Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist wichtig bei der Behandlung von Krankheiten. Kommunikation ist das A und O. Falls ich einen Patienten mal nicht nach seinen Beschwerden befragen kann, erschwert es meine Arbeit sehr. Und wenn Patienten die Therapievorschläge des Arztes nicht verstehen, behindert es ihre Genesung erheblich: Patient G. vergisst die Hörgeräte, Patientin S. hat die Hörgeräte nicht eingeschaltet, Patient U. versteht keine der Sprachen, die ich sprechen kann, und Patientin A. ist so dement, dass sie meine Fragen bereits beim Zuhören vergessen hat.
G. kann ich anschreien, damit er mich versteht, S.´ Hörgeräte kann ich einschalten. Die Lautstärke ist auch ein generelles Problem, das wir nicht in den Griff kriegen. Die Notaufnahmen sind völlig überfüllt, Großfamilien warten auf ihre Schützlinge, nachts hallen die Hilferufe der dementen Patienten über die Flure, während die anderen Patienten wütend und übermüdet ihre Ohropax durch die Gegend werfen.
Im Vergleich ist es einfacher für U., irgendjemanden im Krankenhaus zu finden, der seine Sprache spricht. Unsere Kliniken sind zum Glück total international. R. zum Beispiel arbeitet in unserer Cafeteria, ich rufe ihn ständig an. Er spricht nämlich sieben Sprachen, darunter auch einige seltene. In meiner eigenen Abteilung ist ganz Europa vertreten, dazu einige Ärzte aus arabischen und afrikanischen Ländern. Die Übergabe der Internisten erfolgt an manchen Tagen sogar auf Rumänisch oder Ungarisch. Das erleichtert viele Situationen im Arbeitsalltag. Trotzdem kann es natürlich auch problematisch sein. Patient L. zum Beispiel beschwerte sich schriftlich bei meinen Kollegen in der Inneren. Die behandelnden Ärzte hatten sich wohl an seinem Patientenbett auf Serbisch unterhalten. Leider hatten die Ärzte vergessen, den Patienten auch auf Deutsch mit einzubeziehen, und L. wurde entlassen, ohne dass man mit ihm gesprochen hatte. Seine Therapieempfehlung musste er im Entlassungsbrief nachlesen, der selbstverständlich auf Deutsch geschrieben war.
Zur fremden Sprache kommen manchmal auch Unsicherheiten dazu. Mein neuer Kollege auf Station, J., bejahte grundsätzlich, meine Anweisungen verstanden zu haben, erledigte dann aber nichts davon korrekt. Bis ich herausfand, dass er mich nicht verstand, weil ich einfach zu schnell sprach, dauerte es allerdings drei Monate. In diesen drei Monaten ging ich davon aus, dass er es nicht besser wusste oder faul war. Blöd gelaufen.
Unter Kollegen ist die Kommunikation ohnehin keine einfache Sache, dazu kommt noch die Problematik mit den Arztpersönlichkeiten. Mit Kollege J. habe ich nicht nur das Problem, dass ich langsam sprechen muss, um verstanden zu werden. J. ist auch noch eine Hyäne. Er spricht dementsprechend selten mit mir, und die Hälfte des Tages kann ich ihn nicht finden. Sind wir gemeinsam auf einer Station eingeteilt, gibt es somit viele Probleme durch fehlende oder falsche Kommunikation.
Bei der Kommunikation zwischen Arzt und Patient sind die Sprachbarriere und die Lautstärke nicht die einzigen Probleme. Dazu kommt dank der niedrigen deutschen Alkoholpreise die große Anzahl betrunkener Patienten in der Notaufnahme.
Nachts behandle ich — typisch für eine Unfallchirurgin — sehr häufig Patienten, die alkoholisiert gestürzt sind: sturzbesoffen eben. Viele werden auf der Straße aufgelesen, haben randaliert oder sich gestritten. Andere sind alkoholisiert mit dem Auto gegen einen Baum gefahren oder die Treppe hinabgestürzt oder mit der Augenbraue auf dem Nachttisch gelandet.
Alkoholisierte Patienten lallen, laufen weg, können einfachste Anforderungen nicht ausführen oder haben eine Frage sofort wieder vergessen. Ist jemand alkoholisiert auf den Schädel gestürzt, können wir die Person neurologisch nicht adäquat beurteilen. Ob sie bewusstlos war oder nicht, sich an das Sturzereignis erinnern kann oder nicht, meist können wir das nicht feststellen. Auch nicht, ob die Person sich aufgrund des übermäßigen Alkoholspiegels im Blut oder aufgrund einer Blutung im Kopf mehrfach erbricht.
Als Unfallchirurgin lernst du allerdings recht schnell, damit umzugehen. In den meisten Fällen lassen wir eine Computertomografie des Schädels erstellen, um eine Blutung auszuschließen. Viele der Alkoholiker kennen die notwendigen Prozeduren im Krankenhaus, die wir bei einem Sturz durchführen müssen. Jeder Unfallchirurg kennt seine Alkoholiker mit Namen. Monatelang tauchen immer die gleichen Gestalten auf und holen sich ihre Extradosis Strahlenbelastung. Sie erdulden diese Untersuchung, bei der sie einige Zeit still liegen müssen, trotz ihres Alkoholspiegels. Sehr wahrscheinlich erhöht sich damit auch ihr strahlungsbedingtes Risiko für die Entstehung von Tumoren oder eines grauen Stars. Aber unsere Leitlinien sind in diesem Fall glasklar. Nur weil der bereits bekannte Alkoholiker sich verhält wie immer, ist es noch lange kein Grund, auf die Diagnostik zu verzichten. Auch nicht, wenn er oder sie bei drei Promille kaum betrunken wirkt und bis auf eine Wunde am Schädel keine Auffälligkeiten zeigt. Eine übersehene Blutung im Schädel ist lebensgefährlich.
Die meisten geübten Alkoholiker wehren sich auch deshalb nicht gegen die Untersuchungen, weil sie sich nur ungern daran erinnern, was passiert, wenn sie sich weigern. In der Regel diskutiere ich erst einmal lange mit den Patienten, die sich gegen eine dringend nötige Untersuchung wehren. Werden sie wütend und aggressiv, rufe ich die Polizei in die Notaufnahme. Verlässt der Patient gegen meinen Rat ohne Untersuchung die Notaufnahme, informiere ich die Polizei darüber, dass die Person sich in einer potenziell lebensgefährlichen Situation befindet. Dann müssen die Beamten leider den Patienten suchen, und auch die Untersuchung findet in Polizeibegleitung statt. Da wird dann deutlich weniger diskutiert.
Natürlich ist es das Recht des Patienten, eine Untersuchung abzulehnen. Sofern die Person wach und bei klarem Verstand die Entscheidung trifft, auf ärztliche Untersuchungen zu verzichten. Dann erkläre ich ihr die potenziellen Risiken und gebe ihr das auch schriftlich als Ausdruck. Den unterschreiben der Patient und ich, damit ist es rechtsgültig.
Ein alkoholisierter Patient hingegen ist leider nicht zurechnungsfähig, damit ist seine Unterschrift auch nicht rechtsgültig. Lasse ich ihn ohne eine CT-Untersuchung nach Hause gehen, seine Frau findet ihn am Morgen tot im Bett, und die Obduktion ergibt als Ursache eine Hirnblutung, bekomme ich vor Gericht große Probleme wegen unterlassener Hilfeleistung. Selbst wenn diese Situationen für uns Diensthabende wahnsinnig lange dauern, sehr anstrengend sind und viel Personal binden, gehe ich auf keinen Fall ein Risiko ein — weder für den Patienten noch für mich als Ärztin.
