne Hella?«
»Natürlich.«
»Und musst du ihr alles erzählen, was du getan hast, als sie nicht dabei war?«
Ich seufzte. Irgendwann hatte ich die Kontrolle über das Gespräch verloren, und ich wollte es jetzt so rasch wie möglich beenden. Ich trank meinen Cognac zu schnell, und er brannte mir in der Kehle. »Natürlich nicht.«
»Na also. Du bist ein sehr netter und gut aussehender Junge mit guten Manieren, und falls du nicht impotent bist, hat sie doch keinerlei Grund, sich zu beklagen. Ich weiß gar nicht, weswegen du dich so aufregst. La vie pratique, mon cher, ist sehr leicht einzurichten – man muss es nur tun.« Er überlegte. »Manchmal geht allerdings etwas schief, dann muss man es eben anders einrichten. Aber das Leben ist bestimmt nicht das englische Melodrama, zu dem du es machst. Dann wäre es ja unerträglich.« Er füllte unsere Gläser von Neuem und lächelte mich an, als hätte er alle meine Probleme gelöst. Sein Lächeln war so offen, so freimütig, dass ich es unwillkürlich erwiderte. Giovanni redete sich gern ein, dass er die Dinge nüchtern sähe und ich nicht und dass er mich die harten Tatsachen des Lebens lehrte. Dieses Gefühl war sehr wichtig für ihn, weil er im tiefsten Grunde seines Herzens wusste, dass ich ihm, ohne es ändern zu können, im tiefsten Grunde des meinen mit aller Kraft Widerstand entgegensetzte.
Schließlich wurden wir ruhiger, wir verstummten, wir schliefen ein. Wenn wir gegen drei oder vier Uhr nachmittags aufwachten, drang trübes Sonnenlicht in die Ecken des unaufgeräumten Zimmers. Wir standen auf, wuschen und rasierten uns, behinderten uns dabei gegenseitig, machten Witze, immer beseelt von dem uneingestandenen Wunsch, dem Zimmer zu entfliehen. Waren wir fertig, so liefen wir hinaus auf die Straßen, in die Stadt, aßen irgendwo in aller Eile, und ich begleitete Giovanni bis zur Tür von Guillaumes Bar.
Dann ging ich allein – und erleichtert, allein zu sein – in ein Kino oder spazierte durch Paris oder kehrte nach Hause zurück und las oder setzte mich in einen Park und las oder setzte mich vor ein Café, wo ich Briefe schrieb oder mit Leuten sprach. Ich schrieb nichtssagende Briefe an Hella, ich schrieb an meinen Vater und bat ihn um Geld. Und was ich auch tat, immer saß ein anderes Ich in meinem Bauch, starr und kalt vor Entsetzen über das Problem meines Lebens.
Giovanni hatte in mir ein Verlangen geweckt, hatte eine nagende Begierde freigelegt. Ich entdeckte das eines Nachmittags, als wir auf dem Weg zur Bar den Boulevard Montparnasse entlangschlenderten. Wir hatten ein Kilo Kirschen gekauft und aßen sie im Gehen. Wir waren unerträglich kindisch und übermütig an jenem Nachmittag, und der Anblick, den wir boten – zwei erwachsene Männer, die sich auf dem breiten Bürgersteig anrempelten und einander Kirschkerne ins Gesicht spieen –, muss empörend gewesen sein. Und plötzlich wurde mir klar, wie fantastisch ein so kindisches Benehmen in meinem Alter war und wie viel fantastischer noch das Glück, dem es entsprang, denn in diesem Augenblick liebte ich Giovanni wirklich. Nie war er mir so schön erschienen wie an jenem Nachmittag. Als ich sein Gesicht betrachtete, erkannte ich, dass es mir viel bedeutete, dieses Gesicht so heiter machen zu können, und dass ich viel darum geben würde, diese Kraft nicht zu verlieren. Ich fühlte mich zu ihm hinströmen wie ein vom Eis befreiter Fluss. Doch in diesem Augenblick kam uns ein junger Mann entgegen, ein Fremder, und sofort stattete ich ihn mit Giovannis Schönheit aus, empfand ich auch für ihn, was ich für Giovanni empfand. Giovanni sah es, und er sah mein Gesicht, und das reizte ihn zum Lachen. Ich wurde rot, er lachte noch lauter, und dann verwandelten sich der Boulevard, das Licht, der Klang seines Lachens in die Szenerie eines Albtraums. Ich starrte unverwandt auf die Bäume, auf die Sonnenstrahlen, die durch das Laub fielen. In meinem Herzen brannten Schmerz, Scham, Angst und eine große Bitterkeit. Gleichzeitig – es war Teil des Aufruhrs in mir und doch von ihm losgelöst – fühlte ich, wie sich die Muskeln in meinem Nacken vor Anstrengung spannten: Ich verbot mir, mich umzudrehen und jenem jungen Mann auf seinem Weg über den sonnenhellen Boulevard nachzublicken. Das Tier, das Giovanni in mir geweckt hatte, würde nie wieder einschlummern, aber eines Tages würde ich nicht mehr bei Giovanni sein. Und dann – ob ich dann wohl, wie all die anderen, auf Gott weiß welchen dunklen Straßen hinter allen möglichen jungen Männern herlief, ihnen in Gott weiß welche dunklen Verstecke folgte?
Bei diesem furchtbaren Gedanken brach in mir ein Hass auf Giovanni hervor, der ebenso gewaltig war wie meine Liebe und der aus denselben Wurzeln gespeist wurde.
2
Ich weiß nicht recht, wie ich Giovannis Zimmer beschreiben soll. Es wurde irgendwie zu jedem Raum, den ich jemals betreten hatte, und jeder Raum, den ich von nun an betrete, wird mich an jenes Zimmer erinnern. Ich habe dort nicht sehr lange gewohnt – wir lernten uns kennen, bevor der Frühling begann, und schon im Sommer verließ ich Giovanni –, und doch ist mir, als wären es Jahre und Jahrzehnte gewesen. Das Leben in jenem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und es steht fest, dass sich auf dem Meeresgrund eine entscheidende Veränderung in mir vollzog.
Das Zimmer war nicht groß genug für zwei. Es gewährte Ausblick auf einen kleinen Hof, was übrigens nichts anderes heißen soll, als dass es zwei Fenster hatte, gegen die sich der Hof, andrängend wie ein Dschungel, Tag für Tag feindselig presste. Geöffnet wurden die Fenster von uns – oder vielmehr von Giovanni – sehr selten; er hatte nie Gardinen gekauft, und wir kauften auch keine, solange ich bei ihm wohnte. Um vor neugierigen Blicken geschützt zu sein, hatte Giovanni die Scheiben mit einer weißen Reinigungspaste bestrichen. Manchmal hörten wir Kinder auf dem Hof spielen, manchmal zeichneten sich seltsame Schatten vor dem Fenster ab. In solchen Augenblicken pflegte Giovanni, ob er nun im Zimmer arbeitete oder auf dem Bett lag, gleichsam zu erstarren wie ein witternder Hund, und regungslos zu warten, bis das, was unsere Sicherheit bedrohte, verschwunden war.
Er steckte immer voller Pläne für die Umgestaltung des Zimmers und hatte auch schon damit angefangen, bevor ich kam. Die eine Wand, von der er die Tapete heruntergerissen hatte, war schmutzigweiß mit helleren und dunkleren Streifen. Die gegenüberliegende Wand wurde nie in Angriff genommen; auf ihr promenierten unentwegt, von Rosen umgeben, eine Dame in einem Reifrock und ein Kavalier in Kniehosen. Die abgerissene Tapete lag in Fetzen und Rollen auf den staubigen Dielen. Auch unsere schmutzige Wäsche, Giovannis Werkzeuge, die Pinsel, die Öl- und Terpentinflaschen waren über den Fußboden verstreut. Unsere Koffer standen übereinandergestapelt, sodass wir uns immer fürchteten, sie zu öffnen. Manchmal vergingen Tage, bevor wir uns dazu aufrafften, Kleinigkeiten, wie etwa saubere Socken, herauszuholen. Niemand besuchte uns, abgesehen von Jacques, und der kam nicht oft. Wir wohnten weit draußen und hatten kein Telefon.
Ich erinnere mich an den ersten Nachmittag, an dem ich dort erwachte. Giovanni lag neben mir, fest schlafend und schwer wie ein Felsen. Das Sonnenlicht drang so schwach in den Raum, dass ich nicht wusste, wie spät es war. Vorsichtig, denn ich wollte Giovanni nicht wecken, zündete ich mir eine Zigarette an. Ich wusste noch nicht, wie ich seinem Blick begegnen sollte. Ich schaute mich um. Giovanni hatte im Taxi erwähnt, dass sein Zimmer sehr schmutzig sei. »Davon bin ich überzeugt«, hatte ich leichthin erwidert und mich abgewandt, um aus dem Fenster zu sehen. Dann hatten wir beide geschwiegen. Als ich in seinem Zimmer aufwachte, erinnerte ich mich an dieses Schweigen, in dem etwas Gespanntes und Schmerzliches gelegen hatte und das erst gebrochen wurde, als Giovanni mit einem scheuen, bitteren Lächeln sagte: »Ich muss ein dichterisches Bild finden.«
Seine Finger griffen in die Luft und schienen dort eine Metapher erhaschen zu wollen. Ich beobachtete ihn, bis er schließlich weitersprach.
»Sieh dir den Unrat dieser Stadt an –«, er wies auf die vorbeifliegende Straße – »den ganzen Unrat dieser Stadt. Wohin wird er gebracht? Ich weiß nicht, wohin – aber es könnte sehr gut mein Zimmer sein.«
»Es ist viel wahrscheinlicher«, meinte ich, »dass er in die Seine gekippt wird.«
Nun aber, als ich mich in dem Zimmer umschaute, spürte ich die Prahlerei und die Feigheit seines ›dichterischen Bildes‹. Dies war nicht der anonyme Unrat von Paris; es war der Auswurf von Giovannis Leben.
Vor mir, neben mir und überall im Zimmer türmten sich Pappschachteln und Lederkoffer wie eine Mauer, einige mit Schnur zugebunden, andere verschlossen, wieder andere aufgeplatzt. Die oberste Schachtel vor mir floss über von Notenblättern mit Violinsonaten. Auch eine Geige war vorhanden; sie lag in ihrem brüchigen Kasten auf dem Tisch, und nichts verriet, ob sie gestern oder vor hundert Jahren dort hingelegt worden war. Der Tisch war mit vergilbten Zeitungen und leeren Flaschen beladen; dazwischen entdeckte ich eine braune, verschrumpelte Kartoffel, in der sogar die Augen verfault waren. Eine getrocknete Rotweinlache auf dem Fußboden verströmte einen Geruch, der die Luft süß und schwer machte. Aber das Erschreckende war nicht die Unordnung des Zimmers; es war die Tatsache, dass der Schlüssel zu dieser Unordnung an keiner der üblichen Stellen zu finden war. Denn hier handelte es sich nicht um Gewohnheit, Umstände oder Temperament, sondern um Sühne und Leid. Ich kann nicht sagen, woher ich das wusste, aber ich wusste es sofort; vielleicht wusste ich es, weil ich leben wollte. Ich musterte das Zimmer mit der gleichen nervösen, konzentrierten Anspannung meiner Intelligenz und all meiner Kräfte, wie man es tut, wenn man eine unvermeidbare tödliche Gefahr abschätzt: die schweigenden Wände mit den fernen, altertümlichen Liebesleuten, die in einem endlosen Rosengarten gefangen waren, die glotzenden Fenster, die mich wie zwei große Augen aus Eis und Feuer anstarrten, die Decke, tief hängend wie jene Wolken, aus denen zuweilen Teufel gesprochen haben, die gelbe Glühbirne, die wie ein krankes, deformiertes Geschlechtsteil herunterbaumelte und hinter der die Decke ihre Feindseligkeit höchst unvollkommen verbarg. Unter diesem stumpfen Pfeil, dieser zerdrückten Blume des Lichts lagen die Schrecken, die Giovannis Seele bedrängten. Plötzlich begriff ich, warum Giovanni nach mir verlangt und mich zu seiner letzten Zuflucht gebracht hatte. Ich sollte diesen Raum zerstören und Giovanni ein neues und besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, und es musste, um das Leben Giovannis zu verwandeln, zuerst ein Teil seines Zimmers werden.
Da die Gründe, die mich in Giovannis Zimmer geführt hatten, so gemischt waren, so wenig zu tun hatten mit seinen Hoffnungen und Begierden und so tief in meiner eigenen Verzweiflung wurzelten, gaukelte ich mir anfangs vor, es mache mir Freude, die Hausfrau zu spielen, wenn Giovanni zur Arbeit gegangen war. Idi beseitigte das Papier, die Flaschen, all den aufgehäuften Plunder, ich sortierte den Inhalt der ungezählten Schachteln und Koffer und versuchte, Ordnung zu schaffen. Aber ich bin keine Hausfrau – Männer können niemals Hausfrauen sein. Und die Freude war niemals echt und tief, obgleich Giovanni sein demütiges, dankbares Lächeln lächelte und mir auf jede erdenkliche Weise zu verstehen gab, wie wunderbar es sei, mich da zu haben, mich, der ich mit meiner Liebe und meiner Tatkraft zwischen ihm und der Dunkelheit stand. Jeden Tag suchte er mir zu beweisen, wie er sich verändert hatte, wie ihn die Liebe verändert hatte, wie er arbeitete, sang und mir zugetan war. Ich befand mich in einer schrecklichen Verwirrung. Manchmal dachte ich: Dies ist doch dein Leben. Hör auf, dagegen zu kämpfen. Hör auf zu kämpfen. Oder ich dachte: Aber ich bin ja glücklich. Er liebt mich. Mir kann nichts geschehen. Manchmal, wenn er nicht bei mir war, dachte ich: Nie wieder werde ich mich von ihm berühren lassen. Und wenn er mich dann berührte, dachte ich: Es spielt keine Rolle, es ist nur der Körper, es ist bald vorüber. War es aber vorüber, so lag ich in der Dunkelheit, lauschte seinen Atemzügen und träumte von Händen, die mich berührten, von Giovannis Händen oder denen irgendeines anderen, von Händen, denen die Kraft innewohnte, mich zu zermalmen und mich wieder heil zu machen.
Manchmal verließ ich Giovanni bei unserem Nachmittagsfrühstück, während blauer Zigarettenrauch um seinen Kopf schwebte, und ging zum Büro des American Express an der Oper, wo meine Post auf mich wartete, wenn ich welche hatte. Hin und wieder, aber selten, kam Giovanni mit; er sagte, er könne es nicht ertragen, von so vielen Amerikanern umgeben zu sein. Er behauptete, sie sähen alle gleich aus – was sie für ihn auch sicherlich taten. Für mich sahen sie nicht gleich aus. Mir war klar, dass sie alle etwas Gemeinsames hatten, das sie zu Amerikanern machte, aber ich konnte nie herausfinden, was es war. Ich wusste nur, dass ich dieses Charakteristikum mit ihnen teilte. Und ich wusste auch, dass sich Giovanni zum Teil deswegen zu mir hingezogen fühlte. Wenn Giovanni mir andeuten wollte, dass er sich über mich ärgerte, so sagte er, ich sei un vrai américain; billigte er dagegen mein Verhalten, dann sagte er, dass ich überhaupt kein Amerikaner sei. In beiden Fällen traf er tief in mir einen Nerv, der nicht in ihm zuckte. Und mich empörte das: Es empörte mich, als Amerikaner bezeichnet zu werden (und es empörte mich, dass es mich empörte), weil ich dadurch nicht anderes zu sein schien als das – was immer es war; und es empörte mich, als Nicht-Amerikaner bezeichnet zu werden, weil ich dadurch gar nichts zu sein schien.
Trotzdem, als ich an einem blendend hellen Mittsommernachmittag das Büro des American Express betrat, musste ich zugeben, dass diese unternehmungslustige, so beunruhigend fröhliche Horde sogar mir als Einheit erschien. Zu Hause hätte ich meine Landsleute ohne jede Mühe an sprachlichen Besonderheiten und am Akzent unterscheiden können: Hier musste ich schon sehr genau hinhören, um den Eindruck zu verscheuchen, dass sie samt und sonders in Nebraska beheimatet seien. Zu Hause hätte ich die Kleidung sehen können, die sie trugen: Hier sah ich nur Taschen, Kameras, Gürtel und Hüte, die zweifellos alle aus demselben Warenhaus stammten. Zu Hause hätte ich ein gewisses Gefühl für die individuelle Fraulichkeit der Frau gehabt, der ich gegenüberstand: Hier schien es auch für die Erfahrensten nur eine eiskalte oder ausgedörrte Travestie des Geschlechtslebens zu geben; selbst Großmüttern traute man einfach nicht zu, dass sie je fleischlichen Verkehr gehabt hatten. Die Männer zeichneten sich allein dadurch aus, dass sie unfähig schienen, zu altern; sie rochen nach Seife, was offenbar ihr Schutz gegen die Gefahren und Nöte intimerer Gerüche war. In den Augen des Sechzigjährigen, der für sich und seine lächelnde Frau eine Passage nach Rom buchte, war unversehrt, unberührt, unverändert der Junge von einst zu erkennen. Seine Frau hätte seine Mutter sein können, die ihn zwang, noch mehr Hafergrütze zu essen, und Rom hätte der Film sein können, den sie ihm zur Belohnung versprochen hatte. Und doch kam es mir vor, als sei das, was ich sah, nur ein Teil der Wahrheit und vielleicht noch nicht einmal ihr wichtigster Teil; unter diesen Gesichtern, Kleidern, Akzenten, unter dieser unbekümmerten Art verbargen sich Kraft und Schmerz, beide uneingestanden, unerkannt: die Kraft der Erfinder, der Schmerz der Einsamen.
In der Schlange am Postschalter wartete ich hinter zwei jungen Mädchen, die übereingekommen waren, in Europa zu bleiben; sie hofften, bei irgendeiner amerikanischen Dienststelle in Deutschland Arbeit zu finden. Aus dem Gespräch, das sie in leisem, eindringlichem, besorgtem Ton führten, ging hervor, dass sich die eine in einen Schweizer verliebt hatte. Ihre Freundin drängte sie, ›energisch aufzutrumpfen‹ – was sie damit meinte, blieb unklar –, und das verliebte Mädchen nickte dazu mit dem Kopf, allerdings mehr ratlos als zustimmend. Sie hatte die verkrampfte, unschlüssige Miene eines Menschen, der noch etwas sagen möchte, aber nicht weiß, wie er sich ausdrücken soll. »Du darfst dich nicht zum Narren halten lassen«, mahnte die Freundin. »Ich weiß, ich weiß«, murmelte das Mädchen. Ich hatte den Eindruck, dass sie, obgleich sie bestimmt nicht wünschte, zum Narren gehalten zu werden, die eigentliche Bedeutung dieses Wortes vergessen hatte und sie vielleicht nie wiederfinden würde.
Es waren zwei Briefe für mich da, einer von meinem Vater und einer von Hella. Hella hatte mir in letzter Zeit nur Postkarten geschickt. Der Gedanke, ihr Brief könnte etwas Wichtiges enthalten, nahm mir die Lust, ihn zu lesen. Ich öffnete zuerst den Brief meines Vaters und las ihn, gerade noch im Schatten stehend, vor der Schwingtür, die dauernd in Bewegung war.
›Lieber Junge‹, schrieb mein Vater, ›kommst Du denn überhaupt nicht mehr nach Hause? Ich bin gewiss nicht egoistisch, aber ich würde Dich doch gern mal wiedersehen. Du bist nun wirklich lange genug fort gewesen, und ich habe keine Ahnung, was Du da drüben treibst. In Deinen Briefen erzählst Du so wenig von Dir, dass ich es nicht erraten kann. Aber ich glaube, Du wirst es eines schönen Tages bedauern, dass Du drüben geblieben bist, Deinen Nabel betrachtet hast und die Welt an Dir vorbeilaufen ließest. In Europa ist doch für Dich nichts zu holen. Du bist nun mal ein waschechter Amerikaner, auch wenn Du das vielleicht nicht mehr wahrhaben willst. Und ich hoffe, Du bist mir nicht böse, wenn ich sage, dass Du so langsam ein bisschen zu alt wirst fürs Studium – wenn Du tatsächlich studierst, was ich nicht weiß. Du gehst auf die Dreißig zu. Ich werde auch nicht jünger, und Du bist alles, was ich habe. Ich würde Dich gern wiedersehen.
Du bittest mich immerzu, Dir Dein Geld zu schicken, und Du hältst mich wohl für gemein, weil ich’s nicht tue. Ich versuche nicht, Dich auszuhungern, und solltest Du wirklich mal etwas brauchen, so werde ich stets der Erste sein, der Dir hilft, das weißt Du. Aber ich glaube nicht, dass ich Dir einen Gefallen tue, wenn ich zulasse, dass Du Dein bisschen Geld da drüben verpulverst und dann zu Hause nichts mehr vorfindest. Zum Teufel, was treibst Du eigentlich? Kannst Du Deinen alten Herrn nicht ins Vertrauen ziehen? Du wirst es nicht für möglich halten, aber ich war auch mal jung …‹.
Dann schrieb er über meine Stiefmutter und wie sehr sie meine Rückkehr wünschte; er erwähnte einige unserer Freunde und berichtete, was sie taten. Meine Abwesenheit machte ihm offenbar schwer zu schaffen, weil er nicht wusste, was dahintersteckte. Er erschöpfte sich in Vermutungen, die täglich schwärzer und vager wurden – er hätte sie nie in Worte zu fassen vermocht, selbst wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte. Die Frage, die ihm auf der Zunge brannte – Ist es eine Frau, David? – stand nicht in dem Brief und ebenso wenig das Angebot: Bring sie mit nach Hause. Mir ist es gleichgültig, wer sie ist. Bring sie mit nach Hause, ich helfe dir, eine Existenz zu gründen. Er wagte das nicht zu schreiben, weil er eine Ablehnung nicht ertragen hätte. Eine Ablehnung hätte offenbart, wie fremd wir einander geworden waren. Ich faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Hosentasche und sah einen Augenblick auf die breite, sonnenhelle, fremde Straße.
Ein Matrose, ganz in Weiß gekleidet, überquerte den Boulevard. Er hatte jenen seltsam wiegenden Gang, der für Seeleute so charakteristisch ist, und er strahlte die hoffnungsvolle und harte Entschlossenheit aus, in kürzester Zeit sehr viel geschehen zu lassen. Ich starrte ihn an, ohne es zu wissen, und wünschte, ich wäre er. Irgendwie schien er jünger zu sein, als ich je gewesen war, blonder und schöner, und er trug seine Männlichkeit so selbstverständlich zur Schau wie seine Haut. Er ließ mich an zu Hause denken – vielleicht ist ›zu Hause‹ kein Ort, sondern ein unabänderlicher Zustand. Ich wusste genau, wie er trank, wie er mit seinen Freunden war, wie Kummer und Frauen ihn durcheinander brachten. Ich fragte mich, ob mein Vater je so gewesen war, ob ich je so gewesen war – allerdings fand ich es schwer, mir vorzustellen, dass dieser Junge, der wie das Licht selbst über die breite Straße schritt, irgendwelche Vorgänger haben oder auch nur irgendwem gleichen sollte. Er war jetzt dicht vor mir. Als hätte er eine alles offenbarende Bestürzung in meinen Augen gelesen, musterte er mich mit einem verächtlich lüsternen und wissenden Blick, genau wie er vor ein paar Stunden eine auffällig gekleidete Nymphomanin gemustert haben mochte oder eine Dirne, die ihm die feine Dame vorzuspielen suchte. Und hätten wir nur eine Sekunde länger Kontakt miteinander gehabt, dann wäre zweifellos aus all diesem Licht, all dieser Schönheit irgendeine brutale Variation von Hör mal, Baby, ich weiß Bescheid hervorgebrochen. Ich fühlte, wie mein Gesicht brannte, ich fühlte, wie mein Herz flatterte, als ich an ihm vorbeieilte und krampfhaft versuchte, durch ihn hindurchzublicken. Er hatte mich überrumpelt, denn eigentlich hatte ich ja gar nicht an ihn, sondern an den Brief in meiner Tasche, an Hella und Giovanni gedacht. Ich ging auf die andere Straßenseite und wagte nicht, mich umzudrehen. Was hatte er in mir gesehen, das so spontan seine Verachtung hervorrief? Ich war zu alt, um auf den Gedanken zu kommen, es könnte an meinem Gang hegen oder an der Art, wie ich die Hände hielt, oder an meiner Stimme – die er ohnehin nicht gehört hatte. Es war etwas anderes, und ich würde es nie sehen. Ich würde nie wagen, es zu sehen. Das wäre wie ein Blick in die gleißende Sonne. Aber als ich weiterhastete und ängstlich vermied, irgendjemand – ob Mann oder Frau – anzuschauen, da wusste ich, was der Matrose in meinen ungeschützten Augen erspäht hatte: Neid und Begierde. Ich hatte diesen Ausdruck oft in Jacques’ Augen gesehen, und meine Reaktion war die Gleiche gewesen wie die des Matrosen. Und selbst wenn er etwas anderes in meinen Augen entdeckt hätte – Liebe und Zuneigung –, so wäre dadurch nichts besser geworden, denn die Jungen, die anzusehen ich verdammt war, schraken vor Liebe noch mehr zurück als vor Lust.
Ich ging und ging, weil ich nicht den Mut hatte, stehenzubleiben, solange der Matrose mich vielleicht noch beobachtete. In der Rue des Pyramides setzte ich mich an einen Cafétisch und öffnete Hellas Brief.
