An meinem absoluten Tiefpunkt angelangt kam ich ins Grübeln. Medizinerin zu sein war einfach. Ich musste nur den Anweisungen folgen, leitliniengerechte Therapien anordnen, wissenschaftlich arbeiten und auf Schlaf verzichten. Meine Chefs waren zufrieden mit mir. Aber ich hatte mich als Mensch verloren. Ursprünglich hatte ich Medizin studiert, um Wissenschaft und Menschlichkeit zu vereinbaren. Dieses Ziel hatte ich komplett aus den Augen verloren.
Ärztin zu werden, bedeutet mehr, als sich um Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge zu kümmern. Ärztin zu sein, bedeutet empathisch zu sein, moralische und ethische Entscheidungen zu treffen, nachzudenken, sich auszutauschen und daran zu orientieren, was der Patient benötigt.
Natürlich kann man Patienten nur beraten und zusammen mit ihnen zu einer Entscheidung hinsichtlich ihrer Therapie kommen, das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen steht an erster Stelle. Aber warum entscheiden sich so viele Patienten für eine ärztliche Behandlung, obwohl sie keine bräuchten? Und warum entscheiden sich so viele Patienten gegen die Behandlung, obwohl sie medizinisch gesehen sinnvoll wäre? Und warum ließ mich diese Situation so unzufrieden zurück? Hätte es mir nicht egal sein können, wenn ich mein Bestes getan hatte? Waren wir in unseren Kliniken so weit weg vom tatsächlichen Bedarf der Menschen?
Ich beschloss, dieses Mal in einer nahe gelegenen Region Urlaub mit meinen besten Freunden zu machen. Zeit für Besinnung und Grundsätzliches. Wer sollte besser geeignet sein, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, als diejenigen, die mich schon mein Leben lang kannten.
Zum allerersten Mal seit Beginn meiner Arbeitszeit ließ ich alle Bücher und Fortbildungsmöglichkeiten zu Hause liegen, genoss die Sonne und die Stunden ohne Telefon. Schlaf konnte ich allerdings nur bedingt nachholen. Mein Körper hatte sich an die unruhige Dienstbelastung gewöhnt. Ich versuchte, einen Tagesrhythmus einzuhalten, weniger koffeinhaltige Getränke zu trinken, regelmäßig zu essen. Nach zehn Tagen spürte ich eine deutliche Veränderung. Mein Körper entspannte sich. Schultern und Nacken wurden lockerer, die täglichen Wanderausflüge und Bahnen im Schwimmbecken machten meine Muskulatur geschmeidig, der Wind in den Haaren vertrieb die düsteren Gedanken. Zum allerersten Mal dachte ich nicht an die Klinik, sondern genoss das Beisammensein mit meinen Freunden. Ich erfuhr von dem Bandscheibenvorfall eines Freundes, von der bösartigen Erkrankung einer Freundin, von geplanten Hochzeiten und von Schwangerschaften in meinem Freundeskreis. Mein Leben hatte zu lange nichts mehr mit dem durchschnittlichen Alltag eines Menschen zu tun gehabt. Viel zu lange hatte ich meine Freunde und Familie vernachlässigt.
Die Freunde beschäftigten sich mit Hochzeitsplanungen und suchten Babykleider aus, sie bauten Häuser oder wechselten den Job. Eine langjährige Beziehung von Freunden war in die Brüche gegangen, die Ehe meiner Nachbarn von früher gescheitert. Alltag, den ich seit Jahren irgendwie mehr verpasst als erlebt hatte. Diese Menschen hatten Sorgen, Ängste, Freude, Liebe, Spannung, Entspannung — die gesamte Bandbreite der alltäglichen Gefühle. Mir blieb nach Jahren der Selbstdisziplin ein Panzer der Professionalität, Sarkasmus und Ironie.
Ich hatte eben nicht mein Bestes getan. Das Beste wäre gewesen, mich mit den Patienten als Menschen auseinanderzusetzen. Hatte ich K. die Möglichkeit eingeräumt, sich gegen die Operation zu entscheiden? Irgendwie hatte ich das natürlich vor der Operation erwähnt. In K.s Fall war die OP der letzte Strohhalm, die letzte Möglichkeit, sein Leben zu retten. Die Alternative, ihn ohne Operation sterben zu lassen, hatte ich nicht in Betracht gezogen. K. hatte die Aufklärung für die Operation unterschrieben. Seine Augen waren wissend, entspannt und gütig gewesen. Im Nachhinein glaube ich, dass die Alternative für uns behandelnde Ärzte schwieriger zu akzeptieren gewesen wäre als für K. War uns bewusst, dass wir wahrscheinlich verlieren würden? Ja. Das war es. Und doch hatten wir es nicht akzeptieren können. Weder mein Oberarzt, noch der aufklärende Anästhesist noch ich hatten einen zweiten Blick riskiert. Ging es uns bei anderen Patienten ähnlich?
Als Unfallchirurgin arbeite ich in einem operativen Fach, die Möglichkeiten der konservativen Therapien ohne Messer spielen bei uns nur eine untergeordnete Rolle. Wir wurden zum Operieren ausgebildet. Aber viele dieser Entscheidungen für das Messer haben keine ethischen, moralischen oder menschlichen Beweggründe. In manchen Fällen sogar nicht einmal wissenschaftliche. Da wir uns kaum mit der Alternative beschäftigen, gibt es oft als einzig denkbare Lösung die Operation. Ich erinnerte mich an zahlreiche Abteilungsbesprechungen, in denen wir Indikationen für die operativen Versorgungen besprochen hatten. Die Kollegen der Abteilung plädierten doch häufig für OPs, wenn es um Brüche ging, die man theoretisch auch konservativ therapieren konnte. »Wir sind ein Krankenhaus. Wir sind fürs Operieren zuständig. Wer das nicht möchte, soll nicht kommen. Der kann ja auch zum niedergelassenen Orthopäden. Der wird schließlich dafür bezahlt.« Am Ende jedes Tages, Monats und Jahres zählten nur die Zahlen.
Diese Orientierung an der Wirtschaftlichkeit hatte sich uns tief eingebrannt. In den Frühbesprechungen der Abteilung besuchte uns ab und an jemand aus der Verwaltung. Bereits zu früher Morgenstunde wusste diese Person, welche Patienten neu aufgenommen worden waren. Zudem kannte sie den Versicherungsstatus: privat, gesetzlich, zusatzversichert oder ohne Krankenversicherung. Sie wies uns jedes Mal darauf hin, dass Patienten erst dann operiert werden durften, wenn sichergestellt war, wer die Kosten übernimmt. Mein Chef hielt sich sehr selten an diese Anweisung. Ich nahm damals an, dass es eine menschliche Entscheidung war. Damit der Patient nicht unnötig lange auf eine Operation warten musste. Der eigentliche Beweggrund aber war, dass wir für Patienten eine Fallpauschale bekamen. Ab dem Aufnahmetag kosten sie unsere Abteilung Geld. Der Erlös, die Fallpauschale des Patienten, ist immer gleich. Unabhängig davon, ob der Patient drei oder fünf Tage bei uns liegt. Operierten wir ihn erst am dritten Tag, kostete er die Abteilung also mehr, als wenn wir ihn bereits am dritten Tag operiert nach Hause entließen. Mein Chef pokerte also, die Kosten werden aber auch fast immer vom Sozialstaat übernommen. Hätte er bis zur Bestätigung der Kostenübernahme gewartet, hätte die Abteilung weniger an diesem Patienten verdient.