Wenn die äußeren Umstände ideal sind, sprich, Arzt und Patient sind der gleichen Sprache mächtig, es gibt ausreichende Hör- und Sprachfähigkeit, dann ist die Kommunikation meiner Erfahrung nach am allerschwierigsten.
Manche Patienten hören dir überhaupt nicht zu, andere wiederum verstehe ich nicht, obwohl sie meine Sprache sprechen. So kann es passieren, dass wir munter aneinander vorbeireden. Stellt der Patient zum dritten Mal in Folge die gleiche Frage, muss ich davon ausgehen, dass die Person meine Antwort nicht verstanden hat — oder sie nicht hören möchte. Frage ich den Patienten dreimal hintereinander das Gleiche, gehe ich davon aus, dass er meine Frage nicht versteht oder ich seine Antwort nicht. Da das Hauptproblem in unserem Gesundheitssystem und überhaupt überall Zeitmangel zu sein scheint, schafft sich jeder Arzt irgendwann sein eigenes System der Kommunikation.
McSexy, die Hyäne, ist dazu übergegangen, einfach gar nicht mehr zu kommunizieren. Er führt seine Visite morgens um 7 Uhr durch, wenn die meisten Patienten noch im Halbschlaf sind. Bei den wachen Patienten blickt er in seine Patientenkurven und nuschelt Unverständliches in seinen Bart, sodass jeder Patient wegen vermeintlichen Desinteresses seine Frage abbricht oder irritiert die begleitenden Gesundheits- und Krankenpfleger um eine Antwort bittet.
Der Gefäßchirurg, mit dem ich häufig in der Notaufnahme zusammentreffe, ist ein Arzt, den ich eigentlich gar nicht als Kollegen bezeichnen möchte. Bisher habe ich ihn in allen Situationen mit seinen Patienten nur schreiend erlebt. Er stellt nie Fragen, überspringt die Anamnese, macht seine Untersuchungen mit dem Schallgerät und antwortet auf fragende Gesichter lediglich mit »OP«. Wagen die Patienten es, nach dem Zeitpunkt für die OP zu fragen, hört man nur noch unverständliches Gebrüll aus seinem Zimmer. Auch eine Art der Kommunikation.
Die meisten Ärzte jedoch, versuchen immerhin ein Mindestmaß an Kommunikation herzustellen.
Durchschnittlich unterbrechen Ärzte ihre Patienten nach elf bis vierundzwanzig Sekunden. In dieser Zeit hat der Patient nicht einmal seinen ersten Satz beendet.
Zum einen liegt das Unvermögen von uns Ärzten, richtig mit Patienten zu kommunizieren, daran, dass wir es nie gelernt haben. In meinem Studium gab es immerhin schon ein paar Stunden zum Thema Arzt-Patienten-Kommunikation. Es war ein frei wählbares Seminar im siebten Semester, das wir in Kleingruppen mit Schauspielern abgehalten haben — eine absolut absurde, sinnfreie Veranstaltung. Theoretisch ist das vielleicht sinnvoll, bringt aber herzlich wenig für später, weil du dann niemals mehr Zeit hast, deinen echten Patienten fünfzehn Minuten lang Löcher in den Bauch zu fragen.
In der Klinik habe ich bei der Visite auf einer orthopädisch-unfallchirurgischen Station für zwanzig Patienten maximal eine Stunde Zeit. Für vierzig Patienten zwei Stunden (das ist sicherlich in jeder Klinik etwas anders, das Spektrum der Operationen ist unterschiedlich groß). Drei Minuten pro Patient, in denen ich einen Verbandswechsel machen, Fäden ziehen, untersuchen und Therapieentscheidungen treffen muss. Drei Minuten, in denen ich Medikamente anpasse und mir die Beweglichkeit und Mobilität des Patienten anschaue. Drei Minuten, in denen ich dem Patienten erklären muss, was wir operiert haben, wie unser Therapieplan ist und welche unterstützenden Maßnahmen er oder sie ergreifen kann. Drei Minuten für Aufklärung über einen langen operativen Eingriff oder gar zum Überbringen einer schlechten Nachricht wie einer Krebserkrankung: Das reicht niemals.
In der durchschnittlichen Hausarztpraxis ist das Verhältnis nicht anders. Etwas über sieben Minuten bleiben den Kollegen, um ein Gespräch mit ihrem Patienten zu führen. Sie müssen eine Anamnese erheben, den Patienten untersuchen, einen Therapieplan erstellen, Rezepte ausstellen und Überweisungen drucken. Rechnen wir in diese sieben Minuten mit ein, dass sich eine achtzigjährige Oma erst einmal aus Hose, Socken, Schuhen, Pullover, T-Shirt und Unterhemd schälen muss, fehlen bereits fünf Minuten für den nächsten Patienten. In Schweden liegen übrigens die Zeiten für einen durchschnittlichen Arzt-Patienten-Kontakt beim Hausarztbesuch bei zweiundzwanzig Komma fünf Minuten.
Kein Wunder, dass Ärzte ihre Patienten nicht aussprechen lassen. Eine offene Fragestellung wagt kaum noch jemand. Dabei spart genau das häufig Zeit. Unterbrichst du deinen Patienten sofort, kostet dich das wertvolle Informationen. Die Gesamtkonsultationsdauer wird deshalb nicht geringer, weil der Patient eben immer wieder nachfragen muss. Außerdem glauben einem die Patienten nachher die Diagnose nicht, wenn sie nicht einmal die Hälfte von dem erzählen durften, weshalb sie gekommen sind. Ausreden lassen wäre also schon einmal ein guter Anfang.
Schließen wir nun auch diesen unglaublich wichtigen zeitlichen Aspekt als äußeren Umstand in der Arzt-Patienten-Kommunikation aus, bleiben die eigentlichen Kommunikationsebenen übrig.
Die inhaltliche Ebene ist dabei schon ein großes Problem: Es gelingt uns nicht immer, Medizinersprache in Alltagssprache zu übersetzten. Mittlerweile gibt es sogar Websites, die Arztbriefe in Alltagssprache übertragen, weil die Patienten niemals über ihre Krankheiten aufgeklärt worden sind. Zumindest nicht auf verständliche Weise. Mir selbst fällt es insbesondere bei der Benennung der Körperteile auf. Ich muss mich bei jedem Patientengespräch sehr darauf konzentrieren, nicht die lateinischen Wörter zu benutzen. Erkläre ich einem jungen Mann, dass er eine akute Lumbago hat, schaut er mich ratlos an. Spreche ich von einem Rückenschmerz, der landläufig auch als Hexenschuss bezeichnet wird, ist er sofort hellwach.
Gehen wir nun davon aus, dass ich eine verständliche Formulierung für eine Verletzung gewählt habe, und der Patient es versteht. Jetzt erst beginnt es, spannend zu werden. Denn jetzt entscheidet die Persönlichkeit des Patienten darüber, wie ich meine Kommunikation anpassen muss.
Entsprechend den Arztkategorien, habe ich im Verlauf meiner Weiterbildung zur Fachärztin auch eine intuitive Kategorisierung für Patienten entwickelt. Das ist natürlich ebenfalls keine fundierte Lehre, sondern eine ganz persönliche Beobachtung aus meinem Alltag als Ärztin. Patienten bringen ihre ganz eigene Vorstellung von Krankheit und Gesundheit mit. Je nachdem, wie sie gelernt haben mit diesen Themen umzugehen, reagieren sie auch darauf.