›Mon cher‹, schrieb sie, ›Spanien ist mein Lieblingsland, mais ça n’empêche que Paris est toujours ma ville préférée. Ich sehne mich danach, wieder unter all diesen närrischen Menschen zu sein, die sich in der Métro drängen, von den Bussen springen, sich an Motorrädern vorbeischlängeln, Verkehrsstockungen verursachen und all die verrückten Statuen in all den albernen Parks bewundern. Ach, wenn ich an die zweifelhaften Damen auf der Place de la Concorde denke …! Spanien ist ganz, ganz anders. Was es auch sein mag, frivol ist es bestimmt nicht. Ich glaube wirklich, dass ich immer in Spanien bleiben würde – wenn ich nie in Paris gewesen wäre. Spanien ist wunderschön, felsig und sonnig und einsam. Aber mit der Zeit bekommt man das Olivenöl, den Fisch, die Kastagnetten und die Tamburins satt – ich jedenfalls. Ich möchte nach Hause, ich möchte nach Paris. Komisch, früher habe ich nie das Gefühl gehabt, irgendwo zu Hause zu sein.
Nichts ist mir hier passiert – das wird Dich freuen, nehme ich an. Mich freut es, offengestanden. Die Spanier sind im Allgemeinen sehr nett, aber natürlich schrecklich arm, und diejenigen, die Geld haben, sind einfach unmöglich. Die Touristen mag ich nicht, das sind vorwiegend englische und amerikanische Alkoholiker, die von ihren Familien dafür bezahlt werden, dass sie in Spanien bleiben. (Ich wünschte, ich hätte so eine Familie!) Ich bin jetzt auf Mallorca, und das wäre ein hübsches Fleckchen Erde, wenn man all die pensionsberechtigten Witwen ins Meer werfen und den Genuss von Dry Martinis verbieten könnte. Wirklich, so etwas habe ich noch nie gesehen! Wie diese alten Weiber saufen und jedem Mannsbild schöne Augen machen, besonders denen um achtzehn herum – nun, ich sagte mir, Hella, mein Kind, sieh dir das gut an. Du wirfst vielleicht einen Blick in deine eigene Zukunft. Die einzige Schwierigkeit ist, dass ich mich selbst zu sehr liebe. Und so habe ich beschlossen, uns beide damit zu betrauen – mit der Aufgabe, mich zu lieben, meine ich – und zu sehen, was daraus wird. (Ich fühle mich großartig, seit ich diesen Beschluss gefasst habe, und ich hoffe, Du wirst Dich genauso fühlen, teurer Ritter in Gimbles Rüstung.)
Ich habe mich überreden lassen, mit einer englischen Familie, die ich in Barcelona kennengelernt habe, einen langweiligen Ausflug nach Sevilla zu machen. Sie lieben Spanien und wollen mich unbedingt zu einem Stierkampf mitnehmen – ich habe in all der Zeit, die ich hier herumreise, noch nie einen gesehen. Sie sind wirklich recht nett, er ist so eine Art Dichter bei der BBC, und sie ist seine tüchtige und liebevolle Gefährtin. Recht nett, wirklich. Sie haben einen ausgesprochen verdrehten Sohn, der sich einbildet, in mich verschossen zu sein, aber er ist viel zu englisch und viel, viel zu jung. Morgen geht’s also für zehn Tage nach Sevilla. Dann fahren sie nach England und ich – zu Dir!‹
Ich faltete den Brief zusammen, auf den ich, wie mir jetzt klar wurde, schon viele Tage und Nächte gewartet hatte. Der Kellner kam und fragte nach meinen Wünschen. Ich hatte eigentlich einen Aperitif trinken wollen, bestellte aber aus irgendeiner bizarren Feststimmung heraus einen Scotch mit Soda. Und über diesen Drink hinweg, der mir nie amerikanischer erschienen war als in diesem Augenblick, starrte ich auf das widersinnige Paris, in dem unter der sengenden Sonne das gleiche Durcheinander herrschte wie in der Landschaft meines Herzens. Ich fragte mich, was ich tun sollte.
Ich kann nicht sagen, dass ich Angst hatte. Jedenfalls fühlte ich die Angst nicht – ich habe gehört, dass auch Menschen, die von einer Kugel getroffen werden, zuerst nichts fühlen. Alles, was ich empfand, war eine gewisse Erleichterung. Die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, schien von mir genommen zu sein. Wir beide, Giovanni und ich, hatten ja immer gewusst, dass unser Idyll nicht ewig dauern konnte. Außerdem hatte ich ihm nichts verschwiegen – er wusste alles von Hella. Er wusste, dass sie eines Tages nach Paris zurückkehren würde. Wenn sie jetzt kam, war mein Leben mit Giovanni zu Ende, war es nur noch eine Episode, die hinter mir lag. Eine Episode, wie viele Männer sie hinter sich hatten. Ich bezahlte meinen Drink, stand auf und ging über den Fluss nach Montparnasse.
Ich war in gehobener Stimmung – und doch musste ich auf dem Boulevard Raspail unwillkürlich daran denken, dass Hella und ich hier entlanggegangen waren, dass Giovanni und ich hier entlanggegangen waren. Und bei jedem Schritt war das Gesicht, das ich vor Augen hatte, nicht ihr Gesicht, sondern seines. Wie würde er wohl die Nachricht aufnehmen? Wenn ich auch nicht glaubte, dass er mir eine Szene machen würde, so fürchtete ich mich doch vor dem, was ich in seinem Gesicht sehen würde. Ich fürchtete mich vor dem Schmerz, den ich dort sehen würde. Aber selbst das war nicht meine eigentliche Angst. Meine eigentliche Angst brannte tief in mir, und sie war es, die mich nach Montparnasse trieb. Ich wollte ein Mädchen finden, irgendein Mädchen.
Die Cafés kamen mir seltsam leer vor. Ich schlenderte die Straße entlang, zuerst auf der rechten, dann auf der linken Seite, und hielt Ausschau nach Bekannten. Vergebens. Ich ging bis zur Closerie des Lilas, setzte mich dort zu einem einsamen Drink hin und las noch einmal meine Briefe. Am liebsten hätte ich sofort mit Giovanni gesprochen und ihm gesagt, dass ich ihn verlassen würde, doch ich wusste, dass er die Bar noch nicht geöffnet hatte. Um diese Zeit konnte er beinahe überall in Paris sein. Als ich langsam auf dem Boulevard zurückging, sah ich zwei Mädchen, französische Huren, aber sie waren nicht sehr attraktiv. Ein bisschen was Besseres dürfte es schon sein, dachte ich mir. Ich setzte mich ins Select, beobachtete die Passanten und trank. Lange Zeit erschien niemand, den ich kannte.
Die Person, die schließlich erschien und die ich nicht sehr gut kannte, war ein Mädchen namens Sue, eine rundliche Blondine, weder hübsch noch hässlich – so ungefähr der Typ, der mit Vorliebe zur Miss Rheingold gewählt wird. Ihr lockiges Haar war sehr kurz geschnitten, sie hatte kleine Brüste und ein kleines Hinterteil, und sie trug immer Bluejeans, zweifellos um der Welt zu zeigen, dass sie nicht sinnlich veranlagt war und keinen Wert auf Äußerlichkeiten legte. Ich glaube, sie stammte aus Philadelphia und ihre Familie war sehr reich. Manchmal, wenn sie betrunken war, schimpfte sie auf ihre Verwandten, und manchmal, wenn sie auf eine andere Art betrunken war, hob sie ihre Tugenden – Sparsamkeit und Treue – in den Himmel. Ich war zugleich enttäuscht und erleichtert, sie zu sehen. In Gedanken fing ich sofort an, sie auszuziehen.
»Nimm Platz«, sagte ich. »Trink etwas.«
»Ach, ist das nett, dass ich dich treffe«, rief sie, setzte sich und schaute nach dem Kellner aus. »Du warst ja wie vom Erdboden verschwunden. Wie geht’s dir denn so?« Sie gab die Suche nach dem Kellner auf und beugte sich mit einem freundlichen Lächeln zu mir.
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. »Und dir?«
»Ach, mir! Ich erlebe ja nie etwas.« Sie zog die Winkel ihres raubgierigen und doch empfindsamen Mundes herunter, um anzudeuten, dass sie sowohl scherzte als auch nicht scherzte. »Ich bin gebaut wie eine massive Mauer.« Wir lachten beide. Sie sah mich aufmerksam an. »Ich habe gehört, du wohnst jetzt ziemlich weit draußen, in der Nähe des Zoos.«
»Ich habe dort ein Mädchenzimmer gefunden. Sehr billig.«
»Wohnst du allein?«
Wusste sie etwas von Giovanni? Ich fühlte, wie meine Stirn feucht wurde. »Gewissermaßen«, antwortete ich.
»Gewissermaßen? Was soll denn das heißen? Hast du am Ende einen Affen bei dir?«
Ich grinste. »Nein. Weißt du, das Zimmer gehört eigentlich meinem Bekannten, diesem kleinen Franzosen, und er hat’s mir überlassen, weil er bei seiner Freundin wohnt, aber die beiden zanken sich oft, und wenn sie ihn rausschmeißt, kriecht er eben für ein paar Tage bei mir unter.«
»Ach!« Sie seufzte. »Chagrin d’amour!«
»Ihm macht das gar nichts aus«, sagte ich. »Er findet die Liebe herrlich.« Ich sah sie an. »Du nicht auch?«
»Steinmauern sind unerschütterlich«, behauptete sie.
Der Kellner näherte sich. Ich wurde kühner. »Das käme auf einen Versuch an …«.
»Was spendierst du mir zu trinken?«, fragte sie.
»Was willst du haben?«
Wir lächelten beide. Der Kellner stand neben uns und bekundete eine Art mürrischer joie de vivre.
»Ich? Ich nehme –«, die Lider ihrer porzellanblauen Augen flatterten – »un ricard. Mit wahnsinnig viel Eis.«
»Deux ricards«, sagte ich zu dem Kellner, »avec beaucoup de la glace.«
»Oui, monsieur.«
Ich war sicher, dass er uns beide verachtete. Ich dachte an Giovanni und daran, wie oft er allabendlich oui, monsieur murmelte. Mit diesem flüchtigen Gedanken tauchte eine ebenso flüchtige Empfindung auf: ein neues Gefühl für Giovanni, für sein Privatleben, seinen Kummer und alles, was wie eine Flutwelle in ihm aufstieg, wenn wir nachts zusammen lagen.
»Aber zurück zum Thema«, wandte ich mich an Sue.
»Zu welchem Thema?« Sie riss die Augen weit auf und heuchelte Verständnislosigkeit. »Worüber haben wir denn gesprochen?« Sie versuchte kokett zu sein, und sie versuchte sachlich zu bleiben. Ich spürte, dass ich etwas sehr Grausames tat, und doch konnte ich nicht aufhören.
»Wir sprachen über Steinmauern und wie sie zu Fall gebracht werden können.«
Sie kicherte. »Ich wusste gar. nicht, dass du dich für Steinmauern interessierst.«
»Es gibt vieles an mir, wovon du nichts weißt.« Der Kellner kam mit unseren Getränken. »Findest du nicht, dass Entdeckungen Spaß machen?«
Sie drehte ihr Glas hin und her. »Offen gestanden, nein«, antwortete sie und sah mich wieder mit jenem Blick an.
»So darfst du nicht reden«, protestierte ich. »Wenn man so jung ist wie du, sollte alles eine Entdeckung sein.«
Sie schwieg eine Weile und beschäftigte sich mit ihrem Drink. »Weißt du«, sagte sie schließlich, »ich habe alle Entdeckungen gemacht, die ich ertragen kann.« Aber ich bemerkte, dass ihre Schenkel unter dem Stoff der Jeans zuckten.
»Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeit eine Steinmauer bleiben.«
»Warum eigentlich nicht? Und überhaupt – wie sollte ich’s ändern?«
»Hör mal, Süße, ich mache dir einen Vorschlag«, sagte ich.
Sie nahm ihr Glas und nippte daran, während sie unverwandt auf den Boulevard starrte. »Und was ist das für ein Vorschlag?«
»Lad mich zu einem Drink ein. Chez toi.«
Sie schaute mich an. »Ich glaube nicht, dass ich etwas im Haus habe.«
»Wir können unterwegs eine Flasche kaufen«, meinte ich.
Sie beobachtete mich scharf. Ich zwang mich, ihrem Blick standzuhalten.
»Ich bin sicher, dass ich’s nicht tun sollte«, murmelte sie schließlich.
»Warum nicht?«
Sie machte eine kleine hilflose Bewegung in dem Korbstuhl. »Ich weiß nicht, was du vorhast.«
Ich lachte. »Lad mich zu einem Drink ein, dann wirst du’s schon merken.«
»Du bist unmöglich«, rief sie, und zum ersten Mal lag etwas Echtes in ihren Augen und ihrer Stimme.
»Ich nicht, aber du«, versetzte ich mit einem Lächeln, das, wie ich hoffte, zugleich jungenhaft und drängend war. »Was habe ich denn so Unmögliches gesagt? Ich habe alle meine Karten auf den Tisch gelegt. Du dagegen hältst deine zurück. Ich weiß nicht, warum du findest, dass ein Mann unmöglich ist, wenn er gesteht, dass er sich zu dir hingezogen fühlt.«
»Unsinn«, sagte sie und trank ihr Glas leer, »das ist ja nur die Sommersonne.«
»Die Sommersonne hat damit überhaupt nichts zu tun.« Und als sie noch immer zögerte, fügte ich verzweifelt hinzu: »Ich will doch nur wissen, wo wir weitertrinken – hier oder bei dir.«
Sie schnippte mit den Fingern, eine Geste, die forsch sein sollte und es nicht war. »Na, dann komm«, entschied sie. »Ich werde es bestimmt bereuen. Aber zu trinken habe ich wirklich nichts, du musst also etwas kaufen.« Sie lächelte. »Auf diese Weise springt dabei wenigstens etwas für mich heraus.«
Jetzt war ich es, der schreckliche Hemmungen hatte. Um Sues Blick auszuweichen, bemühte ich mich angelegentlich, des Kellners habhaft zu werden. Er kam mit mürrischer Miene, ich zahlte, wir erhoben uns und gingen zur Rue de Sèvres, wo Sue eine kleine Wohnung hatte.
Die Wohnung war dunkel und mit Möbeln vollgestopft. »Das sind nicht etwa meine Sachen«, erklärte sie. »Es gehört alles der ältlichen französischen Dame, von der ich gemietet habe und die sich wegen ihrer Nerven in Monte Carlo aufhält.« Auch sie war sehr nervös, und ich erkannte, dass mir diese Nervosität für kurze Zeit eine große Hilfe sein würde. Ich hatte eine halbe Flasche Cognac gekauft, die ich auf einen Tisch mit Marmorplatte stellte, bevor ich Sue in die Arme nahm. Aus irgendeinem Grunde war mir schrecklich klar, dass es nach sieben Uhr abends war, dass die Sonne bald untergehen würde, dass die lange Pariser Nacht anbrach und dass Giovanni die Bar schon geöffnet hatte.
Sue war sehr schwer, und sie hatte etwas beunruhigend Fließendes – ohne jedoch in Fluss kommen zu können. Ich spürte in ihr eine Härte, eine Verkrampfung, ein schweres Misstrauen, hervorgerufen durch zu viele Erlebnisse mit Männern wie mir und daher unüberwindlich. Was wir vorhatten, würde nicht angenehm werden.
Auch sie schien sich dessen bewusst zu sein, denn sie löste sich von mir. »Lass uns einen Cognac trinken«, schlug sie vor. »Wenn du Zeit hast, heißt das. Ich möchte dich nicht länger als unbedingt notwendig aufhalten.«
Sie lächelte, und ich lächelte ebenfalls. In diesem Augenblick verband uns die Gemeinsamkeit zweier Diebe – und näher würden wir einander nie kommen. »Lass uns mehrere Cognacs trinken«, sagte ich.
»Aber nicht zu viele.« Sue kicherte gewollt verführerisch wie eine heruntergekommene Filmdiva, die nach einer langen Zeit im Schatten wieder vor der grausamen Kamera steht.
Sie nahm die Cognacflasche und lief in ihre winzige Küche. »Mach’s dir bequem«, rief sie mir zu. »Zieh dir die Schuhe aus. Und die Socken. Schau dir meine Bücher an – ich frage mich oft, was ich tun würde, wenn es keine Bücher auf der Welt gäbe.«
Ich streifte die Schuhe ab und streckte mich auf dem Sofa aus. Obgleich ich mich bemühte, nicht zu denken, dachte ich, dass das, was ich mit Giovanni trieb, keinesfalls unmoralischer sein konnte als das, was ich mit Sue treiben würde.
Sie kam mit zwei großen Cognacschwenkern zurück und setzte sich dicht neben mich. Wir stießen mit den Gläsern an. Während wir tranken, wandte sie keinen Blick von mir. Dann berührte ich ihre Brüste. Ihre Lippen öffneten sich. Nachdem sie ihr Glas überaus unbeholfen auf den Tisch gestellt hatte, schmiegte sie sich an mich. Es war eine Geste tiefer Verzweiflung, und ich wusste, dass sie sich nicht mir hingab, sondern dem Geliebten, der nie kommen würde.
Und ich – ich dachte an viele Dinge, als ich mit Sue vereint in der Dunkelheit lag. Ich fragte mich, ob sie etwas getan hatte, um nicht schwanger zu werden, und bei dem Gedanken, dass ich ihr ein Kind machen, also buchstäblich bei dem Versuch, mich zu befreien, in die Falle tappen könnte, musste ich gegen ein unbändiges Lachen ankämpfen. Ich fragte mich, ob sie die Bluejeans auf ihren brennenden Zigarettenstummel geworfen hatte. Ich fragte mich, ob irgendjemand einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besaß, ob die Nachbarn uns durch die dünnen Wände hören konnten und wie sehr wir einander in wenigen Augenblicken hassen würden. Ich ging an Sue heran, als wäre sie ein hartes Stück Arbeit; eine Arbeit, die ich auf eine unvergessliche Art erledigen musste. Irgendwo auf dem Grunde meiner selbst erkannte ich, dass ich ein furchtbares Unrecht an ihr beging und dass ich es meiner Ehre schuldig war, diese Tatsache nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. Ich bemühte mich, ihr in diesem qualvollen Liebesakt begreiflich zu machen, dass es nicht sie war, die ich verabscheute, nicht ihr Fleisch – es würde nicht sie sein, der ich nicht in die Augen zu blicken vermochte, wenn wir uns von diesem Sofa erhoben. Und ich erkannte, wieder irgendwo auf dem Grunde meiner selbst, dass meine Befürchtungen übertrieben und unnötig und eigentlich eine Lüge gewesen waren: Mit jedem Augenblick wurde deutlicher, dass das, wovor ich mich gefürchtet hatte, nicht mit meinem Körper zusammenhing. Sue war nicht Hella, und sie beschwichtigte nicht meine Angst vor dem, was geschehen würde, wenn Hella kam; sie steigerte diese Angst, ließ sie wirklicher werden als je zuvor. Gleichzeitig stellte ich fest, dass meine Bemühungen um Sue überaus erfolgreich waren, und ich versuchte, ihr keinen Vorwurf daraus zu machen, dass sie nicht spürte, was ihr Bearbeiter empfand. Ich kämpfte mich durch das Netzwerk von Sues Schreien, von Sues trommelnden Fäusten auf meinen Rücken und schloss aus ihren Schenkeln, aus ihren Beinen, wie bald ich frei sein würde. Gleich ist es so weit, dachte ich, als ihr Stöhnen noch lauter, noch rauer wurde, ich fühlte mein Kreuz, ich fühlte den kalten Schweiß, der es bedeckte, ich dachte: Nun gut, lass sie’s in Gottes Namen haben, bring die Sache hinter dich, dann war es so weit, und ich hasste sie und mich, dann war es vorüber, und wieder umschloss uns der kleine, dunkle Raum. Ich hatte nur den einen Wunsch, hier herauszukommen.
Sie blieb lange Zeit unbeweglich liegen. Ich spürte den Abend draußen, ich hörte seinen Ruf. Schließlich stützte ich mich auf einen Ellbogen und tastete nach den Zigaretten.
»Wir sollten unseren Cognac austrinken«, meinte Sue.
Sie setzte sich auf und knipste die Lampe neben dem Sofa an. Davor hatte ich mich gefürchtet. Aber sie sah nichts in meinen Augen – sie schaute mich an, als wäre ich von weit her auf einem weißen Schlachtross gekommen, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie hob das Glas.
»A la vôtre«, sagte ich.
»A la vôtre?« Sie kicherte. »A la tienne, chéri!« Sie beugte sich vor und küsste mich auf den Mund. Plötzlich schien sie etwas zu spüren; sie lehnte sich zurück, und der Blick, den sie auf mich richtete, war noch nicht wieder ganz fest, als sie leichthin fragte: »Was meinst du, können wir das irgendwann noch mal machen?«
»Warum denn nicht?«, antwortete ich und versuchte zu lachen. »Wir tragen ja unser Rüstzeug bei uns.«
Sie schwieg eine Weile. Dann: »Können wir zusammen essen – heute Abend?«
»Tut mir leid«, sagte ich, »tut mir wirklich leid, Sue, aber ich bin schon verabredet.«
»Ach. Morgen vielleicht?«
»Weißt du, Sue, ich hasse feste Verabredungen. Ich werde dich einfach mal überraschen.«
»Das bezweifle ich.« Sie leerte ihr Glas und stand auf. »Ich ziehe mich nur rasch an. Wir gehen dann zusammen hinunter, ja?«
Sie verschwand, und ich hörte das Wasser laufen. Ich saß da, nackt, aber mit Socken an den Füßen, und goss mir noch einen Cognac ein. Jetzt fürchtete ich mich, in jenen Abend hinauszutreten, dessen Ruf ich vor wenigen Minuten gehört zu haben vermeinte.
Als sie zurückkam, trug sie ein Kleid und richtige Schuhe, und sie hatte ihr Haar irgendwie aufgelockert. Ich musste zugeben, dass sie jetzt besser aussah, mehr wie ein Mädchen, wie ein Schulmädchen. Ich stand auf und zog mich an. »Du siehst nett aus«, bemerkte ich.
Es gab vieles, was sie sagen wollte, aber sie zwang sich, nicht zu sprechen. Ich konnte es kaum ertragen, den Kampf zu beobachten, der sich auf ihrem Gesicht abspielte; es beschämte mich. »Vielleicht fühlst du dich wieder mal einsam«, murmelte sie schließlich. »Ich glaube, ich habe nichts dagegen, wenn du mich dann besuchst.« Ihr Lächeln war das seltsamste, das ich je gesehen hatte. Es war schmerzlich, gekränkt und gedemütigt, aber auf diese Grimasse hatte sie unbeholfen eine strahlende mädchenhafte Fröhlichkeit geschmiert – so starr wie das Skelett unter ihrem schlaffen Fleisch. Falls das Schicksal Sue je wieder in meine Nähe brächte, würde sie mich mit diesem Lächeln töten.
»Stell eine Kerze ins Fenster«, sagte ich. Sie öffnete die Tür, und wir gingen hinaus.
3
An der nächsten Ecke verabschiedete ich mich mit irgendeiner gemurmelten Schuljungen-Entschuldigung und blickte der einsamen Gestalt nach, die den Boulevard überquerte und auf die Cafés zusteuerte.
Ich wusste nicht, was ich anfangen oder wohin ich mich wenden sollte. Schließlich wählte ich den Weg am Fluss entlang, der nach Hause führte.
Und dies war vielleicht das erste Mal in meinem Leben, dass der Tod mir als Wirklichkeit begegnete. Ich dachte an all die Menschen, die vor mir in den Fluss gestarrt hatten und in ihm zur Ruhe gegangen waren. Ich sann nach über sie. Ich fragte mich, wie sie es getan hatten – es, den körperlichen Akt. Ich hatte mich mit Selbstmordgedanken getragen, als ich noch sehr jung war – wir alle haben uns wohl einmal damit getragen –, doch damals wäre es aus Rache geschehen, es wäre meine Art gewesen, der Welt mitzuteilen, wie schrecklich sie mich hatte leiden lassen. Aber die Stille des Abends, die mich auf dem Heimweg umfing, hatte nichts mit jenem Sturm, nichts mit jenem weit entfernten Knaben zu tun. Ich sann einfach über die Toten nach, weil ihre Tage vorbei waren und ich nicht wusste, wie ich meine durchleben sollte.
Die Stadt Paris, die ich so liebte, war sehr still. Die Straßen schienen fast leer zu sein, obwohl es noch früh am Abend war. Und doch, dort unten am Flussufer, unter den Brücken, im Schatten der Mauern – mir war, als hörte ich das gemeinsame erschauernde Seufzen – dort unten waren Liebende und menschliche Wracks, die sich küssten, sich paarten, die schliefen, tranken oder in die sinkende Nacht schauten. Hinter den Mauern der Häuser, an denen ich vorüberging, räumten Franzosen das Geschirr fort, steckten den kleinen Jean-Pierre und die kleine Marie ins Bett, murrten über die ewigen Probleme des Geldes, des Geschäfts, der Kirche, des schwankenden Staatsgefüges. Die Mauern, die geschlossenen Fenster bewahrten sie, schirmten sie ab gegen die Dunkelheit und das langgezogene Stöhnen der Nacht. So wie ich würden vielleicht in zehn Jahren der kleine Jean-Pierre oder die kleine Marie am Fluss stehen und sich fragen, wie sie aus dem Gewebe der Sicherheit gefallen waren. Was für einen langen Weg bin ich gekommen, dachte ich – um zerstört zu werden!