Die Entscheidung für eine Operation gegen eine konservative Therapie folgt ganz einfachen Prinzipien: Kam S. mit einem Bruch des Oberarmkopfes, wurde S. auch am Oberarmkopf operiert. Wir Ärzte in Weiterbildung beschwerten uns nicht. Nein, meist waren wir sogar sehr dankbar dafür. Diesen Eingriff dürfen Ärzte in Weiterbildung nämlich häufig unter Anleitung selbst durchführen. Operierten wir S. am Oberarmkopf und versorgten ihn zum Beispiel mit einer Platte, konnte S. am fünften Tag nach Hause, und wir bekamen die Fallpauschale für ihn. Operierten wir S. nicht und stellten den Arm in einer Schlinge ruhig, war das natürlich leicht entgangenes Geld. Im Übrigen ist ein Patient, der sich in diesem Fall für die konservative Therapie entscheidet, selten im Krankenhaus anzutreffen. Denn stationär gibt es dafür keine Fallpauschale. Entscheidet S. sich also gegen die Operation, muss er auch zwingend nach Hause, egal ob er sich dort selbst versorgen kann oder nicht. Kam S. an einem Freitag, wurde es knifflig. Wie sollte sich der Achtundachtzigjährige S. denn zu Hause alleine versorgen? Entschieden wir uns dazu, ihn über das Wochenende im Krankenhaus zu behalten, weil die Angehörigen noch Vorkehrungen für seine Versorgung treffen mussten, bekam die Abteilung für S. kein Geld, und der Patient musste spätestens am Montag um 11 Uhr die Station verlassen haben. Alternativ konnten wir das Patientenzimmer von S. während der Chefarztvisite abschließen oder S. im Aufzug verstecken. Sollte der Chefarzt nämlich mitbekommen, dass S. eine Fraktur hatte, die nicht operiert wurde und damit gar mehrere Tage im Krankenhaus lag, wurde er laut. Mit Sicherheit war im Anschluss dieser Visite ein Arzt in Weiterbildung zwei Köpfe kürzer und ein Patient mehr auf der Liste für die operative Versorgung. Zu den genauen Hintergründen dieses Abrechnungssystems erzähle ich Ihnen in Kapitel neun noch mehr.
Mit dieser Erkenntnis des Primats der Wirtschaftlichkeit verstand ich auch, warum wir ständig in Unterbesetzung arbeiteten. Ganz einfach: weniger Personal, weniger Kosten.
Nach meinem Urlaub kündigte ich. So einfach wollte ich mich nicht mit diesem System zufriedengeben. Irgendwo musste es doch eine andere Lösung geben.
Ich begab mich auf Stellensuche und arbeitete in allen Kliniken einige Tage Probe. Ich durchleuchtete die Teams, sprach mit den Gesundheits- und Krankenpflegern auf Station und in der Notaufnahme und mit den Betriebsräten. In vielen Kliniken waren die Arbeitsbedingungen ähnlich. Siebzig- bis Hundert-Stunden-Wochen waren die Regel. Dennoch gab es einige eklatante Unterschiede. In manchen Kliniken gab es noch Sechsunddreißig-Stunden-Dienste, in anderen zwölf Stunden Schichtdienst. Einige reine orthopädische Kliniken zog ich ebenfalls in Betracht. Allerdings fand ich hier nur Abteilungen, die sich um ein einziges Gelenk kümmerten.
Natürlich wären die Dienste in einer rein orthopädischen Klinik angenehmer gewesen. Sie haben zwar auch die Türen für die Notfallversorgung geöffnet, können aber nachts viel Diagnostik nicht selbst durchführen. Deshalb werden sie von den Rettungswagen meist weniger angefahren. Auch die meisten Patienten in der Umgebung wissen, dass sie bei einem Notfall dort nur eine Erstversorgung bekommen können und fahren deshalb weiter. Die Dienstbelastung ist sicherlich trotzdem noch ausreichend hoch. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, mich den Rest meines Lebens mit einem einzigen Gelenk des Körpers zu beschäftigen.
Ich vergrößerte meinen Suchradius, als ich feststellte, dass die Arbeitsbedingungen im engen Gebiet der Großstadt allesamt ähnlich schlecht waren. Außerhalb veränderten sich auch die Arbeitsbedingungen. Schlussendlich entschied ich mich für eine große Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie, die auch Wirbelsäulenchirurgie umfasste. Auch hier waren die einzelnen Unterabteilungen in Sektionen unterteilt, durch die man aber einfacher rotierten konnte, als ich es bisher kennengelernt hatte. Ich entschied mich für diese Klinik, weil es dort keine Vierundzwanzig-Stunden-Dienste mehr gab und die meisten Mitarbeiter langjährige Arbeitsverträge hatten. Die Gesundheits- und Krankenpfleger waren teilweise seit zwanzig Jahren im selben Krankenhaus, es gab Ärzte, die ihre gesamte Weiterbildungszeit nur in diesem Krankenhaus absolviert hatten. Daher mutmaßte ich, dass Wert auf Konstanz und Mitarbeiterbindung gelegt wurde. Außerdem gab es einen starken Betriebsrat im Krankenhaus, der innerhalb der letzten Jahre einige Verbesserungen für die Mitarbeiter herbeigeführt hatte. Das kannte ich so gar nicht.
Innerhalb von drei Stunden hatte ich meine wenigen Sachen aus der kleinen Wohnung in der Nähe meiner alten Arbeitsstelle geräumt und war ohne eine Träne zu verlieren, umgezogen.
Nach K. brauchte ich einen Neustart. Ich wollte wieder lernen, Ärztin zu sein und Mensch zu bleiben. Dafür brauchte ich Zeit für mich selbst.