In meinem Patientendschungel gibt es den Raben, den Strauß, den Löwen, die Biene und das Chamäleon. Alle diese Tiere können natürlich in männlicher wie auch in weiblicher Ausprägung vorkommen. Meine Kommunikation mit dem Patienten hängt eklatant davon ab, wen ich gerade vor mir habe. Das gilt nicht nur für meine Formulierungen über die Therapievorschläge, sondern auch für meine Erwartungen an den Therapieerfolg. Selbstverständlich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, und die Charaktereigenschaften können sich im Verlauf der Zeit verändern. Jeder Mensch ist einzigartig und individuell. Dieses System dient nicht dazu, Patienten für alle Zeiten in eine Schublade zu stecken. Die Schublade muss bei jedem Arztkontakt selbstverständlich aufgezogen und überprüft werden. Trotzdem sind einige prägnante Charaktereigenschaften hilfreich, um mit den Patienten auf einer gemeinsamen Ebene zu diskutieren. Mein Klassifikationssystem erleichtert mir die Gesprächsführung ungemein, dabei vergesse ich nie, dass ein Strauß auch Eigenschaften eines Löwen haben kann.
Medizinisch gesehen gibt es bei dem obengenannten Beispiel der Lumbago, des akuten Rückenschmerzes, mehrere Möglichkeiten der Therapie. Je nachdem, wie beweglich der Patient ist, bekommt er in der Notaufnahme Schmerzmittel in Form einer Tablette, als Tropfen oder Zäpfchen. Ja, Sie haben richtig gelesen. Die gibt es auch für Erwachsene. Im Übrigen haben sie eine supergute, schnelle Wirkung. Speziell bei Zäpfchen ist eine gute informative Kommunikation über die Anwendung notwendig, vor allem bei den Herren der Schöpfung. Anscheinend haben einige Männer niemals etwas von Zäpfchen gehört und mussten auch nie eines ihrer Kinder damit behandeln. Anders kann ich es mir nicht erklären, wie man vergessen kann, die silbrige Folie zu entfernen. Manche lutschen die Zäpfchen sogar. Das Zäpfchen dürfen sich die Patienten selbstverständlich selbst in der Toilette der Notaufnahme rektal einführen. Das übernimmt keine Gesundheits- und Krankenpflegerin oder Ärztin — auch wenn einige Männer extra nachfragen. Sollte es nicht helfen, gibt es alternativ die Möglichkeit einer Schmerzmittelinfusion über die Vene. Eine Spritze ist keine Alternative, aber das erkläre ich Ihnen später genauer. Bei der weiteren Behandlung zu Hause helfen dann Wärmeanwendungen, Bewegung und Geduld.
Wie geht ein Rabe mit diesem Problem um? Nach meiner Kategorisierung ist der Rabe schwarz, hat einen gebrochenen Flügel und ist stets unglücklich. Im Klinikalltag sind das die Patienten, die keine Krankheit haben, sondern eine Krankheit sind. Sie haben keine Rückenschmerzen, sondern sie sind der Schmerz. Noch Jahre später können sie sich an die Rückenepisode erinnern und führen sämtliche Schicksalsschläge darauf zurück. Sie haben sich in einer dunklen Ecke eingenistet und finden nicht mehr heraus. Rein äußerlich fällt der Rabe sofort auf. Meist trägt er dunkle Kleidung, hält den Blick gesenkt, spricht leise und langsam. Hängende Schultern und gerunzelte Stirn, das Gesicht müde, manchmal schmerzverzerrt, es wirkt eingefallen. Ein Rabe leidet.
Bei einer akuten Lumbago wird ein Rabe zuerst die Schmerztropfen wählen, dann das Zäpfchen und schließlich doch eine Schmerzinfusion haben wollen. Zuallererst wird er jedoch nach einer großen, dicken Spritze fragen. Der Rabe glaubt, dass nur die Spritzen, die ihm wirklich wehtun, eine kleine Linderung bringen können.
Die Injektion eines Schmerzmedikaments in das Muskelgewebe ist eine heute noch häufig angewandte Technik vor allem in orthopädischen und allgemeinmedizinischen Arztpraxen. In der nationalen Versorgungsleitlinie der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften) steht hierzu sogar eine Negativempfehlung, sprich: Ärzte sollten davon die Finger lassen. Denn mittlerweile wissen wir, dass diese invasiven Maßnahmen zu einer Verlängerung der Krankheit beitragen und zu einer Infektion führen können. Dass diese Verfahren trotzdem nicht aus dem Alltag verschwunden sind, liegt an den Abläufen in einer Arztpraxis.
In der Notaufnahme können wir den Patienten die Schmerzmittel unmittelbar verabreichen, sie gegebenenfalls auf der Liege ausruhen lassen und abwarten. Meist sind die Schmerzen nach einer Stunde mit Tablette, Tropfen oder Zäpfchen deutlich besser, sodass die Person gehen kann. Wenn dem nicht so sein sollte, erhalten die Patienten eine Infusion, legen sich hin und gehen dann eine weitere Stunde später nach Hause. In einer Arztpraxis ist das einfach nicht möglich, dafür hat niemand ausreichend Personal und Platz. Die Praxen müssten Feldbetten aufstellen. Außerdem haben sich viele Patienten in den letzten zwanzig Jahren mit diesem invasiven Verfahren angefreundet. Haben sie Rückenschmerzen, gehen sie eben zum Doktor und erhalten die notwendige Spritze.
Damit werden die Patienten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen und bekommen das Gefühl, sich selbst nicht helfen zu können. Das eigentlich harmlose Krankheitsbild wird dadurch verschlimmert — schließlich half nur die Spritze. Wer schon einmal ambulant in einer Arztpraxis gearbeitet hat, wird sich jedoch fast nicht dagegen wehren können. Die Patienten fordern vehement diese Spritzen ein. Lässt du dich darauf nicht ein, führt es zu langwierigen Diskussionen, dadurch verschlechtern sich die Bewertungen im Internet, und der Ruf der Praxis steht auf dem Spiel. In der Notaufnahme ist das anders. Unser »Nein« wird zwar ebenso wenig akzeptiert, aber die Bewertung ist uns Klinikärzten meist egal. Wenn der Patient mit den akuten Rückenschmerzen das nächste Mal eine andere Notaufnahme aufsucht, sind wir sogar dankbar.
Natürlich könnte ich jetzt mit einem Raben über die Notwendigkeit dieser Spritze diskutieren: Eine Episode des akuten unspezifischen Kreuzschmerzes ist harmlos, geht wieder vorbei und lässt sich mit Bewegung, Wärme und geeigneter Schmerzmedikation als Tablette oder in Tropfenform gut behandeln. Ein Rabe wird verständnisvoll nicken, sich bedanken und anschließend nach der Spritze fragen.
Das ist nicht unbedingt rabenspezifisch, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Lösungen, die Geduld erfordern, sind nicht besonders gefragt, wenn alle Waren immer sofort verfügbar sind. Unabhängig von der Anspruchshaltung vieler Menschen, ist ein Rabe nicht unbedingt auf der Suche nach einer sofortigen Besserung. Nicht, dass er sich in seinem Schmerz wohlfühlt, aber ein Rabe ohne ein Problem, ist kein Rabe. Eine harmlose Episode des Rückenschmerzes? Nicht bei einem Raben. Sehr wahrscheinlich kommt er nach der maximal möglichen Schmerztherapie, die er zwei Tage lang ausprobiert hat, wieder, um eine erneute Schmerzinfusion zu verlangen. Dieses Spiel wird sich so lange wiederholen, bis der Rabe eine Kernspintuntersuchung der Wirbelsäule bekommen hat und endlich seine Diagnose weiß: Rückenschmerzen.