Aber ich will doch Kinder haben, erinnerte ich mich, als ich den Fluss hinter mir ließ und in unsere Straße einbog. Ich will Kinder haben, ich will zurückkehren zu dem Licht, der Sicherheit, zu meiner unbestrittenen Männlichkeit, ich will zusehen, wie meine Frau meine Kinder ins Bett bringt. Ich will jede Nacht in demselben Bett, in denselben Armen liegen, ich will morgens aufstehen und wissen, wo ich bin. Ich will eine Frau, in der ich wurzeln kann, die für mich die Erde ist, sodass ich aus ihr immer von Neuem geboren werde. So ist es einmal gewesen; so ist es einmal beinahe gewesen. Ich kann es wieder so werden lassen, ich kann es Wirklichkeit werden lassen. Es bedarf nur einer kurzen, harten Anstrengung, damit ich wieder ich selbst werde.
Ich sah den Lichtschimmer unter unserer Tür, als ich den Korridor entlangging. Bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, wurde die Tür von innen geöffnet. Giovanni stand vor mir, lachend, mit wirrem Haar. Er hielt ein Glas Cognac in der Hand. Ich starrte ihn überrascht an, denn sein Gesicht schien äußerste Heiterkeit widerzuspiegeln. Dann erkannte ich, dass es keine Heiterkeit, sondern hysterische Verzweiflung war.
Ich wollte fragen, was er um diese Zeit zu Hause machte, aber er packte mich mit einer Hand fest am Genick und zerrte mich ins Zimmer. »Wo bist du gewesen?«, rief er. Ich blickte ihn an, sah, dass er zitterte, und wich ein wenig zurück. »Ich habe dich überall gesucht«, fügte er leiser hinzu.
»Bist du denn nicht zur Arbeit gegangen?«
»Nein«, erwiderte er. »Trink etwas. Ich habe eine Flasche Cognac gekauft, um meine Freiheit zu feiern.« Er füllte ein Glas. Ich war wie gelähmt. Er kam zu mir und drückte mir das Glas in die Hand.
»Giovanni – was ist geschehen?«
Keine Antwort. Er ließ sich auf die Bettkante fallen und blieb vornübergebeugt sitzen. Mir wurde klar, dass er nicht nur verzweifelt, sondern auch wütend war. »Ils sont sales, les gens, tu sais?« Er sah zu mir auf. Seine Augen waren voller Tränen. »Sie sind einfach dreckig, die Menschen. Alle. Gemein und billig und dreckig.« Er streckte die Hand aus und zog mich auf den Boden neben sich. »Alle, nur du nicht. Tous, sauf toi.« Er umfasste mein Gesicht mit den Händen, und eine so zärtliche Geste hat wohl noch nie ein so großes Entsetzen hervorgerufen, wie ich es in jenem Augenblick empfand. »Ne me laisse pas tomber, je t’en prie«, flüsterte er und küsste mich mit einer seltsam drängenden Sanftheit auf den Mund.
Seine Berührung weckte meine Begierde, und doch ließ sein heißer, süßer Atem Übelkeit in mir aufsteigen. Ich löste mich behutsam von ihm und trank einen Schluck Cognac. »Was ist denn nur geschehen, Giovanni?«, fragte ich. »Was ist los?«
»Er hat mich rausgeworfen«, erklärte er. »Guillaume. II m’a mis à la porte.« Er lachte, erhob sich und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Ich soll mich nie wieder in seiner Bar sehen lassen. Einen Gangster hat er mich genannt, einen Dieb, einen dreckigen, kleinen Straßenjungen. Er behauptet, ich sei nur hinter ihm hergelaufen – ich hinter ihm –, um ihn eines Nachts auszurauben. Après l’amour. Merde!« Wieder lachte er.
Ich brachte kein Wort heraus. Ich fühlte, wie sich die Wände des Zimmers um mich schlossen.
Giovanni blieb vor der geweißten Fensterscheibe stehen, mit dem Rücken zu mir. »Er sagte das alles in Gegenwart vieler Leute, unten in der Bar. Er wartete, bis viele da waren. Ich wollte ihn töten, ich wollte sie alle töten.« Giovanni kehrte in die Mitte des Zimmers zurück. Er schenkte sich Cognac ein, leerte das Glas auf einen Zug und schleuderte es unversehens mit aller Kraft gegen die Wand. Es klirrte kurz und zersprang in tausend Stücke, die auf unser Bett, auf den Fußboden fielen. Eine Sekunde lang stand ich wie erstarrt, dann stürzte ich auf ihn zu. Ich hatte dabei das Gefühl, meine Füße würden von Wasser zurückgehalten, und doch sah ich mich sehr schnell laufen. Ich packte ihn an den Schultern. Er begann zu weinen. Und während sein Schmerz wie scharfer Schweißgeruch in mich eindrang, während mein Herz ihm entgegenschlug, fragte ich mich mit unwilliger, ungläubiger Verachtung, warum ich je geglaubt hatte, dass er stark sei.
Er löste sich von mir und setzte sich an die Wand, von der die Tapete abgerissen war. Ich setzte mich ihm gegenüber.
»Zuerst war heute alles wie immer«, sagte er, »und ich fühlte mich ausgezeichnet. Guillaume war noch nicht da, als ich kam. Ich machte die Bar sauber, trank etwas und aß eine Kleinigkeit. Dann kam er, und ich merkte sofort, dass er sich in einer gefährlichen Stimmung befand – vielleicht war er gerade von einem jungen Burschen gedemütigt worden. Es ist komisch –«, er lächelte – »bei Guillaume weiß man immer, wann er in einer gefährlichen Stimmung ist, weil er sich dann so ehrbar gebärdet. Wenn etwas geschehen ist, was ihn demütigt, was ihn – und sei es auch nur für einen Augenblick – erkennen lässt, wie widerlich er ist und wie einsam, dann erinnert er sich, dass er einer der besten und ältesten Familien in Frankreich angehört. Aber gleichzeitig erinnert er sich wohl auch, dass sein Name mit ihm sterben wird. Dann muss er schnell etwas tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Er muss viel Lärm machen oder einen sehr hübschen Jungen haben oder sich betrinken oder einen Streit anfangen oder seine schmutzigen Bilder ansehen.« Giovanni erhob sich und ging wieder auf und ab. »Ich weiß nicht, was ihm heute passiert ist, aber als er kam, kehrte er den Chef heraus – er versuchte mir irgendeinen Fehler nachzuweisen. Das gelang ihm jedoch nicht, und er ging nach oben. Etwas später rief er mich. Ich hasse es, das kleine pied-à-terre zu betreten, das er über der Bar hat; es bedeutet immer eine Szene. Aber ich musste gehen, und da saß er in seinem Schlafrock, mit Parfüm übergossen. Bei diesem Anblick überkam mich die Wut – ich weiß selbst nicht, warum. Er sah mich kokett an, als wäre er wunder wie schön – dabei ist er hässlich, er hat einen Körper wie saure Milch! –, und dann fragte er nach dir. Das tut er sonst nie, und ich war etwas erstaunt. Ich sagte, es ginge dir gut. Er wollte wissen, ob wir noch immer zusammenlebten. Vielleicht hätte ich lügen sollen, aber ich fand es so albern, dieser widerlichen vieille folle etwas vorzulügen, also antwortete ich: Bien sûr. Ich versuchte ruhig zu bleiben. Dann stellte er mir abscheuliche Fragen, und mir wurde speiübel, als ich ihn ansah und reden hörte. Am besten bringe ich die Sache schnell hinter mich, dachte ich und sagte, dass solche Fragen nicht einmal von einem Arzt oder einem Priester gestellt würden, und ich sagte auch, er sollte sich schämen. Vielleicht hatte er nur auf so etwas gewartet, denn er wurde wütend und schrie, er hätte mich von der Straße aufgelesen, et il a fait ceci et il a fait cela, alles für mich, weil er in mich vernarrt gewesen sei – parce-qu’il m’adorait. Ich sei undankbar, ich hätte keinen Anstand und so weiter und so fort. Wahrscheinlich habe ich alles ganz falsch angepackt. Noch vor ein paar Monaten wäre ich anders mit ihm umgesprungen. Da hätte ich ihn dazu gebracht, dass er mir weinend die Füße küsste, je te jure, aber ich konnte das einfach nicht mehr, diese schmutzigen Tricks. Ich versuchte ernsthaft mit ihm zu reden. Ich sagte, ich hätte ihm nie etwas vorgemacht und ihm gleich zu Anfang erklärt, dass ich … dass ich kein Verhältnis mit ihm haben wollte, und er … er hätte mir die Stellung trotzdem gegeben. Er wüsste doch, wie schwer ich arbeitete, und es sei ja nicht meine Schuld, wenn … wenn ich nicht so für ihn empfände wie er für mich. Und da erinnerte er mich daran, dass ich einmal … ein einziges Mal … ich hatte es nicht gewollt, ich ekelte mich vor ihm, aber ich war schwach vor Hunger … Ich bemühte mich nach wie vor, ruhig zu bleiben, und ich sagte: Mais à ce moment-là je n’avais pas un copain. Damals war ich allein. Jetzt nicht mehr, je suis avec un gars maintenant. Ich dachte, er würde das verstehen, er schwärmt immer so von Liebe und Treue. Aber diesmal nicht. Er lachte und sagte noch ein paar schreckliche Sachen über dich: Du wärst einer von diesen Amerikanern, die in Frankreich das tun, was sie zu Hause nie wagen dürften, und du würdest mich sehr bald verlassen. Schließlich lief mir die Galle über, und ich schrie, dass ich es nicht nötig hätte, mir Verleumdungen anzuhören. Weiter kam ich nicht, denn in der Bar rief jemand nach mir und ich musste hinuntergehen.«
Er blieb vor mir stehen. »Kann ich noch etwas Cognac haben?«, fragte er mit einem Lächeln. »Diesmal werde ich das Glas nicht zerbrechen.«
Ich reichte ihm mein Glas. Er leerte es, gab es zurück und sah mir dabei ins Gesicht. »Hab keine Angst«, sagte er. »Wir kommen schon zurecht. Ich habe keine Angst.« Dann verdunkelten sich seine Augen, und er wandte sich wieder dem Fenster zu.
»So war es«, fuhr er in seinem Bericht fort, »und ich hoffte, damit sei die Sache erledigt. Ich arbeitete in der Bar und versuchte, nicht an Guillaume zu denken. Es war Aperitif-Zeit, weißt du, und ich hatte viel zu tun. Plötzlich wurde oben die Tür zugeschlagen, und als ich das hörte, wusste ich sofort, dass es geschehen war, dass das Schreckliche geschehen war. Er kam in die Bar, ganz korrekt angezogen jetzt, wie ein französischer Geschäftsmann. Er blickte weder nach rechts noch nach links, er grüßte niemanden, er war kreidebleich und sah zornig aus, und das fiel den Gästen natürlich auf. Alle warteten gespannt, was er tun würde. Ich dachte, er wollte mich ohrfeigen oder er hätte vielleicht eine Pistole in der Tasche. Bestimmt habe ich mir meine Angst anmerken lassen, und das machte die Sache nicht besser. Er kam geradewegs auf mich zu, nannte mich mit lauter Stimme tapette und Dieb und befahl mir, sofort zu gehen, sonst würde er die Polizei rufen. Ich war so verblüfft, dass ich ihn nur anstarren konnte, und er schrie immer lauter, und alle Leute hörten zu, und plötzlich, mon cher, fühlte ich, wie ich stürzte, wie ich in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Eine Zeit lang war ich keiner Bewegung fähig, und die Tränen brannten wie Feuer unter meinen Lidern. Ich rang nach Luft, ich wusste nicht mehr, ob ich wachte oder träumte. Was habe ich denn getan, fragte ich immer wieder, was habe ich denn getan? Er antwortete zunächst nicht, und dann rief er mit Donnerstimme – es klang, als würde eine Kanone abgefeuert: ›Mais tu le sais, salope! Das weißt du sehr gut!‹ Niemand wusste, was er meinte, aber es war genauso wie in dem Kinofoyer, als er nach seinem Schal schrie, erinnerst du dich? Jeder war überzeugt, dass Guillaume mich bei etwas Schrecklichem ertappt hatte, dass er im Recht war und ich im Unrecht. Er ging zur Registrierkasse, nahm Geld heraus – aber um diese Zeit war noch nicht viel darin, das wusste er ebenso gut wie ich – und warf es mir hin. ›Nimm es‹, kreischte er, ›nimm es! Besser, ich geb’s dir, als dass du es mir eines Nachts stiehlst! Und jetzt geh!‹ Ach, die Gesichter in der Bar, du hättest sie sehen sollen, so weise und so düster, und sie wussten, dass sie jetzt alles wussten, und sie waren so froh, dass sie nie etwas mit mir zu tun gehabt hatten. Ah! Les enculés! Die Dreckskerle! Les gonzesses!« Er weinte wieder, diesmal aus Wut. »Da schlug ich endlich zu, aber viele Hände rissen mich zurück, und was dann geschah, ist wie ausgelöscht. Ich erinnere mich nur, dass ich auf der Straße stand, mit all den zerfetzten Geldscheinen in der Hand, und dass die Leute mich anglotzten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es widerstrebte mir, kampflos fortzugehen. Andererseits war mir klar, dass Guillaume die Polizei rufen und mich einsperren lassen würde, wenn ich nicht ginge. Aber ich werde ihn wiedersehen, das schwöre ich, und dann …«.
Giovanni verstummte. Er setzte sich und blickte starr auf die Wand. Schließlich wandte er sich mir zu und sah mich schweigend an. »Wenn ich dich nicht hätte«, sagte er nach einer Weile sehr langsam, »dann wäre es aus mit mir. Aus mit Giovanni.«
Ich stand auf. »Sei nicht albern. So tragisch ist es nun auch wieder nicht.« Und ich fügte hinzu: »Guillaume ist ekelhaft. Aber dir ist doch bestimmt schon Schlimmeres zugestoßen, nicht wahr?«
»Vielleicht wird man durch jeden Schicksalsschlag ein wenig schwächer«, murmelte Giovanni, als hätte er mich nicht gehört. »Und deswegen kann man von Mal zu Mal weniger ertragen.« Er schaute mich an. »Ja. Das Schlimmste ist mir vor langer Zeit zugestoßen, und von jenem Tag an war mein Leben schrecklich. Du wirst mich nicht verlassen, nein?«
»Natürlich nicht.« Ich lachte und nahm die mit Glassplittern übersäte Decke vom Bett, um sie auszuschütteln.
»Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn du mich verließest.« Zum ersten Mal hörte ich etwas Drohendes in seiner Stimme mitschwingen – aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. »Ich bin so lange allein gewesen … Wirklich, ich könnte nicht weiterleben, wenn ich wieder allein sein müsste.«
»Du bist ja nicht allein«, versetzte ich. Und da ich in diesem Augenblick seine Berührung nicht ertragen hätte, schlug ich hastig vor: »Wie wär’s mit einem Spaziergang? Komm heraus aus dem Zimmer, wenigstens für ein paar Minuten.« Ich grinste und puffte ihn derb in die Rippen. Er wollte mich umarmen, doch ich schob ihn zurück. »Ich lade dich zu einem Drink ein«, sagte ich.
»Und dann kommst du mit mir nach Hause?«, fragte er.
»Ja, dann komme ich mit dir nach Hause.«
»Je t’aime, tu sais?«
»Je le sais, mon vieux.«
Giovanni ging zum Waschbecken. Nachdem er sein Gesicht unter den Wasserstrahl gehalten hatte, kämmte er sich das Haar. Ich beobachtete ihn. Er lachte mich im Spiegel an, und plötzlich sah er schön und glücklich aus. Und jung – ich hatte mich noch nie in meinem Leben so hilflos und alt gefühlt.
»Wir werden es schon schaffen!«, rief er. »N’est-ce pas?«
»Bestimmt«, antwortete ich.
Er wandte sich vom Spiegel ab. Seine Miene war jetzt wieder ernst. »Allerdings – ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich eine neue Stellung finde. Und wir sind knapp mit Geld. Hast du noch was? Ist heute Geld aus New York gekommen?«
»Aus New York ist heute kein Geld gekommen«, sagte ich ruhig. »Aber ich habe noch etwas in der Tasche.« Ich nahm alles heraus und legte es auf den Tisch. »Ungefähr viertausend Francs.«
»Und ich …«. Giovanni wühlte in seinen Taschen, verstreute Scheine und Münzen im Zimmer. Er zuckte die Achseln und blickte mich mit einem rührenden, unglaublich liebenswerten Lächeln an. »Je m’exuse. Ich bin heute ein bisschen verrückt.« Er kroch auf allen vieren über den Fußboden und suchte das Geld zusammen. Etwa dreitausend Francs in Scheinen mussten geklebt werden, doch das verschoben wir auf später. Der Rest – Giovannis Geld und meines – belief sich auf rund neuntausend Francs.
»Wir sind nicht reich«, stellte Giovanni grimmig fest, »aber wenigstens werden wir in den nächsten Tagen zu essen haben.«
Irgendwie wollte ich nicht, dass er sich Sorgen machte. Ich konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht ertragen. »Morgen schreibe ich noch mal an meinen Vater«, sagte ich. »Mir wird schon irgendeine Lüge einfallen, eine Lüge, die er mir glaubt. Das wäre ja gelacht, wenn ich ihn nicht dazu kriegte, dass er mir Geld schickt.« Ich ging auf Giovanni zu, als würde ich vorwärtsgetrieben, legte ihm die Hände auf die Schultern und zwang mich, ihm lächelnd in die Augen zu sehen. In diesem Moment fühlte ich, dass Judas und der Erlöser sich in mir begegnet waren. »Hab keine Angst. Mach dir keine Sorgen.«
Und ich fühlte auch, als ich so dicht vor ihm stand und ein solches Verlangen spürte, ihn vor Schrecklichem zu bewahren, dass ich – wieder einmal! – um eine Entscheidung herumgekommen war. Denn weder mein Vater noch Hella waren in diesem Augenblick wirklich. Und selbst dies hier war nicht wirklich wie mein verzweifeltes Wissen, dass nichts für mich wirklich war. Für mich gab es nichts Wirkliches mehr – es sei denn, dass dieses Gefühl zu stürzen Wirklichkeit war.
Die Stunden dieser Nacht schwinden dahin, und mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird das Brodeln und Schäumen des Blutes in meinem Herzen stärker, und ich weiß, dass ich der Angst nicht entrinnen kann, dass sie mich in diesem Haus überwältigen wird, so nackt und silbern wie das Fallbeil, das auf Giovanni wartet. Meine Henker sind bei mir, gehen mit mir auf und ab, spülen Geschirr, packen Sachen ein, trinken aus meiner Flasche. Wohin ich auch blicke, sie sind überall. Wände, Fenster, Spiegel, Wasser, die Nacht draußen – sie sind überall. Ich könnte rufen – wie Giovanni, in seiner Zelle liegend, in diesem Augenblick vielleicht ruft. Aber niemand wird mich hören. Ich könnte versuchen, es zu erklären. Giovanni könnte versuchen es zu erklären. Ich könnte um Gnade bitten – wenn ich imstande wäre, mein Verbrechen zu benennen und zu erkennen, wenn es irgendwo irgendjemanden gäbe, der die Macht hätte, Gnade walten zu lassen.
Nein. Mir wäre leichter, wenn ich mich schuldig fühlen könnte. Aber das Ende der Unschuld ist zugleich das Ende der Schuld.
Wie es jetzt auch erscheinen mag, ich muss gestehen: Ich liebte ihn. So sehr, wie ich wohl nie wieder einen Menschen lieben werde. Und dies könnte eine große Erleichterung sein, wenn ich nicht wüsste, dass Giovanni nach dem Fall des Messers Erleichterung spüren wird, sofern er überhaupt etwas spürt.
Ich gehe auf und ab in diesem Haus – auf und ab in diesem Haus. Ich denke an das Gefängnis. Vor langer Zeit, bevor ich Giovanni kennenlernte, bin ich bei einer Party in Jacques’ Wohnung mit einem Mann zusammengetroffen, der berühmt war, weil er die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht und darüber ein Buch geschrieben hatte, das den Gefängnisbehörden missfiel, aber einen Literaturpreis erhielt. Das Leben dieses Mannes war vorbei. Im Gefängnis zu sein, sagte er, bedeute einfach, nicht zu leben, und daher sei die Todesstrafe der einzig barmherzige Urteilsspruch. Ich erinnere mich, dass ich dachte, er habe tatsächlich das Gefängnis nie verlassen, denn außer dem Gefängnis schien es für ihn keine Wirklichkeit zu geben. Er konnte von nichts anderem reden. Alle seine Bewegungen, selbst das Anzünden einer Zigarette, waren verstohlen; wohin seine Augen auch blickten, überall sah man eine Mauer aufragen. Sein Gesicht, die Farbe seines Gesichts, ließ mich an Dunkel und Feuchtigkeit denken; ich hatte das Gefühl, dass sein Fleisch schwammig wie Pilzfleisch wäre. Und er beschrieb uns eifrig, voller Heimweh die vergitterten Fenster, die vergitterten Türen, das Guckloch, die Wärter, die an den Enden der langen Flure unter dem Licht stehen. Das Gefängnis hat drei Stockwerke, und innen ist alles graublau, dunkel und kalt – bis auf die Lichtflecke, wo die Hüter des Gesetzes stehen. Dauernd liegt die Erinnerung an trommelnde Fäuste in der Luft, die Möglichkeit eines dumpfen, dröhnenden Hämmerns gegen Metall, die Möglichkeit des Wahnsinns. Die Wärter bewegen sich, sprechen leise miteinander, patrouillieren über die Flure, stapfen mit schweren Schritten die Treppen hinauf und hinunter. Sie sind in Schwarz; sie tragen Gewehre; sie haben immer Angst; sie wagen kaum, freundlich zu sein. Im Erdgeschoss, im Zentrum des Gefängnisses, in dem großen, kalten Herzen des Gefängnisses, ist immer Betrieb: Kalfaktoren schieben Karren, gehen in den Büros ein und aus, sind den Wärtern gefällig, um Vorrechte – Zigaretten, Alkohol und Liebe – zu erlangen. Die Nacht senkt sich über das Gefängnis, überall wird geflüstert, und jeder weiß – woher nur? –, dass der Tod am Morgen den Gefängnishof betreten wird. In aller Frühe, bevor die Kalfaktoren große Essenkübel zu den Zellen rollen, werden drei Männer in Schwarz lautlos den Flur entlangkommen. Einer von ihnen wird den Schlüssel im Schloss umdrehen. Sie werden jemanden packen und ihn vor sich her stoßen, erst zu dem Priester und dann zu einer Tür, die sich nur für ihn öffnet, die ihm vielleicht einen flüchtigen Blick auf den Morgen freigibt, bevor er auf ein Brett geworfen wird und das Fallbeil seinen Nacken trifft.
Ich frage mich, wie groß Giovannis Zelle sein mag. Ich frage mich, ob sie größer ist als sein Zimmer. Eines steht fest: dass sie kälter ist. Ich frage mich, ob er allein ist oder mit zwei, drei anderen; ob er Karten spielt oder raucht oder spricht oder einen Brief schreibt – an wen sollte er schreiben? – oder auf und ab geht. Ich frage mich, ob er weiß, dass der nahende Morgen der letzte seines Lebens ist. (Denn der Gefangene erfährt es im Allgemeinen nicht; der Anwalt teilt es der Familie oder den Freunden mit, nicht aber dem Gefangenen.) Ich frage mich, ob er sich Gedanken darüber macht. Er mag es wissen oder nicht, sich Gedanken machen oder nicht, er hat sicherlich Angst. Er mag mit anderen zusammen sein oder nicht, er ist sicherlich einsam. Ich versuche ihn zu sehen, wie er mit dem Rücken zu mir am Fenster der Zelle steht. Von dort aus hat er wohl nur den gegenüberliegenden Flügel des Gefängnisses vor Augen, vielleicht, wenn er sich etwas reckt, ein Stückchen Straße jenseits der hohen Mauer. Ich weiß nicht, ob man ihm die Haare geschnitten hat oder ob sie ihm in den Nacken hängen – vermutlich sind sie geschnitten worden. Ob er rasiert ist? Und nun stürmen Fragen über Fragen auf mich ein, der Beweis und die Furcht intimen Zusammenlebens. Ich möchte zum Beispiel wissen, ob er das Bedürfnis verspürt, die Toilette aufzusuchen, ob er heute etwas essen konnte, ob er schwitzt oder ob seine Haut trocken ist. Ich frage mich, ob er im Gefängnis mit jemand geschlafen hat. Und da erschüttert mich etwas, trifft mich schwer und hart. Ich fühle mich wie ein toter Gegenstand in der Wüste, und ich weiß nur eines: Ich hoffe, dass Giovanni heute Nacht in den Armen irgendeines Menschen Schutz gefunden hat. Ich wünschte, dass jemand bei mir wäre. Ich würde ihn, diesen Fremden, die ganze Nacht lieben und trösten, ich würde die ganze Nacht mit Giovanni leiden.
In jenen Tagen, als Giovanni arbeitslos war, zauderten wir, zauderten wie todgeweihte Bergsteiger, die, nur von einem zerfasernden Seil gehalten, über dem Abgrund hängen. Ich schrieb nicht an meinen Vater – ich schob es von Tag zu Tag auf. Es wäre ein zu entscheidender Schritt gewesen. Ich wusste, welche Lüge ich ihm erzählen wollte, ich wusste auch, dass er sie glauben würde – nur – ich war nicht sicher, ob es wirklich eine Lüge war. Tag für Tag saßen wir in dem Zimmer herum, und Giovanni kam wieder auf seine Umbaupläne zurück. Er kaprizierte sich auf die Idee, dass es nett wäre, einen eingebauten Bücherschrank zu haben, und er schlug die Wand auf, legte die Mauersteine frei und meißelte sie heraus. Es war eine schwere Arbeit, es war eine verrückte Arbeit, aber ich hatte nicht die Kraft oder den Mut, ihn davon abzuhalten. In gewisser Weise tat er es ja für mich, um mir seine Liebe zu beweisen. Er wollte, dass ich bei ihm in dem Zimmer bliebe. Vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, die andrängenden Wände zurückzuschieben, ohne sie zum Einsturz zu bringen.
