Der Übermensch ist der Hinübergehende, weg vom bisherigen Menschen, aber weg wohin? Der bisherige Mensch ist der letzte Mensch. Wenn nun aber die Art des Lebewesens »Mensch« im Unterschied zu den übrigen Lebewesen der Erde, Pflanze und Tier, durch das »Rationale« ausgezeichnet ist, die ratio, das Vernehmen und Verrechnen aber im Grunde ein Vorstellen ist, dann muß die besondere Art des letzten Menschen in einer besonderen Art seines Vorstellens beruhen. Nietzsche nennt sie das Blinzeln, ohne daß er dieses in einen ausdrücklichen Bezug zum Wesen des Vorstellens bringt, ohne daß Nietzsche dem Wesensbereich und vor allem der Wesensherkunft des Vorstellens nachfragt. Gleichwohl müssen wir dem von Nietzsche gebrauchten Namen für dieses Vorstellen, dem Blinzeln, gemäß dem Zusammenhang, in dem es steht, sein volles Gewicht lassen. Wir dürfen das Blinzeln nicht mit dem bloß äußerlich genommenen und beiläufigen Augenzwinkern gleichsetzen, womit man sich bei besonderen Gelegenheiten zu verstehen gibt, daß man das Gesagte und Geplante und überhaupt das, was sich begibt, im Grunde nicht mehr ernst nimmt. Dieses Augenzwinkern kann nämlich nur deshalb sich ausbreiten, weil bereits alles Vorstellen in sich den Charakter des Blinzelns hat. Das Vorstellen stellt allem nur das Blinkende, das Scheinende des vorder- und oberflächigen Anscheines zu und vor. Nur das so Vor-gestellte und jeweils so Be-stellte steht in Geltung. Diese Art des Vorstellens entsteht nicht erst durch das Blinzeln, sondern umgekehrt: das Blinzeln ist bereits eine Folge des vordem schon herrschenden Vorstellens. Welchen Vorstellens? Es ist jenes Vor-Stellen, das den metaphysischen Grund des Weltalters ausmacht, das man die Neuzeit nennt, die jetzt nicht zu Ende geht, sondern gerade erst beginnt, insofern das in ihr waltende Sein erst jetzt in das vorgesehene Ganze des Seienden sich entfaltet. Dieser metaphysische Grund der Neuzeit läßt sich in wenigen Sätzen nicht darlegen. Ich verweise dafür auf einen Vortrag, den ich im Jahre 1938 von dieser Stelle aus gehalten habe und der in den »Holzwegen« S. 69–104 unter dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« veröffentlicht ist.
»‘Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«
Wir werden von allen Seiten her mit Hilfe unserer Soziologie, Psychologie und Psychotherapie und mit noch einigen anderen Mitteln dafür sorgen, daß demnächst alle Menschen auf die gleiche Weise in den gleichen Zustand des gleichen Glückes gestellt werden und die Gleichheit der Wohlfahrt aller sichergestellt wird. Aber dieser Erfindung des Glückes zum Trotz werden die Menschen von einem Weltkrieg in den nächsten gejagt. Man blinzelt den Völkern zu, der Friede sei die Beseitigung des Krieges. Indessen könne allerdings der Friede, der den Krieg beseitigt, nur durch einen Krieg gesichert werden. Gegen diesen Kriegsfrieden wiederum wird aber eine Friedensoffensive eröffnet, deren Angriffe sich kaum als friedlich bezeichnen lassen. Der Krieg: die Sicherung des Friedens; aber der Friede: die Beseitigung des Krieges. Wie soll der Friede durch das gesichert werden, was er beseitigt? Hier ist etwas im tiefsten Grunde aus den Fugen geraten, oder vielleicht ist es noch nie in den Fugen gewesen. Währenddessen bleiben aber »Krieg« und »Frieden« wie zwei Hölzer, die die Wilden fortgesetzt aneinander reiben, um Feuer zu schlagen. Währenddessen muß der letzte Mensch sich in einem Vorstellen