Vier bis sechs Wochen abwarten vor einer weiterführenden Diagnostik? Pah, unnötig, diese starken Schmerzen können nur das Schlimmste vom Schlimmsten bedeuten. Aber sollte sich der Arzt doch dazu entschließen, mindestens vier Wochen abzuwarten, ist der Verlauf klar. Der Rabe wird jede Woche auftauchen, nach Schmerzmittel fragen und in der vierten Woche endlich seine Überweisung für die Kernspintuntersuchung, das MRT, abholen. Was natürlich nur beim niedergelassenen Facharzt und nicht in der Notaufnahme gemacht werden kann. Allerdings taucht der Rabe vielleicht auch gar nicht mehr auf, weil er in der Zwischenzeit zwei weitere Notaufnahmen im Umkreis abgeklappert hat, mindestens einmal auf einem Röntgenbild seiner Wirbelsäule bestanden hat und bei drei Hausärzten war. Hat der Rabe richtig »Glück«, findet einer der behandelnden Ärzte auch noch etwas. Oft stehen in den Befundungen nämlich so Wörter wie Skoliose, Protrusionen oder gar Bandscheibenvorfälle. Dass der akute Rückenschmerz von vor sechs Wochen sehr wahrscheinlich überhaupt nichts mit diesen Wörtern zu tun hat, kann ein Rabe nicht glauben. Jetzt endlich ist er in seinem Element. Wegen seines Rückens, seiner Bandscheiben und seiner Protrusionen — kleineren Unregelmäßigkeiten an der Wirbelsäule — kann er nun nicht mehr laufen, gehen, arbeiten, Sport oder einen Ausflug machen oder seinen Geburtstag feiern. Wenn bloß diese Rückenschmerzen nicht wären.
Hierzu muss man wissen, dass wir wirklich nicht dazu gemacht sind, auf zwei Beinen zu laufen. Ständiges Stehen und sitzen, kaum Bewegung und einige überschüssige Kilos, das führt zwangsläufig irgendwann zu Rückenschmerzen. Die meisten Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens also Bandscheibenvorwölbungen, Abnutzungserscheinungen, leichte Fehlstellungen. Radiologen bei MRT-Untersuchungen sitzen vor riesigen Bildschirmen, betrachten Hunderte von Schnittbildern und schreiben dann allerlei medizinische Fachbegriffe in ihre Befunde. Die wenigsten davon jedoch, könnten überhaupt die Ursache für die akuten unspezifischen Rückenschmerzen sein.
Unspezifische Rückenschmerzen haben keine spezifische Ursache. Wenn Bandscheibenvorfälle oder eine Spinalkanalstenose oder Ähnliches für die Beschwerden verantwortlich sind, sind es spezifische Rückenschmerzen. Diese Schmerzen können wir Ärzte in der körperlichen Untersuchung erkennen, sodass wir keine sechs Wochen warten, um eine bildgebende Diagnostik zu machen. Dass Vorfälle oder andere Erscheinungen an der Wirbelsäule nicht unbedingt Probleme machen, zeigt der Alltag. Mit der Wirbelsäule ist es nicht anders als mit einem Gelenk an der Extremität. Ein Kniegelenk kann im Röntgenbild die größten Abnutzungserscheinungen zeigen, sodass man sofort einen künstlichen Kniegelenksersatz für notwendig hält. Hat ein Patient aber kaum Beschwerden, wird man ihn nicht operieren. Es geht natürlich auch andersherum: Die klinische Symptomatik ist deutlich ausgeprägter, als das Röntgenbild vermuten lässt, sodass früher zu einem Eingriff geraten wird, als bei anderen mit ähnlichem Befund.
Bleiben wir jedoch bei meinem Beispiel des unspezifischen Rückenschmerzes. Kennt man die Raben, möchte man ihnen als Arzt meist gar nicht alle Befunde ausführlich erläutern. Raben werden sich nämlich daran festklammern und sie auswendig lernen. Selbst wenn ich dem Raben erkläre, dass die Befunde harmlos sind und die Therapie die gleiche wie vor der Diagnostik bleibt, wird er von nun an seine zahlreichen Befunde für seine Rückenschmerzen verantwortlich machen.
Einen Therapieerfolg erzielen wir deutlich seltener bei einem Raben als zum Beispiel bei einem Löwen. Einen Raben dazu zu bringen, mit einem gebrochenen Flügel zu fliegen, ist beinahe unmöglich. Aber nur wer aktiv wird, sich bewegt, zur Physiotherapie geht und sich nicht dauerhaft schont, wird Linderung erlangen.
Bemerke ich also, dass ein Rabe vor mir sitzt, wird meine Therapieempfehlung dementsprechend eindrücklich ausfallen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich die Motivation besitze, dauerhaft für den Patienten eine Veränderung herbeizuführen. Ist mir das zu anstrengend, greife ich eben zur Spritze, binde ihn mir damit aber auch für längere Zeit ans Bein.
Wer hingegen keine Probleme hat, in die Gänge zu kommen, ist der Löwe. Grundsätzlich eher gemächlich unterwegs, kann er geduldig abwarten, was da auf ihn zukommt. Das bisschen Rückenschmerz? Ach, das wird schon wieder. Wird das Zwicken dann doch etwas unangenehmer, wählt der Löwe den Gang zum Arzt seines Vertrauens, anstatt in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu fahren. Rät der Arzt ihm zum Abwarten, willigt er, ohne zu murren, ein und beginnt die Bewegungstherapie auf seinem Fahrrad oder im Schwimmbad. Ein Löwe kann eine ganze Menge aushalten. Geduldig harrt er der Dinge, folgt den Anweisungen des Arztes mit würdevoller Haltung. Löwen haben Mut, sie sind Kämpfer der Extraklasse und Meister der Verteidigung.
Braucht ein Löwe eine künstliche Prothese, weil das Kniegelenk leider nicht mehr mitspielt, sucht er sich am ehesten einen Termin vor den Weihnachtsfeiertagen. Nach drei Tagen wird er sich am Treppengeländer entlanghangeln, nach fünf Tagen die Unterarmgehstützen in die Ecke werfen, die Rehabilitation nach den Feiertagen ambulant beginnen und Mitte Februar Skifahren wollen. Das Tempo ist zwar viel zu schnell, entspricht aber den Vorstellungen des Löwen.
Löwen sind meist kräftig und trainiert. Sie haben einen ordentlichen Händedruck und einen eindringlichen, offenen Blick. Stellt sich einer bei mir in der Notaufnahme vor, werde ich besonders wachsam. Ein Löwe kommt nur bei ausgeprägten Schmerzen, ein wenig Ziehen hier und dort — da dreht er sich nur müde um. Kommt ein Löwe mit Rückenschmerzen, kann man sofort mit der weiterführenden Diagnostik beginnen. Der Löwe kommt sprichwörtlich erst mit dem Kopf unter dem Arm in die Arztpraxis.
Deshalb sind Löwen auch häufig in Begleitung eines Partners. Manchmal ist die Anamnese der Partner sogar zielführender, als den Patienten selbst zu befragen. Denn die grundsätzliche Antwort eines Löwen auf eine Frage lautet: »Hrmpf.« Oder er zuckt mit den Schultern. Partner von Löwen haben es nicht einfach, sie machen sich oft wochenlang Sorgen. Sie müssen ihre Partner regelrecht zum Arzt zwingen, die dann im Behandlungszimmer plötzlich alle Beschwerden negieren.
Stellt sich bei mir ein Löwe mit unspezifischen Rückenschmerzen vor, werde ich hellhörig und gehe besonders sorgfältig vor, um nichts zu übersehen. Wenn ich mir sicher bin, dass die Diagnose stimmt, steht dem Therapieerfolg nichts im Wege. Ein Löwe kommt nicht wieder vorbei, sondern befolgt die aufgetragenen Therapien, überspringt hin und wieder einen Schritt und gibt nicht auf, bis die Schmerzen deutlich nachgelassen haben.