In meiner neuen Arbeitsstelle wurde ich herzlich aufgenommen. Nach wenigen Tagen war ich ein vollwertiges Teammitglied. Die Hierarchien waren zwar ebenfalls streng, aber der persönliche Umgang miteinander freundlicher. Auch hier gab es eine oberärztliche Hyäne, aber der Anteil der Bären und Panther war weitaus größer. Alle versuchten, ein freundliches Arbeitsklima aufzubauen und sich gegenseitig zu unterstützen. Der Personalschlüssel war deutlich besser als in vielen anderen Krankenhäusern. Um sieben Uhr morgens begann ich pünktlich die Visite und abends verließ ich regelmäßig zwischen 17 und 17 Uhr 30 das Krankenhaus. An Freitagen versuchten wir sogar, die Mittagsbesprechung vorzuverlegen, damit der Großteil der Abteilung bereits um 15 Uhr 30 das Krankenhaus verlassen konnte. Jeden Tag hatte einer der Kollegen Dienst bis 22 Uhr, um die nicht erledigte Arbeit auf den Stationen, im OP oder in der Notaufnahme abzufangen. Der Nachtdienst begann erst um die Mittagszeit, sodass wir am Vormittag noch einige Stunden Schlaf zu Hause aufholen konnten. Selbst wenn ich die Zeit vor einem Nachtdienst nicht zum Schlafen nutzte, war mein Gehirn doch deutlich entspannter, ich ging ausgeruhter zum Dienst, als wenn ich nach einem vollen Arbeitstag in den Nachtdienst starten würde.
Selbstverständlich verdienten wir dadurch weniger Geld als mit den Vierundzwanzig-Stunden-Diensten. Aber auch mit diesem neuen Dienstsystem musste ich nicht gerade am Hungertuch nagen. Wir arbeiteten ein, zwei normale Tage, hatten dann mal langen Dienst, mal Nachtdienst. Dann wieder einen normalen Tag und so weiter.
Allerdings gab es nun einen großartigen Unterschied. Plötzlich kam ich dazu, mein Geld auszugeben. Ich kaufte mir ein neues Fahrrad, neue Laufschuhe, reaktivierte meine Kletterausrüstung. Zwar konnte ich mich wegen der Dienste immer noch nicht im Sportverein zu Kursen anmelden. Aber eine flexible Zehnerkarte war drin. Die wöchentliche Arbeitsbelastung verringerte sich. Ich war zwischen fünfundvierzig und achtundsiebzig Stunden in der Klinik, je nach Dienstanzahl. Das Team organisierte sich prima. Einige Ärzte wollten lieber am Wochenende arbeiten, andere übernahmen gerne den langen Dienst am Abend oder die Nachtdienste. Natürlich ging nicht immer alles auf, aber wir stellten bereits zwei Monate im Voraus den Dienstplan fertig. Das war eine angenehme Veränderung. Ich konnte nun viel besser planen als mit dem bisherigen Dienstplan, der teilweile erst einige Tage vor Monatsbeginn eingetrudelt war.
Auf einmal konnte ich zu Geburtstagen gehen, mich zu Theater oder Kino verabreden. Hinzu kam, dass uns der Chefarzt der Abteilung mehr Fortbildungstage zubilligte, als im Tarifsystem vereinbart waren. Nach Absprache durften wir unsere Weiterbildungsinhalte sogar in die Arbeitszeit verlegen. Für die meisten abteilungsinternen Weiterbildungen wurde ebenso die Arbeitszeit genutzt, nur selten fanden Veranstaltungen am Abend oder am Wochenende statt. Eine tolle Veränderung.
Mit der Zunahme der freien Zeit veränderte sich mein Lebensgefühl. Ich nahm die Farben der Bäume wahr, genoss den Duft des frisch gemähten Rasens beim Joggen und freute mich über den Muskelkater in den Oberschenkeln. Mein Gehirn schwamm nicht andauernd in einer bleiernen Müdigkeit. Nur selten musste ich aufgrund eines plötzlichen Dienstausfalls für einen Kollegen einspringen, sie waren einfach seltener krank. Die größte Veränderung in meinem Alltag aber waren die Pausen. In dieser Klinik hatte es sich eingespielt, dass sich auch die Ärzte eine tägliche Mittagspause gönnten. Es war nicht jeden Tag möglich und auch nicht alle nahmen sich die Zeit, aber der Großteil der Ärzte aß regelmäßig und nahm sich hierfür mindestens fünfzehn Minuten Zeit. Möglich war das vor allem deshalb, weil wir mehr Personal hatten. Insbesondere konnten wir Aufgaben wie Blutabnehmen und das Schreiben der Briefe an angestellte Arzthelferinnen und andere Fachkräfte delegieren. Dadurch konnten wir Ärzte uns vor allem auf den Patienten selbst konzentrieren. Noch immer gab es viel Papierkram und gefühlt kam jede Woche eine Anweisung über eine neue notwendige Dokumentation hinzu. Aber im Vergleich zu meinem vorherigen Job war es eine deutliche Verbesserung.
Nach einigen Monaten hatte sich mein Leben komplett verändert. Ich traf unversehens auf Lichtungen mit strahlendem Sonnenschein, umgeben von herrlichen Wäldern. Die plötzliche Freiheit und das wunderbare Gefühl, ein kleines Leben außerhalb der Krankenhauswelt aufzubauen waren wie der Frühling nach einem kalten Winter.
Durch den sportlichen Ausgleich, mehr Schlaf und die Ruhestunden wurde ich geduldiger, ruhiger und automatisch entspannter. Ich hetzte zwar nach wie vor im Stechschritt durch die Flure, aber ich wurde gelassener. Nie wieder bin ich seither vor Erschöpfung im Flur fast zusammengebrochen oder konnte im Dienst keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Die Rückmeldungen der Patienten, Kollegen und Gesundheits- und Krankenpfleger waren überaus positiv. Das Plus an Zeit gab ich an die Patienten weiter. Ich ging dazu über, meine Patienten ausreden zu lassen. Ich hörte ihnen zu und sprach ehrlich mit ihnen. Wenn du auf die Ängste und Sorgen zwischen den Zeilen achtest, ist vieles einfacher. Dadurch kann ich Entscheidungen, die vorher unklar für mich waren, viel besser verstehen. Meist hatten die Patienten einfach Angst. Sprach ich sie direkt darauf an, warum sie eine Behandlung ablehnten, war dies die häufigste Antwort. Das galt ebenso für die Patienten, die zu einer Behandlung gekommen waren, die auch die Hausapotheke mit einem Pflaster hätte übernehmen können. Ich lernte so viel mehr von den Patienten, als die ganzen Jahre zuvor, in denen ich keine Zeit fürs genaue Zuhören hatte.
Die Nähe zu meiner Familie und meinen Freunden machten mich wieder zur Tochter, Freundin, Enkelin und Schwester. Ich wurde um Rat gefragt, gebeten einen Kuchen für die Geburtstagsfeier zu backen oder zu einem Ausflug zum See eingeladen. Alles soziale Aktivitäten, die ich früher zumeist nicht wahrnehmen konnte.