bewegen, durch das über alles nur geblinzelt wird und nur geblinzelt werden kann zufolge eines unheimlichen Geschickes, das dem modernen Menschen verwehrt, über sich und seine Art des Vorstellens hinauszusehen. Darum sucht er notgedrungen in seiner Art des Vorstellens, im Blinzeln, die Form der Maßnahmen, die eine Weltordnung schaffen sollen. Sind die Kongresse und Konferenzen, die Ausschüsse und Nebenausschüsse etwas anderes als die blinzelnde Organisation der blinzelnden Verabredung des Mißtrauens und der Hinterhalte? Jede Entscheidung innerhalb dieses Vorstellens trägt ihrem Wesen nach zu kurz. Zugleich kann doch der Mensch nicht im Entscheidungslosen sich zu einer Scheinruhe und Sicherheit niederlassen. Gleichwohl bleibt der Grund dieser Zerrissenheit des Menschen im Schatten eines unheimlichen Weltgeschickes verhüllt. Die Verhüllung selbst wird noch durch die Vormacht des Öffentlichen zugedeckt, so daß der Riß dieser Zerrissenheit den Menschen in seinem Wesen noch nicht erreicht trotz des unsäglichen Leides, trotz der Not, die allzu viele ertragen. Der aus dem Riß dessen, was ist, aufsteigende Schmerz erreicht den Menschen noch nicht in seinem Wesen. Wie hieß es doch in der ersten Stunde dieser Vorlesung? »Schmerzlos sind wir …«
Sollte nach all dem Gesagten dieses blinzelnde Vorstellen selber schon außerhalb der bloßen Willkür oder gar Nachlässigkeit der Menschen liegen? Sollte in diesem Vorstellen ein eigenartiges, über den Menschen hinweggreifendes Verhältnis vorwalten zu dem, was ist? Sollte dieses Verhältnis von einer Art sein, daß es dem Menschen verweigert, das Sein in seinem Wesen sein zu lassen?
Sollte dieses Vorstellen jeweils das, was ist, das Seiende zwar vor sich stellen, aber dabei doch im Grunde sich allem, was ist und wie es ist, widersetzen? Sollte dieses Vorstellen dem, was es sich zustellt, im Grunde nachstellen, um es herabzusetzen und zu zersetzen? Welches ist die Denkungsart, die alles so vor-stellt, daß sie allem im Grunde nachstellt? Welches ist der Geist dieses Vorstellens? Welche Art Denken ist es, die allem auf solche Weise nachdenkt? Welcher Art ist das Nachdenken des bisherigen Menschen?
Nietzsche gibt uns eine Antwort auf unsere Frage nach demjenigen Vorstellen, das alles Blinzeln des letzten Menschen im vorhinein durchherrscht. Sie steht im drittletzten Stück des zweiten Teiles von »Also sprach Zarathustra« (1883). Dieses ist überschrieben »Von der Erlösung«. Hier heißt es:
»Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.«
Rache, rächen, wreken, urgere heißt: stoßen, treiben, verfolgen, nachstellen. Das Nachdenken, das Vor-stellen des bisherigen Menschen ist durch die Rache, durch das Nachstellen bestimmt. Wenn nun aber Nietzsche vom bisherigen Menschen und dessen Vorstellen weg- und hinübergehen will zu einem anderen und höheren Menschen, welches ist dann die Brücke, die auf den Weg eines Hinübergehens führt? Worauf denkt Nietzsche dann, wenn er diese Brücke sucht, um vom letzten Menschen weg hinüber zum Übermenschen zu gelangen? Was ist es, was dieser Denker eigentlich und einzig dachte, auch dann dachte, wenn er es nicht bei jeder Gelegenheit und nicht jedesmal in der gleichen Weise aussprach? Nietzsche gibt die Antwort auf unsere Frage in dem selben zweiten Teil von »Also sprach Zarathustra«, in dem Stück »Von den Taranteln«. Hier läßt er Zarathustra sagen:
»Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.«