Bei Löwen weise ich in der Therapieempfehlung ganz besonders darauf hin, nicht zu viel zu machen. Also das genaue Gegenteil von der Empfehlung für den Raben. Nach meiner Erfahrung benötigt ein Löwe ganz genaue Anweisungen. Ansonsten wird er schnell übermütig.
Zum Beispiel Herr B.: Er polterte zur Tür meiner Sprechstunde für die Operationsaufklärung herein, seinen Händedruck spürte ich noch eine halbe Stunde später, mit lauter Stimme beschallte er bei geschlossener Türe den ganzen Flur. Er benötigte einen Termin für eine Kniegelenksspiegelung. Sein Innenmeniskus war kaputt und musste operiert werden. Laut Herrn B. durfte der Termin nur am Mittwoch bis 14 Uhr stattfinden, weil er spätestens um 16 Uhr wieder bei der Kollegin S. sein musste. Außerdem müsse er am Folgetag wieder nach Hamburg fliegen, um rechtzeitig zum Wochenende seine Arbeit zu erledigen. Dann stehe nämlich eine Wanderung in die Berge an. Dazwischen fragte er nach, ob die Schwellung bis dahin auch weitestgehend zurückgegangen sei und wieder ansehnlich sei. Viel zu schnell, nicht denkbar.
Ein Löwe, der sich auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit befindet, wird schnell gefährlich. Er kämpft um sein Revier und rennt auch mal mit dem Kopf durch die Wand. Herrn B. erklärte ich, dass das Ergebnis der Operation maßgeblich von ihm beeinflusst sei. Eine Operation kann nur so gut sein, wie es die postoperative Behandlung ist. Ich formulierte meine Erwartungen an ihn ganz eindeutig. Danach war ich mir sicher, dass er seinen Termin in Hamburg streichen und auch die Reise in die Alpen stornieren würde.
Löwen zu behandeln macht sehr viel Spaß. Sie arbeiten gut mit, halten sich an die Vorschriften, aber man muss sie etwas in ihrem Eifer bremsen. Das medizinische Verständnis der Löwen beruht darauf, dass sie Krankheit als eine von ihnen beeinflussbare Situation erleben. Gibt man ihnen klare Grenzen, steht einer erfolgreichen Therapie nichts mehr im Wege.
Ein ähnliches Selbstverständnis für medizinische Belange hat die Biene. Die Biene ist ein emsiges, kleines Wesen, das sich ständig in Bewegung befindet. Sie sucht und gräbt und arbeitet ununterbrochen, um ihren körperlichen Zustand so fit wie möglich zu halten.
Eine Biene wird man selten mit nicht therapierten unspezifischen Rückenschmerzen antreffen. Eine Biene tut alles, um niemals Rückenschmerzen zu bekommen. Sie geht dreimal die Woche zum Schwimmen, viermal ins Pilates oder in die Rückenschule, hat ein Abo für das Gerätetraining in der Physiotherapie, geht prophylaktisch zur Akupunktur, zum Osteopathen, zum Shiatsu, nimmt zahlreiche Nahrungsergänzungsmittel zu ihrer extrem ausgewählten Kost, ist einmal wöchentlich beim Heilpraktiker und einmal im Monat beim Homöopathen. Beim Arzt trifft man eine Biene nur zu Vorsorgeuntersuchungen und für prophylaktische Tipps.
Selbstverständlich wird auch eine Biene irgendwann einmal ein medizinisches Problem haben. Sollten es die unspezifischen Rückenschmerzen sein, kann ich allen Kolleginnen und Kollegen nur empfehlen, alle weiteren Termine am Tag zu verlegen. Denn jetzt wird es zeitintensiv. Sie wird alle therapeutischen Optionen durchdiskutieren. Bienen scheinen ein Extraorgan für das simultane Sprechen und Atmen zu haben. Leider kann ich bei Bienen kein wirklich effektives Kommunikationsmittel anbieten. Bienen muss ich zwangsläufig irgendwann unterbrechen, weil auch ich Grenzen habe. Ich kann weder über bestimmte Ernährungstherapien Auskunft geben, noch bin ich bewandert in den Wirkungen von Mineralien oder Steinen im Trinkwasser.
Bienen brauchen Grenzen ähnlich wie Löwen. Ich mache klare und direkte Ansagen, auf die ich mich im weiteren Krankheitsverlauf beziehen kann. Daher empfehle ich auch nie, dass eine Biene sich bei Bedarf wieder vorstellen sollte. Bienen brauchen einen festen Termin, ein Ziel und eine Aufgabe. Zielloses geduldiges Herumsitzen zählt nicht unbedingt zu ihren Stärken.
Rein äußerlich sind Bienen trainiert oder zierlich, haben eine drahtige Körperstruktur und ein sehr gepflegtes Äußeres. Bienen sind eher gebildet und haben kein Problem damit, großen, auch finanziellen Aufwand für ihre Gesundheit zu betreiben. Deshalb werden Jaguare und Dinosaurier häufiger Patienten dieser Kategorie haben.
Viele Bienen haben einen ausgeprägten Drang, sich vor Krankheiten schützen zu wollen. Diese Bienen der Selbstoptimierung sind meiner Meinung nach durch unsere Gesellschaft entstanden. Prävention ist wirklich wichtig. Wer rechtzeitig das Richtige tut, sein Verhalten ändert, die Ernährung umstellt, Bewegung in den Alltag einbaut, Arbeitsweisen und Schlafverhalten ändert, der kann sein körperliches Wohlbefinden stark beeinflussen. Ein übermäßiges Bestreben dieser Selbstoptimierung ist jedoch auch irgendwie krankhaft. Nicht alle genetischen und umweltbedingten Faktoren, die auf unsere Gesundheit einwirken, lassen sich eliminieren. Wenn es dann doch zu einer schicksalshaften Verletzung oder Erkrankung kommt, ist leider schnell zu viel des Guten. Geduld gehört nun mal zu der Genesung bei fast allen Erkrankungen dazu. Vielleicht führt unser moderner Lebensstil aber auch dazu, dass niemand mehr auf Besserung warten kann. Wenn alles immer verfügbar ist, wird die Geduld nicht unbedingt gefördert.
Es gibt Bienen, die lange ohne ärztlichen Kontakt auskommen, weil sie ihren Bedarf über andere Institute des Gesundheitswesens kompensieren. Trifft man allerdings eine Biene, die auf ärztliche Hilfe angewiesen ist, muss der behandelnde Arzt eine Entscheidung treffen. Wer der Biene Raum gibt, wird am Ende keine Zeit mehr für andere Patienten haben. In der Notaufnahme geht das nicht. Also komplimentieren wir die Bienen mit kurzen Antworten zur Türe hinaus. Die Biene ist mit einem solchen Arztbesuch natürlich nicht zufrieden. Dabei hätte sie durch ihre emsige Aktivität eigentlich die besten Voraussetzungen, die Empfehlungen auch umzusetzen. Da sie aber mit einfachen und wenigen Vorschlägen nicht zufrieden ist, erkenne ich eine Biene meist daran, dass ich die ganze Zeit das Gefühl habe, ihr nicht gerecht zu werden.