Mit dem Erleben dieses eigentlich simplen Soziallebens wurde ich ganz langsam wieder zu dem Menschen, den ich kannte. Mein eisiger Panzer wuchs nie wieder. Stattdessen ließ ich auch in meinem Arbeitsalltag Gefühle zu. Ich lachte mit den Patienten und tröstete sie. Und ja. Bis heute empfinde ich tatsächlich Beileid, wenn ich einer Familie die Nachricht überbringen muss, dass ein Angehöriger verstorben ist, der sie ihr Leben lang begleitet hat. Es tut mir von Herzen leid. Früher hätte ich diese Empfindung nicht zugelassen. Inzwischen kann ich diese Nähe aufbauen, sie macht mich zu einer ehrlichen, authentischen, ungespielten Ärztin. Die meisten Patienten sind sehr froh mit jemandem zu sprechen, der nicht dem Stereotyp im weißen Kittel entspricht.
Mit dieser Erkenntnis versuchte ich, mich von meiner stereotypen Kategorisierung der Ärzte und Patienten zu lösen. Intuitiv hatte ich häufig schon eine bestimmte Einteilung bestimmt, aber ich konnte mir von nun an Zeit für den einzelnen Patienten nehmen. Oftmals konnte ich durch eine genauere Anamnese die Kategorisierung anpassen oder stellte fest, dass sich manche Patienten einfach nicht einteilen ließen. Löwen, Bienen und Sträuße waren einfach herauszufiltern. Insbesondere mit Raben und Chamäleons setzte ich mich nun auseinander. Herauszufinden, womit sich ein Rabe zur Genesung motivieren lässt, war eine Herausforderung. An den Chamäleons biss ich mir in der Notaufnahme oft die Zähne aus, weil es mir nicht gelang, nah genug an sie heranzukommen. Um die Krankheits- und Genesungstheorien von Patienten nachvollziehen zu können, müssen wir viel Nähe und Vertrauen zu den Patienten aufbauen. Das geht in der Notaufnahme häufig einfach nicht, aber mit weniger Zeitdruck gewann ich etwas Weitblick und wagte mich immer häufiger auf ein Terrain jenseits meiner Kategorien.
Auch meine Kollegen hatte ich unterbewusst immer schnell kategorisiert, jetzt aber lernte ich sie auch außerhalb der Klinik als Familienväter oder Söhne kennen. Viele Ärzte waren wahre Verwandlungskünstler. In der Klinik traten sie als Panther auf, zu Hause waren sie die geduldigsten Bären. Wenn sich die Arbeitspersönlichkeit so stark von der privaten unterscheidet, finde ich das nach wie vor seltsam. Natürlich hat jeder Mensch unterschiedliche Facetten. Ich aber konnte mich nie so weit verstellen, dass ich mein Arbeits-Ich gänzlich vom privaten abgetrennt hätte. Vielleicht ist es vielen Menschen auch einfach nicht bewusst, dass sie sich auf der Arbeit in eine andere Persönlichkeit verwandeln. Oder aber es ist gewollt. In vielen Bereichen gilt Härte und Ignoranz als notwendige Stärke um auf der Karriereleiter aufzusteigen. Im Privatleben gilt das natürlich nicht.
Ich entwickelte mich zu einer Leopardin. Ich war ehrgeizig, arbeitete gerne. Aber die Vergangenheit hatte mir gezeigt, dass ich nur dann zufriedenstellend arbeiten konnte, wenn ich die Menschlichkeit und patientengerechtes Arbeiten als oberste Priorität sah.
Langsam aber sicher wurde ich zur angehenden Fachärztin. Mein OP-Katalog verkleinerte sich, die Abhängigkeit von meinem Chefarzt wurde Monat für Monat geringer. Ich beleuchtete die Facetten der konservativen Therapien und beschäftigte mich mit unserem Bezahlsystem im Krankenhaus. Bei vielen Frakturen durchforstete ich die Studienlage und löste mich von der Vorgehensweise in den Kliniken. Im europäischen und außereuropäischen Ausland werden viele Frakturen nicht so häufig operiert wie bei uns. Selbst in hochindustrialisierten Ländern wird trotz zahlreicher Möglichkeiten häufig auf eine Therapie mit Gips oder Schlinge zurückgegriffen anstatt auf das Messer. Bevor ich einen Patienten für eine operative Versorgung aufklärte, gab ich von nun an sehr viel genauer Einblicke in eine konservative Therapie. Viele operierende Ärzte sehen eine ausführliche Aufklärung für eine OP manchmal eher als Hindernis an. Nicht nur, weil es Zeit kostet und einen Patienten vielleicht dazu bringt, die OP noch einmal zu überdenken. Vielmehr erachten sie es im Hinblick auf den postoperativen Verlauf als ungünstig. Geht ein Patient davon aus, dass es keine Komplikationen bei einem Eingriff geben wird, ist für ihn der postoperative Verlauf unkompliziert. Weiß er über die zahlreiche Komplikationen Bescheid, sucht er vielleicht eher danach.
Aus rechtlicher Sicht muss der Patient über die häufigsten und typischen Komplikationen bei einem Eingriff aufgeklärt werden. In einigen Fällen zur Qualitätssicherung sogar zweimal. Möchte man zum Beispiel eine Knieprothese implantieren, fordert es der Qualitätsstandard, dass der behandelnde Arzt den Patienten in einer ersten und in einer zweiten Aufklärung über den genauen Ablauf der OP und die Komplikationen informiert. Diese Aufklärungsgespräche müssen an unterschiedlichen Tagen erfolgen und eine gewisse Länge haben, eines muss zeitnah vor der Operation stattfinden. Im Zuge dieser »Endocert« genannten Qualitätssicherung muss es ebenfalls ein Gespräch geben, wenn der Patient in die Reha entlassen wird. Diese Qualitätssicherung gibt es allerdings nicht für alle Operationen.
Ich hielt es ähnlich mit den Aufklärungen bei operativen wie konservativen Eingriffen. Die Patienten sollten wissen, was sie erwartete. Bei einer Biene und einem Löwen war das selten ein Problem. Sie hörten gelassen zu und stellten hin und wieder eine Nachfrage. Ein Strauß hingegen sagt bei einer Aufklärung grundsätzlich als Erstes: »Ich möchte es gar nicht so genau wissen. Erzählen Sie mir bloß nichts Schlimmes.« Beste Voraussetzungen für eine gründliche Aufklärung. Einen Raben für eine Operation aufzuklären ist dann schon wieder einfach. Er erwartete ohnehin, dass jegliche mögliche Komplikation eintrat und hatte sich schon vorab über alle Nebenwirkungen informiert.