Jetzt – jetzt sehe ich natürlich etwas sehr Schönes in jenen Tagen, die damals eine solche Qual für mich waren. Ich hatte das Gefühl, dass Giovanni mich mit sich auf den Grand des Meeres zog. Er fand keine Arbeit. Ich wusste, dass er sich nicht ernstlich bemühte, dass er es nicht konnte. Er war sozusagen so schwer verletzt worden, dass die Blicke von Fremden ihn brannten wie Salz. Er ertrug es nicht, für sehr lange Zeit sehr weit von mir entfernt zu sein. Ich war der einzige Mensch auf Gottes kalter grüner Erde, der sich etwas aus ihm machte, der wusste, wie er sprach und wie er schwieg, der seine Arme kannte und der kein Messer trug. Die Last seiner Erlösung lag auf mir, und ich war dafür nicht stark genug.
Und das Geld wurde langsam weniger – nein, nicht langsam, es zerrann uns unter den Fingern. Giovanni bemühte sich, keine Unruhe zu verraten, wenn er mich jeden Tag fragte: »Gehst du heute zum American Express?«
»Natürlich«, antwortete ich dann.
»Was meinst du, wird es heute klappen?«
»Keine Ahnung.«
»Was machen sie bloß mit deinem Geld in New York?«
Noch immer, noch immer war ich nicht fähig zu handeln. Ich ging zu Jacques und lieh mir weitere zehntausend Francs. Ich erzählte ihm, dass Giovanni und ich eine schwere Zeit durchmachten, dass sich aber bald alles zum Guten wenden würde.
»Er hat sich sehr nett benommen«, meinte Giovanni.
»Er kann sehr nett sein – wenn er will.« Wir saßen vor einem Café in der Nähe des Odéon. Ich sah Giovanni an, und plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, wie nett es wäre, wenn Jacques ihn mir abnähme.
»Woran denkst du?«, fragte Giovanni.
Einen Augenblick lang empfand ich Schuldbewusstsein und Scham. »Ich dachte daran«, sagte ich, »dass ich gern für eine Weile verreisen möchte.«
»Wohin denn?«
»Ach, ich weiß nicht. Irgendwohin. Mir hängt Paris einfach zum Hals heraus.« Ich sprach mit einer Heftigkeit, die uns beide überraschte. »Ich habe diesen alten Steinhaufen und alle diese verdammten Laffen satt. Man kann hier nichts anfassen, ohne dass es einem in der Hand zerfällt.«
»So ist es«, bestätigte Giovanni ernst. Er sah mich mit einer schrecklichen Eindringlichkeit an. Ich zwang mich, seinen Blick lächelnd zu erwidern.
»Und du?«, fragte ich. »Was würdest du von einer kleinen Ortsveränderung halten?«
»Ach!« Er hob in einer Art spöttischer Resignation die Hände. »Mir ist das gleich. Mit dir gehe ich überallhin, obgleich mir die Stadt nicht so sehr auf die Nerven fällt wie dir plötzlich. Ich habe Paris nie besonders gemocht.«
»Vielleicht«, sagte ich – ich wusste kaum, was ich sagte »können wir aufs Land fahren. Oder nach Spanien.«
»Ah«, bemerkte er leichthin, »du hast Sehnsucht nach deiner Geliebten.«
Mein Gewissen quälte mich, ich war verärgert und zugleich voller Liebe und Schmerz. Ich wollte ihm einen Fußtritt geben, und ich wollte ihn in die Arme nehmen. »Das ist kein Grund, nach Spanien zu fahren«, sagte ich mürrisch. »Ich möchte es einfach kennenlernen, das ist alles. Paris ist sehr teuer.«
»Gut«, meinte er fröhlich, »dann fahren wir eben nach Spanien. Vielleicht erinnert es mich an Italien.«
»Möchtest du lieber nach Italien? In deine Heimat?«
Er lächelte. »Ich fürchte, die Heimat ist mir fremd geworden.« Und dann: »Nein. Mit Italien habe ich ebenso wenig im Sinn wie du mit den Vereinigten Staaten – und wahrscheinlich aus dem gleichen Grund.«
»Aber ich will ja zurück in die Staaten«, sagte ich hastig. Und als er mich ansah: »Natürlich nicht gleich, aber eines Tages fahre ich bestimmt zurück.«
»Eines Tages«, murmelte er. »Das wird schlecht ausgehen – eines Tages.«
»Warum schlecht?«
»Nun, du fährst nach Hause und stellst fest, dass deine Heimat nicht mehr deine Heimat ist. Dann bist du wirklich in einer üblen Lage. Solange du hierbleibst, kannst du immer denken: Eines Tages kehre ich in die Heimat zurück.« Er spielte mit meinem Daumen. »N’est-ce pas?«
»Wunderbar logisch«, sagte ich. »Soll das heißen, dass ich nur dann eine Heimat habe, wenn ich fern von ihr bin?«
Er lachte. »Nun, ist es nicht wahr? Du hast erst dann eine Heimat, wenn du sie verlässt, und hast du sie einmal verlassen, so kannst du nie mehr zurückkehren.«
»Mir scheint, dieses Lied habe ich schon mal gehört.«
»Aber ja«, rief Giovanni, »und du wirst es bestimmt noch öfter hören. Es ist eines jener Lieder, die irgendjemand immer irgendwo singt.«
Wir standen auf und gingen. »Und was würde geschehen«, fragte ich beiläufig, »wenn ich mir die Ohren zuhielte?«
Er schwieg lange. Dann: »Wirklich, manchmal kommst du mir vor wie ein Mann, der sich ins Gefängnis sperren lässt, damit er nur ja nicht von einem Auto angefahren wird.«
»Das«, sagte ich scharf, »dürfte wohl eher auf dich als auf mich zutreffen.«
»Wie meinst du das?«, fragte er.
»Ich spreche von deinem Zimmer, diesem scheußlichen Zimmer. Warum hast du dich darin vergraben?«
»Vergraben? Entschuldige, mon cher américain, aber Paris ist nun mal nicht New York, hier gibt’s keine Paläste für Burschen wie mich. Findest du, ich sollte lieber in Versailles wohnen?«
»Es muss doch andere Zimmer geben.«
»Ça ne manque pas, les chambres. Die Welt ist voll von Zimmern aller Art – große Zimmer, kleine Zimmer, runde Zimmer oder viereckige, Zimmer unter dem Dach oder im Keller! Was glaubst du denn, in was für einem Zimmer Giovanni wohnen sollte? Du ahnst ja nicht, wie lange ich suchen musste, um das Zimmer zu finden, in dem ich wohne. Und seit wann –«, er blieb stehen und tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Brust – »seit wann hasst du das Zimmer so? Seit gestern? Oder schon immer? Dis-moi.«
Unter seinem Blick wurde ich unsicher. »Ich hasse es nicht. Ich … ich wollte deine Gefühle nicht verletzen.«
Er ließ die Arme sinken. Seine Augen wurden groß. Er lachte. »Meine Gefühle verletzen! Bin ich ein Fremder, dass du so mit mir sprichst, mit solcher amerikanischen Höflichkeit?«
»Liebling, ich meine ja nur, dass ich wünschte, wir könnten umziehen.«
»Oh, dann ziehen wir natürlich sofort um. Morgen! In ein Hotel, ein Luxushotel. Ist dir das recht? Le Crillon peut-être?«
Ich gab mich seufzend geschlagen, und wir gingen weiter.
»Ich weiß«, stieß er gleich darauf hervor, »ich weiß, du möchtest fort aus Paris, fort aus dem Zimmer – ah, du bist gemein. Comme tu es méchant!«
»Du verstehst mich falsch«, sagte ich. »Du verstehst mich falsch.«
Er lächelte grimmig, »J’espère bien.«
Später, als wir wieder in dem Zimmer waren und die Steine, die Giovanni aus der Wand gelöst hatte, in einen Sack packten, fragte er mich: »Diese Freundin von dir – hast du in letzter Zeit von ihr gehört?«
»In letzter Zeit nicht«, antwortete ich, ohne aufzublicken. »Aber sie kann jetzt jeden Tag in Paris eintreffen.«
Er richtete sich auf. In der Mitte des Raumes unter der Glühbirne stehend, sah er mich an. Ich richtete mich ebenfalls auf, lächelnd, aber auch mit einem seltsam vagen Gefühl der Angst.
»Viens m’embrasser«, sagte er.
Ich war mir deutlich bewusst, dass jeder von uns einen Stein in der Hand hielt. Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, dass wir, wenn ich nicht zu ihm ginge, diese Steine dazu benutzen würden, uns gegenseitig totzuschlagen.
Und dennoch war es mir zuerst unmöglich, mich zu bewegen. Wir starrten einander an, über den engen Zwischenraum hinweg, der voller Gefahren war, der wie ein Flammenmeer zu brüllen schien.
»Komm«, sagte er.
Ich ließ meinen Ziegelstein fallen und ging zu ihm. Gleich darauf hörte ich seinen Stein fallen. Und in Augenblicken wie diesem begriff ich, dass wir nur den längeren, schleichenderen und deshalb weniger offenkundigen Mord erduldeten und begingen.
4
Endlich kam die Nachricht, auf die ich gewartet hatte: Hella teilte mir den Tag und die Stunde ihrer Ankunft in Paris mit. Ich sagte Giovanni nichts davon, und als es so weit war, ging ich allein zum Bahnhof, um sie abzuholen.
Ich hatte gehofft, bei ihrem Anblick werde etwas in mir so spontan reagieren, dass ich mir ein für alle Mal im Klaren wäre, wohin ich gehörte und wo ich stand. Aber nichts dergleichen geschah. Ich erspähte sie sofort, noch bevor sie mich sah. Sie war in Grün gekleidet, trug das Haar etwas kürzer, und auf ihrem sonnengebräunten Gesicht lag das strahlende Lächeln, das ich so gut kannte. Ich liebte sie wie eh und je, doch über das Ausmaß dieser Liebe wusste ich noch immer nichts.
Als sie mich erblickte, blieb sie auf dem Bahnsteig stehen, lächelnd, breitbeinig wie ein Junge, die Hände über der Brust gefaltet. Sekundenlang schauten wir einander nur an.
»Eh bien«, sagte sie schließlich, »t’embrasses pas ta femme?«
Da nahm ich sie in die Arme, und jetzt geschah etwas. Als ich Hella umschlungen hielt, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich sei bei ihr daheim und sie bei mir. Sie passte in meine Arme, wie sie immer hineingepasst hatte, und das plötzliche Erlebnis ihrer Nähe ließ mich denken, meine Arme seien leer gewesen, seit sie mich verlassen hatte.
Ich drückte sie fest an mich in jener hohen, dunklen Halle zwischen all den hin und her eilenden Leuten, unmittelbar neben dem schnaufenden Zug. Sie roch nach Wind und Meer und Weite, und ich spürte in ihrem wunderbar lebendigen Körper die Möglichkeit bedingungsloser Hingabe.
Dann machte sie sich von mir los. Ihre Augen waren feucht. »Lass dich anschauen«, rief sie, legte die Hände auf meine Schultern und blickte mir forschend ins Gesicht. »Ach, du siehst großartig aus. Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen.«
Ich küsste sie leicht auf die Nase. Anscheinend hatte ich die erste Prüfung bestanden. Ich nahm ihre Koffer, und wir gingen zur Sperre.
»Hast du eine gute Fahrt gehabt?«, fragte ich. »Wie war Sevilla? Haben dir die Stierkämpfe gefallen? Und hast du einen Stierkämpfer kennengelernt? Erzähl mir alles.«
Sie lachte. »Alles ist ziemlich viel verlangt. Die Fahrt war grässlich. Ich hasse die Eisenbahn, ich wollte, ich wäre geflogen, aber ich habe mir geschworen, nie, nie wieder den Fuß in ein spanisches Flugzeug zu setzen. Einmal hab ich’s nämlich getan, und das Ding klapperte in der Luft wie ein alter Ford – bestimmt war es einmal ein Ford und ich saß da, betete und trank Cognac. Wirklich, ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen.« Wir gingen durch die Sperre auf die Straße. Hella sah sich entzückt um und betrachtete alles, die Cafés, die selbstbeherrschten Menschen, das Verkehrsgewühl, den Schutzmann mit seinem blauen Cape und seinem weißen Stab. »Weißt du«, sagte sie, »es ist immer so wunderbar, nach Paris zurückzukommen, ganz gleich, wo man gewesen ist.« Wir stiegen in ein Taxi, und der Fahrer fädelte sich mit einem kühnen Bogen in den Verkehr ein. »Ich glaube, selbst wenn man mit einem schrecklichen Kummer zurückkommt, kann man hier … nun, ich meine, vielleicht kann man das hier am besten überwinden.«
»Hoffentlich brauchen wir Paris nie auf diese Probe zu stellen«, murmelte ich.
Ihr Lächeln war zugleich heiter und melancholisch. »Ja, das hoffe ich auch.« Plötzlich nahm sie mein Gesicht in die Hände und küsste mich. Eine große Frage stand in ihren Augen, und ich wusste, wie glühend sie wünschte, die Antwort auf diese Frage sofort zu hören. Aber ich war noch nicht fähig dazu. Ich zog sie an mich und küsste sie mit geschlossenen Augen. Zwischen uns war alles wie immer, und doch war alles anders.
Ich beschloss, vorläufig nicht an Giovanni zu denken, mir keine Sorgen um ihn zu machen; wenigstens an diesem ersten Abend wollte ich mit Hella zusammen sein, ohne dass etwas uns trennte. Dabei wusste ich sehr gut, dass es nicht möglich war: Er hatte uns bereits getrennt. Ich bemühte mich, zu vergessen, dass er allein in jenem Zimmer war und sich den Kopf zerbrach, warum ich so lange fortblieb.
Später saßen wir in Hellas Zimmer in der Rue de Tournon und kosteten einen Fundador. »Das Zeug ist viel zu süß«, stellte ich fest. »Trinken sie das in Spanien?«
Hella lachte. »Ich habe noch nie einen Spanier gesehen, der Fundador trank. Die Spanier trinken Wein. Und ich habe dort Gin-Fizz getrunken – irgendwie hielt ich das für gesünder.« Sie lachte von Neuem.
Ich nahm sie in die Arme und küsste sie; ich versuchte mich wieder in ihr zurechtzufinden, als wäre sie ein vertrauter, aber dunkler Raum, in dem ich nach dem Lichtschalter tastete. Und gleichzeitig versuchte ich mit meinen Küssen den Augenblick hinauszuzögern, der mich ihr überantworten, vielleicht auch nicht überantworten würde. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, die unbestimmte Spannung zwischen uns sei einzig und allein ihre Schuld. Sie erinnerte sich, dass meine Briefe im Laufe der Zeit immer seltener geworden waren. In Spanien hatte sie sich wohl bis kurz vor der Abreise keine Gedanken deswegen gemacht; erst als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, begann sie zu fürchten, dass auch ich mich entschieden haben könnte – aber nicht für sie. Vielleicht hatte sie mich zu lange im Ungewissen gelassen.
Sie war von Natur aus offen und ungeduldig, sie litt darunter, wenn etwas nicht klar war, doch sie zwang sich, auf ein Wort, ein Zeichen von mir zu warten, und hielt die Zügel ihres starken Verlangens fest in der Hand.
Ich aber wollte sie zwingen, die Zügel loszulassen. Mir war klar, dass ich stumm bleiben würde, bis ich sie wieder besessen hatte. Ich hoffte, durch Hella mein Bild von Giovanni und die Wirklichkeit seiner Berührung auszubrennen – ich hoffte, Feuer durch Feuer zu vertreiben. Und doch war ich mir dessen, was ich tat, so sehr bewusst, dass ich mich wie gelähmt fühlte. Schließlich fragte sie mit einem Lächeln: »Bin ich zu lange fortgewesen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Es war eine lange Zeit.«
»Es war eine sehr einsame Zeit«, sagte sie unvermutet. Sie wandte sich leicht von mir ab, legte sich auf die Seite und schaute zum Fenster. »Ich kam mir so ziellos vor – wie ein Tennisball, der springt und springt –, und ich fragte mich immer wieder, wo ich landen würde. Mir war, als hätte ich irgendwo das Boot verpasst.« Sie blickte mich an. »Du weißt, von welchem Boot ich spreche. In meiner Heimat macht man Filme darüber. Es ist das Boot, das ein Boot ist, wenn man es verpasst, aber ein Schiff, wenn es in den Hafen einläuft.« Ich sah sie an. Ihre Miene war so unbewegt, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
»Hat dir Spanien denn gar nicht gefallen?«, fragte ich nervös.
Sie fuhr mit der Hand ungeduldig durch ihr Haar. »Ach, natürlich hat mir Spanien gefallen, warum denn nicht? Es ist sehr schön. Ich wusste nur nicht, was ich eigentlich dort wollte. Allmählich habe ich’s satt, mich ohne besonderen Grund irgendwo aufzuhalten.«
Ich zündete mir eine Zigarette an und sagte lächelnd: »Du bist nach Spanien gegangen, um Abstand von mir zu gewinnen – weißt du das nicht mehr?«
Sie streichelte meine Wange. »Ich war nicht sehr nett zu dir, nicht wahr?«
»Du warst sehr ehrlich.« Ich stand auf und ging ein paar Schritte durch das Zimmer. »Bist du weitergekommen mit deinem Nachdenken, Hella?«
»Ich hab’s dir doch geschrieben – weißt du das nicht mehr?«
Ein paar Sekunden lang schien absolute Stille zu herrschen. Sogar die leisen Geräusche von der Straße verstummten. Ich stand mit dem Rücken zu ihr, aber ich fühlte ihre Augen. Ich fühlte, wie sie wartete – alles schien zu warten.
»Ich wusste nicht, woran ich war mit dem Brief.« Ich dachte: Vielleicht komme ich aus der Sache heraus, ohne ihr etwas erzählen zu müssen. »Du schriebst das so … so nebenbei, dass ich nicht dahinterkam, ob du froh oder traurig über deinen Entschluss warst.«
»Oh«, sagte sie, »solche Sachen haben wir doch immer nur so nebenbei erwähnt. Anders hätte ich’s gar nicht ausdrücken können. Ich fürchtete, dich in Verlegenheit zu bringen – verstehst du das nicht?«
Meine Bemerkung hatte andeuten sollen, dass sie mich vielleicht aus Verzweiflung nahm, weniger weil sie mich wollte, als weil ich gerade da war. Doch ich konnte ihr das nicht sagen. Selbst wenn es stimmte – ich spürte, dass sie es jetzt nicht mehr wusste.
»Aber vielleicht hast du’s dir inzwischen anders überlegt«, fügte sie vorsichtig hinzu. »Bitte, sag’s mir, wenn es so ist.« Sie wartete einen Augenblick auf meine Antwort. Dann: »Weißt du, ich bin ja gar nicht das emanzipierte Mädchen, für das alle mich halten. Im Grunde geht’s mir nur darum, einen Mann zu haben, der jeden Abend zu mir nach Haus kommt. Ich möchte mit einem Mann schlafen können ohne diese ewige Angst, ein Kind zu kriegen. Verdammt, ich will endlich Kinder haben dürfen. Bei Licht besehen, ist Kinderkriegen das Einzige, wozu ich wirklich tauge.« Wieder trat Schweigen ein. »Ist es das, was du willst?«
»Ja«, antwortete ich. »Das habe ich immer gewollt.«
Ich drehte mich zu ihr um, sehr schnell, als hätten starke Hände auf meinen Schultern mich herumgerissen. Der Raum war jetzt fast dunkel. Auf dem Bett ausgestreckt, sah sie mich an, den Mund leicht geöffnet, die Augen wie Lichter. Ich war mir mit furchtbarer Deutlichkeit ihres und meines Körpers bewusst. Ich ging zu ihr, legte den Kopf auf ihre Brust und hatte nur den einen Wunsch, so liegenzubleiben, verborgen und still.
Aber dann fühlte ich, wie sie tief innen sich regte, sich eilte, die Pforten ihrer fest ummauerten Stadt zu öffnen und den König der Herrlichkeit eintreten zu lassen.
›Lieber Dad‹, schrieb ich, ›von jetzt an wird’s keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben; ich habe ein Mädchen gefunden und möchte sie heiraten, und wenn ich Dir das nicht schon längst erzählt habe, dann einfach deshalb, weil ich nicht sicher war, ob sie ebenso dachte wie ich. Aber sie will es tatsächlich mit mir riskieren, schwachköpfig, wie das arme Ding nun einmal ist, und wir werden also hier Hochzeit machen und dann in bequemen Etappen nach Hause fahren. Sie ist keine Französin, falls Du Dir deshalb Sorgen machen solltest (ich weiß, ich weiß, Du hast nichts gegen die Franzosen, Du findest nur, dass sie nicht unsere Vorzüge haben. Was übrigens durchaus zutrifft). Jedenfalls möchte Hella – sie heißt Hella Lincoln und stammt aus Minneapolis, ihre Eltern leben noch dort, der Vater ist Syndikus und die Mutter eine tüchtige kleine Hausfrau – jedenfalls möchte Hella, dass wir unsere Flitterwochen hier verleben, und selbstverständlich ist ihr Wunsch mir Befehl. So, und jetzt wirst Du wohl Deinem Dich liebenden Sohn etwas von seinem schwer verdienten Geld schicken. Tout de suite. Das ist der französische Ausdruck für sofort.
Hella – das Foto lässt ihr wirklich keine Gerechtigkeit widerfahren – kam vor etwa zwei Jahren hierher, um Malen zu lernen. Dann entdeckte sie, dass sie kein Talent hatte, und gerade als sie sich in die Seine stürzen wollte, lernten wir uns kennen, und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Ich weiß, dass Du sie lieben wirst, Dad, und sie wird Dich lieben. Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich bin …‹
Drei Tage nach Hellas Rückkehr fügte es der Zufall, dass sie Giovanni begegnete. Während dieser drei Tage hatte ich ihn weder gesehen noch Hella gegenüber seinen Namen erwähnt.
Wir waren stundenlang durch die Stadt gestreift, und Hella hatte sich dabei unablässig mit einem Thema beschäftigt, das ich sie noch nie so ausführlich hatte behandeln hören: Frauen. Sie behauptete, es sei schwer, eine zu sein.
»So schwer kann das doch eigentlich nicht sein«, widersprach ich. »Jedenfalls nicht, wenn die Frau einen Mann hat.«
»Das ist es ja gerade«, rief sie. »Begreifst du nicht, dass diese Notwendigkeit irgendwie demütigend ist?«
»Na, hör mal, ich habe nie den Eindruck gehabt, dass sich eine der Frauen, die ich kannte, dadurch gedemütigt fühlte.«
»Ja«, sagte sie, »weil du bestimmt über keine von ihnen nachgedacht hast – in dieser Hinsicht, meine ich.«
»Allerdings nicht. Ich hoffe, sie haben’s auch nicht getan. Und warum tust du es? Worüber hast du dich zu beklagen?«
»Über gar nichts.« Sie summte tief in der Kehle eine heitere Mozart-Melodie. »Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Aber es ist doch einigermaßen … nun ja, einigermaßen schwierig, dass eine Frau erst dann anfangen kann, sie selbst zu sein, wenn sie sich irgendeinem ungeschlachten und unrasierten Fremden ausliefert.«
»Also das gefällt mir nun ganz und gar nicht«, erklärte ich. »Seit wann bin ich ungeschlacht? Oder ein Fremder? Unrasiert, das mag stimmen, aber daran bist du schuld, weil ich mich einfach nicht von dir losreißen konnte.« Ich grinste und gab ihr einen Kuss.