Spätestens bei der hundertsten Nachfrage, bin ich mir sicher, es mit einer Biene zu tun zu haben. Oft hilf es schon, die Problematik direkt anzusprechen. Ich erzähle der Biene also, dass ich das Gefühl habe, ihren Anforderungen an mich nicht gerecht zu werden. Die meisten Bienen winden sich, entschuldigen sich vielmals. Um dann anzufügen: »Aber es muss doch noch irgendwas anderes geben, was ich tun kann.«
Jetzt kommt die Sternstunde des wissenden Arztes, um die Biene sanft und sicher in ihren Bienenstock zurückzuführen. Ich weise sie auf ihre große Aufgabe hin. Sie muss Geduld aufbringen, abwarten, optimistisch bleiben und ihre Aktivitäten herunterschrauben. In der Praxis würde ich diesen Patienten krankschreiben. Bienen muss man aus ihrem Arbeitsalltag nehmen, damit sie sich etwas schonen. Von alleine machen sie das nicht. Für Bienen bedeutet, sich zu schonen, immer noch, morgens zehn Kilometer zu laufen und abends ins Schwimmbad zu gehen. Dazwischen erledigen sie ihren Alltag und beschränken sich darauf, nur zwei anstatt vier Körbe Wäsche zu bügeln. Dass sich Bienen mit ihrem zu viel des Guten auch schaden können, ist vielen nicht bewusst. Ihre Symptomatik kann sich dementsprechend lange hinziehen.
Eine Biene mit langjährigen Rückenschmerzen zu behandeln, ist schwer, weil sie die Durchhalter unter den Schmerzpatienten sind. Sie ackern sich ab, optimieren sich selbst, greifen höchst selten auf Schmerzmittel zurück, da sie der Meinung sind, ihr Körper schaffe alles auch ohne chemische Unterstützung. Dabei vergessen sie aber leider lockerzulassen. Irgendwann bricht selbst die Biene ein und empfindet ihren Zustand mit chronischen Schmerzen als aussichtslos. Das muss aber nicht sein. Es funktioniert gut, zumindest bei mir, Bienen kurzfristige Ziele zu stecken. Die therapeutischen Empfehlungen für eine Biene ähneln denen von Löwen: Man muss sie zurückhalten. Um die psychische Komponente bei Bienen gleich mitzubehandeln, sind begleitende Verfahren wie progressive Muskelrelaxation nach Jakobson oder andere Entspannungsverfahren äußerst wirkungsvoll. Zum Glück gibt es inzwischen mit den Modellen der multimodalen Schmerztherapie und rehabilitativen Versorgung eine Möglichkeit, Bienen eine für sie wirkungsvolle Behandlung anbieten zu können.
Während die Bienen das Arztzimmer gar nicht mehr verlassen wollen, geht es den Straußen nie schnell genug. Diese Patientenpersönlichkeiten bekommen wir ganz selten zu Gesicht, Arztbesuche sind für sie der blanke Horror und meist nur durch massiven Druck der Angehörigen möglich. Deshalb trifft man sie auch selten alleine an.
Die meisten Strauße fallen mir schon bei der Begrüßung auf. Ihr Händedruck ist, als hätte man einen toten Fisch in der Hand. Sie senken ihren Blick gen Boden. Bei Augenkontakt weichen sie stets aus oder rutschen wie kleine Kinder auf den Stühlen hin und her. Selten erhält man auf eine offene Fragestellung wie »Was kann ich für Sie tun?« einen zusammenhängenden Satz. Die Äußerung der Beschwerden ist diffus, zerstückelt, daraus lässt sich erst einmal nichts ableiten.
Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte es mit einem Strauß zu tun haben, bin ich ganz besonders vorsichtig und plane sofort zehn Minuten mehr ein. Ein Strauß lässt sich nicht hetzen oder in die Ecke drängen. Wenn Ärzte von ihm verlangen, sich kurz zu fassen, verlässt er die Notaufnahme gleich wieder. Auch eine Möglichkeit. Aber vielleicht nicht die beste.
Strauße stecken bei körperlichen Anzeichen von Krankheit zunächst den Kopf in den Sand, buddeln sich ganz tief ein. Eine kluge Strategie. Zumindest vorübergehend. Der Körper hält einiges aus. Irgendwann aber bröselt der Sand, oder der Partner des Straußes schafft es tatsächlich, den Kopf frei zu buddeln. Dann schleift er den schwer kranken Strauß postwendend zum Arzt. Die Diagnose unspezifische Rückenschmerzen gibt es bei einem Strauß fast nicht, bei ihm kann man getrost das Schlimmste annehmen: eine Entzündung an der Wirbelsäule, Wirbelkörperfrakturen oder eine Krebserkrankung. Typischerweise sucht ein Strauß die Notaufnahme freitagnachmittags auf. Gegebenenfalls auch in der Nacht oder am Wochenende. Auf jeden Fall zu einer Randzeit, wenn viel los und die Wahrscheinlichkeit, übersehen zu werden, am höchsten ist. Da die Anamnese bei Straußen im Erstkontakt fast unmöglich ist, maximal der Partner wird da behilflich sein, muss ich mich in diesem Fall auf Blutwerte und die bildgebende Diagnostik verlassen.
Bei unspezifischen Rückenschmerzen machen wir natürlich kein Röntgenbild der Wirbelsäule, dafür ist die Strahlenbelastung einfach zu hoch. Eine gute klinische Untersuchung und die korrekten Fragestellungen zeigen uns Ärzten, wann wir ein Röntgenbild benötigen. Erst wenn sogenannte »red flags« vorliegen, also Warnzeichen, gibt die Leitlinie ein Röntgenbild vor (mit den Leitlinien der oben angesprochenen AWMF ist der behandelnde Arzt wissenschaftlich, evidenzbasiert auf der richtigen Seite. Auch als Begründung bei Rechtsfragen ist die Einhaltung dieser Richtlinien hilfreich). Die meisten Strauße haben multiple »red flags«.
Strauße zeigen einen sehr typischen Behandlungsverlauf: In atemberaubenden Tempo verlässt er das Krankenhaus und ward nie mehr gesehen, ohne auf eine Therapieempfehlung oder die Bedeutung der Diagnose zu warten. So eilig haben sie es, wieder in ihr sicheres Zuhause zu kommen. Auch wenn es einmal ein harmloser Befund ist, vermutet der Strauß das Allerschlimmste. Einem Strauß ist insgeheim nämlich bewusst, dass er krank ist. Bei harmlosen Krankheiten kein Problem. Vieles geht mit der Zeit wieder vorbei, auch wenn man keine Therapie in Anspruch nimmt. Handelt es sich jedoch um eine Diagnose wie Krebs, die dringend behandelt werden müsste, ist dieses Verhalten natürlich gefährlich.
Deshalb ist es bei Straußen besonders wichtig, empathisch und patientengerecht zu kommunizieren. Eine Biene, ein Löwe und ein Rabe sind da etwas unempfindlicher. Einen Strauß davon zu überzeugen, stationär aufgenommen zu werden und sich operieren zu lassen, ist Schwerstarbeit. Wenn sich ein Patient nach entsprechender Aufklärung dafür entscheidet, sich nicht therapieren zu lassen — auch in Ordnung. Wir Ärzte können immer nur Empfehlungen aussprechen. Entscheiden darf und muss der Patient schon alleine. Bei einem Strauß bin ich mir nur nie sicher, wie viel er am Ende verstanden hat oder ob er nur seiner angeborenen Fluchttendenz folgt.