Meine Arbeit begann mir wieder Spaß zu machen. Ich ging gerne ins Krankenhaus. Ich liebte das Operieren und lernte viele wichtige medizinische Handgriffe kennen. Anstrengende Wochen mit großer Dienstbelastung oder den dauerhaften Einsatz über Weihnachten und Silvester konnte ich nun deutlich besser kompensieren als in den Jahren zuvor. Meine Dauerkälte war gewichen und dank der Kuchen, die die Patienten gelegentlich auf Station vorbeibrachten, passten mir sogar meine Hosen wieder.
Auch privat lichtete sich der Nebel. Aus dem trüben müden Dämmerlicht wurde strahlender, klarer Sonnenschein. Wie sich herausstellte hatte der Mann meines Lebens bereits jahrelang geduldig an meiner Seite abgewartet, bis ich bereit gewesen war, meine eisige Hölle zu verlassen. Bis heute bin ich ihm unheimlich dankbar dafür. Obwohl er kein Mediziner ist, hat er jeden meiner Schritte miterlebt und ist so in diese unglaubliche Realität hineingewachsen.
Viele Kollegen behaupten, dass nur Mediziner diese Welt verstehen. Das glaube ich nicht. Die Machtstrukturen, die Hierarchien, die Abhängigkeiten, selbst die Kategorien der Menschen, sind auf viele andere Berufe übertragbar. Jeder kennt einen Bären oder eine Hyäne und eine Maus. Vielleicht können nicht alle Menschen die Toleranz für eine Beziehung mit einem Mediziner aufbringen. Es fordert eine unglaublich hohe Anpassungsfähigkeit der Partner, mit einem Mediziner das Leben zu teilen. Mein Mann hatte mich als Freund durch die eisigen Jahre begleitet, als ich mich isolierte und quasi ins Krankenhaus zog. Als ich ausrastete, wenn mich die Hyäne mal wieder zum Kochen gebracht hatte. Er hatte mich getröstet, wenn ich vor Erschöpfung weinend im Bett lag. Meine Entscheidung für die Menschlichkeit und die damit verbundene notwendige Zeit für ein Leben außerhalb der Medizin hatte ich für mich selbst treffen müssen. Das Nein zu einer Karriere an der Uniklinik, zu einer Habilitation und zur Aufopferung für die Medizin, hatte ich für mich selbst entscheiden müssen. Hätte ich es stattdessen für ihn getan, hätte das unsere Beziehung mit Sicherheit nicht lange überlebt.
Die Liebe fühlte sich nach Freiheit, Geborgenheit und der notwendigen Erde für stabile Wurzeln an. Er akzeptierte meine vollen Arbeitswochen, wies mich aber dennoch hin und wieder auf meine Müdigkeit hin, wenn ich mir zu wenig Pausen gönnte.
Mein Körper war nach wie vor in den Unregelmäßigkeiten des Dienstsystems gefangen. Entgegen vielen anderen Fachrichtungen, die in sogenannten Nachtdienstblöcken mehrere Tage am Stück nachts arbeiten, stellen wir Unfallchirurgen unseren Rhythmus nicht um. Meist arbeiten wir nur eine oder zwei Nächte in Folge und wieder am Tag. Ausgleichstage zur Erholung gab es nicht. Meist musste ich an den Tagen nach den Nachtdiensten mit zu wenig Schlaf auskommen, um nachts wieder einschlafen zu können. Ansonsten schlief ich tagsüber, wachte nachts auf und war zu Dienstbeginn um sieben Uhr am nächsten Tag hundemüde. In Nächten der Dienstbereitschaft, in denen ich tatsächlich mal für eine oder zwei Stunden die Augen zumachen konnte, ging das. Hatte ich durchgearbeitet, wurde es natürlich ein langer Tag.
Irgendwann wurde ich leider trotzdem krank. Wir hatten einen aggressiven Durchfallkeim auf der Station, leider waren die ersten Angestellten erkrankt, bevor wir die Station entsprechend sperren konnten. Diese Keime für den unangenehmen Brechdurchfall kommen meist zweimal im Jahr vor. Häufig sind die ersten Betroffenen Patienten aus Altenheimen, und bereits in der Notaufnahme greift der Hygieneplan. Eine Station wird im Krankenhaus für die erkrankten Patienten isoliert, um die Ausbreitung einzudämmen. Stürzt jedoch ein Patient und bricht sich etwas, liegt dieser Patient natürlich auf einer unserer Stationen, ohne dass wir von der Erkrankung wissen, und die Ausbreitung geht weiter. Diese Brechdurchfallwochen sind meist von Noroviren oder Rotaviren verursacht, die sich nicht mit Antibiotika behandeln lassen. Die Patienten werden symptomatisch mit Flüssigkeitszufuhr und gegebenenfalls Fieber- oder Schmerzmittel versorgt und dürfen nach Erholung wieder nach Hause.
Vor der Mittagsbesprechung hing ich also über der Personaltoilette und richtete einem Kollegen aus, dass ich für die nächsten Tage ebenso ausfiel. Vier Patientenzimmer waren bisher isoliert, es sollten noch einige dazukommen. Zwei Wochen später war mir im Nachtdienst immer noch übel, ich war noch müder als sonst. Irgendwie fühlte ich mich nicht gesund, hatte es aber wie immer verdrängt. Die Müdigkeit und die unregelmäßige Verdauung kannte ich. In Wochen mit großer Arbeitsbelastung war es immer ausgeprägter. Als ich mich über den Tisch lehnte, bemerkte ich ein unangenehmes Spannen in den Brüsten und Ziehen im Unterbauch. Mir wurde heiß und kalt. Ich begann zu zählen. Dienst, frei, Dienst, Dienst, Urlaub, Dienst. Welchen Tag hatten wir überhaupt? Freitag, Samstag? Wann war meine letzte Periode gewesen?
Als um 04 Uhr 50 kein Patient mehr da war, schnappte ich mir das Ultraschallgerät und hielt es auf meinen Unterbauch. Da war eindeutig eine Fruchthöhle auf dem Bildschirm zu sehen. Plötzlich war ich Ärztin in der Weiterbildung im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie — und schwanger.
Wie sollte ich damit nur umgehen? Ich kannte keine Kollegin, die in ihrer Facharztausbildung schwanger geworden wäre. Die meisten Frauen wurden kurz vor ihrem Facharzt schwanger oder eben danach. Wie ich meinen Beruf mit einem Leben als Mutter vereinbaren sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Vorbilder dafür kannte ich nicht. Ich kannte einige Oberärztinnen in der Allgemeinchirurgie und Urologie oder auch der Inneren Medizin. Nur eine der Frauen hatte Kinder.