»Gut«, sagte sie, »vielleicht bist du jetzt kein Fremder. Aber du warst es einmal, und ich bin überzeugt, du wirst es wieder sein.«
»Was das betrifft«, versetzte ich, »so wirst du es auch für mich sein.«
Sie sah mich mit einem raschen, strahlenden Lächeln an. »Wirklich?« Dann: »Eine Frau sein – was ich damit meine, ist dies: Ich könnte dich heiraten und fünfzig Jahre mit dir zusammenleben und in jedem Augenblick dieser Zeit, ohne dass du es weißt, eine Fremde für dich sein.«
»Und wenn ich ein Fremder wäre – würdest du es wissen?«
»Für eine Frau«, erwiderte sie, »ist ein Mann wohl immer ein Fremder. Und es ist etwas Schreckliches daran, einem Fremden ausgeliefert zu sein.«
»Aber auch wir Männer sind doch den Frauen ausgeliefert. Hast du daran noch nie gedacht?«
»Nun ja«, sagte sie, »vielleicht seid ihr Männer uns Frauen ausgeliefert – ich glaube, Männern gefällt das; es spricht den Weiberfeind in ihnen an. Wenn aber ein bestimmter Mann einer bestimmten Frau ausgeliefert ist, dann hört er irgendwie auf, ein Mann zu sein. Und die Dame sitzt fester in der Falle als je zuvor.«
»Du meinst, ich kann dir nicht ausgeliefert sein? Aber du mir?« Ich lachte. »Ich möchte den sehen, dem du ausgeliefert bist, Hella.«
»Lach nur«, sagte sie heiter, »ich habe trotzdem recht. Mir ist das in Spanien klargeworden – dass ich nicht frei war, dass ich nicht frei sein konnte, bevor ich mich nicht an jemanden gebunden … nein, mich ihm anvertraut hatte.«
»An jemanden? Nicht an etwas?«
Sie schwieg. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich. »Aber ich fange an zu glauben, dass Frauen sich nur in Ermangelung eines Besseren an etwas binden. Sie würden es, wenn sie könnten, jederzeit für einen Mann aufgeben. Natürlich werden sie das immer ableugnen, und die meisten hängen ja auch an dem, was sie haben. Aber ich glaube, es tötet sie. Vielleicht meine ich nur«, fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu, »dass es mich getötet hätte.«
»Was willst du, Hella? Was hast du jetzt, das so einen Unterschied macht?«
Sie lachte. »Es geht nicht darum, was ich habe. Es geht nicht einmal darum, was ich will. Es geht darum, dass du mich hast. Dass du mich hast. So kann ich jetzt deine ergebene und dich liebende Dienerin sein.«
Mir wurde kalt. Ich schüttelte in gespielter Verwirrung den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Das ist doch klar«, sagte sie. »Ich spreche über mein Leben. Von jetzt an ist es meine Pflicht, für dich zu sorgen, dein Essen zu kochen, dich zu quälen, zu belügen und zu lieben – es ist meine Pflicht, mich mit dir abzufinden. Von jetzt an kann ich mich genussvoll darüber beklagen, dass ich eine Frau bin. Aber ich brauche nie mehr zu befürchten, dass ich keine bin.« Sie sah mich lachend an. »Oh, ich werde mich sehr anstrengen«, rief sie. »Ich werde nicht aufhören, intelligent zu sein. Ich werde lesen und diskutieren und denken – und sehr darauf achten, nicht deine Gedanken zu denken –, und du wirst dich freuen, weil das Durcheinander, das sich daraus ergibt, dir zeigen wird, dass ich eben doch nur den begrenzten Verstand einer Frau habe. Und wenn Gott will, wirst du mich von Tag zu Tag mehr lieben, und wir werden sehr glücklich sein.« Sie lachte. »Überlass das alles ruhig mir, mein Schatz. Du brauchst dich darum gar nicht zu kümmern.«
Ihre Heiterkeit war ansteckend, und ich schüttelte wieder den Kopf, als ich in ihr Lachen einstimmte. »Du bist reizend«, sagte ich. »Ich verstehe dich überhaupt nicht.«
Sie lachte noch lauter. »Na, das ist fein. Dann sind wir ja schon beide in unserem Element.«
Wir kamen zu einer Buchhandlung, und Hella blieb stehen. »Können wir hier mal reingehen?«, fragte sie. »Da ist ein Buch, das ich gern hätte.« Und als wir eintraten, fügte sie hinzu: »Übrigens ein ganz anspruchsloses Buch.«
Sie steuerte auf die Geschäftsinhaberin zu, und ich sah ihr lächelnd nach. Dann schlenderte ich zu einem Regal im Hintergrund, wo ein Mann mit dem Rücken zu mir stand und in einer Zeitschrift blätterte. Als ich neben ihn trat, klappte er das Heft zu, legte es hin und wandte sich um. Es war Jacques.
»Tiens!«, rief er. »Da bist du ja. Wir dachten schon, du wärst nach Amerika gefahren.«
Ich lachte. »Nein, ich bin noch in Paris. Ich hatte nur sehr viel zu tun.« Dann kam mir ein schrecklicher Verdacht. »Wer ist wir?«, fragte ich.
»Dein Baby natürlich«, erwiderte Jacques mit einem harten, eindringlichen Lächeln. »Vielleicht entsinnst du dich, dass du ihn mutterseelenallein in jenem Zimmer zurückgelassen hast, ohne Essen, ohne Geld, sogar ohne Zigaretten. Schließlich hat er die concierge überredet, ein Telefongespräch auf seine Rechnung zu setzen. Als er mich anrief, der arme Kerl, klang seine Stimme, als hätte er am liebsten den Kopf in den Gasofen gesteckt. Wenn er –«, Jacques lachte – »einen Gasofen gehabt hätte.«
Wir sahen uns an. Er sagte absichtlich nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Ich habe ein paar Lebensmittel in den Wagen geworfen«, sprach Jacques nach einer Weile weiter, »und bin zu ihm hinausgefahren. Er dachte, du wärst ins Wasser gegangen. Aber ich versicherte ihm, er kenne die Amerikaner nicht so gut wie ich, und wir könnten es uns ersparen, die Seine nach dir absuchen zu lassen. Du seist nur verschwunden, um – nachzudenken. Und wie ich sehe, hatte ich recht. Du hast offenbar so viel nachgedacht, dass du jetzt herausfinden musst, was andere von dir gedacht haben. Ein Autor«, fügte er hinzu, »den du bestimmt nicht mehr zu konsultieren brauchst, ist der Marquis de Sade.«
»Wo ist Giovanni?«, fragte ich.
»Heute ist mir endlich der Name von Hellas Hotel eingefallen«, sagte Jacques. »Von Giovanni hörte ich, dass du sie dieser Tage erwartest, und so brachte ich ihn auf die glänzende Idee, dort anzurufen. Eben ist er hinausgegangen, um das zu tun. Er wird gleich wieder da sein.«
Hella kam mit ihrem Buch auf uns zu.
»Ich glaube, ihr beide kennt euch«, sagte ich unbeholfen. »Hella, du erinnerst dich an Jacques, nicht wahr?«
Sie erinnerte sich an ihn, und sie erinnerte sich auch, dass sie ihn nicht mochte. Mit einem höflichen Lächeln reichte sie ihm die Hand. »Wie geht’s Ihnen?«
»Je suis ravi, mademoiselle.« Jacques wusste, dass Hella ihn nicht mochte, und das belustigte ihn. Um ihre Abneigung zu vertiefen und auch, weil er mich in diesem Augenblick wirklich hasste, beugte er sich über ihre ausgestreckte Hand und wurde sofort in empörender, ekelerregender Weise weibisch. Ich beobachtete ihn, wie man eine noch viele Meilen entfernte, aber unaufhaltsam näher kommende Naturkatastrophe beobachtet. Er warf mir einen neckischen Blick zu. »David hat sich vor uns versteckt, seit Sie zurück sind«, flötete er.
»So?« Hella trat dicht an mich heran und ergriff meine Hand. »Das war sehr ungezogen von ihm. Ich hätte es bestimmt nicht geduldet – wenn ich gewusst hätte, dass wir uns versteckten.« Sie lächelte. »Aber er erzählt mir ja nie etwas.«
Jacques sah sie an. »Zweifellos«, erwiderte er, »hat David reizvollere Dinge mit Ihnen zu besprechen als die Frage, warum er sich vor alten Freunden verbirgt.«
Ich hatte nur einen Wunsch: fortgehen, bevor Giovanni kam. »Wir haben noch nicht zu Abend gegessen«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Vielleicht können wir uns später irgendwo treffen.« Ich wusste, dass mein Lächeln ihn bat, barmherzig zu sein.
Aber im gleichen Augenblick läutete die kleine Glocke, die jeden Besucher des Ladens ankündigte, und Jacques rief: »Ah, da ist ja Giovanni.« Und wirklich, ich fühlte ihn hinter mir stehen und mich anstarren, und ich fühlte in Hellas Händedruck, in ihrem ganzen Körper ein wildes Zurückschrecken, und so beherrscht sie auch war, sie konnte nicht verhindern, dass sich etwas davon auf ihrem Gesicht widerspiegelte. Als Giovanni sprach, war seine Stimme heiser vor Wut, Erleichterung und unterdrückten Tränen.
»Wo bist du gewesen?«, fuhr er mich an. »Ich dachte, du wärst tot! Ich dachte, man hätte dich überfahren oder du wärst ertrunken! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
Ich war seltsamerweise imstande, zu lächeln. »Giovanni«, sagte ich und wunderte mich dabei über meine Ruhe, »ich möchte dich mit meiner Verlobten bekannt machen. Mademoiselle Hella. Monsieur Giovanni.«
Er hatte sie gesehen, bevor sein Ausbruch beendet war. Nun gab er ihr mit einer stillen, staunenden Höflichkeit die Hand und starrte sie mit seinen schwarzen Augen an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.
»Enchanté, mademoiselle«, murmelte er. Seine Stimme war tot und kalt. Er streifte mich mit einem Blick, dann wandte er sich wieder Hella zu. Sekundenlang standen wir alle vier da, als wollten wir für ein Gruppenbild posieren.
Jacques brach das Schweigen. »Da wir nun alle zusammen sind, sollten wir das begießen, finde ich. Nur ganz kurz«, fügte er hinzu und kam damit Hellas Versuch einer höflichen Ablehnung zuvor. Er nahm ihren Arm. »Schließlich hat man nicht jeden Tag das Glück, alte Freunde zu treffen.« Er zwang Giovanni und mich, voranzugehen, während er mit Hella folgte. Die Glocke schepperte bösartig, als Giovanni die Tür öffnete. Die Abendluft schlug uns wie Flammenglut entgegen. Wir gingen vom Fluss weg auf den Boulevard zu.
»Wenn ich mich entschließe, die Wohnung zu wechseln«, sagte Giovanni, »dann teile ich es der concierge mit, damit sie wenigstens weiß, wohin sie die Post nachschicken kann.«
Ein jäher Zorn stieg in mir auf. Ich hatte bemerkt, dass er rasiert war und ein sauberes weißes Hemd trug – mit einer Krawatte, die sicherlich Jacques gehörte. »Mir scheint, du hast keinen Grund, dich zu beklagen«, erwiderte ich hitzig. »Du hast jedenfalls gewusst, an wen du dich wenden konntest.«
Aber bei dem Blick, den er mir zuwarf, verflog mein Zorn, und ich hätte am liebsten geweint. »Du bist nicht nett«, stieß er hervor. »Tu n’es pas chic du tout.« Mehr sagte er nicht, und wir gingen schweigend weiter. Hinter uns hörte ich das Murmeln von Jacques’ Stimme. An der Ecke warteten wir auf die beiden.
»Liebling«, sagte Hella, als sie vor mir stand, »bleib du noch und trink etwas, wenn du magst. Ich kann nicht, ich kann wirklich nicht, ich fühle mich gar nicht gut.« Sie blickte Giovanni an. »Seien Sie mir bitte nicht böse, aber seit ich aus Spanien zurück bin, habe ich kaum eine ruhige Minute gehabt. Ein andermal gern, wirklich – aber heute muss ich etwas Schlaf haben.« Sie lächelte und streckte die Hand aus, doch er schien es nicht zu sehen.
»Ich bringe Hella in ihr Hotel und komme dann nach«, erklärte ich. »Wo seid ihr denn zu finden?«
Giovanni lachte auf. »Wir bleiben hier in der Gegend. Du wirst uns schon finden.«
»Es tut mir leid, dass Sie sich nicht wohlfühlen«, sagte Jacques zu Hella. »Vielleicht ein andermal.« Wieder beugte er sich über ihre Hand und küsste sie. Dann blickte er mich an. »Du musst mich bald einmal mit Hella besuchen. Zum Abendessen.« Er blinzelte mir zu. »Vor uns brauchst du doch deine Verlobte nicht zu verstecken.«
»Bestimmt nicht«, warf Giovanni ein. »Sie ist sehr charmant. Und wir –«, mit einem Lächeln zu Hella – »wir werden uns bemühen, ebenfalls charmant zu sein.«
Ich nahm Hellas Arm. »Gut, wir sehen uns also später.«
»Sollte ich nachher nicht mehr da sein«, sagte Giovanni rachsüchtig und zugleich den Tränen nahe, »dann bin ich zu Hause. Weißt du noch, wo das ist …? Ganz in der Nähe ist ein Zoo.«
»Ja, ich weiß.« Ich ging rückwärts, als verließe ich einen Raubtierkäfig. »Bis gleich. A tout l’heure.«
»A la prochaine«, erwiderte Giovanni.
Ich fühlte, wie sie uns nachblickten, als wir fortgingen. Hella schwieg lange – wahrscheinlich weil sie, wie ich, Angst hatte, etwas zu sagen. Dann: »Ich kann diesen Jacques nicht ausstehen. Er ist mir irgendwie unheimlich.« Und nach einer Pause: »Ich wusste nicht, dass du ihn so oft gesehen hast, während ich in Spanien war.«
»So oft war das gar nicht«, murmelte ich. Um meine Hände zu beschäftigen, mich einen Augenblick sammeln zu können, zündete ich mir eine Zigarette an. Ich spürte, dass Hella mich beobachtete. Aber sie war nicht argwöhnisch; sie war nur beunruhigt.
»Und wer ist Giovanni?«, fragte sie, als wir weitergingen. Sie lachte. »Du, mir ist gerade eingefallen, dass ich dich noch nicht mal gefragt habe, wo du inzwischen gewohnt hast. Bei ihm?«
»Wir haben zusammen ein Mädchenzimmer gemietet«, antwortete ich. »Draußen am Stadtrand.«
»Dann war es aber nicht nett von dir, so mir nichts, dir nichts zu verschwinden.«
»Mein Gott«, rief ich, »er teilt doch nur das Zimmer mit mir. Woher soll ich wissen, dass er mich als tot betrauert, wenn ich mal ein paar Nächte wegbleibe?«
»Jacques erzählte, du hättest ihn ohne Geld, ohne Zigaretten, ohne alles zurückgelassen und ihm nicht einmal gesagt, dass du bei mir bist.«
»Es gibt vieles, was ich Giovanni nicht gesagt habe. Aber so eine Szene hat er mir noch nie gemacht – er muss wohl betrunken gewesen sein. Ich werde nachher mit ihm reden.«
»Willst du wirklich noch mal zurückgehen?«
»Vielleicht. Und wenn ich das nicht tue, besuche ich ihn in unserem Zimmer. Das hatte ich ohnehin vor.« Ich lachte. »Ich muss mich nämlich rasieren.«
Hella seufzte. »Ich möchte nicht, dass deine Freunde auf dich wütend werden«, sagte sie. »Geh lieber zurück und trink etwas mit ihnen. Du hast es versprochen.«
»Ich werd’s mir noch überlegen. Schließlich bin ich ja nicht mit ihnen verheiratet.«
»Nun, die Tatsache, dass du mich heiraten wirst, bedeutet nicht, dass du deine Freunde vor den Kopf stoßen musst. Es bedeutet nicht einmal«, fügte sie hinzu, »dass mir deine Freunde sympathisch sein müssen.«
»Hella«, sagte ich, »das ist mir völlig klar.«
Wir bogen vom Boulevard ab und gingen auf ihr Hotel zu.
»Er ist sehr gefühlsbetont, nicht wahr?«, fragte sie. Ich starrte auf das schwarze Senatsgebäude, das am Ende der dunklen, leicht ansteigenden Straße aufragte.
»Wer?«
»Giovanni. Er mag dich bestimmt sehr gern.«
»Er ist Italiener«, sagte ich. »Alle Italiener sind theatralisch.«
Sie lachte. »Na, der hier würde sogar in Italien auffallen. Wie lange hast du mit ihm zusammen gewohnt?«
»Zwei Monate.« Ich warf meine Zigarette weg. »Mir ging das Geld aus – du weißt ja, ich warte noch immer auf Geld –, und da zog ich zu ihm, weil es billiger war. Damals hatte er eine Stellung und war fast jede Nacht bei seiner Geliebten.«
»Ach, er hat eine Geliebte?«
»Er hatte eine Geliebte«, erwiderte ich. »Er hatte auch eine Stellung. Und beides hat er verloren.«
»Der arme Junge. Kein Wunder, dass er so verloren aussieht.«
»Er wird’s schon überwinden«, sagte ich kurz. Wir waren angelangt. Hella drückte auf die Nachtglocke.
»Ist er ein sehr guter Freund von Jacques?«, erkundigte sie sich.
»Vielleicht kein so guter, wie Jacques es sich wünscht«, antwortete ich.
Sie lachte. »Ich habe immer das Gefühl, dass ein kalter Wind über mich hinweht, wenn ich in der Nähe eines Mannes bin, der die Frauen so sehr verabscheut wie Jacques.«
»Na, dann werden wir ihn eben von dir fernhalten. Wir wollen doch nicht, dass kalte Winde über dieses Mädchen hinwehen.« Ich küsste sie auf die Nasenspitze. Im gleichen Augenblick polterte es irgendwo im Hotel, die Tür schien zu erbeben und sprang auf. Hella spähte belustigt in die Dunkelheit. »Ich bin mir nie sicher«, bemerkte sie, »ob ich es wagen soll, da hineinzugehen.« Dann sah sie mich an. »Na, willst du oben noch etwas trinken, bevor du zu deinen Freunden gehst?«
»Gern«, sagte ich. Wir traten ein und schlossen leise die Tür hinter uns. Meine tastenden Finger fanden die minuterie, das Licht flammte auf und goss seinen schwachen gelben Schein über uns. Eine Stimme rief irgendetwas Unverständliches, und Hella rief als Antwort ihren Namen, den sie mit französischem Akzent auszusprechen versuchte. Als wir die Treppe hinaufstiegen, ging das Licht aus, und wir kicherten wie zwei Kinder. Wir konnten auf keinem der Treppenabsätze den Lichtschalter entdecken – ich weiß nicht, warum uns das so komisch vorkam, aber wir mussten sehr darüber lachen. Fest aneinander geklammert und unablässig kichernd, legten wir den Weg zu Hellas Zimmer im obersten Stockwerk zurück.
»Erzähl mir von Giovanni«, bat sie – viel später, als wir im Bett lagen und zusahen, wie die schwarze Nacht an den weißen Vorhängen zupfte. »Er interessiert mich.«
»Und das sagst du mir gerade jetzt, du taktloses Geschöpf? Was soll das überhaupt heißen, er interessiert dich?«
»Ich möchte wissen, wer er ist, worüber er nachdenkt. Wie er dieses Gesicht bekommen hat.«
»Was ist los mit seinem Gesicht?«
»Nichts. Er hat sogar ein sehr schönes Gesicht. Aber es liegt etwas so … so Altmodisches darin.«
»Schlaf ein«, sagte ich. »Du redest Unsinn.«
»Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Ach, eines Abends in einer Bar. Ich saß da mit ein paar Leuten zusammen, und wir waren alle ziemlich betrunken.«
»War Jacques dabei?«
»Ich weiß nicht mehr. Ja, ich glaube. Er hat wohl Giovanni an demselben Abend kennengelernt wie ich.«
»Weshalb bist du zu ihm gezogen?«
»Das weißt du doch schon. Ich war pleite, und er hatte dieses Zimmer …«
»Aber das ist bestimmt nicht der einzige Grund gewesen.«
»Nun ja«, gab ich zu, »er war mir sympathisch.«
»Und jetzt ist er dir nicht mehr sympathisch?«
»Ich mag Giovanni sehr gern. Er ist ein reizender Mensch, ex hat sich heute Abend nur nicht von seiner besten Seite gezeigt.« Ich lachte. Geborgen im Dunkel der Nacht, ermutigt von Hellas Körper und meinem, beschützt durch den Ton, in dem ich sprach, verspürte ich eine große Erleichterung, als ich hinzufügte: »In gewisser Weise liebe ich ihn. Ja, wirklich.«
»Anscheinend findet er, dass du eine sonderbare Art hast, ihm das zu zeigen.«
»Nun ja«, sagte ich, »diese Leute haben eben einen anderen Lebensstil als wir. Sie sind viel überschwänglicher. Ich kann da einfach nicht mit.«
»Ja«, murmelte sie nachdenklich, »das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Was ist dir aufgefallen?«
»Die jungen Leute hier – es macht ihnen gar nichts aus, vor aller Augen zärtlich miteinander zu sein. Zuerst nimmt man Anstoß daran. Dann gewöhnt man sich und findet es sogar ganz nett.«
»Es ist nett«, warf ich ein.
»Weißt du«, meinte Hella, »wir sollten Giovanni an einem der nächsten Tage zum Abendessen oder so einladen. Denn eigentlich hat er dich ja gerettet.«
»Das ist eine gute Idee. Ich weiß nicht, was er jetzt macht, aber irgendwann wird er schon einen freien Abend haben.«
»Ist er viel mit Jacques zusammen?«
»Nein, das glaube ich nicht. Heute Abend hatte er ihn wohl zufällig getroffen.« Ich schwieg einen Augenblick. »So langsam wird mir klar«, sprach ich dann vorsichtig weiter, »dass Jungen wie Giovanni es schwer haben. Dies ist kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, verstehst du – hier wird für sie keine Vorsorge getroffen. Giovanni ist arm, ich meine, er kommt aus einer armen Familie, und es gibt wirklich nicht viel, was er tun kann. Und bei dem, was er tun kann, ist die Konkurrenz unerhört groß. Außerdem bringt diese Art Arbeit zu wenig ein, als dass man darauf eine Zukunft aufbauen könnte. Deswegen liegen so viele auf der Straße und entwickeln sich zu Gigolos und Gangstern und Gott weiß was.«
»Es ist kalt in der Alten Welt«, sagte sie.
»Ach, in der Neuen ist es auch ganz schön kalt«, erwiderte ich. »Hier ist es nur zeitweise so kalt.«
Sie lachte. »Aber wir – wir haben unsere Liebe, die uns wärmt.«
»Wir sind nicht die Ersten, die das im Bett denken.« Eine Weile blieben wir schweigend und eng umschlungen liegen. »Hella«, flüsterte ich schließlich.
»Ja?«
»Hella, wenn das Geld kommt, packen wir unsere Sachen und gehen fort aus Paris, ja?«
»Fort aus Paris? Wohin denn?«
»Das ist mir egal. Nur fort. Ich habe die Nase voll von Paris und möchte eine Weile anderswo leben. Lass uns in den Süden fahren. Vielleicht scheint da die Sonne.«
»Wollen wir im Süden heiraten?«
»Hella«, sagte ich, »du musst mir glauben, dass ich nichts tun, nichts entscheiden, keinen klaren Gedanken fassen kann, solange wir noch in dieser Stadt sind. Ich weiß nur, dass ich hier nicht heiraten will, dass ich hier nicht einmal über die Hochzeit nachdenken will. Ich möchte fort, das ist alles.«
»Ich wusste nicht, dass dir Paris so verhasst ist.«
»Ich habe monatelang in Giovannis Zimmer gelebt, und ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Ich muss dort heraus. Bitte.«
Sie lachte nervös und rückte ein wenig von mir ab. »Ich verstehe ja, dass du aus Giovannis Zimmer heraus willst, aber musst du deswegen gleich aus Paris heraus?«
Ich seufzte. »Bitte, Hella. Mir fehlt jetzt einfach die Kraft für lange Erklärungen. Vielleicht ist es nur, weil ich Giovanni dauernd in die Arme laufen würde, wenn ich in Paris bliebe, und …« Ich unterbrach mich.
»Warum sollte dich das stören?«
»Nun … ich habe keine Möglichkeit, ihm zu helfen, und ich kann es nicht ertragen, dass er mich anschaut wie … wie einen Amerikaner. Hella, er hält mich für reich.« Ich richtete mich auf und blickte hinaus in die Nacht. Hella beobachtete mich. »Wie gesagt, er ist ein reizender Mensch, aber er ist sehr aufdringlich – und er hat sich’s nun mal in den Kopf gesetzt, dass ich so etwas wie der Allmächtige bin. Und das Zimmer ist so widerlich und dreckig. Und bald kommt der Winter, es wird kalt …« Ich wandte mich Hella zu und nahm sie in die Arme. »Lass uns einfach fortgehen. Ich erkläre dir das alles später … später … wenn wir hier heraus sind.«
Ein langes Schweigen folgte.
»Und du möchtest jetzt gleich abreisen?«, fragte sie.
»Ja. Sowie das Geld kommt, können wir ein Haus mieten.«
»Bist du sicher, dass du nicht in die Staaten zurück willst?«
Ich stöhnte. »Nein, das ist es nicht, was ich meine.«
Sie küsste mich. »Mir ist es gleich, wohin wir gehen. Hauptsache, wir sind zusammen.« Dann schob sie mich von sich. »Es wird bald hell«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass wir ein bisschen schlafen.«
Am nächsten Abend, sehr spät, ging ich zu Giovanni. Ich war mit Hella am Fluss entlanggeschlendert; danach hatte ich mehrere bistros besucht und zuviel getrunken. Als ich ins Zimmer trat, schaltete ich das Licht ein. Giovanni fuhr im Bett hoch und rief mit angstvoller Stimme: »Qui est là? Qui est là?«
Ich stand auf der Schwelle, leicht schwankend, geblendet von dem Licht, und sagte: »Schrei doch nicht so. Ich bin’s.«
Giovanni sah mich an, drehte sich zur Wand und brach in Tränen aus.
Mein Gott, dachte ich und schloss sorgfältig die Tür. Ich nahm die Zigaretten aus meiner Jackentasche und hängte die Jacke über den Stuhl. Mit den Zigaretten in der Hand ging ich zum Bett. Ich beugte mich über Giovanni und murmelte: »Liebling, hör auf zu weinen. Bitte, hör auf zu weinen.«
Giovanni wandte den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren rot und feucht, aber um seine Lippen spielte ein seltsames Lächeln, in dem sich Grausamkeit, Scham und Freude mischten. Er streckte die Arme aus, und ich strich ihm das Haar aus den Augen.
»Du riechst nach Wein«, stellte er fest.
»Ich habe keinen Wein getrunken. Hat dich das erschreckt? Weinst du deshalb?«
»Nein.«
»Was ist los?«
»Warum hast du mich verlassen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Giovanni drehte sich wieder zur Wand. Ich hatte gehofft, geglaubt, dass ich nichts empfinden würde, aber ich fühlte einen Druck in dem verborgensten Winkel meines Herzens, als hätte mich dort ein Finger berührt.