Wir brauchen also vor allem Geduld: das Gespräch am nächsten Tag wiederholen, einen anderen Arzt hinzuziehen oder die Angehörigen. Denn der Strauß ist, wenn er sich dann endlich zu einer Therapie entschieden hat, ein angenehmer Patient. Er fragt nie nach, hat keine Extrawünsche und befolgt die Anweisungen des Pflegepersonals. Denn sein oberstes Ziel bleibt es, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren. Aber genau deshalb ist in der stationären Behandlung von Straußen Vorsicht geboten. Sie sind Meister der Vermeidung. Anstatt von ihrem schmerzhaft geschwollenen Bein zu berichten, warten sie schon mal ab, bis sich das Blutgerinnsel im Bein zur ausgewachsenen Lungenarterienembolie entwickelt hat, sodass sie ihre Symptome nicht mehr unter der Bettdecke verstecken können.
Patienten verursachen ab der ersten Anamnese Kosten. Bei einem Strauß werden wegen der Schwere der Krankheit oft teure Maßnahmen veranlasst wie eine Röntgendiagnostik, eine Computertomografie, eine Kernspinuntersuchung, wir ermitteln Blutwerte, fordern eine konsiliarische Beurteilung durch Ärzte anderer Abteilungen an und verbringen viel Zeit mit der Therapieplanung. Flieht der Patient dann vor der operativen Versorgung, wird uns im aktuellen Vergütungssystem die Diagnostik nicht ansatzweise kostendeckend erstattet.
Viele Chefärzte sind deshalb dazu übergegangen, Strauße grundsätzlich schon in der Notaufnahme aufzuspüren, um Kosten zu sparen. Sie halten uns Ärzte dazu an, eine weiterführende Diagnostik nur dann durchzuführen, wenn der Patient grundsätzlich mit einer operativen Therapie einverstanden ist. Ansonsten setzen wir nämlich Tausende Euro in den Sand, in den sich der Strauß dann wieder eingräbt. Diese Sichtweise ist vielleicht nicht ganz patientengerecht, aber sinnvoll. So können unnötige Untersuchungen eingespart werden.
Im Prinzip gilt für alle medizinischen Therapien das Gleiche: Es lohnt sich nicht, nach einem Problem zu suchen, das der Patient überhaupt nicht therapiert haben möchte. Zum Beispiel gibt es Wirbelkörperbrüche, die durch Osteoporose entstehen. Bricht ein Wirbelkörper im hohen Alter ein und wird kleiner, dann kann der Grund dafür einfach die schlechte Knochenqualität sein, es muss keinen Sturz gegeben haben. Im Röntgenbild ist dann nur ein etwas kleinerer Wirbelkörper zu sehen. Ist der Bruch frisch, kann man diesen Wirbel in einer kleinen Operation mit Zement auffüllen und damit eine schnelle, sehr wirkungsvolle Schmerztherapie erzielen. Ist der Bruch alt, ist das keine Option — und sehr wahrscheinlich verursacht er auch nicht den Rückenschmerz. Im Kernspin können wir sehen, wie alt der Bruch ist. Diese teure Untersuchung ist aber natürlich nur dann sinnvoll, wenn der Patient am Ende auch einer operativen Versorgung zustimmt. Wer ohnehin keine OP möchte, für denjenigen ist es unerheblich, wie lange er oder sie schon mit einem Wirbelbruch durch die Weltgeschichte läuft.
Ein anderes Beispiel ist die Vorsorgeuntersuchung und das Screening auf Brustkrebs. Weiß eine Frau, dass sie sich bei einer Krebserkrankung keiner operativen Versorgung und keiner Chemotherapie oder Bestrahlung unterziehen möchte, ist das Screening natürlich sinnlos. Dass sich so ihr Leben stark verkürzen könnte, muss der Patientin allerdings auch klar sein.
Die letzte meiner Patientenkategorien ist das Chamäleon. Sie versprechen immer ein Aha-Erlebnis, denn ein Chamäleon erkennt man erst, wenn die Behandlung fast beendet ist. Es stellt sich mit Rückenschmerzen vor, betet die klassischen Symptomen eines unspezifischen Kreuzschmerzes herunter und erhält die entsprechende symptomatische Therapie. Während das Schmerzmittel wirkt, liegt das Chamäleon auf seiner Liege und ist irgendwie nicht zufrieden. Kurz bevor es nach Hause gehen kann, fällt ihm dann noch ein, dass die Schmerzen doch erst nach einem Sturz aufgetreten sind. Oder dass es zusätzlich noch ganz entsetzliche Bauchschmerzen hat. Vielleicht ist doch auch die Galle das Problem. Die Chamäleons können in kürzestem Abstand ihre Beschwerden ändern. Mal ist es was für die Orthopädie und Unfallchirurgie, dann eher Allgemeinchirurgie, Urologie, Frauenheilkunde oder Innere Medizin. Chamäleons scheinen kein besonders gutes Körpergefühl zu haben und sind häufig in jugendlichem Alter. Als Greise habe ich sie zumindest noch nie kennengelernt.
Chamäleons sind sehr häufig in der Notaufnahme anzutreffen. Sie haben irgendwie immer was, auch wenn sie es nur selten gut zuordnen können.
Um ihre Defizite zu kompensieren, versuchen sie ihren Körper mit Hilfe des Smartphones zu verstehen. Sie glauben alles, was Dr. Google ihnen ausspuckt. Sie suchen sich ihre Diagnose im Web, finden weitere Diagnosen, die zu ihren (diffusen) Beschwerden passen und werden immer unsicherer. Dabei begegnen sie uns Ärzten mit dem größten Misstrauen. Grundsätzlich muss man sie darauf hinweisen, dass sie nicht ungefragt Fotos oder Videos aus der Notaufnahme in soziale Netzwerke übertragen. Das ist tatsächlich ein größeres Problem, als Sie vielleicht vermuten würden. Ich habe Chamäleons schon ihre Fahrt im Rettungswagen dokumentieren, Behandlungsräume filmen und Wunden abfotografieren sehen.
S. zum Beispiel. Er hatte sich in den Unterarm geschnitten und fragte mich, ob er mich filmen dürfe, wie ich seine Wunde nähe. Immerhin hatte er gefragt. Als ich verneinte, versprach er mir eine Extrasequenz auf seinem YouTube-Kanal und eine positive Rückmeldung bei meinem Chef. Ich lehnte ab.
S. war enttäuscht und mutmaßte, dass ich meine Arbeit nicht richtig beherrschte. Herrliche Voraussetzungen für eine gelungene Kommunikation. Er ließ mich die Wunde nähen, verweigerte aber im Anschluss einen Verband. Das Ganze musste dringend abfotografiert und gepostet werden. Live, erklärte er mir, sei sowieso das Allerbeste. S. war in dieser Nacht glücklicherweise zu sehr mit seinem Handy beschäftigt, um sich in ein anderes Tier zu verwandeln. Denn das ist normalerweise das Hauptcharakteristikum des Chamäleons.
Beschäftigt man sich mit den Rückenschmerzen, zwickt es auch noch im rechten Knie, dem linken Unterschenkel, am rechten Auge, und der Ausschlag am Handrücken ist lästig.
Chamäleons sind ein Fass ohne Boden. Wenn man sich jedoch einmal klargemacht hat, dass die meisten Beschwerden kein Notfall sind, sondern eher Befindlichkeitsstörungen, kann man mit ihnen ganz vernünftig umgehen. Chamäleons erwarten nämlich nicht zwangsläufig für alle Beschwerden eine Lösung. Sie wollen vor allem davon erzählen, wahrgenommen und beruhigt werden. Ihnen zuzuhören, reicht oft völlig aus als Therapie. Denn die meisten Chamäleons haben unsägliche Angst, nicht genug Vertrauen in ihren Körper und können seine Symptome gar nicht richtig deuten.