Wie sollte ich mit den Gefahren in meinem Alltag umgehen? Die damaligen Richtlinien für die Gefährdungsbeurteilung im Mutterschutz waren eng gefasst, ich dürfte keinen Operationssaal mehr betreten, noch nicht einmal Blut abnehmen und mit den Diensten wäre natürlich Schluss. Ich erkundigte mich unauffällig bei den Kolleginnen in der Gynäkologie. Hier waren schon einige Ärztinnen in ihrer Weiterbildungszeit schwanger geworden und hatten alle normal weitergearbeitet, bis ihre Schwangerschaftsbäuche unter den Kasacks nicht mehr zu verstecken waren. Ich war vierzehn Wochen schwanger. Wenn ich meinen Chefarzt informiert hätte, hätte er sich an die offiziellen Richtlinien halten müssen und meine Weiterbildung wäre erst einmal vorbei gewesen. Mein Gynäkologe hatte mir versichert, dass mit der Schwangerschaft alles zum Besten stand. Aber was, wenn ich eine Fehlgeburt erlitt und bereits alle Bescheid wussten? Diese Nachrichten verbreiteten sich im Krankenhaus wie Lauffeuer. Nein, ich würde mein Geheimnis für mich behalten.
Während es in mir arbeitete, saß ich wieder einmal in der Notaufnahme und versuchte, mich durch die Verletzung eines Bauarbeiters zu arbeiten. Ein schweres Bauteil hatte ihn am Unterarm verletzt. Unter dem Hautlappen ließen sich die Muskelanteile und Sehnen nur schwer auseinanderhalten. Nichts war mehr dort, wo es hinsollte. Den zerfetzten Unterarm konnte ich ebenso wenig problemlos entwirren wie das emotionale Chaos in mir.
Kollege Hyäne betrat den Raum. »Oh wie schön. Da hast du ja was zu tun. Leider kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich darf jetzt in den OP. Die Notaufnahme gehört dir heute alleine.« Feixend verließ er den Raum, erleichtert, sich nicht mit dieser Situation beschäftigen zu müssen.
Der Bauarbeiter war fasziniert vom Anblick seines Unterarms. Leider hatte er sich gleich mehrere Sehnen durchtrennt, sodass die Verletzung im OP versorgt werden musste. Ich telefonierte mit dem zuständigen Oberarzt, der sogleich den Kollegen Hyäne als Operateur festlegte.
Zwei Minuten später stand der Kollege Augen rollend wieder neben mir. »Hast du dein Anatomiebuch hier? Das nehme ich lieber mit in den OP!«
Seit ich von meiner Schwangerschaft wusste, bewegte ich mich zunehmend auf dünnem Eis. Immer wieder umschiffte ich mit vielen Ausreden Infektionszimmer oder das Röntgen. Meine Kolleginnen aus der Gynäkologie brauchten halt kein Röntgengerät, für mich hingegen war es nicht so einfach, mein Geheimnis für mich zu behalten. Am Morgen musste auf der Intensivstation der tägliche Verbandwechsel eines Patienten gemacht werden. Er hatte Hepatits C und eine unbehandelte AIDS-Erkrankung. Die Viruslast war so hoch, dass es selbst in nicht schwangerem Zustand gefährlich war. Für die sichere Arbeitsweise gibt es doppelte Handschuhe, Mundschutz und Schutzbrillen. Falls trotz aller Sicherheitsvorkehrungen doch einmal die Wahrscheinlichkeit besteht, dass man sich bei einem Patienten mit HIV angesteckt hat, zum Beispiel im Rahmen einer OP, bei der man sich mit einem Instrument verletzt, gibt es die sogenannte Postexpositionsprophylaxe. Die betroffene Person muss dann vier Wochen lang antivirale Medikation einnehmen und zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen gehen. Diese Medikation ist für das ungeborene Kind hochproblematisch, weil unklar ist, ob sie den Fötus schädigen kann. Nein, dieses Risiko wollte ich auf keinen Fall eingehen. Glücklicherweise sprang ein Kollege ein, sodass ich hierfür keine Ausrede finden musste.
Am selben Tag rief mich ein Oberarzt der Wirbelsäulenchirurgie an. Sie hatten einen Engpass, er bat mich einzuspringen. Er wusste, wie gerne ich traumatische Verletzungen an der Wirbelsäule mitoperierte. Der Patient hatte einen Wirbelkörperbruch und musste dorsal stabilisiert werden. Dazu werden ober- und unterhalb des verletzten Wirbels Schrauben in die Wirbelkörper eingebracht und auf beiden Seiten der Wirbelsäule mit Stäben verbunden. Um die Schrauben korrekt zu platzieren, werden sie über einen vorher eingebrachten Draht geschoben. Die Lage der Drähte, der Schrauben und der Stäbe wird während der Operation häufig mit dem Röntgen-Bildwandlergerät kontrolliert. Ich konnte während der Durchleuchtung nicht einfach aus dem Saal gehen. Trotz der schützenden Röntgenschürze war mir unwohl dabei.
Mittlerweile kenne ich auch Ärztinnen, die mit Röntgenschürze bis zum Mutterschutz operiert haben. Die jährliche durchschnittliche Strahlenbelastung lag bei mir noch nie über der erlaubten Grenze, für Schwangere aber ist sie deutlich niedriger angesetzt. Mein Gefühl sagte mir, dass ich das Risiko nicht eingehen wollte.
»Herr Oberarzt, tut mir leid. Ich kann leider nicht. Die neue Kollegin braucht in der Notaufnahme Hilfe.« — »Frau Müller. Draußen ist doch immer viel los. Dass Sie deshalb einen Wirbelsäuleneingriff ablehnen verstehe ich nicht. Na, ist ja Ihre Facharztausbildung.« Meine Facharztausbildung würde noch sehr viel mehr verkraften müssen als einen abgelehnten Eingriff.
Als ich aufgelegt hatte, rief mich die junge Kollegin zu einem unklaren Fall in der Notaufnahme. Als ich dort ankam, war der Patient reanimationspflichtig. Eigentlich auch etwas, was Schwangere nicht tun sollten. Aber hier hatte ich keine Wahl.