»Du hast dich mir immer entzogen«, stieß Giovanni hervor. »Du bist nie wirklich hier gewesen. Ich will nicht behaupten, dass du mich jemals belogen hast, aber ich weiß, du hast mir nie die Wahrheit gesagt – warum nicht? Manchmal hast du den ganzen Tag hier gesessen, du hast gelesen, ein Fenster geöffnet, etwas gekocht … und ich sah dir zu … und du hast nie etwas gesagt … und wenn du mich ansahst, schienen deine Augen durch mich hindurchzublicken. Den ganzen Tag, während ich arbeitete, um dieses Zimmer für dich zu verschönern.«
Ich schwieg. Ich starrte über Giovannis Kopf hinweg auf die weißen Quadrate der Fenster, die das blasse Mondlicht zurückdrängten.
»Was machst du die ganze Zeit? Und warum sagst du nichts? Du bist kein guter Mensch, hörst du, und manchmal, wenn du mich anlächeltest, habe ich dich gehasst. Ich wollte dich schlagen. Ich wollte dich bluten lassen. Du hast mich angelächelt, wie du jeden angelächelt hast, du hast mir erzählt, was du jedem erzählt hast – und du erzählst nichts als Lügen. Was verbirgst du denn? Glaubst du etwa, ich hätte nicht gewusst, dass du niemand liebtest, wenn ich in deinen Armen lag? Niemand! Oder jeden – aber bestimmt nicht mich. Ich bedeute dir nichts, gar nichts, und du bringst mir nur Erregung, keine Erfüllung.«
Ich suchte nach einer Zigarette. Schließlich fiel mir ein, dass ich das Päckchen in der Hand hielt. Gleich, dachte ich, gleich werde ich etwas sagen. Ich werde etwas sagen und dann für immer aus dem Zimmer gehen.
»Du weißt, dass ich es nicht ertrage, allein zu sein. Ich habe es dir gesagt. Was ist los? Können wir denn kein gemeinsames Leben haben?«
Wieder begann er zu weinen. Ich sah, wie die heißen Tränen aus seinen Augenwinkeln auf das schmutzige Kissen fielen.
»Wenn du mich nicht lieben kannst, werde ich sterben. Bevor du kamst, wollte ich sterben, das habe ich dir oft gesagt. Es ist grausam, in einem Menschen die Lebensfreude zu wecken, nur um seinen Tod noch schrecklicher zu machen.«
Ich wollte so vieles sagen, aber als ich den Mund öffnete, brachte ich keinen Ton heraus. Und doch – ich weiß nicht, was ich für Giovanni empfand. Ich empfand nichts für Giovanni. Ich empfand Angst und Mitleid und ein wachsendes Verlangen.
Giovanni setzte sich im Bett auf. Das Haar hing ihm wieder in die Augen. Er nahm mir die Zigarette aus dem Mund, um sie weiterzurauchen.
»Ich habe noch nie einen Menschen wie dich gekannt. Ich war nie so, bevor du kamst. Hör zu. In Italien hatte ich eine Frau, und sie war sehr gut zu mir. Sie liebte mich, sie liebte mich, und sie sorgte für mich. Wenn ich von der Arbeit kam, aus den Weinbergen, war sie immer da, und es gab nie Schwierigkeiten zwischen uns. Ich war jung damals, ich wusste nichts von den Dingen, die ich später lernte, und auch nichts von den schrecklichen Dingen, die du mich gelehrt hast. Ich dachte, alle Frauen wären wie sie. Ich dachte, alle Männer wären wie ich – ich dachte, ich wäre wie alle anderen Männer. Ich war nicht unglücklich, und ich war nicht einsam – denn sie war ja da –, und ich sehnte mich nicht nach dem Tod. Ich wollte immer in meinem Dorf bleiben und in den Weinbergen arbeiten und unseren Wein trinken und mein Mädchen lieben. Habe ich dir schon von meinem Dorf erzählt …? Es ist sehr kalt und liegt im Süden, auf einem Hügel. Abends, wenn wir an der Mauer entlanggingen, schien die Welt zu versinken, diese fremde, ferne, schmutzige Welt. Ich hatte kein Verlangen, sie zu sehen. Einmal liebten wir uns unter der Mauer.
Ja, ich wollte immer dort bleiben und viel Spaghetti essen und viel Wein trinken und viele Kinder zeugen und dick und fett werden. Du hättest mich nicht gemocht, wenn ich dort geblieben wäre. Ich sehe dich vor mir, wie du in vielen Jahren durch unser Dorf fährst, in dem hässlichen, protzigen amerikanischen Wagen, den du dann bestimmt hast. Ich sehe, wie du mich anglotzt, uns alle anglotzt, wie du unseren Wein trinkst und auf uns scheißt – alles mit diesem leeren Lächeln, das Amerikaner immer haben und das du immer hast. Und dann fährst du mit lautem Motorengebrüll und mit quietschenden Reifen weiter und erzählst allen Amerikanern, die du triffst, dass sie sich unbedingt unser Dorf ansehen müssen, weil es so malerisch ist. Nur von dem Leben dort, wie es zerrinnt und zerbirst, schön ist und schrecklich, von dem wirst du keine Ahnung haben, ebenso wenig wie du jetzt etwas von meinem Leben ahnst. Aber ich glaube, ich wäre glücklicher dort und würde mir nichts aus eurem Lächeln machen. Ich hätte mein Leben. Ich habe viele Nächte hier gelegen und auf dich gewartet und an mein Dorf gedacht, das fern, ach so fern ist. Es ist furchtbar, in dieser kalten Stadt zu sein, unter Menschen, die ich hasse, hier, wo es kalt und feucht ist, niemals trocken und warm, hier, wo Giovanni niemand hat, mit dem er sprechen kann, niemand, der zu ihm gehört, und wo er einen Geliebten gefunden hat, der weder Mann noch Frau ist, nichts, was ich verstehen oder besitzen kann. Nicht wahr, du weißt nicht, wie es ist, wenn man nachts wach liegt und auf jemand wartet? Oh, ich bin sicher, dass du es nicht weißt. Du weißt überhaupt nichts. Du weißt nichts von den schrecklichen Dingen – deshalb lächelst du und tänzelst herum und denkst, dass die Komödie, die du diesem kurzhaarigen, mondgesichtigen kleinen Mädchen vorspielst, Liebe sei.«
Giovanni ließ die Zigarette auf den Fußboden fallen, wo sie langsam verglimmte. Er brach von Neuem in Tränen aus. Ich blickte auf das Zimmer und dachte: Ich kann es nicht ertragen.
»Ich habe mein Dorf eines wilden, süßen Tages verlassen. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Es war mein Todestag – ich wollte, es wäre mein Todestag gewesen. Ich erinnere mich, dass mir die Sonne heiß auf den Nacken brannte, als ich die Straße entlangwanderte, die von meinem Dorf fortführte, und die Straße stieg an, und ich ging vornübergebeugt. Ich erinnere mich an alles, an den braunen Staub unter meinen Füßen, an die Steinchen, die vor mir hersprangen, an die kleinen Bäume am Straßenrand, an die niedrigen Häuser, deren Farben in der Sonne leuchteten. Ich erinnere mich, dass ich weinte, aber nicht so wie jetzt, viel schlimmer, viel schrecklicher – seit ich mit dir zusammen bin, kann ich nicht einmal mehr weinen, wie ich damals weinte. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sterben wollte. Ich hatte gerade mein Kind auf dem Kirchhof begraben, wo mein Vater und meine Vorväter lagen, und ich hatte mein Mädchen jammernd und klagend im Haus meiner Mutter zurückgelassen. Ja, ich hatte ein Kind gezeugt, aber es wurde tot geboren. Es war grau und verkrampft, als ich es sah, und es gab keinen Laut von sich – wir schlugen es aufs Gesäß und besprengten es mit Weihwasser und beteten, aber es gab keinen Laut von sich, es war tot. Es war ein kleiner Junge, es wäre ein schöner, stattlicher Mann geworden, vielleicht gerade der Typ, auf den ihr so scharf seid, von dem ihr Tag und Nacht träumt, du und Jacques und Guillaume und eure ganze widerliche Bande – aber es war tot, es war mein Kind, wir hatten es gezeugt, mein Mädchen und ich, und es war tot. Als ich sah, dass es tot war, nahm ich unser Kruzifix von der Wand, spie es an und warf es auf den Boden, und meine Mutter und mein Mädchen schrien und schluchzten, und ich ging hinaus. Am nächsten Tag begruben wir das Kind, und dann verließ ich mein Dorf. Ich kam in diese Stadt, wo Gott mich für all meine Sünden bestraft hat und dafür, dass ich seinen heiligen Sohn angespieen habe, und wo ich bestimmt sterben werde. Mein Dorf sehe ich niemals wieder, das weiß ich.«
Ich stand auf. Mir schwindelte der Kopf. Im Mund schmeckte ich Salz. Das Zimmer schwankte vor meinen Augen, wie es geschwankt hatte, als ich es zum ersten Mal betrat, damals, vor Jahrzehnten, Jahrhunderten. Hinter mir hörte ich Giovanni stöhnen: »Chéri. Mon très cher. Verlass mich nicht. Bitte, verlass mich nicht.« Ich drehte mich um und nahm ihn in die Arme, den Blick über seinen Kopf hinweg auf die Wand gerichtet, auf das Liebespaar an der Wand, das zwischen Rosen promenierte. Er schluchzte, als wollte ihm das Herz brechen, wie man so sagt. Mein Herz aber, das fühlte ich, war schon gebrochen, denn sonst hätte ich unmöglich so kalt, so völlig unbewegt und unbeteiligt sein können.
Dennoch musste ich sprechen.
»Giovanni«, sagte ich. »Giovanni.«
Er wurde ruhiger, er hörte zu. Unwillkürlich und nicht zum ersten Mal bediente ich mich aus Verzweiflung der Heuchelei.
»Giovanni«, sagte ich, »du hast immer gewusst, dass ich eines Tages fortgehen werde. Du hast gewusst, dass ich auf die Rückkehr meiner Verlobten wartete.«
»Du verlässt mich nicht ihretwegen«, erwiderte er. »Du verlässt mich aus einem anderen Grund. Du lügst so viel, dass du schon all deine Lügen für Wahrheit hältst. Aber ich, ich bin bei klarem Verstand. Du verlässt mich nicht wegen einer Frau. Wenn du dieses kleine Mädchen wirklich liebtest, wärst du nicht so grausam zu mir gewesen.«
»Sie ist kein kleines Mädchen«, widersprach ich. »Sie ist eine Frau, und ob du es glaubst oder nicht, ich liebe sie …«.
»Nein«, rief Giovanni und setzte sich auf, »du liebst niemand! Du hast noch nie jemand geliebt, und du wirst auch nie jemand lieben! Du liebst deine Reinheit, du liebst deinen Spiegel – du bist genau wie eine kleine Jungfrau, du läufst mit vorgehaltenen Händen herum, als hättest du irgendeine Kostbarkeit – Gold, Silber, Rubine, vielleicht Diamanten – zwischen den Beinen! Du wirst es niemand schenken, es nie von jemand berühren lassen – sei es Mann oder Frau. Du willst sauber bleiben. Du glaubst, du seist mit Seife bedeckt hierhergekommen, und du glaubst, du würdest mit Seife bedeckt wieder fortgehen – und du willst in der Zwischenzeit nicht stinken, nicht einmal für fünf Minuten.« Er packte mich am Kragen, grob und zugleich zärtlich, weich und zugleich eisenhart. Speichel sprühte ihm von den Lippen, und seine Augen waren voller Tränen, aber die Knochen seines Gesichts traten hervor, und die Muskeln schwollen ihm an den Armen und am Hals. »Du willst Giovanni verlassen, weil er dich stinken lässt. Du möchtest Giovanni verachten, weil er nicht zurückschreckt vor dem Gestank der Liebe. Du möchtest ihn im Namen all deiner heuchlerischen kleinen Moralgesetze töten. Und du – du bist unmoralisch. Du bist der unmoralischste Mensch, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Sieh doch, sieh, was du mir angetan hast! Glaubst du, dass du mir das hättest antun können, wenn ich dich nicht liebte? Ist es das, was du der Liebe antun musst?«
»Giovanni, hör auf! Um Gottes willen, hör auf! Was in aller Welt soll ich denn tun? Ich kann nichts dafür, dass ich so fühle.«
»Weißt du, wie du fühlst? Fühlst du? Was fühlst du?«
»Jetzt fühle ich nichts«, sagte ich. »Gar nichts. Ich möchte aus diesem Zimmer heraus, ich möchte fort von dir, ich möchte diesen schrecklichen Auftritt beenden.«
»Du möchtest fort von mir.« Er lachte. Der Blick, mit dem er mich ansah, war so bodenlos bitter, dass er fast gütig wirkte. »Endlich mal ein ehrliches Wort. Und weißt du auch, warum du von mir fort möchtest?«
Etwas in mir verschloss sich. »Ich … ich kann kein Leben mit dir führen.«
»Aber du kannst ein Leben mit Hella führen, wie? Mit diesem mondgesichtigen kleinen Mädchen, das sich einbildet, die Babys kämen aus Kohlköpfen. Oder aus Kühlschränken – ich bin nicht vertraut mit der Mythologie eures Landes. Mit ihr kannst du ein Leben führen?«
»Ja«, antwortete ich müde, »mit ihr kann ich ein Leben führen.« Ich stand auf. Ich zitterte. »Was für ein Leben können wir in diesem Zimmer führen – in diesem schmutzigen kleinen Zimmer? Überhaupt, was für ein Leben können zwei Männer zusammen führen? All diese Liebe, von der du redest – was steckt denn anderes dahinter als dein Wunsch, dich stark zu fühlen? Du möchtest der große Arbeiter sein, der das Geld nach Hause bringt, und du möchtest, dass ich hier auf dich warte, dass ich abwasche und das Essen koche und dieses elende Loch von einem Zimmer saubermache, dass ich dich küsse, wenn du zur Tür hereinkommst, und nachts mit dir schlafe und dein kleines Mädchen bin. Das ist es, was du möchtest. Das ist es, was du meinst, und das ist alles, was du meinst, wenn du von deiner Liebe zu mir redest. Du sagst, dass ich dich töten möchte. Was, glaubst du, hast du mir angetan?«
»Ich versuche nicht, dich zu einem kleinen Mädchen zu machen. Wenn ich ein kleines Mädchen haben wollte, würde ich mit einem kleinen Mädchen leben.«
»Und warum tust du’s nicht? Weil du Angst hast, nicht wahr? Du hast nicht den Mumm, dich mit einer Frau einzulassen, wie du’s gern möchtest, und deshalb nimmst du mich.«
Er war kreidebleich. »Du erzählst mir in einem fort, was ich will. Ich habe nur davon gesprochen, wen ich will.«
»Aber ich bin ein Mann«, rief ich. »Ein Mann! Was kann denn zwischen uns sein?«
»Du weißt sehr gut, was zwischen uns sein kann«, sagte Giovanni langsam. »Aus diesem Grunde verlässt du mich ja.« Er stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. »Bon.« Er schlug mit der Faust auf das Fensterbrett. »Wenn ich dich dazu bringen könnte, hierzubleiben, würde ich’s tun«, schrie er unvermittelt. »Alles würde ich tun, dich schlagen, dich anketten, dich aushungern, wenn … ja, wenn ich dich dadurch zwingen könnte, bei mir zu bleiben.« Der Wind zerrte an seinem Haar, als er sich umwandte. Er drohte mir scherzhaft mit dem Finger – eine groteske Gebärde. »Eines Tages wirst du vielleicht wünschen, ich hätte es getan.«
»Es ist kalt«, murmelte ich. »Mach das Fenster zu.«
Er lächelte. »Jetzt, wo du weggehst, willst du die Fenster geschlossen haben. Bien sûr.« Er schloss das Fenster. Wir standen uns nun in der Mitte des Zimmers gegenüber. »Lass uns nicht mehr streiten«, sagte er. »Das nützt nichts, denn damit kann ich dich auch nicht halten. In Frankreich gibt es die sogenannte séparation de corps – keine Scheidung, verstehst du, nur eine Trennung. Gut. Wir werden uns trennen. Aber ich weiß, dass du zu mir gehörst. Ich glaube, ich muss glauben, dass du zurückkommst.«
»Nein, Giovanni, ich komme nicht zurück. Du weißt, dass ich nicht zurückkomme.«
Er winkte ab. »Ich sagte, wir wollten nicht mehr streiten. Die Amerikaner haben kein Empfinden für das Schicksal, überhaupt keines. Sie erkennen das Schicksal nicht, wenn sie ihm begegnen.« Er holte eine Flasche unter dem Waschbecken hervor. »Das ist Cognac. Ein Geschenk von Jacques. Lass uns etwas trinken – einen für unterwegs, wie man bei euch wohl sagt.«
Er füllte sorgfältig zwei Gläser. Ich beobachtete ihn und sah, dass er zitterte – vor Wut, vor Schmerz oder vor beidem.
Er reichte mir mein Glas.
»A la tienne«, sagte er.
»A la tienne.«
Wir tranken. Eine Frage drängte sich mir auf, und ob ich wollte oder nicht, ich musste sie stellen. »Was wirst du jetzt machen, Giovanni?«
»Oh«, antwortete er, »ich habe ja Freunde. Da findet sich schon etwas für mich. Heute Abend zum Beispiel esse ich bei Jacques. Und morgen Abend sicherlich auch. Er mag mich sehr gern. Dich hält er übrigens für ein Scheusal.«
»Giovanni«, sagte ich hilflos, »sei vorsichtig. Bitte, sei vorsichtig.«
Er lächelte ironisch. »Danke. Diesen Rat hättest du mir geben sollen, als wir uns kennenlernten.«
Das war das letzte Gespräch, das wir miteinander hatten. Ich blieb bis zum Morgen bei ihm, dann packte ich meine Sachen, um sie in Hellas Hotel zu bringen.
Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem er mich beim Abschied ansah. Das Morgenlicht füllte den Raum und erinnerte mich an so viele Morgen, besonders an den ersten, den ich hier erlebt hatte. Giovanni saß nackt auf dem Bettrand und hielt ein Glas Cognac in den Händen. Sein Körper war sehr weiß, das Gesicht feucht und grau. Ich stand mit meinem Koffer an der Tür, die Hand auf der Klinke, und sah ihn an. Ich hätte ihn so gern um Verzeihung gebeten. Aber das wäre ein zu großes Bekenntnis gewesen; jede Nachgiebigkeit in diesem Moment hätte mich für immer mit ihm in jenes Zimmer gesperrt. Und in einer Weise wollte ich das, genau das. Ein Zittern durchlief mich, wie der Beginn eines Erdbebens, und eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, in seinen Augen zu ertrinken. Sein Körper, der mir so vertraut geworden war, schimmerte in dem Licht, elektrisierte und verdichtete die Luft zwischen uns. Dann sprang etwas in meinem Gehirn auf, eine geheime Tür öffnete sich lautlos, und ich erschrak: Unvermutet war mir der Gedanke gekommen, dass ich, indem ich vor seinem Körper floh, die Macht seines Körpers über mich bestätigte und verewigte. Wie ein Brandmal prägte sich sein Körper in meine Gedanken, meine Träume ein. Und währenddessen wandte er keinen Blick von mir. Für ihn schien mein Gesicht durchsichtiger zu sein als ein Schaufenster. Er lächelte nicht; seine Miene war weder ernst noch gekränkt, noch traurig, sie war unbewegt. Er wartete wohl darauf, dass ich den Schritt zurück täte und ihn wieder in die Arme nähme – er wartete, wie man an einem Sterbebett auf das Wunder wartet, an dem zu zweifeln man nicht wagt und das doch nicht geschehen wird. Ich musste hier heraus, denn mein Gesicht verriet zu viel von dem Kampf, der in meinem Körper tobte. Meine Füße weigerten sich, mich noch einmal zu ihm zu tragen. Der Wind meines Lebens blies mich fort.
»Au revoir, Giovanni.«
»Au revoir, mon cher.«
Ich wandte mich ab und schloss die Tür auf. Mir war, als wehe der müde Hauch seines Atems durch mein Haar, streiche über meine Stirn wie der Wind des Wahnsinns. Ich ging den kurzen Korridor entlang und erwartete jeden Augenblick, seine Stimme hinter mir zu hören, ich ging durch den Hausflur, vorbei an der Loge der noch schlafenden concierge, ich trat hinaus auf die morgendliche Straße. Und mit jedem Schritt wurde es unmöglicher für mich, umzukehren. Mein Geist war leer – oder er schien eine riesige anästhesierte Wunde geworden zu sein. Ich dachte nur: Eines Tages werde ich weinen. Irgendwann werde ich anfangen zu weinen.
An der Ecke, wo die Morgensonne einen matten Lichtfleck auf das Pflaster warf, blieb ich stehen und suchte in meiner Brieftasche nach einer Busfahrkarte. Ich fand dreihundert Francs, die ich mir von Hella geliehen hatte, meine carte d’identité, meine Adresse in den Vereinigten Staaten und Papiere über Papiere: Blätter, Zettel, Karten, Fotografien. Jedes Stück Papier war mit Adressen bekritzelt, mit Telefonnummern, mit Notizen über Verabredungen, die ich getroffen und eingehalten oder auch nicht eingehalten hatte, ich stieß auf Leute, denen ich begegnet war und an die ich mich erinnerte oder auch nicht erinnerte, auf Hoffnungen, die sich wahrscheinlich nicht erfüllt hatten – nein, bestimmt nicht erfüllt hatten, denn sonst hätte ich nicht an jener Straßenecke gestanden.
Da auch vier Busfahrkarten aus meiner Brieftasche zum Vorschein kamen, ging ich zum arrêt. Ein Polizist wartete dort; das blaue Cape hing ihm auf dem Rücken, sein weißer Stab glänzte. Er sah mich an, lächelte und rief: »Ça va?«
»Oui, merci. Und selbst?«
»Toujours. Schöner Tag heute, nicht wahr?«
»Ja.« Meine Stimme zitterte. »Es wird Herbst.«
»C’est ça.« Damit wandte er sich wieder der Betrachtung des Boulevards zu. Ich glättete mir das Haar mit der Hand und kam mir töricht vor, weil ich mich nicht besser beherrschen konnte. Eine Frau ging vorbei; sie hatte auf dem Markt eingekauft, und ihr Netz war so vollgepackt, dass die Literflasche Rotwein, die obenauf lag, herauszurutschen drohte. Die Frau war nicht mehr jung, aber sie hatte ein klares, kühnes Gesicht, einen kräftigen, festen Körper und derbe, breite Hände. Der Polizist rief ihr etwas zu, und sie rief etwas zurück – irgendeine scherzhafte Zweideutigkeit. Der Polizist lachte; um mich kümmerte er sich nicht mehr. Ich folgte der Frau mit den Blicken – sie geht nach Hause, dachte ich, zu ihrem Mann in seinem schmutzigen blauen Arbeitsanzug und zu ihren Kindern. Nun hatte sie die Ecke erreicht, auf die das Sonnenlicht fiel, und überquerte den Fahrdamm. Der Bus kam. Der Polizist und ich, die Einzigen, die warteten, stiegen ein – er blieb auf der Plattform stehen, während ich weiter vorn Platz nahm. Er war auch nicht mehr jung, aber er strahlte eine bewundernswerte Lebensfreude aus. Ich saß am Fenster, schaute hinaus, und die Straßen rollten vorbei. So hatte ich vor Ewigkeiten in einer anderen Stadt, in einem anderen Bus am Fenster gesessen und hinausgeschaut, hatte für jedes flüchtig erspähte Gesicht, das meine Aufmerksamkeit fesselte, ein Leben, ein Schicksal erfunden, in dem ich eine Rolle spielte. Ich hatte darauf gewartet, ein Raunen zu hören, eine Stimme, die mir Erlösung versprach. Aber an diesem Morgen schien mir, dass mein früheres Selbst den gefährlichsten aller Träume geträumt hatte.
Von nun an verging die Zeit wie im Fluge. Über Nacht war es kalt geworden. Die Tausende von Touristen verschwanden, hinweggezaubert von Fahrplänen. In den Parks ging man durch einen Blätterregen, und das welke Laub seufzte und raschelte, wenn die Füße es aufwirbelten. Das Mauerwerk der Stadt, das vielfarbig geleuchtet hatte, verblasste langsam zu grauem Stein. Der Stein war hart, das sah man. Am Fluss ließen sich immer weniger Angler blicken, bis eines Tages die Ufer leer waren. Die Körper der jungen Männer und Mädchen nahmen durch dicke Unterwäsche, durch Pullover und Schals, durch Mäntel und Capes an Umfang zu. Alte Männer schienen älter, alte Frauen schwerfälliger zu werden. Die Farben des Flusses verblichen, der Regen setzte ein, das Wasser der Seine begann zu steigen. Die Sonne musste sich gewaltig anstrengen, um Paris jeden Tag für ein paar Stunden zu erhellen, und es war klar, dass sie ihre Bemühungen bald aufgeben würde.
»Aber im Süden ist es bestimmt warm«, sagte ich.
Das Geld war gekommen. Hella und ich beschäftigten uns damit, ein Haus in Eze, in Cagnes-sur-Mer, in Vence, in Monte Carlo, in Antibes oder Grasse ausfindig zu machen. Im quartier waren wir kaum noch zu sehen. Wir saßen in ihrem Zimmer, wir gingen oft miteinander ins Bett, wir sahen uns Filme an, und wir verbrachten lange, meist recht melancholische Abende in irgendwelchen Restaurants auf dem rechten Ufer. Es ist schwer zu sagen, was diese Melancholie hervorrief, die sich wie der Schatten eines riesigen, lauernden Raubvogels über uns legte. Ich glaube nicht, dass Hella unglücklich war, denn ich hatte noch nie so an ihr gehangen, wie ich in dieser Zeit an ihr hing. Aber vielleicht spürte sie mitunter, dass meine Anhänglichkeit zu betont war, als dass sie darauf hätte bauen können, und sicherlich zu betont, um von Dauer zu sein.