Bei einem Chamäleon empfehle ich, es so lange wie möglich ausreden zu lassen. Wer es unterbricht, lässt es nur einen Teil seiner Geschichte erzählen. Chamäleons werden dann immer wieder nachhaken. Natürlich sollte man diesen Aspekt bei allen Arzt-Patienten-Gesprächen berücksichtigen, aber bei einem Chamäleon führt die Unterbrechung des Redeflusses zu einer riesigen Zeitverzögerung.
Chamäleons haben übrigens kein äußerliches Charakteristikum. Für ihre Behandlung ist es trotzdem entscheidend, welche Art Chamäleon sie sind. Gehören sie eher zu den Unwissenden, ist die Kommunikation einfach. Sobald alle Befindlichkeitsstörungen erläutert sind, ist der Arztbesuch beendet.
So ist es zum Beispiel durchaus keine Seltenheit, Patienten mit wenig Gesundheitskompetenz, zu erklären, dass einmal weicher Stuhlgang noch kein Durchfall ist. Nur alle drei Tage Stuhlgang zu haben, ist auch okay. Ziehende Schmerzen im Kiefer sind auch sehr selten ein Herzinfarkt, wenn man soeben beim Zahnarzt war. Auch wenn Dr. Google das sagt. Schmerzen im Arm nach einem Umzug sind am häufigsten Muskelkater. Chamäleons rufen am Abend die 112 an, weil sie sich in die Fingerkuppe geschnitten haben, und es blutet. Wenn man draufdrückt, hört es meistens wieder auf.
Die Anzahl der Patienten, die keinerlei Ahnung vom Aufbau und der Funktion ihres Körpers haben, ist beängstigend. Diese Chamäleons sind harmlos. Für sie wären gesundheitsbildende Maßnahmen in den Kindergärten und Schulen sinnvoll.
Allerdings gibt es noch eine andere Art Chamäleon. Diese Persönlichkeiten agieren wie Chamäleons, weil sie zu viel, wenn auch keine wissenschaftliche Gesundheitskompetenz haben. Chamäleons dieser Art sind bestens informierte Patienten. Ähnlich den Bienen kennen sie sich im Dschungel der Medizin und Pseudomedizin bestens aus: Schulmedizin, Homöopathie, Naturheilkunde, anthroposophische Medizin, chinesische und japanische Medizin, Alternativ- und Komplementärmedizin. Der Dschungel ist riesig. Zwickt es im Bauch, hat es seinen Grund in der Lunge, läuft die Nase, muss man zehnmal im Kreis rennen und ein klärendes Gespräch mit der Mutter suchen. Wenn das aber nicht hilft, steckt sicherlich etwas Ernsthaftes dahinter. Ansonsten wäre die Symptomatik doch sicherlich schon nach einem Tag verschwunden, oder? Chamäleons dieser Art haben Angst. Unerträgliche, ständige Angst.
Chamäleons möchten gerne beruhigt werden. Sie möchten alle ihre Wehwehchen zeigen, um auch sicherzugehen, dass dahinter kein Krebs, keine ernsthafte Erkrankung oder ein unerklärliches Phänomen steckt. Deshalb wird jedes körperliche Empfinden überinterpretiert, genauestens begutachtet und geprüft. Woher diese große Angst bei so vielen Patienten rührt, weiß ich nicht. Aber es ist genauso erschreckend, wie die Anzahl der Patienten, die unter mangelnder Gesundheitskompetenz leiden.
Die Kommunikation mit Chamäleons braucht ähnlich viel Zeit, wie die Kommunikation mit einer Biene. Auch wenn ich oftmals erstaunt bin über die Fragen der Chamäleons, macht die Arbeit mit ihnen eigentlich viel Spaß. Einen Patienten glücklich zu machen, indem man ihm erzählt, dass es normal ist, wenn sich der Bauch beim Einatmen nach außen wölbt und keine Fehlformation der Hauptschlagader dahintersteckt, ist ja keine große Arbeit. Irgendwie gehört Aufklärung auch zu unserem Job dazu.
Stellt sich ein Chamäleon in der Notaufnahme mit unspezifischen Rückenschmerzen vor, hilft den Patienten also eher die Aufklärung über die Beschwerden, als die Information über multiple therapeutische Möglichkeiten. Eines jedoch muss einem als Arzt klar sein. Das Therapieziel darf nicht zu hoch gesteckt werden. Das Chamäleon wird sich ohnehin erst im Internet belesen und meine Empfehlungen wahrscheinlich ignorieren. Daher rate ich jedem Chamäleon grundsätzlich, einfach mal das Handy auszulassen.
Bringt man nun diese fünf Patienten- und Ärztepersönlichkeiten zusammen, bietet sich ein unglaubliches Spektakel. Paaren Sie einen Jaguar mit einem Raben, wissen wir alle, wie das ausgeht: Der Jaguar ist nach zwei Minuten fertig, der Rabe hat noch nicht einmal seinen Satz ausgesprochen. Trifft allerdings eine Biene auf einen Jaguar, ist das eine exzellente Partnerwahl. Der Jaguar kann sein ganzes Wissen anbringen, die Biene wird überaus glücklich die Praxistüre hinter sich schließen. Bei Chamäleons sollte besser ein Leopard oder ein Bär die Behandlung übernehmen, und bei Straußen am besten die Maus.
Im Krankenhaus oder in der Notaufnahme kann man sich den behandelnden Arzt nicht aussuchen. Es kommt daher häufig zu hitzigen Diskussionen oder fehlerhafter Kommunikation. Der Patient fühlt sich nicht verstanden, die Ärzte verstehen die Patienten nicht. Im Praxisalltag haben Patienten hingegen die freie Arztwahl. Wenn das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht passt, wird die Behandlung immer schwierig. Patienten sollten sich im besten Fall kennen und wissen, mit welcher Art Arzt sie man am besten zurechtkommen. Möchte man eher wenig Gefasel, wählt man eine Maus oder eine Hyäne. Die sagen einem in wenigen Worten, was bei einem Jaguar oder einem Dinosaurier fünf Minuten Zeit kostet. Ist es einem wichtig, von einem charismatischen Arzt behandelt zu werden, der schon durch seine bloße Anwesenheit eine heilende Wirkung hat, braucht man eben eher einen Jaguar oder einen Dino. Für uns Ärzte sind diese groben Klassifizierungen äußerst zielführend. Merke ich, dass ich einen Strauß vor mir habe, hole ich gerne Kollege Superman dazu. Er ist eine Maus und findet meist noch eine wichtige Information, die ich als Leopardin übersehen habe.
Allerdings war meine Arbeit als Ärztin die Ursache dafür, dass ich selbst zum Raben wurde.
Nach einigen Jahren dauerhafter Anspannung und Einsatzbereitschaft, Einhundert-Stunden-Wochen und fehlendem Ausgleich, war die Unfallchirurgie meine Berufung geworden. Ohne diesen Beruf war ich praktisch nicht mehr existent. Meine Wohnung eine einsamen Insel, in der es grundsätzlich nur etwas ungekühltes Radler und saure Milch gab. Bei den wenigen Treffen mit meinen Freunden konnte ich einzig und allein von der Arbeit erzählen.
Sie bot auch die passende Ausrede für alle Abende, an denen ich hundemüde auf dem Sofa eingeschlafen bin. Ohne mir die Zähne zu putzen oder die Schuhe auszuziehen. Mein Beruf entschuldigte plötzlich alles. Feierte meine Oma ihren 85. Geburtstag, hatte ich entweder Dienst oder war nach dem Dienst zu müde, um die lange Strecke zu fahren. Suchte eine Freundin nach Helfern für den Umzug, antwortete ich erst gar nicht. Die anderen würden es schon verstehen.. Ich war schließlich Ärztin. Das musste Grund genug sein. Oder?