Mich begleitete sehr lange eine elendige Übelkeit in der Schwangerschaft. Meine Kitteltaschen waren gefüllt mit überflüssigen, unwirksamen Mittelchen aus der Apotheke, Müsliriegeln und Traubenzucker. Meine Wasserflasche klebte unter meinem Arm, mein Kreislauf war trotzdem immer im Keller. Ein Rucksack mit Trinkschlauch wäre praktisch gewesen, aber dann hätte ich auch an eine Windel denken müssen — das war dann doch zu lästig. Ich war genervt und so langsam gingen mir die Ausreden aus. Wer ständig OP-Eingriffe ablehnt oder freiwillig auf der Station arbeitet, fällt auf. Meine Kollegen waren zudem verwundert über meine Gereiztheit. Nach Rücksprache ließ ich mich in das Team der Orthopäden einteilen. Im OP-Saal standen vor allem Gelenkspiegelungen auf dem Plan. Leider hatte ich die Rechnung ohne meine Schwangerschaftshormone gemacht. In der Umkleidekabine schob ich mir einen Müsliriegel in den Mund und trank eine halbe Flasche Wasser. Das verdrängte den Schwindel. Ich zog Kompressionsstrümpfe gegen die ätzende Kreislaufschwäche an und machte mich auf in den OP-Saal. Als ich nass geschwitzt dort ankam, war der Oberarzt schon am Operieren. »Frau Müller. Was dauert das denn so lange? Sie sind ja bleich wie die Wand. Abmarsch. Gehen Sie in die Ambulanz und holen Sie sich was zu trinken. Für den zweiten Punkt rufe ich Sie dann an.«
Ich schleppte mich in die Ambulanz und begegnete einem Kollegen. »Lieschen, könntest du mal kurz in Kabine eins? Da kam gerade der Rettungsdienst mit einem jungen Mann, der wohl von einer Mauer gesprungen ist. Ich bin in Kabine drei noch mindestens dreißig Minuten beschäftigt. Schick ihn doch schon mal zum Röntgen.« Sobald ich nicht mehr das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen, tat ich das.
Patient K. machte Parcours. Bei diesem Sport springen die Leute von der Mauer auf die Treppe, über das Dach, auf das Auto, über den Fluss, auf die Treppe, zurück zur Mauer und so weiter. Die Mauer hatte K. wohl schon eine ganze Weile gereizt. Kein Problem für ihn. Er hatte sich vorbereitet und trainiert. Die anderen Parcourer schafften die Mauer ja auch.
Tja, die Mauer war zu hoch. Das Fersenbein war zerbröselt, das Handgelenk ein Trümmerhaufen. Er hatte Glück, dass die Wirbelsäule nichts abbekommen hatte. Warum sich die Leute immer was beweisen mussten?
Der OP rief an, und ich überließ K. meinem Kollegen. Als ich in voller Montur am OP-Tisch stand, lief mir der Schweiß über die Stirn. Mein vegetatives Nervensystem zog mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Ich schaffte es gerade noch, mich auf den Boden zu setzen. Der Anästhesist hielt mir die Beine in den Himmel, während der Oberarzt auch die zweite Knie-Arthroskopie alleine durchführte.
Ich beschloss, dass der OP als Mauer zu hoch war für meinen schwangeren Körper.
Am nächsten Tag stand ich vor meinem Chefarzt und erzählte ihm von der Schwangerschaft. Ihm fiel die Kinnlade runter, er brach in Lachen aus. Er gestand, dass er eine Schwangerschaft noch nicht einmal annähernd in Betracht gezogen hatte. Immerhin konnte er sich jetzt einen Reim darauf machen, warum ich in den vergangenen Wochen selten im OP aufgetaucht war. Mein leitender Oberarzt schaffte es immerhin, mir zu gratulieren.
Mein Chefarzt stellte mir frei, wie wir mit der Situation umgehen sollten. Ein Beschäftigungsverbot kam für mich nicht infrage. Die Monate würde ich dann nicht für meine Weiterbildung angerechnet bekommen. Ich vermutete, die Übelkeit würde sich bald legen und ohne Nachtdienste würde sich auch mein Kreislauf regulieren. In der Tat sollte ich recht behalten.
Die Übelkeit hielt zwar bis zum sechsten Monat an, aber mein Kreislauf und die extreme Müdigkeit hatten sich bereits nach zwei Wochen ohne Dienstbelastung gebessert. Von nun an wurde ich hauptsächlich für die Stationsarbeit eingeteilt. Die Kollegen mussten allerdings meine Dienste untereinander aufteilen. Trotz ausreichendem Personalschlüssel verschärfte sich die Arbeitsbelastung.
Die Richtlinien für die Gefährdung im Arbeitsalltag für Medizinerinnen sind 2018 angepasst worden. Wenn Ärztinnen weiter operieren wollen und können, dürfen sie das. Sie müssen einige Regeln befolgen, die die Umsetzung erschweren, aber theoretisch ist es möglich. In der Praxis dauert es bis zur offiziellen Gefährdungsbeurteilung und Freigabe oft so lange, dass nur noch wenige Wochen bis zum eigentlichen Mutterschutz übrig bleiben. Rein körperlich wäre ich nach wenigen Wochen ohne Dienstbelastung sicherlich wieder in der Lage gewesen, einen OP-Saal zu betreten, aber damals gab es diese Möglichkeit noch nicht. Unabhängig davon sind viele Oberärzte und Chefärzte der Unfallchirurgie noch nicht ausreichend mit dieser Situation konfrontiert worden. Sie müssen sich oft erst selbst über die rechtlichen Grundlagen informieren und reagieren entsprechend zurückhaltend. Der Arbeitgeber ist schließlich dafür zuständig, den Schutz der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes zu sichern.
Jede schwangere Frau hat andere Bedürfnisse und ein anderes Sicherheitsempfinden. Jede Schwangerschaft ist anders, jede Frau ist anders, jedes Kind ist anders, jeder Arbeitsplatz ist anders. Rechtlich gesehen gibt es einen weitreichenden Mutterschutz. Praktisch sieht es in den Kliniken oft anders aus. Schlussendlich bleibt es in der Pflicht und Verantwortung der Mutter, sich zu entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen möchte und welche nicht. Spätestens jetzt lernte ich, dass ich es nie richtig machen konnte. Hielt ich mich an die Richtlinien, war ich die penible Kollegin, die sich bei allen Aufgaben aus der Verantwortung zog und sich einen entspannten Tag machte. Arbeitete ich weiter, als ob es keinen Babybauch gäbe, war ich fahrlässig und verantwortungslos. Immerhin bereitete mich das gut auf den Alltag als Mutter vor. Am Ende zählt sowieso nur, was für mich und mein Baby in Ordnung ist.
Meinem Naturell entsprechend war ich eher als Grenzgängerin unterwegs. Oftmals war ich alleine auf Station und erledigte einfach die anfallenden Aufgaben. Anderenfalls wären sie bis zum Abend unerledigt liegen geblieben, bis einer meiner Kollegen aus dem OP kam. Das Anhängen von Bluttransfusionen konnte ich nicht an eine Gesundheits- und Krankenpflegerin delegieren, Patienten mit Herzrasen und Luftnot im Bett liegen zu lassen, war nicht meine Art. Vielleicht war ich in einigen Bereichen nun etwas vorsichtiger. Trotz der Veränderungen der Schwangerschaft entspannte sich mein Körper mit jeder Stunde Schlaf mehr und mehr. Einem geregelten Arbeitsalltag nachzugehen und am Wochenende nicht mehr arbeiten zu müssen, war eine unglaubliche Erleichterung. Ich genoss die Ruhephasen nach dem Arbeitsalltag sehr. Tagsüber geriet ich aber natürlich trotzdem hin und wieder in grenzwertige Situationen.