Gelegentlich lief mir Giovanni über den Weg. Ich fürchtete mich vor diesen Begegnungen, nicht nur, weil er fast immer mit Jacques zusammen war, sondern auch, weil mir sein Aussehen nicht gefiel. Er war zwar besser gekleidet als früher, aber sein Blick hatte etwas Lasterhaftes und zugleich Bösartiges, das mir ebenso unerträglich war wie seine Art, über Jacques’ Witze zu kichern, oder wie eine gewisse Maniriertheit, die Maniriertheit eines Schwulen, die er manchmal zur Schau trug. Ich wollte nicht wissen, wie er mit Jacques stand, doch der Tag kam, an dem Jacques’ boshaft triumphierende Augen es mir offenbarten. Bei dieser kurzen Begegnung im abendlichen Dämmerlicht mitten im Menschengewühl des Boulevards, benahm sich Giovanni überaus albern und mädchenhaft, und er war sehr betrunken. Mir kam es vor, als wollte er mich zwingen, aus dem Becher seiner Erniedrigung zu trinken. Und ich hasste ihn dafür.
Das nächste Mal traf ich ihn an einem Morgen. Er kaufte gerade eine Zeitung, blickte mir frech in die Augen und wandte sich dann ab. Ich sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwand. Zu Hause erzählte ich Hella davon und versuchte zu lachen.
Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass er nicht mehr mit Jacques herumzog, sondern mit den Strichjungen des quartiers, die er einmal als lamentable bezeichnet hatte. Er war nicht mehr so gut gekleidet, er verkam zusehends. Sein besonderer Freund schien jener lang aufgeschossene, pockennarbige Bursche namens Yves zu sein, dem wir an unserem ersten Morgen begegnet waren, als wir in der Nähe der Hallen frühstückten. Er hatte, wie ich mich erinnerte, bei unserem Eintritt an einem Spielautomaten gestanden und sich später mit Jacques unterhalten. Eines Abends – ich war ziemlich betrunken und schlenderte ziellos durch die Straßen – stieß ich auf diesen Burschen und lud ihn zu einem Drink ein. Obgleich ich keine Fragen stellte, erfuhr ich von ihm, dass Giovanni nicht mehr mit Jacques zusammen war, aber davon gesprochen hatte, wieder in Guillaumes Bar arbeiten zu wollen. Ungefähr eine Woche später wurde Guillaume in seiner Privatwohnung über der Bar tot aufgefunden – erwürgt mit der Kordel seines Morgenrocks.
5
Es war ein schrecklicher Skandal. Wenn Sie damals in Paris waren, haben Sie sicherlich davon gehört und das Bild gesehen, das die Zeitungen gleich nach Giovannis Verhaftung von ihm brachten. Leitartikel befassten sich mit dem Mord, man hielt Reden darüber, und viele Bars, in denen, wie bei Guillaume, nur Pervertierte verkehrten, wurden geschlossen. (Aber sie blieben nicht lange geschlossen.) Polizisten in Zivil durchkämmten das quartier, überprüften die Ausweise und holten die Homosexuellen aus den Lokalen heraus. Nach Giovanni suchten sie vergebens. Alles, besonders natürlich sein Verschwinden, deutete darauf hin, dass er der Täter war. Ein solcher Skandal droht immer die Grundfesten des Staates zu erschüttern. Es ist daher wichtig, so schnell wie möglich, bevor noch sein Echo verhallt ist, eine Erklärung, eine Lösung und ein Opfer zu finden. Die meisten Männer, die man in Zusammenhang mit dem Verbrechen festnahm, wurden nicht wegen Mordverdachts festgenommen. Man nahm sie fest, weil man sie verdächtigte, das zu haben, was die Franzosen mit einem hart an Zynismus grenzenden Zartgefühl les goûts particuliers nennen. Diese ›Neigungen‹ sind zwar in Frankreich nicht strafbar, werden aber trotzdem von der Mehrheit der Bevölkerung aufs Äußerste missbilligt – wie ja auch die Franzosen im Allgemeinen ihren Herrschern und den ›Bessergestellten‹ mit eiserner Ablehnung begegnen. Als Guillaumes Leiche entdeckt wurde, waren es nicht nur die Strichjungen, die Angst bekamen; viel ängstlicher noch als sie waren die Männer, die durch die Straßen streiften, um sie zu kaufen, und deren Laufbahnen, Stellungen und Pläne zweifellos an einer so fragwürdigen Berühmtheit gescheitert wären. Familienväter, Söhne aus gutem Hause und lüsterne Abenteurer aus Belleville legten den größten Wert darauf, dass der Fall bald aufgeklärt wurde, damit alles sich wieder normalisierte und der gefürchtete Peitschenriemen der öffentlichen Moral nicht ihren Rücken traf. Solange die Ermittlungen noch in Gang waren, wussten diese Männer nicht recht, was sie tun sollten: mit lauter Stimme beteuern, dass sie Märtyrer seien, oder bleiben, was sie im Grunde ihres Herzens waren – einfache Bürger, erbittert über die Gewalttat und von dem Wunsch beseelt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan und dem Staatswohl gedient werde.
Es traf sich daher gut, dass Giovanni Ausländer war. Man konnte an ein stillschweigendes Übereinkommen glauben, wenn man sah, wie die Presse mit jedem Tag, den er auf freiem Fuß war, gehässiger über ihn und freundlicher über Guillaume sprach. Jeder Bericht wies darauf hin, dass mit Guillaume einer der ältesten Namen Frankreichs ausstarb; Sonntagsbeilagen beschäftigten sich mit der Geschichte seiner Familie; seine Mutter, eine alte Aristokratin, die übrigens das Ende des Prozesses gegen Giovanni nicht mehr erlebte, rühmte die hervorragenden Eigenschaften ihres Sohnes und schob es auf den immer weiter um sich greifenden Sittenverfall, dass ein solches Verbrechen so lange ungesühnt bleiben konnte. Dieser Meinung schloss sich die Bevölkerung natürlich nur zu gern an. Vielleicht ist es gar nicht so unglaublich, wie es mir zuerst erschien, dass Guillaumes Name auf fantastische Weise mit der französischen Geschichte, der französischen Ehre und dem französischen Ruhm verbunden wurde und schließlich fast als Symbol für französische Männlichkeit galt.
»Aber hör mal«, sagte ich zu Hella, »er war doch nur ein widerlicher alter Homo. Das ist alles, was er war.«
»Ja, woher sollen denn die Artikelschreiber und die Zeitungsleser das wissen? Wenn er das war, hat er es bestimmt nicht ausposaunt – und der Kreis, in dem er verkehrte, dürfte ziemlich klein gewesen sein.«
»Ach was, so etwas sickert doch durch. Von den Leuten, die diesen Quatsch schreiben, wissen bestimmt einige Bescheid.«
»Wahrscheinlich halten sie es nicht für angebracht, einen Toten zu diffamieren«, erwiderte Hella ruhig.
»Aber ist es nicht angebracht, die Wahrheit zu sagen?«
»Sie sagen die Wahrheit. Er stammt aus einer sehr bedeutenden Familie, und er ist ermordet worden. Ich weiß, was du meinst. Es gibt eine andere Wahrheit, die sie nicht sagen. Aber das tun Zeitungen nie, dafür sind sie nicht da.«
Ich seufzte. »Armer, armer Giovanni.«
»Glaubst du, dass er es getan hat?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls spricht alles, was man herausgefunden hat, gegen ihn. Er war in jener Nacht dort. Man hat beobachtet, dass er hinaufging, und niemand erinnert sich, ihn danach noch einmal in der Bar gesehen zu haben.«
»Arbeitete er in jener Nacht dort?«
»Nein. Er war als Gast gekommen. Anscheinend hatten Guillaume und er sich wieder vertragen.«
»Du hast dir wirklich ein paar eigenartige Freunde zugelegt, während ich in Spanien war.«
»Du würdest sie gewiss nicht so eigenartig finden, wenn nicht einer von ihnen ermordet worden wäre. Außerdem war keiner von ihnen mein Freund – bis auf Giovanni.«
»Du hast mit ihm zusammengelebt. Eigentlich müsstest du wissen, ob er fähig ist, einen Mord zu begehen.«
»Wieso denn? Du lebst mit mir zusammen. Bin ich fähig, einen Mord zu begehen?«
»Du? Natürlich nicht.«
»Woher weißt du das? Du kannst es nicht wissen. Woher weißt du, dass ich das bin, was du in mir siehst?«
»Weil –«, sie beugte sich vor und küsste mich – »weil ich dich liebe.«
»Ah! Ich habe Giovanni geliebt …«
»Nicht so, wie ich dich liebe«, fiel mir Hella ins Wort.
»Ich könnte sehr gut ohne dein Wissen einen Mord begangen haben. Wer sagt dir, dass ich kein Mörder bin?«
»Warum regst du dich denn so auf?«
»Würdest du dich etwa nicht aufregen, wenn ein Freund von dir wegen Mordes angeklagt wäre und sich irgendwo versteckt hielte? Warum wunderst du dich, dass ich aufgeregt bin? Was soll ich deiner Meinung nach tun? Weihnachtslieder singen?«
»Schrei mich nicht an. Ich habe ja nicht geahnt, dass er dir so viel bedeutet.«
Ich zwang mich zur Ruhe. »Er war ein netter Mensch, und es bedrückt mich, dass er in Schwierigkeiten ist.«
Sie trat auf mich zu und legte die Hand leicht auf meinen Arm. »Wir werden diese Stadt bald verlassen, David. Dann brauchst du dich nicht mehr damit zu quälen. Es kommt nun mal vor, dass Leute in Schwierigkeiten geraten. Aber tu nicht so, als wäre es irgendwie deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld, David.«
»Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist!«, rief ich, doch meine Stimme und Hellas Augen ließen mich verstummen. Ich merkte mit Entsetzen, dass ich den Tränen nahe war.
Giovanni blieb fast eine Woche verschwunden. Jeden Abend, wenn ich an Hellas Fenster stand und die Nacht über Paris kriechen sah, dachte ich an Giovanni, der irgendwo dort draußen, vielleicht unter einer der Brücken lag, ratlos, verängstigt und frierend. Ich fragte mich, ob er vielleicht Freunde gefunden hatte, bei denen er sich verbarg. Es war erstaunlich, dass er in einer so kleinen und so von Polizisten durchsetzten Stadt so lange unauffindbar bleiben konnte. Ich fürchtete manchmal, er werde zu mir kommen – um bei mir Hilfe zu suchen oder um mich zu töten. Aber vermutlich hielt er es für unter seiner Würde, mich um Hilfe zu bitten, und zweifellos hatte er inzwischen erkannt, dass ich nicht wert war, getötet zu werden. Ich nahm meine Zuflucht zu Hella. Jede Nacht versuchte ich, meine Schuld und meine Angst in ihr zu begraben. Der Drang, etwas zu tun, brannte wie ein Fieber in mir, und sie zu lieben war das Einzige, was ich tun konnte.
Schließlich wurde Giovanni eines frühen Morgens in einem Lastkahn entdeckt, der am Flussufer vertäut war. Zeitungsgerüchten zufolge war er bereits in Argentinien untergetaucht, und das Erstaunen war groß, als sich herausstellte, dass er nur bis zur Seine gekommen war. Der Mangel an ›Schneid‹, den man in seinem Verhalten erblickte, trug nicht dazu bei, ihm die Gunst der Öffentlichkeit zu gewinnen. Er war ein Verbrecher von der langweiligsten Sorte, ein Stümper. Niemand zweifelte daran, dass der Mord aus Habgier begangen worden war, denn Giovanni hatte alles Geld genommen, das Guillaume bei sich trug. Die Registrierkasse aber hatte er nicht angerührt, und er war offenbar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Guillaume eine Brieftasche mit ungefähr hunderttausend Francs in der hintersten Ecke des Kleiderschranks versteckt haben könnte. Das gestohlene Geld fand sich in seinen Taschen, als er verhaftet wurde; er hatte es nicht ausgeben können. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Sein Foto war in allen Zeitungskiosken ausgehängt. Er sah jung darauf aus, elend, verängstigt und sehr bestürzt, als könnte er nicht glauben, dass es mit ihm, Giovanni, so weit gekommen war und dass er damit das Ende seines kurzen Weges erreicht hatte: das Fallbeil. Er schien schon jetzt zurückzuschrecken, sich aufzubäumen gegen diese eisige Vision. Und wieder hatte ich das Gefühl, sein Blick flehe mich um Hilfe an. Die Zeitungen schilderten der erbarmungslosen Welt, wie Giovanni bereute, nach Gnade schrie, Gott anrief und weinend versicherte, dass er es nicht habe tun wollen. Und sie schilderten uns auch mit pikanten Einzelheiten, wie er es getan hatte – aber nicht, warum. Das Warum war zu schwarz, als dass Zeitungspapier es hätte wiedergeben und zu tief, als dass Giovanni es hätte offenbaren können.
Ich war vielleicht der einzige Mensch in Paris, der wusste, dass er es nicht hatte tun wollen, und jene Einzelheiten, in denen die Zeitungen schwelgten, verrieten mir auch, warum er es getan hatte. Ich erinnerte mich an jenen Abend, als ich ihn unerwartet zu Hause antraf und er mir von dem Auftritt mit Guillaume erzählte. Ich hörte wieder seine Stimme, sah seine heftigen Bewegungen und seine Tränen. Ich kannte seine prahlerische Tapferkeit – er trat so gern als débrouillard auf, der jedem Herausforderer die Stirn bietet –, und ich stellte mir vor, wie er in Guillaumes Bar stolziert war. Er spürte wohl, dass nach dem Zusammenleben mit Jacques seine Lehrjahre vorbei waren, dass die Liebe vorbei war und dass er mit Guillaume machen konnte, was er wollte. Und hätte Giovanni über seinen Schatten springen können, so wäre es ihm tatsächlich ein Leichtes gewesen, Guillaume zu beherrschen. Guillaume wusste natürlich – Jacques hatte es ihm zweifellos erzählt, dass Giovanni nicht mehr mit dem jeune américain zusammen war; vielleicht hatte Guillaume sogar unter dem Schutz seines Gefolges eine oder zwei Partys in Jacques’ Hause besucht. Und er wusste natürlich, wie auch sein ganzer Kreis es wusste, dass sich Giovanni, nunmehr partnerlos, also ungebunden, in zügellose Ausschweifungen stürzen würde – jedem von ihnen war es so ergangen. Es muss ein Triumph für alle gewesen sein, als Giovanni allein hereinkam.
Ich glaubte die Unterhaltung zu hören:
»Alors, tu es revenu?« Dies von Guillaume, mit einem verführerischen, höhnischen, vielsagenden Blick.
Giovanni begreift, dass der andere nicht an seinen letzten Wutausbruch erinnert werden will, dass er sich um freundschaftliches Entgegenkommen bemüht. Aber Guillaumes Gesicht, seine Stimme, sein Benehmen, sein Geruch sind für ihn wie ein Schlag; der Guillaume, der vor ihm steht, ist wirklich, ist kein in Gedanken heraufbeschworenes Bild. Bei dem Lächeln, mit dem er Guillaume antwortet, wird ihm speiübel. Aber Guillaume ahnt das natürlich nicht und bietet Giovanni einen Drink an.
»Ich wollte nur fragen, ob du vielleicht einen Barmann brauchst«, sagt Giovanni.
»Was denn, suchst du Arbeit? Ich dachte, dein Amerikaner hätte dir inzwischen eine Ölquelle in Texas geschenkt.«
»Nein. Mein Amerikaner –«, er macht eine Handbewegung – »ist verduftet.« Sie lachen beide.
»Die Amerikaner verduften immer. Sie sind unzuverlässig«, erklärt Guillaume.
»C’est vrai.«
Giovanni trinkt aus. Er blickt Guillaume nicht an. Ihm ist scheußlich zumute, und er pfeift, vielleicht unbewusst, vor sich hin. Guillaume kann seine Augen und seine Hände kaum noch im Zaum halten.
»Komm später wieder, wenn hier Schluss ist«, sagt er. »Dann reden wir über die Stellung.«
Giovanni nickt und geht. Ich sehe ihn vor mir: Er setzt sich mit ein paar Straßenfreunden zusammen, er trinkt, er lacht, er spricht sich Mut zu. Und die Stunden verrinnen. Er wäre so froh, wenn jemand ihm sagte, er solle nicht zu Guillaume gehen, er solle sich nicht mit Guillaume einlassen. Aber seine Freunde sagen ihm, dass Guillaume reich ist und dass man aus so einem alten Homo sehr viel herausschlagen kann, wenn man es nur geschickt anfängt.
Niemand erscheint auf dem Boulevard, der sich seiner annimmt, der ihn rettet. Er fühlt sich wie ein Sterbender.
Dann ist es Zeit, in Guillaumes Bar zurückzukehren. Er geht allein dorthin. Vor der Tür zögert er. Am liebsten würde er fortlaufen. Aber es gibt keinen Zufluchtsort. Er späht nach allen Seiten, als hoffte er, in der langen, dunklen, gewundenen Straße einen Retter auftauchen zu sehen. Aber niemand kommt ihm zu Hilfe. Da öffnet er die Tür und tritt ein. Guillaume bemerkt ihn sofort und winkt ihm diskret, nach oben zu gehen. Er steigt die Treppe hinauf. Seine Knie zittern. Er steht in Guillaumes Zimmer, umgeben von Guillaumes Seidengewändern, Schminken, Parfüms, und er starrt auf Guillaumes Bett.
Bald darauf tritt Guillaume ein, und Giovanni versucht zu lächeln. Sie trinken. Guillaume ist zudringlich, er ist schlaff und feucht, und jede Berührung seiner Hand lässt Giovanni weiter und heftiger zurückschrecken. Guillaume geht hinaus; als er wiederkommt, ist er in seinen pompösen Morgenrock gehüllt. Er fordert Giovanni auf, sich zu entkleiden …
Vielleicht ist dies der Augenblick, in dem Giovanni erkennt, dass er es nicht ertragen kann, dass sein Wille sich das nicht abringen lässt. Er denkt an die Stellung. Er versucht zu reden, sachlich zu sein, vernünftig zu sein, aber es ist natürlich zu spät. Guillaume scheint ihn einzukreisen, unentrinnbar wie das Meer. Und Giovanni, an den Rand des Wahnsinns gebracht, fühlt, wie er untergeht, überwunden wird: Guillaume setzt seinen Willen durch. Ich glaube, wenn das nicht geschehen wäre, hätte Giovanni ihn nicht getötet.
Denn Guillaume wird, nachdem er sein Vergnügen gehabt hat, sofort wieder zum Geschäftsmann. Er geht, während Giovanni noch nach Atem ringt, im Zimmer umher und begründet mit ausgezeichneten Argumenten, warum Giovanni nicht mehr für ihn arbeiten kann. Unter all den Gründen, die Guillaume sich ausdenkt, liegt der wirkliche verborgen: Giovanni hat wie ein aus der Mode gekommener Filmstar seine Anziehungskraft eingebüßt. Alles über ihn ist bekannt, seine Geheimnisse sind entdeckt worden. Giovanni spürt das, und die Wut, die sich im Laufe vieler Monate in ihm angesammelt hat, drängt jetzt, verstärkt durch die Erinnerung an Guillaumes Hände und Mund, zum Ausbruch. Er sieht Guillaume sekundenlang schweigend an; dann beginnt er zu schreien. Und Guillaume antwortet ihm. In Giovannis Kopf ist ein Dröhnen; vorübergehend wird ihm schwarz vor den Augen. Guillaume aber ist im siebenten Himmel, er stolziert triumphierend umher – so viel für so wenig hat er selten bekommen. Er spielt die Szene voll aus und stellt genießerisch fest, dass Giovannis Gesicht scharlachrot wird und seine Stimme heiser, er beobachtet mit unverhohlenem Entzücken die knochenharten Muskeln an Giovannis Hals. Und er sagt etwas, denn er glaubt, das Blatt habe sich gewendet; er sagt ein Wort zu viel, ein beleidigendes Wort, ein höhnisches Wort, und im Bruchteil einer Sekunde erkennt er an seinem erschrockenen Verstummen, an Giovannis Augen, dass er etwas entfesselt hat, was nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Giovanni hat es sicherlich nicht tun wollen. Aber er packte ihn, er schlug ihn. Bei dieser Berührung und dann bei jedem Schlag fühlte er, wie das unerträgliche Gewicht auf dem Grunde seines Herzens leichter wurde, sich auflöste: Nun war es Giovanni, der unverhohlenes Entzücken empfand. Im Zimmer wurde das Oberste zuunterst gekehrt, Stoffe zerrissen knirschend, Glas zersplitterte, schwerer Parfumgeruch breitete sich aus. Guillaume kämpfte verzweifelt, um aus dem Zimmer herauszukommen, aber Giovanni folgte ihm überallhin: Nun war es Guillaume, der eingekreist wurde. Und vielleicht stürzte sich Giovanni in dem Augenblick auf ihn, als Guillaume die Tür erreicht hatte und sich gerettet glaubte. Er bekam die Kordel des Morgenrocks zu fassen und wickelte sie ihm um den Hals. Dann hielt er einfach fest, hielt schluchzend fest und wurde in dem Maße leichter, wie Guillaume schwerer wurde. Er zog die Schlinge zu, zog sie fluchend zu, bis Guillaume schließlich zu Boden fiel – zurück in den Baum, die Straßen, die Welt, in die Gegenwart und den Schatten des Todes.
Hella und ich mieteten dieses große Haus, aber inzwischen war mir klargeworden, dass ich kein Recht hatte, es zu beziehen. Als wir es gefunden hatten, wollte ich es nicht einmal sehen. Und doch wusste ich, dass ich nichts anderes mehr tun konnte, nichts anderes mehr tun wollte. Gewiss, ich erwog, ob ich in Paris bleiben sollte, um den Prozess mitzuerleben und Giovanni vielleicht im Gefängnis zu besuchen. Aber ich sah ein, dass es keinen Zweck hatte. Jacques, der ständig in Verbindung mit Giovannis Anwalt und ständig in Verbindung mit mir blieb, war einmal bei Giovanni gewesen. Er sagte mir, was ich bereits wusste: dass weder ich noch sonst jemand etwas für Giovanni tun könnte.
Vielleicht wollte er sterben. Er bekannte sich des Raubmords schuldig. Die Umstände, unter denen Guillaume ihn entlassen hatte, wurden in der Presse ausführlich geschildert. Aus diesen Darstellungen gewann man den Eindruck, Guillaume sei ein gutherziger, vielleicht etwas verschrobener Menschenfreund gewesen, der den Fehler begangen hatte, dem hartgesottenen und undankbaren Abenteurer Giovanni freundschaftlich entgegenzukommen. Dann verschwand der Fall allmählich aus den Schlagzeilen. Giovanni wurde ins Gefängnis gebracht, wo er auf seinen Prozess wartete.
Und Hella und ich kamen hierher. Ich habe wohl gedacht – ganz bestimmt dachte ich es am Anfang –, dass ich zwar nichts für Giovanni, aber vielleicht etwas für Hella tun könnte. Ich muss gehofft haben, dass es etwas gab, was Hella für mich tun könnte. Und ich glaube, das wäre möglich gewesen, wenn sich die Tage für mich nicht dahingeschleppt hätten wie Tage im Gefängnis. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um Giovanni, ich fieberte den Berichten entgegen, die Jacques mir in unregelmäßigen Abständen schickte. Das Warten auf Giovannis Prozess ist das Einzige, was mir von jenem Herbst im Gedächtnis geblieben ist. Schließlich wurde er vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Und der Albdruck begann. Der Winter in diesem Haus war eine einzige Qual.
Viel ist über Liebe geschrieben worden, die sich in Hass verkehrt, über das Herz, das mit dem Tod der Liebe erkaltet. Das ist ein seltsamer Vorgang. Er ist viel schrecklicher als alles, was ich darüber gelesen habe, schrecklicher als alles, was ich darüber sagen kann.
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal entdeckte, dass Hella mich kalt ließ, dass ich ihren Körper reizlos fand, dass ihre Nähe mich störte. Unvermittelt war es so weit – was wohl nur heißt, dass es bereits seit langer Zeit im Gange war. Vielleicht fing es damit an, dass ich mich zurückschrecken fühlte, als sie mir bei Tisch etwas auf den Teller legte und dabei mit der Spitze ihrer Brust leicht meinen Arm streifte. Hellas Unterwäsche, die ich bisher als so unwahrscheinlich süß duftend empfunden hatte, dass mir schien, sie wasche sie viel zu oft, kam mir jetzt unästhetisch und unsauber vor, wenn ich sie im Badezimmer auf der Leine hängen sah. Ein Körper, der mit so albernen, schräggeschnittenen Kleidungsstücken bedeckt werden musste, war in meinen Augen lächerlich. Manchmal beobachtete ich, wie sich ihr nackter Leib bewegte, und wünschte, er wäre härter und fester. Beim Anblick ihrer Brüste geriet ich in größte Verwirrung, und wenn ich in sie eindrang, war mir, als würde ich nicht wieder lebend herauskommen. Alles, was mich früher entzückt hatte, rief jetzt Unbehagen und Ekel in mir hervor.
Ich glaube – ich glaube, dass ich nie im Leben größere Angst gehabt habe. Als ich zu spüren begann, dass ich mich gegen meinen Willen von Hella löste, erkannte ich, dass ich über einem Abgrund hing und dass ich mich an sie geklammert hatte, um mein Leben zu retten. Mein Griff lockerte sich immer mehr, ich wurde mir der ungeheuren Tiefe immer stärker bewusst und fühlte, wie sich alles in mir schmerzhaft zusammenzog, sich wild sträubte gegen diesen schrecklichen Sturz.