In einer Woche mit ausgeprägtem Personalmangel war ich als einzige Ärztin in der Unfallchirurgie die Ansprechpartnerin für die jungen Kollegen außerhalb des Operationssaals. Die Hälfte der Mannschaft war auf dem jährlichen Kongress, die verbliebenden Oberärzte ständig im OP und zwei Berufsanfänger auf den Stationen und in der Notaufnahme. Das Tagesprogramm war kaum angepasst worden, die Oberärzte waren im Dauerstress. Ich half an allen Ecken und Enden, und das Telefon klingelte Sturm.
Die junge Kollegin rief aus der Notaufnahme an, sie behandelte einen Gestürzten aus der Vollzugsanstalt in der Nähe, der in Polizeibegleitung war. Er hatte mehrere gebrochene Rippen, seine linke Lunge war eingefallen. Seine Sauerstoffsättigung war trotz Kurzatmigkeit gut. Seine Laune hingegen miserabel. Die Polizei hatte seine Arme auf dem Rücken mit Handschellen gesichert, dazu trug er Fußfesseln.
Ganz nach dem Prinzip »see one, do one, teach one« hatte die Kollegin bisher einmal dabei zugesehen, wie man den Schlauch in den Thorax schiebt. Jetzt sollte sie es selbst durchführen, ich übernahm die Supervision. Ich erklärte dem Patienten und den Polizisten, was zu tun war. Allseits große Begeisterung. Die Handschellen blieben dran, aber sie konnten die Position der Arme etwas verändern, sodass wir besser drankamen. Ein Polizist informierte schon einmal die Leitstelle, dass ab sofort ein Team auf unserer Überwachungsstation gebraucht wurde, da der Patient einige Tage bleiben musste. Nach Rücksprache und Aufklärung des Patienten war er mit einem oberflächigen Dämmerschlaf einverstanden. Mein mittlerweile gewachsener Bauch tolerierte keine Abwehr.
Die Kollegin war unsicher, die Handgriffe saßen noch nicht, die vielen Leute im Raum verstärkten ihre Aufregung. Ich versuchte sie mündlich anzuleiten, aber sie fand keinen Zugang zwischen den Rippen. Der Patient war ein kräftiger großer Mann. Wir mussten ständig Schmerz- und Sedierungsmedikation nachspritzen, um ihn ruhigzuhalten. Die Polizisten weigerten sich, ihm im Dämmerschlaf die Handschellen gänzlich abzunehmen. Die Kollegin war frustriert: »Es geht nicht. Verdammte Scheiße.« Ich zog mich steril an. Ich war ruhig und gelassen. Der Schlauch war zwar dringlich, aber der Patient stabil. Auf meine Finger war Verlass. Ich schob den Schlauch in die korrekte Lage und hörte die entweichende Luft. Außerdem spürte ich einen harten Tritt gegen meine Bauchwand, der mir beinahe selbst die Luft nahm. Da war wohl jemand wach geworden und beschwerte sich.
Als ich in den Mutterschutz und in Elternzeit ging, war es absolut Zeit. Die ständige Verfügbarkeit auf Station und der hektische Tagesablauf ließen sich nicht mit meinen dicken Beinen in den Kompressionsstrümpfen und der ständigen Rennerei auf die Toilette vereinbaren. Die Nächte waren nicht mehr erholsam, im Rücken drückte es ständig.
Ich verabschiedete mich von den Kollegen und versprach, ein Jahr später wieder aufzutauchen. Noch hatte ich keinerlei Ahnung, wie ich meine Arbeit und ein Familienleben koordinieren würde, aber wir würden schon eine Lösung finden.
Mutter zu werden, das Krankenhaus und sein System als Patientin zu erleben, andere Mütter kennenzulernen und in die Welt der Eltern einzutauchen, war und ist eine unglaubliche Reise. Ich habe mich, meinen Partner und meine Umgebung ganz anders wahrgenommen. Man muss nicht unbedingt jede Krankheit selbst erlebt haben, um mit Patienten mitfühlen zu können und Verständnis für sie aufzubringen. Am eigenen Körper zu erleben, wie sich Ängste, Freude, Sorgen und Hoffnung um ein eigenes Kind anfühlen, erweitert das Gefühlsspektrum jedoch ungemein. In meiner Elternzeit habe ich einige Weiterbildungen und Fortbildungen gemacht, die ich während eines normalen Arbeitsjahres nicht hätte unterbringen können. Ich hielt Kontakt zu meinen Kollegen und meinem Chef, verfolgte die Veränderungen in der Klinik mit. Gänzlich auszusteigen und sich ein Jahr komplett von der Medizin zu verabschieden, hätte ich nicht gekonnt. Dazu bin ich viel zu sehr mit meinem Beruf verbunden.
Der Abstand vom Alltagsgeschäft brachte mir jedoch eine ganz andere Art von Erfahrungsschatz. Ich lernte Mütter kennen, unterhielt mich mit ihnen über ihre Leben, ihren Alltag, ihre Sorgen und Ängste. Auf Väter traf ich leider deutlich seltener. Im Zuge meiner Weiterbildungen beschäftige ich mich etwas mit der Ganzheitlichkeit der Medizin und dem Kontrast zur klassischen Schulmedizin, der Trennung von Somatik und Geist, kam in Kontakt mit Erzieherinnen, Pädagogen, Geistes- und anderen Naturwissenschaftlern. Ich lernte einige Kollegen näher kennen, die im ambulanten Bereich arbeiteten und erhielt einen Einblick in die Welt der niedergelassenen Ärzte.
Ich traf Hebammen, Heilpraktiker, Homöopathen. Dabei lernte ich auch die medizinische Vorstellung von Patienten kennen, die der Schulmedizin gänzlich misstrauten. In den Mutter-Kind-Kursen oder in der Rückbildung lernte ich viel über die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit von Müttern. Langsam aber sicher wurde mir die bestehende Diskrepanz zwischen unserer hochmodernen, wissenschaftlichen Medizin und den Anforderungen der Patienten an unser Gesundheitssystem klar.
Die Veränderung in meinem eigenen Leben war riesig. Jetzt trug ich nicht nur Verantwortung für mich selbst und meine Patienten, sondern auch für meinen Partner und das gemeinsame Kind. Die Müdigkeit, die körperlichen Veränderungen, der Anspruch an mich, die Partnerschaft und das Karussell der damit einhergehenden Gefühle veränderte mein Leben mehr als alles zuvor Erlebte. Es war aufregend, wunderschön und anstrengend. Auf neuem Boden streckte ich vorsichtig meine Wurzeln aus, baute Freundschaften auf, kam in meinem Wohnort an und erfuhr ein Leben, wie es mir vorher als Ärztin nicht möglich war.