Ich dachte, es läge vielleicht nur daran, dass wir keine Abwechslung hatten, und so gingen wir eine Zeit lang sehr oft aus. Wir fuhren nach Nizza, Monte Carlo, Cannes und Antibes. Aber wir waren nicht reich, und Südfrankreich ist im Winter ein Tummelplatz für die Reichen. Wir mussten uns billigere Zerstreuungen suchen. Hella und ich sahen uns viele Filme an oder saßen in leeren, fünftklassigen Bars herum. Wir machten lange Spaziergänge, ohne ein Wort zu reden. Anscheinend sahen wir in unserer Umgebung nichts mehr, woran wir Bemerkungen hätten knüpfen können. Wir tranken zu viel, besonders ich. Hella, die bei ihrer Rückkehr aus Spanien so braun, selbstsicher und begeistert gewesen war, begann das alles zu verlieren; sie wurde blass, misstrauisch und unsicher. Sie hörte auf, mich zu fragen, was los sei, denn sie hatte begriffen, dass ich es entweder nicht wusste oder nicht sagen wollte. Sie beobachtete mich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, machte mich wachsam und ließ mich sie hassen. Wenn ich in ihr verschlossenes Gesicht blickte, wuchs mein Schuldbewusstsein ins Ungemessene.
Da wir von den Busfahrplänen abhängig waren, hockten wir oft in der winterlichen Morgendämmerung in einem Wartesaal oder standen in irgendeiner verlassenen Stadt frierend an der Straßenecke. Wenn wir nach Hause kamen, waren wir vor Müdigkeit wie zerschlagen und gingen sofort zu Bett.
Aus irgendeinem Grunde konnte ich morgens mit ihr schlafen. Vielleicht war das auf nervöse Erschöpfung zurückzuführen, oder das nächtliche Umherstreifen rief in mir eine seltsame, unbezähmbare Erregung hervor. Aber es war nicht mehr wie früher, denn etwas fehlte. Das Erstaunen, die Kraft und die Freude fehlten, der innere Friede fehlte.
Ich hatte schreckliche Träume. Manchmal weckten mich meine eigenen Schreie, und manchmal rüttelte Hella mich wach, weil ich so stöhnte.
»Ich wollte«, sagte sie eines Tages, »du würdest mir erzählen, was dich bedrückt. Sprich doch mit mir darüber, lass mich dir helfen.«
Ich schüttelte in ratloser Verzweiflung den Kopf und seufzte. Wir saßen in dem großen Zimmer, in dem ich jetzt stehe. Sie saß in dem Sessel unter der Lampe, und auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch.
»Du bist so lieb«, murmelte ich. Dann: »Es ist nichts. Es wird schon vorübergehen. Wahrscheinlich sind es nur die Nerven.«
»Es ist Giovanni«, erwiderte sie.
Ich sah sie an.
»Ist es nicht so«, fragte sie vorsichtig, »dass du glaubst, du hättest ihm etwas Schreckliches angetan, als du ihn in jenem Zimmer allein ließest? Nicht wahr, du gibst dir die Schuld an dem, was geschehen ist? Aber das stimmt nicht, Liebling, du hättest ihm so oder so nicht helfen können. Hör auf, dich selbst zu quälen.«
»Er war so schön«, sagte ich leise. Ich hatte es nicht sagen wollen. Ein Zittern durchlief mich. Sie beobachtete, wie ich zum Tisch ging – auch damals stand eine Flasche darauf – und mein Glas füllte.
Ich konnte nicht anders, ich musste sprechen, obgleich ich jeden Augenblick fürchtete, mich zu verraten. Vielleicht wollte ich mich verraten.
»Ja, ich habe das Gefühl, dass ich es war, der ihn in den Schatten der Guillotine gebracht hat. Er wollte, dass ich mit ihm in jenem Zimmer bliebe, er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen. Ich habe es dir nicht erzählt – wir hatten einen fürchterlichen Streit an dem Abend, als ich hinging, um meine Sachen zu holen.« Ich hielt inne, um einen Schluck zu trinken. »Er weinte.«
»Er hat dich geliebt«, sagte Hella. »Warum hast du mir das nicht erzählt? Oder wusstest du es nicht?«
Ich senkte den Kopf; mein Gesicht brannte.
»Es ist nicht deine Schuld«, wiederholte sie. »Verstehst du das nicht? Du konntest ihn nicht davon abhalten, sich in dich zu verlieben. Du hättest ihn nicht davon abhalten können, diesen grässlichen Mann zu töten.«
»Du weißt nichts von alldem«, murmelte ich. »Du weißt nichts von alldem.«
»Ich weiß, wie dir zumute ist …«
»Nichts weißt du, gar nichts.«
»David, schließ mich nicht aus. Bitte, schließ mich nicht aus. Lass mich dir helfen.«
»Hella, Kleines, ich weiß, dass du mir helfen willst. Aber du musst ein bisschen Geduld mit mir haben. Es wird schon besser werden.«
»Das habe ich nun so oft gehört, dass ich es kaum noch glauben kann«, sagte sie müde. Sie sah mich eine Weile fest an, dann fragte sie: »Meinst du nicht, David, dass wir heimfahren sollten?«
»Heimfahren? Wozu?«
»Ja, aber wozu bleiben wir hier? Wie lange willst du noch in diesem Haus sitzen und grübeln? Und was glaubst du, wie mir ums Herz ist?« Sie erhob sich und kam zu mir. »Bitte, ich möchte nach Hause. Ich möchte heiraten. Ich möchte Kinder haben. Ich möchte, dass wir irgendwo leben, ich möchte dich. Bitte, David. Worauf warten wir noch?«
Ich wandte mich hastig ab. Sie blieb hinter mir stehen, wie erstarrt.
»Was ist los, David? Was willst du?«
»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!«
»Du verschweigst mir etwas. Warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Sag mir die Wahrheit!«
Ich drehte mich um und blickte sie an. »Hella, hab Geduld – hab noch ein Weilchen Geduld.«
»Das will ich ja«, rief sie, »aber wo bist du? Du bist fortgegangen, und ich kann dich nicht finden. Wenn du mich nur an dich herankommen ließest …«.
Sie weinte. Ich hielt sie in den Armen und spürte überhaupt nichts.
Ich küsste sie, ich schmeckte ihre salzigen Tränen, ich flüsterte, flüsterte sinnlose Worte. Dann fühlte ich, wie ihr Körper sich anbot, sich mir entgegendrängte, ich fühlte, wie mein Körper zusammenzuckte, sie abwehrte, und ich wusste, dass der Sturz in die Tiefe begonnen hatte. Ich riss mich so unvermittelt von ihr los, dass sie schwankte wie eine Marionette, die an einer Schnur hängt.
»David, bitte, lass mich eine Frau sein. Es ist mir gleich, was du mit mir machst. Es ist mir gleich, was du von mir verlangst. Ich trage das Haar lang, ich gebe das Rauchen auf, ich werfe die Bücher weg.« Sie versuchte zu lächeln, und das Herz drehte sich mir im Leibe um. »Lass mich nur eine Frau sein, nimm mich. Das ist es, was ich will. Das ist alles, was ich will.« Sie trat dicht an mich heran. Ich stand unbeweglich. Sie legte mir die Hände auf die Schultern, hob ihr Gesicht mit einem verzweifelten und entsetzlich rührenden Vertrauen zu meinem auf. »Wirf mich nicht zurück in die See, David. Lass mich bei dir bleiben.« Dann küsste sie mich. Meine Lippen waren kalt. Ich fühlte nichts auf den Lippen. Sie küsste mich noch einmal, und ich schloss die Augen. Starke Ketten schienen mich ans Feuer zu schleppen. Es war, als würde mein Körper unter ihrer Wärme, ihrer Beharrlichkeit, ihren Händen nie erwachen. Und als er erwachte, hatte ich ihn verlassen. Aus großer Höhe, wo die Luft um mich herum kälter als Eis war, betrachtete ich meinen Körper, der in den Armen einer Fremden lag.
Es war an diesem Abend oder bald darauf, dass ich mich von der schlafenden Hella fortstahl und allein nach Nizza fuhr.
Ich streifte durch alle Bars dieser glitzernden Stadt, und gegen Morgen, blind vom Alkohol und wild vor Lust, stieg ich mit einem Matrosen die Treppe eines dunklen Hotels hinauf. Spät am nächsten Tag stellte sich heraus, dass der Urlaub des Matrosen noch nicht zu Ende war und dass er Freunde hatte. Wir besuchten sie. Wir blieben über Nacht. Wir verbrachten den nächsten und den übernächsten Tag zusammen. In der letzten Nacht seines Urlaubs standen wir an der Theke einer überfüllten Bar. Uns gegenüber hing ein Spiegel. Ich war sehr betrunken. Ich hatte so gut wie kein Geld mehr. Plötzlich erblickte ich in dem Spiegel Hellas Gesicht. Ich dachte, ich sei verrückt geworden, und fuhr herum. Da stand sie, sehr müde, sehr klein und unscheinbar.
Lange Zeit sprach keiner von uns. Der Matrose starrte Hella an.
»Ob die sich nicht im Lokal geirrt hat?«, fragte er mich.
Hella lächelte. »Das ist nicht das einzige, worin ich mich geirrt habe.«
Nun starrte der Matrose mich an.
»Na, jetzt weißt du es also«, sagte ich zu Hella.
»Ich glaube, ich habe es schon lange gewusst«, erwiderte sie, drehte sich um und ging fort. Ich wollte ihr folgen. Der Matrose hielt mich fest.
»Bist du … ist sie …«.
Ich nickte. Sein Gesicht mit dem offenen Mund war komisch. Er ließ mich los, ich stürzte zur Tür, und hinter mir hörte ich sein Lachen.
Wir gingen schweigend durch die eiskalten Straßen. Die Stadt schien ausgestorben zu sein. Es war unvorstellbar, dass der Tag jemals anbrechen würde.
»Ich fahre nach Hause«, sagte Hella schließlich. »Ich wünschte, ich hätte dieses Land nie gesehen.«
»Wenn ich noch länger hierbleibe«, erklärte sie später, als sie ihre Koffer packte, »dann vergesse ich, was es bedeutet, eine Frau zu sein.«
Sie war sehr kalt, sie war schmerzhaft schön.
»Ich weiß nicht, ob eine Frau das jemals vergessen kann«, murmelte ich.
»Es gibt Frauen, die vergessen haben, dass es nicht einfach Demütigung, nicht einfach Bitterkeit bedeutet, eine Frau zu sein. Ich habe es trotz allem noch nicht vergessen«, fügte sie hinzu. »Ich werde es nie vergessen. Ich verlasse dieses Haus, ich verlasse dich, so schnell Taxis, Züge und Schiffe mich forttragen können.«
Sie ging zur Kommode, zum Schrank, sie beugte sich über den offenen Koffer auf dem Bett, und alle ihre Bewegungen in dem Raum, der am Anfang unseres Lebens in diesem Haus unser Schlafzimmer gewesen war, offenbarten die verzweifelte Hast eines Menschen, der im Begriff ist zu fliehen. Ich stand an der Tür und sah ihr zu. Ich stand dort wie ein schuldbewusster kleiner Junge, der sich die Hosen nass gemacht hat. Die Worte, die ich sagen wollte, verstopften mir wie Unkraut die Kehle und schlossen mir den Mund.
»Ich bitte dich, mir wenigstens eines zu glauben«, stieß ich endlich hervor. »Wenn ich gelogen habe, dann warst nicht du es, die ich belog.«
Sie drehte sich mit verzerrtem Gesicht zu mir um. »Ich war es, mit der du gesprochen hast. Ich war es, die du mitnehmen wolltest in dieses schreckliche Haus in der Mitte des Nichts. Ich war es, die du heiraten wolltest.«
»Du hast mich falsch verstanden. Ich meine, ich habe mich selbst belogen.«
»Ach? Nun, das ändert natürlich alles.«
»Ich will damit nur sagen«, schrie ich, »dass ich nicht die Absicht hatte, dir weh zu tun, obgleich ich’s getan habe!«
»Schrei mich nicht an«, sagte Hella. »Ich werde bald fort sein. Dann kannst du es den Hügeln dort draußen zuschreien, den Bauern zuschreien, wie schuldig du bist, wie du es liebst, schuldig zu sein.«
Wieder ging sie zwischen den Koffern und der Kommode hin und her, langsamer jetzt. Das Haar fiel ihr in feuchten Strähnen über die Stirn, auch ihr Gesicht war feucht. Ich sehnte mich danach, sie in die Arme zu nehmen, sie zu trösten. Doch das wäre kein Trost mehr gewesen, sondern nur eine Qual für uns beide.
Sie sah mich nicht an; ihr Blick war so starr auf die Kleider in ihrer Hand gerichtet, als sei sie nicht sicher, dass sie ihr gehörten.
»Aber ich wusste es«, sprach sie weiter. »Ich wusste es. Das ist es, was mich so beschämt. Sooft du mich anschautest, habe ich es gemerkt. Sooft du mit mir schliefst, habe ich es gemerkt. Ach, hättest du mir doch gleich die Wahrheit gesagt! Begreifst du nicht, wie ungerecht es war, zu warten, bis ich es herausfand? Die ganze Last auf mich abzuwälzen? Ich hatte das Recht, es von dir zu erfahren – es ist immer Sache des Mannes, zu sprechen. Oder hast du davon noch nichts gehört?«
Ich schwieg.
»Dann hätte ich nicht so lange in diesem Haus herumsitzen müssen, dann brauchte ich mich jetzt nicht zu fragen, wie in aller Welt ich die Heimreise überstehen soll. Ich wäre schon längst daheim und würde mit irgendeinem Mann tanzen, der mich verführen möchte. Und ich würde mich verführen lassen, warum nicht?« Sie betrachtete mit einem ratlosen Lächeln ein Knäuel von Nylonstrümpfen in ihrer Hand und stopfte es in den Koffer.
»Vielleicht wusste ich es damals noch nicht. Ich wusste nur, dass ich aus Giovannis Zimmer fort musste.«
»Nun«, versetzte sie, »du hast es geschafft. Und jetzt gehe ich fort. Zurück bleibt nur der arme Giovanni, weil er … den Kopf verloren hat.«
Es war ein übler Scherz, der mich kränken sollte, aber das höhnische Lächeln, um das sie sich bemühte, gelang ihr nicht ganz.
»Ich werde es nie verstehen«, sagte sie schließlich und blickte zu mir auf, als könnte ich ihr helfen, es zu verstehen. »Dieser gemeine Schuft hat dein Leben zerstört. Und meines wahrscheinlich auch. Amerikaner –«, sie versuchte zu lachen und brach in Tränen aus – »Amerikaner sollten nie nach Europa fahren, weil sie dann nie wieder glücklich sein können. Und wozu taugt ein Amerikaner, der nicht glücklich ist? Glück war alles, was wir hatten.« Schluchzend stürzte sie sich in meine Arme, zum letzten Mal in meine Arme.
»Glaub es nicht«, flüsterte ich, »glaub es nicht. Wir haben viel mehr als das, wir hatten immer viel mehr als das. Nur … nur … manchmal ist es schwer zu ertragen.«
»O Gott, ich hab dich so geliebt. Bei jedem Mann, dem ich begegne, werde ich an dich denken müssen.« Wieder versuchte sie zu lachen. »Armer Mann! Arme Männer! Arme Hella!«
»Hella. Hella. Eines Tages, wenn du glücklich bist, wirst du mir vielleicht verzeihen können.«
Sie löste sich von mir. »Ach, ich weiß nichts mehr vom Glück. Ich weiß nichts vom Verzeihen. Aber wenn sich Frauen von Männern leiten lassen sollen und es keine Männer gibt, die sie leiten, was geschieht dann? Was geschieht dann?« Sie ging zum Schrank und nahm ihren Mantel heraus, kramte in der Handtasche, fand die Puderdose und klappte sie auf, blickte in den kleinen Spiegel, trocknete sich die Augen und zog dann sorgfältig ihre Lippen nach. »Es gibt einen Unterschied zwischen kleinen Jungen und kleinen Mädchen, genau wie es in diesen blauen Büchern steht. Kleine Mädchen sind scharf auf kleine Jungen. Aber kleine Jungen …!« Sie ließ die Puderdose zuschnappen. »Ich werde zeit meines Lebens nicht dahinterkommen, was sie wollen. Und mir ist jetzt klar, dass sie es mir nie sagen werden, weil sie nicht wissen, wie.« Sie glättete mit den Fingern ihr Haar, strich es sich aus der Stirn, und nun, mit den gefärbten Lippen und dem dicken schwarzen Mantel, sah sie wieder kalt, glänzend und unsagbar hilflos aus – eine furchteinflößende Frau. »Gib mir einen Cognac«, bat sie. »Wir wollen auf die alten Zeiten trinken, bevor das Taxi kommt. Nein, ich möchte nicht, dass du mich zum Bahnhof begleitest. Ich wünschte, ich könnte während der Fahrt nach Paris und während der Reise über den mörderischen Ozean ununterbrochen trinken.«
Wir tranken schweigend, jeden Augenblick gewärtig, das Knirschen von Reifen auf dem Kies zu hören. Dann hörten wir es, sahen die Scheinwerfer, und der Fahrer begann zu hupen. Hella stellte ihr Glas hin, knöpfte den Mantel zu und ging zur Tür. Ich folgte ihr mit den Koffern. Der Fahrer und ich verstauten das Gepäck im Wagen, und ich überlegte dabei krampfhaft, was ich Hella als Letztes sagen könnte, um die Bitterkeit auszulöschen. Aber mir fiel nichts ein. Hella sprach kein Wort. Sie stand hoch aufgerichtet unter dem dunklen Winterhimmel und schaute in die Ferne. Als alles fertig war, trat ich zu ihr.
»Soll ich wirklich nicht bis zum Bahnhof mitkommen, Hella?«
Sie sah mich an und streckte die Hand aus.
»Leb wohl, David.«
Ich nahm ihre Hand. Sie war kalt und trocken wie ihre Lippen.
»Leb wohl, Hella.«
Sie stieg in das Taxi. Ich blickte dem Wagen nach, der im Rückwärtsgang die Auffahrt hinunter auf die Straße fuhr. Meine Hand winkte einen letzten Gruß, aber Hella erwiderte ihn nicht.
Draußen vor meinem Fenster wird der Horizont heller, und das Grau des Himmels verwandelt sich in ein rötliches Blau.
Ich habe meine Koffer gepackt und das Haus aufgeräumt. Die Schlüssel liegen vor mir auf dem Tisch. Es wird Zeit, dass ich mich umziehe. Bald, wenn der Horizont noch ein wenig heller geworden ist, wird an der Straßenbiegung der Bus auftauchen, der mich in die Stadt bringt, zum Bahnhof, zum Zug nach Paris. Und doch vermag ich mich nicht zu rühren.
Auf dem Tisch liegt auch ein blauer Umschlag – der Brief, in dem mir Jacques den Termin von Giovannis Hinrichtung mitteilt.
Ich schenke mir einen sehr kleinen Drink ein und betrachte in der Fensterscheibe mein Spiegelbild, das immer blasser wird. Ich löse mich vor meinen Augen in nichts auf – dieser Einfall bringt mich zum Lachen.
Jetzt werden wohl vor Giovanni die Tore aufgehen und sich klirrend hinter ihm schließen – Tore, die nie wieder für ihn geöffnet oder geschlossen werden. Oder ist schon alles vorüber? Vielleicht fängt es eben erst an. Vielleicht sitzt er noch in seiner Zelle und beobachtet wie ich den Anbruch des Morgens. Vielleicht wird jetzt am Ende des Flurs geflüstert, drei Männer in Schwarz ziehen sich die Schuhe aus, einer von ihnen trägt das Schlüsselbund, das ganze Gefängnis ist still, wartet, vor Grauen erstarrt. Drei Stockwerke tiefer ist das geschäftige Hin und Her auf dem steinernen Fußboden verstummt, vorübergehend verstummt; jemand zündet sich eine Zigarette an. Wird er allein sterben? Ich weiß nicht, ob der Tod in diesem Land eine Sache des Einzelnen oder der Masse ist. Und was wird er dem Priester sagen?
Du musst dich fertig machen, raunt etwas mir zu, es wird Zeit.
Ich gehe ins Schlafzimmer, wo die Sachen, die ich unterwegs tragen will, auf dem Bett liegen. Daneben steht mein Koffer, noch offen. Ich fange an, mich auszukleiden. Ein Spiegel hängt im Zimmer, ein großer Spiegel. Ich bin mir unerhört klar bewusst, dass der Spiegel da ist.
Giovannis Gesicht erscheint vor mir, schwankend, unerwartet wie eine Laterne in einer dunklen, dunklen Nacht. Seine Augen – seine Augen glühen wie die eines Tigers, sie starren geradeaus und beobachten das Herannahen seines letzten Feindes; jedes Haar seines Körpers sträubt sich. Ich kann den Ausdruck nicht deuten, der in seinen Augen liegt: Wenn es Entsetzen ist, dann habe ich noch nie Entsetzen gesehen, wenn es Angst ist, dann hat mich noch nie Angst gepackt. Jetzt kommen sie näher, jetzt dreht sich der Schlüssel im Schloss, jetzt haben sie ihn. Er schreit auf. Sie blicken ihn wie aus weiter Ferne an. Sie zerren ihn zur Tür der Zelle, der Flur erstreckt sich vor ihm wie der Friedhof seiner Vergangenheit, das Gefängnis dreht sich um ihn. Vielleicht beginnt er zu stöhnen, vielleicht gibt er keinen Laut von sich. Die Reise beginnt. Oder hat er nach dem ersten Aufschrei weitergeschrieen? Hallen seine Schreie jetzt in all dem Stein und Eisen wider? Ich sehe seine Knie einknicken, seine Schenkel beben, das Gesäß zittern; der heimliche Hammer dort beginnt zu klopfen. Er schwitzt – oder ist seine Haut trocken? Sie schleppen ihn vorwärts – oder geht er von selbst? Ihr Griff ist eisenhart, seine Arme gehören nicht mehr ihm.
Den langen Flur hinunter, die eisernen Treppen hinunter in das Herz des Gefängnisses und von dort in die Amtsstube des Priesters. Er kniet nieder. Eine Kerze brennt, die Heilige Jungfrau schaut ihn an.
Heilige Maria, Mutter Gottes.
Meine Hände sind feucht, mein Körper ist stumpf und weiß und trocken. Ich sehe es aus den Augenwinkeln im Spiegel.
Heilige Maria, Mutter Gottes.
Er küsst das Kreuz und klammert sich daran fest. Der Priester entzieht es ihm sanft. Dann heben sie Giovanni hoch. Die Reise beginnt. Sie setzen sich in Bewegung, schleifen ihn zu einer anderen Tür. Er stöhnt. Er möchte ausspeien, aber sein Mund ist ausgetrocknet. Er kann nicht bitten, dass sie ihm Zeit geben, Wasser zu lassen – das alles wird sich in wenigen Sekunden von selbst erledigt haben. Er weiß, dass hinter der Tür, die immer näher kommt, die Guillotine wartet. Jene Tür ist das Tor, nach dem er so lange gesucht hat, um dieser schmutzigen Welt, diesem schmutzigen Körper zu entrinnen.
Es wird Zeit.
Der Körper im Spiegel zwingt mich, ihn zu betrachten. Und ich blicke auf meinen Körper, der zum Tode verurteilt ist. Mager ist er, hart und kalt, die Verkörperung eines Mysteriums. Und ich weiß nicht, was sich in diesem Körper regt, wonach dieser Körper sucht. Er ist in dem Spiegel gefangen, wie er in der Zeit gefangen ist, und er strebt nach Offenbarung.
Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.
Ich sehne mich danach, diese Prophezeiung zu erfüllen. Ich sehne mich danach, den Spiegel zu zerschlagen und frei zu sein. Ich blicke auf mein Geschlecht, mein leidiges Geschlecht, und frage mich, wie es erlöst werden kann, wie ich es vor dem Fallbeil bewahren kann. Die Reise zum Grab hat schon begonnen, die Reise zum Zerfall ist immer schon halb vorbei. Doch der Schlüssel zu meiner Erlösung, die meinen Körper nicht retten kann, ist in meinem Fleisch verborgen.
Nun ist die Tür vor ihm. Um ihn herum ist Dunkelheit, in ihm ist Schweigen. Dann öffnet sich die Tür, und er steht allein, die Welt fällt von ihm ab. Und das Stückchen Himmel dort draußen scheint zu schreien, obgleich er keinen Laut hört. Dann wankt die Erde, er wird niedergeworfen, auf das Gesicht, in die Dunkelheit, und seine Reise beginnt.
Ich wende mich endlich von dem Spiegel ab und fange an, meine Blöße zu decken, die ich heilig halten muss, so nichtswürdig sie auch sein mag, die ich ohne Unterlass mit dem Salz meines Lebens reinigen muss. Ich glaube, ja ich muss glauben, dass die große Gnade Gottes, die mich an diesen Ort geführt hat, das Einzige ist, was mich von hier forttragen kann.
Und nun trete ich hinaus in den Morgen und schließe die Tür hinter mir ab. Ich überquere den Fahrdamm und werfe die Schlüssel in den Briefkasten der Hausverwalterin. Dann blicke ich die Straße entlang, dorthin, wo ein paar Leute stehen, Männer und Frauen, und auf den ersten Bus warten. Sie wirken lebendig unter dem erwachenden Himmel, und der Horizont hinter ihnen beginnt aufzuflammen. Der Morgen lastet mit dem schrecklichen Gewicht der Hoffnung auf meinen Schultern. Ich nehme den blauen Umschlag, den Jacques mir geschickt hat, und zerreiße ihn langsam in viele Stücke. Ich sehe zu, wie sie im Winde tanzen, ich sehe zu, wie der Wind sie davonträgt. Gleich darauf aber, als ich auf die wartenden Menschen zugehe, treibt der Wind ein paar Fetzen zu mir zurück.